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**Wenn die Prinzessin der Hölle erwacht** Diese Box enthält zwei spannende und düstere Prinzessinnenromane für aufregende und mitreißende Lesestunden. Königreich der Unterwelt (Devil's Daughter 1) Seit ihrer Geburt bekommt die 19-jährige Kunststudentin Lucile beim Betrachten altertümlicher Engelsgemälde ein ungutes Gefühl. Immer wieder verwandeln sich die göttlich anmutenden Wesen vor ihren Augen in grausame Dämonen. Mit dem attraktiven Studenten Felix hat Lucile jedoch jemanden gefunden, der die merkwürdigen Ereignisse um sie herum ernst nimmt und ihnen auf den Grund geht. Nur Luciles Kunstprofessor verhält sich ihr gegenüber zunehmend sonderbar und scheint etwas von ihrer einzigartigen Gabe zu ahnen. Doch erst an ihrem zwanzigsten Geburtstag werden sich Luciles wahre Macht und ihre königliche Vergangenheit offenbaren … Devil's Daughter 2: Thron der Verdammnis Seit Lucia und Fero ihr menschliches Dasein hinter sich gelassen haben und gemeinsam in die Unterwelt hinabgestiegen sind, sieht die Höllenprinzessin diese Welt mit ganz anderen Augen. Umringt von Ritualen und Geheimnissen erfährt sie von ihrem Vater alles über das teuflische Königreich, das sie einmal führen soll. Doch als ein Anschlag auf Lucias Vater das Tor zur Hölle öffnet und die gefangenen Seelen befreit, naht die ewige Verdammnis, die nicht nur die Unterwelt, sondern auch die Menschenwelt bedroht … Teuflisch, düster, außergewöhnlich – diese Reihe ist ein Muss für alle Fans von spannender Romantasy! //Alle Bände der teuflischen Fantasy-Reihe: -- Devil's Daughter 1: Königreich der Unterwelt -- Devil's Daughter 2: Thron der Verdammnis Diese Dilogie ist abgeschlossen.//
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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2023 Text © Lilyan C. Woods, 2023 Lektorat: Julia Feldbaum Coverbild: shutterstock.com / © coka / Mika Shysh / ergonomal / Aivolie / windmoon / HorenkO coka (82220311) Covergestaltung: Formlabor ISBN 978-3-646-61008-6www.impressbooks.de
Impress
Die Macht der Gefühle
Das digitale Imprint »Impress« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.
Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.
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Lilyan C. Wood
Devil's Daughter. Königreich der Unterwelt
Ein Prinzessinnenroman der dunkelsten Sorte … **Wenn die Erbin der Hölle erwacht …** Seit ihrer Geburt bekommt die 19-jährige Kunststudentin Lucile beim Betrachten altertümlicher Engelsgemälde ein ungutes Gefühl. Immer wieder verwandeln sich die göttlich anmutenden Wesen vor ihren Augen in grausame Dämonen. Mit dem attraktiven Studenten Felix hat Lucile jedoch jemanden gefunden, der die merkwürdigen Ereignisse um sie herum ernstnimmt und ihnen auf den Grund geht. Nur Luciles Kunstprofessor verhält sich ihr gegenüber zunehmend sonderbar und scheint etwas von ihrer einzigartigen Gabe zu ahnen. Doch erst an ihrem zwanzigsten Geburtstag werden sich Luciles wahre Macht und ihre königliche Vergangenheit offenbaren … Dies ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.
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Vita
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© Stefanie Blaumeiser
Lilyan C. Wood wurde 1985 in Saarbrücken geboren und lebt nach einem Zwischenstopp in Baden-Württemberg wieder im beschaulichen Saarland. Hauptberuflich bringt sie als Grundschullehrerin Kindern u. a. das Rechnen, Lesen und Schreiben bei. Seit ihrer Kindheit denkt sie sich fantastische Geschichten und Figuren aus und traute sich 2015 endlich, ihre Fantasie auch zu Papier zu bringen. Seitdem geht sie in jeder freien Minute ihrer größten Leidenschaft, dem Schreiben, nach.
Schweiß lief ihm in Strömen über das erhitzte Gesicht, während er allmählich wieder zu Atem kam. Unter seinem schweren Eisenhelm und dem Brustpanzer pulsierte die Hitze und drohte ihn zu erdrücken. Erschöpft stützte er sich auf sein Schwert, das noch im Körper seines Feindes steckte, und fuhr sich mit der blutverschmierten Hand über das Gesicht. Sein Blick ruhte auf dem am Boden liegenden Engel, dessen Hände die Klinge des Schwertes sogar im Tod umklammert hielten. Nun klebten nur noch die verkohlten Überreste der Gliedmaßen am abgekühlten Feuerschwert. Die Flammen waren erloschen.
Mit Abscheu betrachtete der König das gekrümmte Wesen am Boden. Es hatte ihm und seiner Art so viel Leid gebracht. Wann würden sie diese Monster endlich ausgerottet haben?
Hörbar atmete er aus und hob seinen Blick, um die Lage auf dem Schlachtfeld zu erfassen. Nur vereinzelt gab es noch Kämpfe zwischen seinen Kriegern und den Engeln. Wild fauchten die nackten Ungeheuer, während sie versuchten ihre spitzen Reißzähne in ihre Gegner zu schlagen. Mit ausgebreiteten schwarzen Flügeln stürzten sie sich auf ihr Gegenüber. Es waren hässliche Wesen mit einer irren Fratze und leuchtend gelben Augen, die ledrige Haut schimmerte grünlich und erinnerte an verwesendes Fleisch.
Vor Verachtung triefend lachte der König, spuckte auf seinen am Boden liegenden Feind und zog sein Schwert langsam aus dessen Körper, der sofort zu Asche zerfiel. Als das Eisen klirrend in der Scheide verschwunden war, setzte er sich in Bewegung und machte sich auf die Suche nach seiner Tochter.
Hinter einem kleinen Hügel fand er sie, in ein Gefecht verwickelt. Stolz betrachtete er diesen ungleichen Kampf zwischen der starken Kriegerin und dem bereits schwer verletzten Engel. Elegant wie eine Tänzerin wich sie den Krallen des Wesens aus und parierte dessen Angriffe. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, der bei jeder ihrer Bewegungen durch die Luft peitschte. Sie spielte mit ihrem Gegner, schien beinahe Freude daran zu empfinden dem Engel einen Flügel abzuschlagen und ihn wimmern zu sehen. Triumphierend hob sie ihr Feuerschwert empor, dessen Flammen aufloderten, sie packte es mit beiden Händen und stieß es in den Körper ihres Feindes. Vor Schmerz fauchend krümmte sich das Wesen zusammen, schlug mit dem verbliebenen Flügel und ruderte wild mit den Armen, doch seine Tochter kannte keine Gnade. Sie ließ das Feuerschwert im Körper des Engels auflodern und verfolgte mit einem Grinsen im Gesicht, wie der Feind zu Asche zerfiel und zu Boden rieselte. Das Schwert formte sich zu einer Feuerkugel und verschwand in ihrer Handfläche.
»Einer weniger«, rief sie ihrem Vater entgegen, als sie ihn erblickt hatte und auf ihn zukam.
»Du sollst nicht mit ihnen spielen, sondern sie töten, Tochter!« Er setzte einen strengen Blick auf, doch sie lächelte ihn an, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst, und setzte ihren Weg zu ihm unbeirrt fort. Sie trampelte ohne Rücksicht auf zahlreichen toten Engeln herum, bis sie vor ihm stand.
Ihre Augen schienen zu brennen, leuchteten in verschiedenen Rottönen, bis sie sich abkühlten und ein dunkles Rot annahmen. Amüsiert sah sie ihn an. »Ach, Vater, am Ende töte ich sie immer. Lass mir doch meinen Spaß!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die beschmutzte Wange.
Seine Tochter hatte schon immer gewusst, wie sie ihn besänftigen konnte. Er gab ein undeutliches Grummeln von sich und legte seinen Arm um sie, überblickte mit ihr das Schlachtfeld, auf dem sich mittlerweile nur noch seine Krieger bewegten und nach Überlebenden suchten. Seufzend nahm er seinen Helm ab – eine goldene Krone prangte darauf – und er entblößte auf der vorderen Kopfhälfte zwei braune Hörner, ähnlich denen einer Ziege, die zwischen den rabenschwarzen Haaren hervorblitzten. Die frische Luft tat ihm gut und so warf er den schweren Helm weit von sich. Er hörte noch den dumpfen Aufprall, als das Metall auf einem zerfetzten Engel aufschlug.
»Da hat aber jemand ganze Arbeit geleistet«, witzelte er und erhob stolz sein Schwert in die Luft. »Männer, wir haben gesiegt. Nieder mit den Engeln!«, rief er seinen Teufelskriegern zu, die sich allmählich um ihn versammelt hatten und wiederum ihre Schwerter erhoben und gemeinsam »Nieder mit den Engeln!« riefen.
»Sieh dir das genau an, meine Tochter!« Mit einer ausholenden Geste umfasste er das gesamte Schlachtfeld. »Irgendwann wirst du über dieses Königreich herrschen und dann wird es deine Aufgabe sein diesen Abschaum zu vernichten.«
»Es wird mir eine Ehre sein in deine Fußstapfen zu treten, Vater!«
Stolz erfüllte ihn, hinterließ in seinem Magen ein wohliges Prickeln. Er drückte sie fest an sich, in dem Bewusstsein etwas Wunderbares geschaffen und in ihr eine würdige Nachfolgerin für sein Königreich gefunden zu haben.
Sie lehnte ihren Kopf an seine Seite und schmiegte sich wohlig in seine Umarmung.
Ein rauschendes Geräusch, gleich eines gewaltigen Flügelschlages, riss ihn aus seinen Gedanken und erschrocken fuhren beide herum, die Feuerschwerter angriffsbereit in den Händen. Hoch über ihnen baute sich ein riesiger Engel auf, viel größer als seine Mitstreiter, die tot auf dem Feld lagen. Seine schwarzen Flügel durchschnitten mit einem Pfeifen die Luft und sein Maul voller Reißzähne grinste höhnisch. Seine grünliche Haut, auf der sich zahlreiche Narben erstreckten, war teilweise von einem Kettenhemd bedeckt. Er war einer der wenigen, die Kleidung trugen, ein ranghoher Engel, der ihnen schon seit Jahrzehnten das Leben schwer machte.
»Was willst du, Gabriel? Siehst du nicht, dass ihr diese Schlacht verloren habt?«, donnerte der König dem Wesen entgegen. Seine Tochter ließ das in der Luft thronende Wesen nicht aus den Augen und verstärkte ihren Griff um das Schwert. Gabriel durfte man nicht unterschätzen, er war einer der stärksten und hinterhältigsten Engel ihrer Zeit.
»Diese Schlacht habt ihr vielleicht gewonnen, doch dies wird nicht unsere letzte Begegnung sein, Majestät. Ich habe Euch schon einmal tief getroffen und ich weiß, wie ich Euch erneut verletzen und schlagen kann. Nur diesmal wird es schlimmer!« Sein fieses Lachen schallte über das Feld und hinterließ auch beim König eine Gänsehaut. »Ich wünsche noch einen schönen Tag, Hoheit«, säuselte Gabriel, an die Prinzessin gewandt, und deutete eine Verbeugung an, bevor er mit seinen Schwingen ausholte und sich mit kraftvollen Flügelschlägen in den Himmel zurückzog. Einem Instinkt folgend zog der König Lucia näher zu sich heran, doch sie stieß ihn von sich und reckte ihr hübsches Gesicht dem Himmel entgegen.
»Komm ruhig, du Ungeheuer, ich habe keine Angst vor dir und deinesgleichen! Wir haben noch eine Rechnung offen!«, spie sie ihm hinterher, doch das Wesen war längst verschwunden.
Ihr Kampfgeist sollte ihn, den König, mit Stolz erfüllen, doch ein unangenehmes Ziehen machte sich in ihm breit. Die Engel waren zu allem bereit und sie kannten seinen wunden Punkt – seine über alles geliebte Tochter.
»Hoheit, es ist Zeit für die Theorie, bleibt doch bitte stehen!«, jammerte Loana, während sie der Prinzessin mit hochrotem Kopf und einem Stapel Bücher auf den Armen balancierend hinterherstolperte.
Doch die junge Frau dachte gar nicht daran und drängte sich zwischen zwei Wachen hindurch, verließ das kühle Gemäuer und trat auf den Hof ihres elterlichen Schlosses hinaus. Eilig strebte sie in Richtung der Pferdeställe davon.
Bei diesem Wetter würde sie sich nicht mit Büchern und langweiliger Theorie quälen! Doch ein verärgertes, tiefes Grollen ließ sie wie versteinert in der Mitte des Hofes innehalten.
»Junges Fräulein, wo gedenkst du hinzugehen?« Die Stimme ihres Vaters erfüllte den Platz und ließ sogar das Geschwätz der Marktweiber verstummen, die sich schleunigst hinter ihre Stände zurückzogen.
Vorsichtig drehte sich die junge Frau auf den Absätzen um und schielte zum König hin, der sie mit hochgezogenen Brauen musterte und scheinbar auf eine Antwort wartete. Trotzig hob sie ihr Kinn und hielt seinem Blick stand.
»Du erwartest doch wohl nicht, dass ich bei diesem Wetter im Schloss hocke und mir diese verstaubten Bücher durchlese, Vater?« Entrüstet zeigte sie mit dem Finger auf die Bücher, die auf Loanas Armen gefährlich schwankten. »Ich übe mich lieber in meinen Reitkünsten, das hilft mir im Kampf viel mehr als diese langweilige Theorie.«
»Langweilig? Verstaubt?« Mit schnellen Schritten war er bei ihr und funkelte sie von oben herab finster an. Die Krone auf seinem Haupt leuchtete in der Sonne und blendete Lucia, sodass sie mehrmals blinzeln musste. »Diese langweilige und staubige Theorie könnte dir irgendwann das Leben retten, junge Dame! Es ist nie verkehrt die Schwachpunkte seines Feindes und dessen Anatomie zu kennen.«
Stur verschränkte die Königstochter die Arme vor der Brust und starrte weiter zu ihrem Vater hoch. »Ich habe diese Bücher schon so oft gelesen, ich kann sie nicht mehr sehen! Früher hast du nicht so darauf beharrt, dass ich die Theorie kenne. Da war dir die Praxis wichtiger und dass ich kämpfen und mich verteidigen kann. Was hat deine Meinung geändert?«
Nach einem kurzen Moment der Stille drehte sich der König ohne eine Antwort um und ging auf den Eingang des Schlosses zu.
»Ich dulde keine Widerworte, Lucia, also begib dich in das Schloss und lerne deinen Feind besser kennen!«, waren seine letzten Worte, bevor er im Inneren des Gemäuers verschwand.
Prustend kam Loana auf die junge Prinzessin zu. Die übergewichtige Frau hatte mit den vier dicken Wälzern ordentlich zu kämpfen. »Hoheit, bitte, lasst uns hineingehen und etwas lesen. Ihr habt euren Vater gehört und Ihr wisst doch, wie ungern er Befehle wiederholt.«
»Ja, ja, ist schon gut«, murmelte Lucia vor sich hin und folgte mit hängenden Schultern der Dienerin, deren schwarze Haare von einem Tuch verdeckt wurden, in das königliche Schloss. Die kleinen Hörner der älteren Frau waren als winzige Erhebungen unter dem Tuch zu erkennen. Alle Teufel hatten bestimmte Merkmale gemeinsam, so auch die schwarzen Haare, die rötlich-braunen Augen und die kleinen Teufelshörner, die ab dem zwanzigsten Geburtstag aus der Kopfhaut wuchsen. Lucia hatte mit ihren neunzehn Jahren noch keine Hörner und war recht froh darüber, da sie große Nachteile mit sich brachten.
Die Mitglieder der Königsfamilie waren die einzigen Teufel, die leuchtend rote Augen hatten und über gewisse Fähigkeiten verfügten, die Lucia seit drei Jahren trainieren durfte. Das Feuerschwert, das sie herbeirufen und wieder verschwinden lassen konnte, hatte ihr im Kampf bereits gute Dienste erwiesen.
***
Die beiden Frauen gingen durch zahlreiche Gänge, die dank der großen Fenster durch das einfallende Sonnenlicht angenehm beleuchtet wurden, und an vielen Türen vorbei, hinter denen prachtvolle Säle lagen. Das Schloss ihrer Eltern war riesig und drückte Reichtum und Geschmack aus. Ihre Mutter hatte das Gemäuer in ein gemütliches Heim verwandelt, bevor sie vier Jahre zuvor gestorben war. Mit Geschmack und stilsicherem Gespür hatte sie die Räume und Gänge eingerichtet, sodass bis heute Besucher mit staunenden Gesichtern durch das Schloss wandelten.
Lucia streckte ihren Arm beim Gehen aus und ließ ihre Hand an dem kalten Stein der Mauer entlanggleiten. Alles hatte an Wärme verloren, seitdem ihre Mutter tot war. All die Pracht und die Schönheit des Schlosses waren ohne Bedeutung. Zornig ballte sie die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen, sie würde diese Engel dafür büßen lassen, dass sie ihr die geliebte Mutter und ihrem Vater die Ehefrau genommen hatten. Hinterhältig hatten diese Wesen sie mit einem unbekannten Gift niedergestreckt, sodass sie bis zum Ende hatte leiden müssen. Jeden einzelnen Engel würde sie dafür büßen lassen, besonders aber Gabriel und Uriel, die ihrer Mutter diesen schrecklich qualvollen Tod angetan hatten. Lucia sah die Fratzen der beiden Wesen vor sich, höhnisch grinsend, und sie kämpfte die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten. Wütend schlug sie gegen die Wand und starrte auf den Boden, blinzelte mehrmals, bis sie wieder klar sehen konnte. Erst jetzt bemerkte Lucia, dass Loana direkt vor ihr stand, die Bücher abgelegt hatte und sie aus mitleidigen Augen ansah.
»Ihr habt an Eure Mutter gedacht, habe ich recht?«
»Ja, wie soll man auch nicht an sie denken, wenn man durch dieses Schloss geht? Ich hasse es!«
»Eure Zeit wird kommen und dann könnt Ihr Euch an diesen Monstern rächen. Und wenn es soweit ist, dann schlagt bitte auch einmal für mich zu!«
Die geballte Faust und der kämpferische und entschlossene Blick der Dienerin entlockte Lucia ein Lächeln, Loana hasste die Engel genauso wie sie selbst.
»Darauf kannst du dich verlassen! Ich werde mehr als nur einmal zuschlagen.«
»Davon gehe ich aus«, entgegnete die frühere Dienerin ihrer Mutter mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. »Na kommt schon, bringen wir die Theorie hinter uns und dann habt Ihr sicher noch Zeit für einen Ausritt.«
Lucia schnappte sich das oberste Buch mit der Aufschrift Anatomie der Engel, während Loana die restlichen Bücher hochhob.
Wie ich es verabscheue, denke ich, wende meinen Blick ab und betrachte lieber die übrigen Studentinnen, die fasziniert nach vorn schauen. Entzückt versinken sie in der Betrachtung des Werkes eines der vielen Künstler, die sich dem allzeit beliebten Thema gewidmet hatten. Motiviert schnellen ihre Hände in die Höhe, um dem Professor ihre Analyse und Interpretation mitzuteilen. Ich hingegen senke meinen Blick wieder, darauf bedacht nicht auf die Leinwand und das darauf projizierte Bild zu schauen.
»Lucile, Sie scheinen besonders an diesem Bild interessiert zu sein. Wollen Sie nicht Ihre fachkundige Meinung äußern?«, ertönt in diesem Moment die Stimme meines Professors und ich stöhne genervt auf.
Was soll ich denn sagen? Dass ich das Bild grauenhaft finde und diese hässlichen Fratzen, die mir so finster entgegengrinsen, nicht anschauen will? Dass der Künstler wohl einen im Tee hatte, als er das Bild vor Hunderten von Jahren gemalt hat?
Alle Augen sind auf mich gerichtet, gespannt warten sie, was ich zu sagen habe. Doch ich habe gelernt meine Meinung zu verbergen und ihnen nach dem Mund zu plappern, darauf bedacht keinen Argwohn zu erregen.
»Der Künstler wollte die weichen und lieblichen Formen der Figuren hervorheben. Er verwendete helle Farben und besonders der Goldton schien ihm für die zarten Wesen geeignet. Das Gemälde wirkt friedlich und einladend, besonders die Engel sind harmonisch dargestellt«, ende ich und entspanne mich erst wieder, als die Blicke meiner Kommilitoninnen zurück zur Leinwand schweifen.
»Gut erkannt, Lucile. Sie haben wirklich ein gutes Auge«, lobt Professor Marin und führt seinen Vortrag über den Künstler fort. Erleichtert atme ich aus und blicke noch einmal zu dem Gemälde hoch.
Zwei Engel sind darauf zu sehen, in feine weiße Tücher gekleidet umringen sie einen Springbrunnen. Ihre weißen Flügel leuchten in der Sonne und sie scheinen den Betrachter lieblich und freundlich gesinnt anzusehen. Doch diese Idylle währt nicht lange. Die eben noch weißen Flügel färben sich schwarz, die fleischfarbene Haut nimmt einen grünlichen Ton an und die Gesichter verzerren sich zu Fratzen, die spitze Zähne entblößen, während irre Augen leuchtend gelb auf mir liegen. Mich überzieht eine Gänsehaut und die Nackenhaare stellen sich unangenehm auf. Fröstelnd ziehe ich die Ärmel meines Pullis bis zu den Fingerspitzen hinunter und muss meinen Blick abwenden. Übelkeit steigt in mir auf. Wieso sehen die anderen es nicht? Ihre Blicke hängen noch immer an dem Gemälde und sie beschreiben diese zwei Wesen mit den schönsten Begriffen. Bin ich verrückt?
Diese Frage stelle ich mir bereits, seit ich denken kann.
So wie andere sich vor Clowns fürchten, sind es bei mir Engel, vor denen ich schreckliche Angst habe. Schon als kleines Kind verwandelten sich die geflügelten Wesen vor meinen Augen zu hässlichen Monstern. Seien es Statuen, Bilder oder kleine Figuren – allesamt wurden sie zu angsteinflößenden Kreaturen. Doch außer mir sah dies niemand. Meine Eltern hielten es zu Beginn noch für das fantasievolle Geplapper eines Kleinkindes, doch mit dem Lauf der Zeit sahen sie mich immer verwunderter und irritierter an, wenn ich von meinen Beobachtungen erzählte. Auch meine Freunde hielten es für Wahnvorstellungen und wollten nicht mehr mit mir spielen. Irgendwann beschloss ich es für mich zu behalten und einen möglichst großen Bogen um Engel jeglicher Art zu machen. Meine Eltern und Freunde beruhigten sich und nach außen hin schien ich ein ganz normales Kind zu sein.
Meine Vermeidungstaktik funktionierte auch sehr gut, bis ich mit meinem Kunststudium begann und entdeckte, dass sehr viele Künstler ein Lieblingsmotiv hatten – nämlich Engel. Mittlerweile kann ich mich auch hier gut verstellen, doch bekomme ich schwitzende Hände und mein Puls rast, wenn ich mir ein Gemälde mit Engeln anschauen muss.
In Gedanken versunken bemerkte ich nicht, dass die Vorlesung vorbei ist, und erschrecke, als Professor Marin sich vor mir dezent räuspert. Ich fahre zusammen und starre zu dem jungen Mann hoch, der mich belustigt aus hellbraunen Augen mustert. Seine schulterlangen blonden Haare trägt er zu einem Pferdeschwanz gebunden, doch einzelne Strähnen fallen ihm ins Gesicht, als er sich zu mir hinunterbeugt.
Die übrigen Studentinnen sind weg, wir sind ganz allein im Hörsaal. Das Blut schießt mir in die Wangen und ich wende meinen Blick beschämt ab, versuche meinen Herzschlag zu beruhigen.
»Habe ich Sie etwa beim Träumen ertappt, Lucile?« Seine samtene Stimme klingt angenehm in den Ohren, damit kann er sicher jede Frau bezirzen. Mich hingegen beschleicht in seiner Gegenwart stets ein unangenehmes Gefühl, einer bösen Vorahnung gleich, die ich allerdings nicht erklären kann. Am ganzen Körper spüre ich ein Prickeln und halte es nicht mehr auf meinem Stuhl aus.
»Ähm, nein, ich war nur in Gedanken versunken – über das Gemälde von vorhin«, lüge ich und stehe rasch auf. Verlegen lächelnd schnappe ich mir meine Tasche, gehe rückwärts aus der Tischreihe und schiebe mich in Richtung Ausgang. »Bis morgen, Professor Marin!« Zögernd winke ich ihm zu, will nur noch raus aus diesem Raum und weg von ihm. In seiner Gegenwart wird mir ganz schwindelig.
»Bis morgen, Lucile!«, höre ich ihn noch rufen, als ich durch die Tür hinaus ins Freie schlüpfe.
»Ich musste natürlich bis zum Sonnenuntergang über diesen Wälzern sitzen und mir irgendwelche sinnlosen Fakten über Engel anlesen«, murrte Lucia und lenkte den schwarzen Hengst sicher durch das Gestrüpp. Peitschend schnellte ein Zweig nach hinten, nachdem sie ihn passiert hatte.
»He, pass doch auf!«, beschwerte sich eine dunkle Stimme. Lucia musste sich ein Lachen verkneifen, als sie sich nach hinten umdrehte und den verärgerten Gesichtsausdruck ihres besten Freundes sah. Einzelne Blätter hatten sich in den Hörnern verfangen, die zwischen Feros glänzenden schwarzen Haaren emporsprossen. Mit grün-braunen Augen funkelte er die Prinzessin böse an, als er endlich das letzte Grünzeug aus seiner Frisur entfernt hatte. Schnell wendete Lucia sich ab, sah auf den Hals ihres Pferdes hinunter und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte. Der Blick in seine ungewöhnlichen Augen, die so untypisch für einen Teufel waren, verunsicherte sie in letzter Zeit immer mehr, dabei kannte sie ihn bereits seit Kindertagen. Sie musste zugeben, dass er alles andere als schlecht aussah mit seinen breiten Schultern und dem trainierten Körper. Bei ihren Spaziergängen durch die endlos wirkenden Gänge des Schlosses starrten ihm viele Frauen hinterher und kicherten hinter vorgehaltener Hand. Lucia hatte ihn damit immer aufgezogen, doch seit Kurzem spürte sie dabei einen leichten Anflug von Eifersucht.
Das durfte nicht sein, sie war schließlich die Prinzessin, so etwas wie Eifersucht sollte sie gar nicht kennen! Mit nur mäßigem Erfolg versuchte sie nun schon seit Tagen dieses Kribbeln zu unterdrücken, das sie in seiner Gegenwart befiel.
Der Weg wurde breiter und Fero trieb seinen großen Braunen zum Trab an, bis er zu ihr aufschloss.
»Das nächste Mal reite ich voran, wenn du wieder auf die geniale Idee kommst mitten durch das Gebüsch zu preschen.«
»Ich weiß gar nicht, was du meinst.« Sie grinste ihn noch einmal frech an, gab ihrem Hengst die Sporen und donnerte im Galopp davon. Ihre offenen Haare flogen ihr um die Nase, während sie in raschem Tempo den Waldweg entlangritt. Hinter sich vernahm sie das dumpfe Geräusch der Hufe von Feros Wallach, der die Verfolgung aufgenommen hatte.
Ungeachtet vieler Wurzeln trieb sie ihr Pferd weiter, sprang über kleinere Hindernisse und kam am Ende des Weges japsend zum Stehen. Vor ihnen lag eine große Wiese, die leicht abfallend bis zum Schloss hinabführte. Während sie ihren Oberkörper leicht drehte, kam Fero neben ihr zum Stehen und klopfte dem nach Atem ringenden Braunen auf den Hals.
»Diavolo ist wirklich das schnellste Pferd, das ich je gesehen habe. Er ist wahrhaftig ein kleiner Teufel«, sagte er anerkennend und betrachtete Lucias kräftigen Hengst, dessen Muskeln im Sonnenlicht zu pulsieren schienen.
Lucia lachte stolz und tätschelte Diavolo den erhobenen Kopf. »Deshalb passt er ja auch so gut zu mir«, gab sie mit einem Augenzwinkern zurück und erntete ein umwerfendes Lächeln.
Die beiden Freunde setzten ihren Weg fort und ritten in gemütlichem Tempo über die üppige Wiese und auf das Schloss zu. Das Gras reichte bis zu ihren Füßen hinauf und verschiedene Blumenarten verteilten sich wie bunte Farbkleckse auf der grünen Fläche. An den strahlend blauen Himmel hatten sich nur wenige Wolken verirrt und Lucia schloss träumerisch die Augen. Sie vertraute ihrem Pferd, gab ihm die Zügel und ließ sich von ihm treiben, spürte deutlich den schaukelnden Rhythmus seiner Bewegungen.
Wenn es doch bloß immer so sein könnte, dachte sie hoffnungsvoll, doch die Engel ließen ihnen keine Ruhe.
Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, dass Fero sie interessiert musterte. Er hatte seinen Wallach dicht an ihren Hengst gelenkt und seine Beine berührten ihre hin und wieder. Stumm sah sie ihn an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Stille schien allmählich bedrückend, nur das Zirpen einzelner Heuschrecken und das Zwitschern der Vögel aus dem hinter sich gelassenen Wald wurden vom Wind zu ihnen getragen.
Verlegen räusperte sie sich und sah wieder zum Schloss hinüber. Malerisch lag es umringt von Wiesen und Wäldern. Es verbarg hinter sich das große Dorf, als würde es die Bewohner vor Angreifern schützen wollen. Das Gebäude war prachtvoll, mit runden Türmchen, vielen Rundbögen, Giebeln und Balkonen. Skulpturen prangten an verschiedenen Stellen und zeigten Vorfahren und frühere Könige dieses Reiches. Auf den Dächern waren zahlreiche Stacheln verteilt, um es den Engeln zu erschweren darauf zu landen und die Bewohner heimtückisch anzugreifen.
Fero räusperte sich neben ihr dezent und Lucia sah wieder zu ihm herüber. »Um noch mal auf gestern zurückzukommen. Hast du mittlerweile herausbekommen, warum dein Vater dich seit Kurzem so viel Theorie pauken lässt?«
Frustriert zuckte die junge Frau mit den Schultern. »Nein, er will es mir nicht sagen und lenkt immer vom Thema ab, wenn ich ihn darauf anspreche. Seit der letzten Schlacht ist das so. Dabei haben wir damals haushoch gewonnen und waren den Engeln eindeutig überlegen. Was weiß ich, was in ihn gefahren ist.« Genervt pustete sie sich die Haare aus den Augen, die ihr nun wirr ins Gesicht hingen. Sie lehnte es ab, ihre bis zur Brust reichenden Haare zusammenzubinden, wenn sie ausritt. Das Gefühl des Windes, der in ihrer Haarpracht spielte, wenn sie galoppierte, war zu verlockend.
»Dein Vater ist seit Neuestem auch so mürrisch. Er hat sich irgendwie verändert.«
»Das stimmt. Er lässt mich auch nur noch ungern ausreiten, vor allem, wenn ich allein losziehen will. Er ist ein richtiger Übervater geworden. Als wenn mir hier etwas passieren könnte.« Mit einer ausschweifenden Handbewegung versuchte sie die gesamte Umgebung zu erfassen. »Außerdem kann ich mich verteidigen, ich bin schließlich kein hilfloses Burgfräulein wie in diesen Märchen, die mir Mutter immer vorgelesen hat, als ich klein war.«
Fero lachte laut los und Lucia sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Nein, das bist du wirklich nicht, hochwohlgeborenes Fräulein.«
Sie knuffte ihn in die Seite und trabte das letzte Stück zum Schloss, während er ihr immer noch lachend hinterhereilte.
»Schon wieder?« Mitleidig sieht Marie mich über ihre Kaffeetasse hinweg an und schüttelt ungläubig den lockigen Kopf. »Ich verstehe echt nicht, warum dein Gehirn dir immer wieder solche Bilder vorgaukelt.«
Wie beiläufig wickelt sie eine blonde Strähne um ihren Zeigefinger und lässt die Locke zurückschnellen. Als Kind hätte ich meine glatten schwarzen Haare liebend gern gegen ihre blonden Locken eingetauscht, doch seit wir in unserer Mädels-WG zusammenwohnen, weiß ich meine pflegeleichten Haare zu schätzen.
»Du immer mit deinem psychologischen Kram. Ich bin einfach nicht normal, das ist die einzig mögliche Erklärung«, gebe ich gereizt zurück, während ich mit meiner Gabel spiele und einen bösen Blick aus den blauen Augen meiner Freundin ernte. Seitdem sie Psychologie studiert, versucht sie meine Wahnvorstellungen psychologisch zu ergründen. Sie ist die Einzige, der ich von den schrecklichen Bildern erzähle, und das Beste daran ist: Sie glaubt mir. Schon in der Grundschule war sie das einzige Kind, das mir ohne einen Beweis geglaubt hat und ohne Wenn und Aber meine Freundin sein wollte. Dafür liebe ich sie bis heute. Ich würde mein Kunststudium nicht überstehen, wenn ich niemandem von den abscheulichen Engeln erzählen und dabei meinen Frust loswerden könnte. Mir liegt die moderne Kunst viel mehr, da sie ohne die geflügelten Wesen auskommt, doch leider sind auch antike Werke Teil dieses Studiums. Augen zu und durch, denke ich mir immer wieder.
»Du bist normal! Lass dir von niemandem einreden, du wärst es nicht. Vielleicht ist es deine Gabe das wahre Gesicht der Engel zu sehen«, sagt sie mit einem Augenzwinkern und ich muss kichern.
Gabe, na klar, denke ich belustigt. »Kann es sein, dass du wieder eine dieser Sendungen über ein übernatürliches Medium gesehen hast?«
»Diese Sendung ist sehr informativ, du siehst das Potenzial dahinter nur nicht«, verteidigt sich Marie.
»Das wird es wohl sein«, lache ich und stochere in meinem Apfelkuchen herum. Mir ist wieder einmal der Appetit vergangen, wie immer nach solchen Situationen, wie ich sie in der gestrigen Vorlesung erleben musste. So habe ich immerhin keine Probleme mein Gewicht und damit meine schlanke Figur zu erhalten, während Marie mit jedem Kilogramm kämpft.
»Du musst was essen, sonst fällst du mir noch vom Fleisch.« Maries besorgter Blick ruht auf mir, sie macht sich ständig Sorgen um mich. Seit meinem neunzehnten Geburtstag habe ich vermehrt Albträume und wache nachts schweißgebadet und verstört auf. Diese angsteinflößenden Engelsfratzen verfolgen mich bis in meine tiefsten Träume, reißen mich aus der schönsten Illusion und führen mich in grausame Schlachten und Kämpfe bis zum Tod. Doch woher kommen diese Bilder? Ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären. Auch Marie ist ratlos, sitzt nachts oft an meinem Bett, bis ich wieder schlafen kann oder quatscht mit mir die Nacht durch, weil ich nicht mehr schlafen will. Es dauert, bis die Bilder abklingen, die wieder lebendig werden, sobald ich meine Augen schließe. Vielleicht sollte ich doch ihren Rat beherzigen und einen Therapeuten aufsuchen.
Resigniert schiebe ich Marie den Kuchen zu, die erst den Kopf missbilligend schüttelt, um die Gabel dann doch begeistert zu nehmen und den Kuchen zu verschlingen. Während sie genüsslich isst, schweift mein Blick durch die große Fensterscheibe hinaus auf den Campus, auf dem Studenten wie ein Haufen wild gewordener Ameisen herumwuseln. Mitten zwischen den jungen Leuten taucht Professor Marin auf und ich zucke zusammen.
Wieso erschreckt mich sein Anblick so dermaßen?
Er sieht im Vorbeilaufen in das Café hinein, als wüsste er, dass ich dort sitze, und er lächelt mich an. Dabei zeigt mein Lehrer seine strahlend weißen Zähne. Ich traue mich nicht mich zu bewegen, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.
»Ach, war das nicht grad dein schnuckeliger Kunstprofessor?«, nuschelt Marie mit vollem Mund. Einzelne Krümel fallen lautlos auf ihren Teller zurück.
»Doch«, grummle ich und sehe sie missmutig an.
»Was ist los? Soviel ich mitbekommen habe, ist er der Grund für die vollen Hörsäle der Kunstvorlesungen. Allein diese Haare, da würde ich zu gern mal mit meinen Fingern durchfahren.«
Ich gebe ein undeutliches Zischen von mir und verschränke die Arme. »So toll ist der gar nicht und die langen Haare finde ich weibisch. Außerdem überkommt mich immer ein ganz unangenehmes Gefühl in seiner Nähe. Gestern war ich kurz allein mit ihm im Hörsaal, meine Warnglocken spielten verrückt und ich wollte nur noch weg.«
»Na, mit dem wäre ich auch gern mal allein«, raunt Marie mit tiefer Stimme und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen.
Ich muss unwillkürlich lachen und schüttel den Kopf, während ich mit der Zunge schnalze. »Du und deine Männer.«
»Das sagst du nur, weil du viel zu hohe Ansprüche hast. Dabei könntest du mit deinem Aussehen jeden Einzelnen von ihnen haben.«
»Tja, ich will aber nicht jeden, ich will den Richtigen und der ist mir noch nicht über den Weg gelaufen. Bisher bin ich nur an Idioten geraten.« Erinnerungen an misslungene Beziehungen strömen auf mich ein und ich verziehe das Gesicht, schiebe die Gedanken an viele Enttäuschungen weit von mir.
»Und wie willst du den Richtigen erkennen?« Neugierig stützt Marie ihr Kinn auf die Handfläche und schaut mich an.
Verlegen zeichne ich mit meinem Zeigefinger Kreise auf die Tischplatte. »Das weiß ich auch nicht so genau. Aber sollte einem nicht das Herz stehen bleiben, wenn man den Richtigen sieht, und gleichzeitig in tausend Stücke zerspringen? Sollte man nicht Atemnot bekommen und das Gefühl haben, Schmetterlinge würden den Leib von innen heraus explodieren lassen?«
»Das hört sich ja an wie in einem Kitschfilm.«
»Na und, ich will meinen eigenen Kitschfilm erleben.«
»Das sei dir vergönnt, nach all dem Leid, das du durch diese verfluchten Engel ertragen musst.« Aufmunternd legt sie ihre Hand auf meine und lächelt mich an.
»Apropos Engel, ich muss Sonntag mit meinen Eltern in die Kirche, sie bestehen darauf.« Genervt verdrehe ich die Augen und schüttele mich.
»Na toll, kannst du nicht aus der Kirche austreten? Dann müsstest du nie wieder dorthin und diese Engelbilder stundenlang ertragen.«
»Ha, meine Eltern würden mich köpfen, wenn ich diesen Schritt wagen würde. Du weißt doch, wie sie sind. Religion hier, Glaube da, Gottesdienst dort. Typisch Religionslehrer.«
»Das ist echt blöd gelaufen, dass gerade du an solche Eltern geraten musstest.«
Sachte hin und her schwingend glitt eine schwarze Feder vor ihrem Gesicht vorbei und bewegte sich in der gleichbleibend wiegenden Bewegung auf den Boden zu. Die Sonne brannte vom Himmel, schützend beschirmte sie ihre Augen mit der Hand und suchte die Umgebung ab. Das Gefühl beobachtet zu werden drängte sich ihr auf und so ging sie auf dem Hof umher und hielt nach Feinden Ausschau. Doch kein Wesen verdunkelte das reine Blau über ihr und es drangen lediglich die betriebsamen Geräusche aus dem Schlossinneren an ihr Ohr. Rätselnd hob sie die Feder auf und legte sie in ihre Handfläche, die daraufhin vollständig verdeckt wurde. Für eine Rabenfeder war sie eindeutig zu groß. Noch einmal sah sie in den Himmel, der sich wie verlassen über ihr und dem Schloss erstreckte. Schulterzuckend ließ sie die Feder fallen und ging in das kühle Innere des Gemäuers hinein. In dem roten Kleid mit den langen Armen und dem bodenlangen Rock wurde es ihr nach einer Weile zu heiß in der Sonne – Zeit die Sommerkleider auszupacken. Vielleicht sollte sie einfach ihre Reithose anziehen und einen Ausritt in den schattigen Wald wagen, auch wenn ihr Vater ihr verboten hatte allein auszureiten.
Wieder einmal versuchte sie das Rätsel um das seltsame Verhalten des Königs zu ergründen. Seit sie von der letzten Schlacht heimgekehrt waren, führte er sich als Beschützer und wie eine Glucke auf. Wo sie zuvor noch allein durch die Wälder streifen durfte, verschiedene Kampftechniken erlernen konnte und sich selten mit den verstaubten Büchern abmühen musste, schlug jetzt alles ins Gegenteil um. Es wäre ihm am liebsten, Lucia würde sich nur noch im Schloss fortbewegen, mit hundert Wachen ausreiten – wenn überhaupt und die Nase lediglich in die Bücher stecken. Sie war eine talentierte und geschickte Kriegerin, scheute den Kampf mit den Engeln nicht und wusste sich zu verteidigen. Viele Fähigkeiten hatte sie bereits erlernt und wusste ihre Kräfte einzusetzen, doch ihr Vater behandelte sie neuerdings wie ein kleines Kind. Nicht wie die große Kriegerprinzessin, die sie war, die Tochter des Königs der Teufel.
Vor sich hin murrend und mit ihrem Schicksal hadernd schlenderte Lucia durch das Schloss, bis sie am ehemaligen Handarbeitszimmer ihrer Mutter vorbeikam. Ihr Weg führte sie oftmals unbewusst hierher. Wenn sie ziellos durch die Gänge lief und träumte, landete sie hier, getrieben von der Sehnsucht nach ihrer geliebten Mutter.
Vorsichtig drückte sie die Tür auf, die nie abgeschlossen war, und trat ein in den hellen und staubigen Raum. Niemand durfte etwas verändern, sodass die zahlreichen Tische und Kommoden mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren und gräulich schimmerten. Spinnweben zierten die Ecken an den Wänden und die vergilbten Vorhänge wehten leicht im Wind, der sich durch ein Loch in der Scheibe Einlass verschaffte. Nicht vollendete Handarbeiten, Stickereien und Schnittmuster lagen auf den Tischen verstreut und ein bequemes geblümtes Sofa stand einladend in der Mitte des Raumes. Lucia sah ihre Mutter noch vor sich, wie sie mit einem ihrer bunten Kleider dort saß, eine Stickerei in der Hand, fröhlich schwatzend mit Loana, die neben ihr auf dem Sofa die Fäden bereithielt. Wie gern würde sie jetzt mit ihrer Mutter über das Verhalten ihres Vaters sprechen, doch Gabriel und Uriel hatten ihr diese Möglichkeit genommen. Hatten ihr das Liebste aus dem Herzen gerissen und Leere hinterlassen. Nein, nicht Leere, sondern Hass. Dieses Gefühl der unbändigen Wut und der Abscheu erfüllte sie jedes Mal, wenn sie an diese erbärmlichen Wesen dachte. Das Blut in ihren Adern schien zu pulsieren und zu brennen. Das Feuer, das ihr innewohnte, erwachte zum Leben. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte wie hypnotisiert auf das leere Sofa, spürte den Zorn immer mehr in sich aufsteigen. Tief in ihr brodelte es, ihr Hass nährte die Flamme. Eine enorme Hitze ging von ihr aus, sie öffnete die Fäuste und ließ das Feuer fließen. Zwei Feuerbälle materialisierten sich in ihren Handflächen und wurden, genährt von ihrer Wut, immer größer.
»Ähm, Hoheit, was habt Ihr vor?«, ertönte eine unsichere Stimme hinter ihr und Lucia schrak zusammen.
Die Feuerbälle lösten sich in Nichts auf und ihr Blut beruhigte sich, kühlte sich ab. Zaghaft drehte sich Lucia zu der Dienerin um und hob ungläubig die Hände, starrte auf die darauf verlaufenden Lebenslinien.
»Ich weiß auch nicht, ich habe so eine schreckliche Wut gespürt. Es hat sich scheinbar einiges in mir angestaut und bei dem Anblick ihres Zimmers …« Ihre Stimme brach und Loana kam auf sie zu, legte tröstend ihren Arm um die Hüfte der Prinzessin, um sie an sich zu ziehen. Nur zögernd gab Lucia nach und schmiegte sich an die pummelige Dienerin, hatte keine Kraft mehr, immer nur die Starke zu sein. Während die ehemals Vertraute ihrer Mutter ihr, wie bei einem kleinen Kind, über den Rücken strich, liefen Tränen ihre heißen Wangen hinab, tropften auf den kalten Stein und sammelten sich in den Ritzen.
»Ist schon gut, Hoheit. Jeder braucht irgendwann eine Schulter zum Ausheulen, selbst starke Prinzessinnen. Euer Vater trauert um Eure Mutter, auch wenn er es nicht immer zeigt. Ihr seid das Einzige, was ihm von ihr geblieben ist, deswegen hat er auch solche Angst Euch zu verlieren.«
Lucia blinzelte die letzten Tränen weg und löste sich aus der warmen Umarmung, wischte sich mit den Ärmeln über die nassen Wangen. »Hat er mit dir darüber gesprochen?«
»Ha, wo denkt Ihr hin? Dazu ist er doch viel zu stolz. Nein, das spürt man. Ich kenne Eure Familie schon sehr lange und kann sein Verhalten gut deuten. Seit der letzten Schlacht scheint seine Angst schlimmer geworden zu sein. Wisst Ihr, ob auf dem Schlachtfeld etwas Außergewöhnliches geschehen ist?«
Lucia lachte laut auf und drehte sich zur Tür um, schritt langsam auf den Flur hinaus. »Nein, Loana, ich habe nichts bemerkt.« Sie schritt den Gang ein Stück entlang, bis sie es sich anders überlegte und zurück zur Tür des verstaubten Zimmers ging. Zögerlich lugte sie zu der Dienerin, die in die Betrachtung des Zimmers versunken schien. »Danke«, stammelte Lucia leise und erntete ein verträumtes Lächeln.
»Nichts zu danken, Hoheit.«
Nach einem kurzen Nicken setzte Lucia ihren Weg durch das Schloss fort und merkte, dass es sich gar nicht so schlecht anfühlte an einer vertrauten Schulter Trost zu suchen. Doch bewies das nicht Schwäche?
Seit Kindertagen wurden ihr die Tugenden einer Prinzessin gelehrt. Stolz zu sein, keine Schwäche zu zeigen, das wurde von ihr erwartet. Sie durfte sich nicht derart gehen lassen, sie musste stets stark für ihre Untertanen sein.
Hocherhobenen Hauptes schritt sie auf den Thronsaal zu, mit dem Vorsatz so etwas nie wieder zuzulassen – Gefühle waren etwas für Schwächlinge. Was brachte einem solch ein Ausbruch, wenn man an der Situation doch nichts ändern konnte? Noch so viele Tränen brachten ihre Mutter nicht zurück, doch zwei tote Engel konnten ihren Rachedurst vielleicht löschen und den Schmerz enden lassen, der tief in ihrem Inneren tobte. Wiedergutmachung brachte ihr hoffentlich die ersehnte Erleichterung.
Lucia beschloss ihren Vater auf seine Vorsicht anzusprechen und darauf zu bestehen, dass ihr Kampftraining fortgeführt wurde. Sie wollte Gabriel und Uriel höchstpersönlich büßen lassen.
***
Seit mehreren Minuten stand sie nun vor der großen dunklen Holztür und starrte die Maserung an, überlegte sich, wie sie es angehen sollte. Ihr Vater war in den letzten Wochen leicht reizbar gewesen, vor allem, was dieses Thema anbelangte. Die mühsam verdrängte Wut von vorhin begann in ihrem Magen zu grummeln und sie an ihr Ziel zu erinnern. Bewusst straffte sie die Schultern, schob die schwere Tür auf, die mit einem Knarzen den Blick auf den Thronsaal in seiner vollen Pracht preisgab.
Vor den bodentiefen Fenstern hingen dicke rote Vorhänge, die kaum einen Lichtstrahl in den weitläufigen Raum einließen, alles in rötliches Zwielicht tauchten und den Eindruck erweckten, man befände sich in einer Höhle. Erhöht auf einem Podest, nur über mehrere Stufen erreichbar, stand der Thron des Königs. Ein riesiges hölzernes Sitzmöbel, das in jeder Schnitzerei und Verzierung Macht und Erhabenheit ausdrückte. Feuerwalzen schossen an seinen Seiten empor und verliehen ihm den Anschein in Flammen zu stehen. Ihr Vater saß lauernd darauf und starrte ihr entgegen, wachsam jeden ihrer Schritte beobachtend. Mehrere Wachen säumten den Gang zur Treppe hin, standen stramm und zuckten nicht einmal mit der Wimper, als sie an ihnen vorbeischritt.
Die Wut in ihrem Inneren ebbte ab und hinterließ Mitleid, als sie an den Stufen ankam und den Gesichtsausdruck des Königs im schummrigen Licht sah. Ihr Vater dachte hier häufig über ihre Mutter nach, darüber, wie er den hinterhältigen Giftanschlag hätte verhindern können. Seit dem Tod seiner geliebten Gattin machte er sich Vorwürfe, haderte mit seinem Schicksal, auch wenn er es vor seiner Tochter zu verbergen versuchte. Doch sie kannte den König besser, als er ahnte.
»Grämst du dich schon wieder, Vater?« Sie ließ die Stufen hinter sich und setzte sich zu seinen Füßen nieder, nahm seine angebotene Hand entgegen und führte sie zu ihrer Wange. »Es bringt doch nichts, immer wieder darüber nachzudenken, was wir hätten anders machen oder wie wir es hätten verhindern können. Wir sollten lieber darüber nachdenken, wie wir Rache üben können.«
»Dein Sinn nach Rache in Ehren, Lucia, ich spüre ihn selbst in jeder Faser meines Körpers, doch lass das meine Sorge sein. Für dich ist es zu gefährlich sich mit Gabriel und Uriel anzulegen.«
Abrupt ließ sie seine Hand sinken und sprang auf, starrte ihm in die traurigen Augen und versuchte sich und ihr Feuer zu beherrschen.
»Was sagst du da? Zu gefährlich? Seit wann das denn, Vater? Hast du mich nicht immer wieder mit auf das Schlachtfeld genommen, damit ich das Kämpfen lerne? Damit ich möglichst viele Engel töte, um mich auf Gabriel und Uriel vorzubereiten? Ich bin eine gute Kriegerin, ich beherrsche meine Kräfte und kann unsere Feinde mit Leichtigkeit um ihr Leben bringen. Ich wäre sogar noch besser, wenn du mich wieder trainieren lassen würdest, anstatt mich über langweiligen und trockenen Büchern versauern zu lassen. Wie soll ich mich denn mithilfe der Bücher verteidigen? Soll ich etwa Gabriel mit einem dieser dicken Wälzer erschlagen? Oder Uriel mit deren Inhalt zu Tode langweilen?«
Abwartend starrte Lucia den König von oben herab an, ihre Adern pulsierten, brannten. Sie hatte sich so in Rage geredet, dass sie nicht mehr auf ihr Feuer geachtete hatte und es nun ungehindert durch ihren Körper floss.
Der König sah ihr seelenruhig und mit einem Lächeln auf den Lippen in die rot aufflammenden Augen.
»Du siehst aus wie deine Mutter, hast aber ohne Zweifel mein Temperament geerbt. Ich sollte stolz sein, doch ich traue den Engeln nicht. Sie führen etwas im Schilde und ich habe die böse Vorahnung, dass sie es auf dich abgesehen haben.«
Lucia riss die Augen auf und sah ihn ungläubig an. »Auf mich? Wie kommst du denn darauf?«
»Sie wollen mich schwächen. Das haben sie bereits getan, als sie deine Mutter getötet haben. Doch sie wollen mich am Boden sehen, mir das Liebste nehmen und mich damit zerstören. Und das bist du, mein Kind.«
»Du meinst …, sollten das Gabriels letzte Worte bedeuten?« Nachdenklich setzte sie sich auf die Armlehne des Thrones und ließ ihren Blick über die Wachen schweifen, die ungeachtet ihres Gespräches immer noch starr am Fuße der Treppe standen – wie Spielzeugsoldaten, die keinen Funken Leben enthielten.
»So deute ich es, ja, mein Kind.« Ihr Vater ließ ein verärgertes Grummeln hören und kratzte sich über das stoppelige Kinn. Schwarze Barthaare, die sich wie die Stacheln eines Igels anfühlten, sprossen darauf und ließen ihn gefährlich und bösartig wirken. Er zog seine dicken schwarzen Brauen zusammen und blickte starr geradeaus, als würde er den Feind vor sich sehen und mit seinem Blick töten wollen.
Lucia kam dieser Umstand gelegen, um ihre Bitte endlich vorbringen zu können. Die junge Frau erhob sich und baute sich vor ihrem Vater auf. Als er die Augen auf seine Tochter richtete, verschränkte sie die Arme vor der Brust und setzte ihren entschlossensten Blick auf.
»Du musst mich weiter trainieren lassen! Wenn sie es wirklich auf mich abgesehen haben, bringt mir diese Theorie sowieso nichts. Ich will mich verteidigen können und dazu muss ich meine Kräfte entwickeln. Es bringt auch nichts, mich im Schloss einzusperren. Sie werden einen Weg zu mir finden, so wie sie es bereits bei Mutter geschafft haben. Erst vorhin habe ich eine schwarze Feder auf dem Hof gefunden und es war definitiv keine Rabenfeder. Ich komme mir seit Tagen beobachtet vor, ohne es erklären zu können. Es ist ein dunkles Gefühl – ein Gefühl der Bedrohung. Du musst Telra erlauben mich wieder zu trainieren!«
Lucia versuchte dem Blick ihres Vaters standzuhalten, der sie reglos aus seinen dunkelroten Augen musterte. Er erinnerte sie an einen lauernden Wolf. Ihr Blut geriet wieder in Wallung, innerlich bereitete sie sich auf eine Absage und ihre folgende Rebellion vor. Sekunden vergingen und kamen ihr wie eine Ewigkeit vor, bis er sich endlich räusperte und den Blick von ihr abwendete.
»Du hast recht, meine Tochter. Ich schütze dich nicht, indem ich dich einschränke und zu einem Prinzesschen verkommen lasse.«
»Davon war auch nie die Rede, Vater!«, protestierte sie und funkelte den König böse an, doch ihr Feuer kam zur Ruhe.
Sein schallendes Lachen erfüllte den weiten Raum, während er sich schwerfällig erhob. »Du wirst wohl irgendwann eins, wenn ich dich nur noch an die Bücher kette.«
An die erste Wache gewandt gab er den Befehl Telra in den nächsten Tagen einzubestellen.
Erfreut und glücklich über den errungenen Sieg gab Lucia ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange und verließ voller Vorfreude den Thronsaal, um Loana die gute Nachricht zu überbringen.
Die letzten Nächte hatten mich die Albträume verschont und so stehe ich nun ausgeruht vor der Haustür meiner Eltern. Der ländliche Ort ist nur fünfzehn Minuten von Saarbrücken, wo ich studiere und gemeinsam mit Marie recht zentral wohne, entfernt. Dennoch hat man hier das Gefühl mitten auf dem Land fernab jeglicher Großstadt zu sein. Der Geruch nach frischen Brötchen steigt mir in die Nase und noch bevor ich mich auf das Frühstück freuen kann, weht ein laues Lüftchen den Gestank nach Kuhmist zu mir und droht mir jeglichen Appetit zu verderben. Ich halte mir aufstöhnend die Nase zu, atme angestrengt durch den Mund und schließe so schnell wie möglich die Haustür auf. Mit einem beherzten Sprung rette ich mich in das Haus meiner Eltern und schlage die Tür hinter mir zu. Tief durchatmend lehne ich mich von innen dagegen und spüre den erschrockenen Blick meines Vaters auf mir ruhen, der gerade aus der Wohnzimmertür tritt.
»Um Himmels willen, Kind, was ist denn passiert?«, fragt er verständlicherweise und sucht meinen Körper mit seinen Augen nach offensichtlichen Verletzungen ab.
»Kuhmist … keine Luft mehr … ich glaube, mir ist schlecht«, presse ich nach Luft ringend hervor.
Der Gesichtsausdruck meines Vaters wandelt sich von entsetzt in total genervt und ich muss grinsen.
»Willkommen zu Hause, du Dramaqueen«, begrüßt er mich und schließt mich in die Arme.
»Ist Luci schon da?«, ertönt es aus der Küche und wir verlassen den Flur und betreten das Esszimmer, bei dessen Anblick mein Magen Freudensprünge veranstaltet. Es ist ein Wunder, dass der Tisch unter dem Gewicht nicht zusammenbricht, so voll hat ihn meine Mutter gepackt. Lauter Leckereien hat sie aufgetischt und mein Magen meldet sich prompt geräuschvoll, woraufhin mein Vater sich mit einem Grinsen im Gesicht zu mir herumdreht.
»Ja, Luci ist da und ihr röhrender Magen auch – hört sich an wie ein brünstiger Hirsch.«
Gespielt beleidigt knuffe ich ihn in die Seite und gehe in die Küche, um meine Mutter zu begrüßen. Mit geblümter Schürze steht sie an der Arbeitsplatte und packt gekochte Eier auf ein Tablett. Sie strahlt mir entgegen.
»Ach, Luci, schön, dass du da bist! Wir müssen uns beeilen, wir wollen doch nicht zu spät zur Messe kommen«, mahnt sie, nachdem ich ihr einen Kuss auf die Wange gegeben und ihr das Tablett abgenommen habe.
Schlagartig gefriert mir mein Lächeln im Gesicht. Sie sieht es, lacht auf und schüttelt dabei ihre hellbraunen kurzen Haare, in die sich bereits vereinzelt graue Strähnen verirrt haben.
»Schau doch nicht so finster drein, ich weiß ja, dass du nicht gern in die Kirche gehst. Von wem du diese Abscheu gegen Religion nur hast? Ich will doch nur einmal im Monat gemeinsam mit der Familie den Gottesdienst besuchen. Den Gefallen wirst du deiner alten Mutter doch tun können.«
Leise vor mich hin murrend trage ich das Tablett zum Esstisch und setze mich an meinen Platz, meinem Vater gegenüber. Nicht nur die Leidenschaft für Religion fehlt mir, ich komme so gar nicht nach meinen Eltern. Mein Vater hat blonde Haare und blaue Augen, meine Mutter braune Haare und grüne Augen. Hin und wieder scherzen sie, ich sei adoptiert, doch die Fotos kurz nach meiner Geburt beweisen das Gegenteil. Meine Mutter hat ein hübsches Gesicht mit hoher Stirn, doch ich gleiche weder ihr noch meinem Vater mit der aristokratischen Nase und dem markanten Gesicht.
Als wäre ich am Verhungern packt meine Mutter zwei Brötchen auf meinen Teller und schiebt mir den Honig zu.
»Iss, mein Schatz! Ich will nicht, dass dein Magen sich während der Messe bemerkbar macht. Heute stellt Pfarrer Thiel einen Theologiestudenten vor, der auch Pfarrer werden möchte. Der junge Mann soll ihm unter die Arme greifen und in das Amt hineinschnuppern. Wir wollen uns ja nicht blamieren, nicht wahr?« Ihr mahnender Blick liegt auf mir. Sie hat die Geschichten aus meiner Kindheit sicher noch deutlich in Erinnerung, mit denen ich die Gemeinde in Aufruhr versetzt hatte. Pfarrer Thiel hat mich damals zur Seite genommen und mir klargemacht, dass Engel himmlische Wesen sind, die uns Menschen beschützen und leiten sollen. Irgendwann habe ich nur noch teilnahmslos genickt, damit seine Predigt vorüberging.
Um mein Wort zu bekräftigen, halte ich die rechte Hand feierlich in die Luft. »Ich gelobe mich zu benehmen.«
»Dramaqueen«, bringt mein Vater während eines vorgetäuschten Hustenanfalls sein Lieblingswort an und zwinkert mir zu. Er sieht alles lockerer und hat mir früher sogar aufmerksam zugehört, wenn ich von den Bildern und Fratzen erzählt habe.
»Lass uns noch fertig frühstücken, wir müssen gleich los«, mahnt meine Mutter und treibt uns zur Schnelligkeit an.
Ich kann es kaum erwarten in die Kirche zu kommen, denke ich und schlinge lustlos mein Honigbrötchen hinunter.
***
Zahlreiche ältere Leute drängen sich durch den schmalen Eingang, allesamt in ihrer Sonntagskleidung.
Wie kann man nur so versessen darauf sein in die Kirche zu kommen und sich dort auf den unbequemen Holzbänken den Hintern platt zu drücken, frage ich mich, als wir vor dem Gotteshaus stehen. Am Fuße der Treppe thront Pfarrer Thiel und begrüßt die Gläubigen mit Handschlag, glücklich lächelnd über die vielen Besucher der heutigen Messe. In seine weiße Robe gekleidet sieht er hoheitsvoll aus, wie er manchen Leuten nur zunickt, mit anderen ein kurzes Schwätzchen hält.
»Wo ist denn der Student, den Pfarrer Thiel uns vorstellen wollte?« Suchend schaut sich meine Mutter um und wirkt enttäuscht. Ich hingegen muss schmunzeln, sie scheint bald zu platzen, wenn sie ihre Neugierde nicht befriedigen kann.
»Der arme Mann wartet sicher in der Kirche, der Ansturm wird ihm zu viel sein«, mutmaßt mein Vater und schiebt meine Mutter und mich auf die Treppe zu.
»Na, komm schon, bringen wir es hinter uns«, flüstert er mir ins Ohr. Er zeigt immerhin ein kleines bisschen Verständnis für meine Haltung gegenüber Kirchen und Engeln. Er weiß, dass ich noch immer Angst vor den geflügelten Wesen habe und die Konfrontation mit ihnen scheue. Meine Mutter hingegen scheint die Augen davor zu verschließen. Sie kann nicht nachvollziehen, dass man diese himmlischen und heiligen Geschöpfe fürchtet.
Pfarrer Thiel schüttelt gerade einem alten Mann mit Hut die Hand, als wir an ihn herantreten und auf seine Begrüßung warten.
»Ah, die Familie Bann, Monika, Peter, wie geht es euch denn?«, fragt er in Richtung meiner Eltern, während er ihnen die Hände schüttelt. Ohne auf eine Antwort zu warten, ergreift er meine Hand und strahlt mich an. »Lucile, wie schön dich zu sehen! Ich freue mich immer, wenn du deine Eltern begleitest. Ich weiß ja, dass du Kirchen nicht besonders magst.«
»Äh, ja, einmal im Monat muss ich ja«, antworte ich verlegen und entziehe ihm meine Hand. In diesem Moment kommt ein junger Mann die Treppe hinunter und steuert auf uns zu. Er gesellt sich atemlos an die Seite des Pfarrers.
»Es tut mir leid, die Damen haben mich beinahe nicht mehr gehen lassen.« Verlegen fasst er sich an den Kopf, greift in seine zerzausten braunen Haare und lacht schief, während Pfarrer Thiel ihm beschwichtigend auf die Schulter klopft.
»Kein Problem, mein Junge, man lernt mit der Zeit damit umzugehen«, beruhigt er den jungen Mann, der nur wenige Jahre älter als ich zu sein scheint.
»Familie Bann, darf ich euch den Nachwuchs vorstellen? Das ist Felix Marx, Theologiestudent aus Trier.«
»Eigentlich komme ich hier aus der Gegend, ich studiere nur in Trier«, wehrt er lächelnd ab, schüttelt erst die Hände meiner Eltern und schaut ihnen dabei selbstbewusst und freundlich lächelnd in die Augen. Dann ergreift er meine Hand, die ich ihm unsicher entgegenstrecke. Ich bleibe mit meinem Blick an seiner ungewöhnlichen Augenfarbe hängen. Der Druck seiner Hand verstärkt sich für einen kurzen Moment, ich spüre das Pulsieren seines Blutes. Ich kann nicht genau ausmachen, ob es grüne oder braune Augen sind. Er wendet seinen Blick ab und entzieht mir seine Hand, während ich ein Gefühl des Bedauerns verspüre. Zu gern würde ich mir diese Augen genauer anschauen. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Eltern weitergegangen sind und Pfarrer Thiel und Felix Marx bereits die nächsten Gläubigen begrüßen.
Mein Vater dreht sich nach mir um und grinst mich an. »Willst du hier draußen stehen bleiben und vor dich hinträumen oder doch lieber mitkommen?«
Ehrlich gesagt würde ich lieber draußen warten, doch ich eile ihnen hinterher und drehe mich auf der Treppe noch einmal zu dem Theologiestudenten um. Unsere Blicke treffen sich und wie ertappt schaue ich schnell wieder nach vorn und betrete mit geröteten Wangen die Kirche.
»Der Herr Marx scheint dir zu gefallen, wie?«, neckt mich mein Vater, der auf mich gewartet hat.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Papa. Ich fand seine Augenfarbe nur so faszinierend, natürlich aus rein künstlerischer Sicht.« Um Ernsthaftigkeit bemüht setze ich einen strengen Blick auf, doch mein Vater grinst breit.
Blödmann …
Typisch für meine Mutter, sitzen wir wenig später in der ersten Reihe und warten darauf, dass der Gottesdienst beginnt. Stur halte ich meinen Blick gesenkt und vermeide es die bunten Kirchenfenster anzusehen, auf denen Engel abgebildet sind. Ich sitze absichtlich am Rand, um den Gottesdienst möglichst schnell verlassen zu können, sollte mich eine Panikattacke heimsuchen, wie es meine Mutter gern nennt.
Die Glocke ertönt und wir erheben uns, während der Pfarrer mit seinen Messdienern den Mittelgang entlangschreitet, an den Reihen der Gläubigen vorbei und auf den steinernen Altar zu. Gerade als der letzte Messdiener unsere Reihe passiert und ich den Blick nach vorn richte, huscht jemand in unsere Reihe und stellt sich neben mich. Erschrocken drehe ich mich zu meinem neuen Nachbarn um und hebe überrascht den Blick. Felix Marx lächelt mich entschuldigend an. Mit meinen 1,70 Metern bin ich nicht gerade klein, doch er muss sich ein gutes Stück zu mir herunterbeugen, um mir ins Ohr zu flüstern.
»Entschuldigen Sie, Frau Bann, nicht wahr? Stört es Sie, wenn ich hier stehen bleibe?«
Seine tiefe Stimme fällt mir wieder auf, mit der er sicher stundenlang Messen führen und die Menschen in seinen Bann ziehen kann.
»Ähm, nein, bleiben Sie ruhig. Falls ich schnell hinausmuss, hüpfe ich einfach über Sie.«
»Wieso müssen Sie denn hinaus?« Verwundert sieht er mir in die Augen.
»Ach, nur so«, wehre ich ab und lächle ihn an. Wieso musste ich das auch nur sagen? Es reicht doch schon, dass alle anderen denken, ich hätte einen Sprung in der Schüssel. Diese Meinung muss er nicht auch noch teilen.
Wir dürfen uns wieder setzen und der Gottesdienst beginnt, plätschert an mir vorbei. Nur einzelne Gesprächsfetzen dringen zu mir vor, ich tue es den übrigen Gottesdienstbesuchern gleich und stehe auf und setze mich wieder hin, wenn es angebracht ist. Ich fokussiere mich auf die rötlichen Fliesen zu meinen Füßen und versuche auszublenden, dass mich mehrere Engel von oben herab anstarren und dabei ihre Fratzen verziehen. Ich muss nicht zu den Fenstern hinsehen, um es zu wissen. Ich weiß, dass sie da sind, dass es nicht die lieblichen Engel sind, die alle anderen sehen.
Pfarrer Thiel hält gerade einen Vortrag über Nächstenliebe und ich schiele unauffällig zu meinem Sitznachbarn hinüber. Er scheint an den Lippen des Pfarrers zu hängen und jede Silbe wie ein Schwamm aufzusaugen. Seine ungewöhnlichen Augen faszinieren mich, noch nie habe ich so eine Färbung der Iris gesehen. Der Pfarrer muss etwas Witziges gesagt haben, denn Felix' Mundwinkel zucken belustigt. Ich lasse meinen Blick über seine Gesichtszüge schweifen und muss mir eingestehen, dass ich ihn sehr anziehend finde. Er sieht nicht aus wie eins dieser männlichen Models mit ihren Babygesichtern, auch wenn ein weicher Zug um seinen Mund spielt – er erinnert eher an einen Unruhestifter aus einem Western.
Wie schade, dass er Pfarrer werden will, denke ich und in diesem Moment dreht er mir seinen Kopf zu. Erschrocken wende ich meinen Blick ab und sehe starr zum Altar hin, bemerke aus den Augenwinkeln jedoch ein Lächeln auf seinen Lippen.
O Gott, wie peinlich, wiederhole ich immer wieder in meinen Gedanken und merke widerwillig, wie meine Wangen zu glühen beginnen. Der junge Student wendet sich wieder nach vorn und erleichtert atme ich tief aus und schaue ohne nachzudenken in die Höhe.
Hinter dem Altar, am Ende des Kirchengebäudes, befinden sich drei große Fenster aus Buntglas, die die Geburt Jesu zeigen. Im mittleren Fenster sind die Hirten abgebildet, die die frohe Botschaft der Geburt von einem Engel dargebracht bekommen. Genau auf dieses Fenster fällt mein Blick und ich schlucke schwer, als ich meinen Fehler bemerke. Zu spät! Die Hirten stehen still, doch der Engel beginnt sich bereits zu verändern. Ich schaffe es nicht meinen Blick abzuwenden, bin wie gebannt und muss zusehen, wie sich die Flügel schwarz färben, das prachtvolle Gewand zerfällt, die goldenen Locken ausfallen und das liebliche Gesicht zu einer grauenvollen Fratze wird. Der Engel bewegt sich, wendet sich mir zu und entblößt seine Reißzähne. Wie hypnotisiert starre ich das Fenster an, es scheint, als würde der Engel aus dem Fenster steigen und zu mir hinabkommen wollen. Das Blut, das mir eben noch in die Wangen geschossen ist, weicht aus meinem Gesicht und ich beginne zu zittern. Ich falte meine Hände im Schoß und sie verkrampfen sich, während es in meinen Ohren rauscht und jegliche Geräusche in der Kirche davon übertönt werden. Meine Augen weiten sich vor Schreck und ich bin kurz davor laut zu schreien. Da legt sich eine Hand sacht auf meine und ich höre wie durch dichten Nebel meinen Namen. Kurz bevor der Schrei meine Kehle verlässt, schließe ich den Mund und blicke auf die fremde Hand hinunter. Verblüfft fahre ich den Arm mit meinen Augen entlang und bleibe bei einem besorgten Gesicht hängen. Felix Marx beugt sich zu mir und flüstert mir etwas zu, doch das Rauschen lässt nur langsam nach und ich kann nur daran denken, dass sein Atem an meinem Ohr kitzelt. Mit fragendem Blick sehe ich ihn an und er wiederholt seine Worte.
»Ist mit Ihnen alles okay? Sie sind ganz blass.« Behutsam streichelt er dabei über meine Handfläche und der Krampf lässt endlich nach.
»Ja, nein, ich meine …«, stammle ich vor mich hin und weiß nicht, wie ich es ihm erklären soll.
»Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen«, sagt er mit ernster Miene und schielt kurz nach vorn zum Pfarrer. Doch der bereitet gerade die Vergabe der Hostie vor und bekommt nichts von unserem Gespräch mit.
Meine Eltern werfen uns einen kurzen Blick zu, als sie sich erheben, doch Felix Marx erklärt, mir würde es nicht gut gehen und er werde sich um mich kümmern. Ich bin froh mich nicht in die lange Schlange einreihen zu müssen.
Immer noch benommen bin ich dankbar, dass er mich am Arm nimmt und aus der Kirche hinausführt. Im Freien angekommen setzen wir uns auf die steinernen Stufen und ich atme mehrmals tief durch. Er wartet geduldig, bis ich mich wieder gefasst habe und ihm zuwende.
»Manchmal habe ich diese Schwindelanfälle in der Kirche, ich weiß auch nicht, was da los ist«, lüge ich und lächle ihn entschuldigend an.
»Das sah für mich aber nicht wie ein normaler Schwindelanfall aus. Sie haben …«
»Können wir nicht Du sagen?«, unterbreche ich ihn. »Ich komme mir so alt vor, wenn wir uns siezen.«
Er lacht und streckt mir die Hand entgegen. »Felix, nett dich kennenzulernen.«
Erleichtert ergreife ich seine Hand. »Lucile, ebenfalls erfreut. Luci mag ich aber lieber, das hört sich nicht so altbacken an.«
»Ich finde, Lucile ist ein schöner Name, aber Luci gefällt mir auch«, erwidert er mit einem Augenzwinkern. »Also, willst du mir jetzt verraten, was da eben wirklich los war? Du warst ganz verkrampft und hast auf dieses Fenster gestarrt, dabei hatte ich das Gefühl, dass du große Angst hast. Du hast beinahe panisch ausgesehen.«
Unsicher, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll oder nicht, starre ich auf die Stufe vor mir und kaue auf meiner Unterlippe herum.
Soll ich es ihm sagen? Prüfend schiele ich zu ihm hinüber. Noch immer ruht sein Blick auf mir und ich konzentriere mich auf seine Augen. In seiner Iris scheinen Hellbraun und Grün miteinander zu tanzen und umeinander zu wirbeln, dabei versprühen sie kleine goldene Funken. Je länger ich hinsehe, desto mehr habe ich das Gefühl, dass sich die Farben bewegen und mich mehr und mehr in ihren Bann ziehen.
Als er blinzelt, zucke ich zusammen und räuspere mich verlegen. Wenn ich so weitermache, muss er mich wirklich für eine Irre halten, doch das wird er vielleicht sowieso. Also beschließe ich ihm die Wahrheit zu sagen.
»Na gut, ich erzähle es dir, aber du darfst nicht lachen oder mich anschauen, als wäre ich eine Wahnsinnige, das hatte ich schon oft genug in meinem Leben.«
Feierlich erhebt er seine rechte Hand. »Ich schwöre«, sagt er in ernstem Tonfall und ich muss lächeln. Er wird mir immer sympathischer.
»Weißt du, was auf dem Fenster, das ich angesehen habe, abgebildet war?«
Er schien kurz zu überlegen und zog dabei die Augenbrauen zusammen. »Hm, darauf waren die Hirten und ein Engel zu sehen. Sonst fällt mir nichts ein.«
Bestätigend nicke ich, mein Blick schweift wieder zur Treppenstufe zurück und nervös lasse ich meinen Zeigefinger auf meiner Kniescheibe kreisen.
»Du hattest recht, ich hatte wirklich Angst. Angst vor dem Engel. Ich weiß, das hört sich total verrückt an, aber für mich sehen Engel nicht so aus wie für euch. Sie verändern sich vor meinen Augen und werden zu lebendigen Monstern.« Verzweifelt greife ich nach seinem Arm und sehe ihm tief in die Augen. »Dieser hier hat sich verändert und ich hatte das Gefühl, dass er mich angreifen wollte.« Abwartend sehe ich den jungen Mann an, mein Herz schlägt schmerzhaft gegen meine Brust und die einkehrende Stille macht mich nervös. Vorsichtig entferne ich meine Hände von seinem Arm und setze mich aufrecht hin. Ich verfluche mich bereits dafür ihm die Wahrheit erzählt zu haben, als er langsam nickt.
»Ich verstehe.« Ein unverständliches Grummeln folgt und ich rutsche nervös auf der Stufe herum.
Ich kenne diesen Mann erst eine Stunde und schon ist es mir wichtig, dass er mir glaubt. Liegt es an seiner Anziehungskraft?
Er erhebt sich wortlos, geht die Stufen bis zum Gehweg hinab und läuft vor mir auf und ab. Seine Hand ruht an seinem Kinn, während er über etwas nachzudenken scheint, und ich sehe ihm staunend zu. Ich kann mir sein Verhalten nicht erklären. Als ich beschließe aufzustehen und zu ihm zu gehen, eilt er zu mir hoch, nimmt dabei immer zwei Stufen auf einmal und lässt sich neben mir nieder.
»Ich glaube dir«, sagt er gerade heraus und sieht mir dabei fest in die Augen. Keinerlei Spott oder Hohn kann ich bei ihm entdecken und eine Woge der Erleichterung überrollt mich.
»Wirklich? Du hältst mich nicht für durchgeknallt oder denkst, dass ich Wahnvorstellungen habe?«, will ich mich vergewissern.
»Nein, du hast eine Gabe, da bin ich mir sicher. Ich …«, er stockt und wartet kurz ab, bevor er weiterspricht, »wir sprechen demnächst darüber. Die Messe ist vorbei und gleich wird es hier nur so vor Leuten wimmeln.«
Er hat recht, stelle ich fest, als das Gemurmel innerhalb der Kirche anschwillt. Die Glocken ertönen und stimmen ein in eine harmonische Melodie.
Er erhebt sich und bietet mir die Hand an, um mir aufzuhelfen. Dabei hält er meine Hand länger als nötig, ich mache ihn nicht darauf aufmerksam. Seine Berührung gibt mir die Sicherheit zurück, die ich beim Anblick des Engels verloren habe. Wie Elektrizität fließt die Kraft in meinen Körper und ich fühle mich gestärkt. Er lässt meine Hand los und lächelt mir aufmunternd zu, als die Türen aufgerissen werden und die Messebesucher ins Freie strömen. Nach einem kurzen Nicken bahnt er sich seinen Weg in die Kirche und ich warte auf den Stufen auf meine Eltern, denen ich meinen Zustand mit Kreislaufproblemen erkläre. Mit keinem Wort erwähne ich den Engel, auch wenn meine Eltern mich misstrauisch ansehen.
»Das war aber nett von diesem Herrn Marx, dass er mit dir an die Luft gegangen ist«, schwärmt meine Mutter auf dem Nachhauseweg.
»Ja«, antworte ich kurz angebunden und denke an diese seltsame Begegnung zurück.