Dhanyavad - Norbert Heinrich Holl - E-Book

Dhanyavad E-Book

Norbert Heinrich Holl

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Beschreibung

Martin, vierzigjähriger Projektkontrolleur, wird von seiner deutschen Firma für einige Wochen nach Delhi abgeordnet, um den stockenden Bau eines Trafowerkes wieder flottzubekommen. Indien - ein unbekanntes Land, für viele ein Märchenland, voller Mythen, Rätsel und exotischer Schönheit. Aber auch ein Land bitterer Armut. Mit beiden Realitäten wird Martin bald konfrontiert. Doch auch mit starken Gefühlen, der Liebe zu Suniti, einer verheirateten Brahmanin aus Tamil Nadu, und mit einer seltsamen Beziehung zu dem kleinen kastenlosen Mädchen Conchen, einer aufgeweckten Bettlerin. Er hat sich vorgenommen, seine zunächst kurzfristig angelegte Arbeit auf dem Subkontinent aus nüchterner Distanz zu erledigen. Dann jedoch dehnt sich der vermeintliche Kurzaufenthalt immer länger. Frustration stellt sich ein. Schließlich wird Martin vom Zauber eines rätselhaften Sanskrit-Wortes in den Bann geschlagen, von dem Wort Dhanyavad, das niemand zu kennen scheint, nur die Eingeweihten.

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Das Buch:

Martin, vierzigjähriger Projektkontrolleur, wird von seiner deutschen Firma für einige Wochen nach Delhi abgeordnet, um den stockenden Bau eines Trafowerkes wieder flottzubekommen. Indien – ein unbekanntes Land, für viele ein Märchenland, voller Mythen, Rätsel und exotischer Schönheit. Aber auch ein Land bitterer Armut. Mit beiden Realitäten wird Martin bald konfrontiert. Doch auch mit starken Gefühlen, der Liebe zu Suniti, einer verheirateten Brahmanin aus Tamil Nadu, und mit einer seltsamen Beziehung zu dem kleinen kastenlosen Mädchen Conchen, einer aufgeweckten Bettlerin. Er hat sich vorgenommen, seine zunächst kurzfristig angelegte Arbeit auf dem Subkontinent aus nüchterner Distanz zu erledigen. Dann jedoch dehnt sich der vermeintliche Kurzaufenthalt immer länger. Frustration stellt sich ein. Schließlich wird Martin vom Zauber eines rätselhaften Sanskrit-Wortes in den Bann geschlagen, von dem Wort Dhanyavad, das niemand zu kennen scheint, nur die Eingeweihten.

Der Autor:

Norbert Heinrich Holl, zunächst Richter in Köln, dann 37 Jahre im Auswärtigen Dienst, hat bisher sechs Romane veröffentlicht (u.a. BUP-Verlag, Pax et Bonum). Oft spiegeln sie in schriftstellerischer Umformung Menschen und Schicksale wider, die ihm auf fremden Kontinenten begegnet sind.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

I.

Hast du schon mal bemerkt, dass manche Überlegungen sich erst spät am Abend entwickeln und plötzlich Bedeutung für dein ganzes Leben bekommen, als hätten sie tagsüber gewartet, bevor sie über dich herfallen? Diesmal ist es kein später Abend, sondern tiefe Nacht, als ich an meine Jugend denke. Als Passagier weiß man nie genau, in welcher Zeitzone man sich eigentlich befindet und ob das, was Gegenwart zu sein scheint, nicht längst Vergangenheit ist. Wenn an solchen Überlegungen überhaupt etwas Zuverlässiges ist, dann kannst du sie mit einem Regentropfen vergleichen, der mal hierhin platscht, mal dorthin. Und was mich betrifft, platscht der Tropfen auf ein Blatt Briefpapier. Zu der Zeit sitze ich seit sieben Stunden im Flugzeug, habe die Orientierung komplett verloren, weiß nicht, über welchem Land wir fliegen – und fange aus Langeweile oder Pflichtbewusstsein an, einen Brief nach dem anderen zu schreiben, fülle ihn mit Erinnerungen an das Vergangene und Erwartungen des Künftigen, verschließe die Erinnerungen und Erwartungen sorgfältig in einem wasserdichten Plastikbeutel, falls die Maschine über dem Meer abstürzt, und fülle mit jedem Blatt, das ich vollkritzele, die Boeing mit neuen Fluggästen. Zuerst mit Lukas, meinem Freund in Stuttgart, dann mit Frau Gau, der Vermieterin, mit meiner Tante, Frau Beerenfänger, die übermorgen siebzig wird. Dann muss ich dem Buchhändler Kohlbrink schreiben. Angeblich habe ich bei ihm eine Prachtausgabe der Fleurs du Mal bestellt. Nun muss ich ihm leider mitteilen, dass er mich mit jemandem verwechselt und ich mich nicht für Baudelaire interessiere. Währenddessen fällt mir die Bäckerei Rossbein ein. Sie liegt direkt neben dem Buchladen, sodass sich, wenn das Fenster offen ist, der Geruch von altem Papier mit dem Duft frischer Blätterteigtörtchen mischt.

Als Nächstes wird mir siedend heiß bewusst, dass ich mir bei Herrn Lambrecht, dem wohlsortierten Antiquitätenhändler in Zons, den ich im Scherz meinen Altwarenhändler nenne, einen Biedermeiersekretär aus gemasertem Vogelkirschholz angesehen und in unüberlegter Begeisterung halbwegs fest vorbestellt habe. Um Haaresbreite hätte ich sofort schon eine Anzahlung geleistet. Fast unbeschädigt hat das zarte Möbel zwei Jahrhunderte überdauert. Nur an der Seite habe ich eine kaum sichtbare Schramme bemerkt. Jetzt muss ich stornieren. »Mit lebhaftestem Bedauern«, werfe ich keck aufs Papier, aber innerlich unbeteiligt – weil so altem Gerümpel doch irgendwie der Geruch des Überflüssigen anhaftet, während sich vor mir neue Horizonte öffnen, wie der Vorstand Altmann mir versichert hat. »So ein kostbares Stück kann ich unmöglich ins heiß-feuchte Indien mitnehmen.« Das wird den Altwarenhändler Lambrecht allerdings kaum über sein eigenes finanzielles Bedauern hinwegtrösten.

Als Letzte kommt meine Vertraute an die Reihe, die Vorstandsassistentin Stephanie Meierbrunn. Aus Gefälligkeit hat sie mir versprochen, während meiner Abordnung die Nase in den Wind zu recken. Schließlich sei es nur für ein paar Tage, vielleicht auch für zwei Wochen. Ich hätte ja nicht vor, nach Indien gleich auszuwandern. Doch dabei hat sie unsicher gelacht, weil man ja als Frau nie so genau weiß, was der Mann vorhat, und mich fragend angesehen. Nein, ich beabsichtigte nicht auszuwandern, habe ich ihr versichert, tue es jetzt auch noch einmal im Brief, und doch klebe ich das Kuvert so sorgfältig zu, als hätte ich das Kapitel Meierbrunn endgültig abgeschlossen. Mir ist ein bisschen melancholisch zumute. Hoch über den Wolken spüre ich, dass sich zwei Erlebnisbahnen kreuzen: die Düsseldorfer Vergangenheit und die Zukunft in Delhi, so kurz sie auch sein mag.

Allen, die ich aufgelistet habe, schreibe ich mit dem Vierfarbenstift, den ich mir im Flughafenshop Frankfurt gekauft habe, und versammle Freunde und Bekannten um mich herum, ohne dass sie sich gegenseitig ins Gehege kommen. Inzwischen machen sie es sich neben mir in der Economy-Class bequem, die wir neuerdings auf Geschäftsflügen benutzen müssen, und warten ab, was ich von der Reise zu erzählen habe. Die Stewardess kann nicht Anstoß daran nehmen, dass ich die Sitzplätze großzügig verteile, und es ist auch kein Übergewicht zu befürchten, da alle Brieffreunde nur geistig präsent sind, und ihr Geist wiegt so gut wie nichts.

Als ich mich zur Seite drehe, von wo mir ein hauchdünnes Vergeblichkeitsparfüm in die Nase weht, merke ich, dass auch meine Sitznachbarin schreibt, eine ältere Japanerin. Sie sieht aus, wie ich mir eine Bibliothekarin vorstelle oder eine Kalligrafin. Eine feine, in sich ruhende Person. Ich sehe ihr zwei Minuten zu, wie sie ihre krakeligen Schriftzeichen behutsam, jedes einzelne ein Kunstwerk, zu Kolonnen untereinander anordnet. Plötzlich dreht sie sich um, blickt mir direkt in die Augen und sagt mit unerwartet warmherziger Stimme: »Don’t worry. I am Katchan Shibuya.« Sie legt den Tintenstift fort, reicht mir die schmale Hand und erzählt bereitwillig, sie stamme aus Osaka, nein, nicht alle Japaner kämen aus Tokyo. Die fremdartigen Schriftzeichen dürften mich nicht erschrecken, auch wenn sie schon zweitausend Jahre alt seien, und zum Beweis hält sie mir ihren Brief hin, den ich natürlich nicht lesen kann. Verlegen entschuldige ich mich für meine Neugier und schreibe an meinen eigenen weiter. Doch die Bedingungen sind ungünstig, sowohl in meinem Kopf als auch auf dem Klapptischchen, das ziemlich wackelt und einmal abkippt, sodass mein Brief zu Boden rutscht. Ausgerechnet der auf Form bedachten Stephanie muss ich ein leicht beschmutztes, hastig gefaltetes Blatt in den Umschlag stecken, von Mrs Shibuyas missbilligendem Blick verfolgt.

Da ich vermutlich nicht nur für einige Tage nach Delhi reise, sondern vielleicht für einen Monat oder zwei, auch wenn ich es Stephanie nicht brühwarm mitgeteilt habe, bin ich mit meinen beiden roten Schalenkoffer und viel Wissbegier unterwegs und wundere mich, was so eine schief am Nachthimmel klebende Mondsichel zu bewirken vermag. Denn ihr Schein spannt sich über die schlafende Landschaft, die unter mir liegt: In silbriger Länge und Breite eines Leinentuchs, das nirgendwo endet und ganz straff gezurrt ist. Ohne Gebirgsfalten aufzuwerfen, liegt die Lichtbahn glatt unter mir. Die genaue Landungszeit des Flugzeugs ist dem Kollegen in Delhi natürlich vorab gemeldet worden. Bestimmt holt er mich am Airport ab. Plötzlich wird meine Ankunft zum feierlichen Ereignis, als hätte ich eine Verabredung nicht nur mit unserem deutschen Ingenieur, dem Herrn Ferdinand Brunsweiler, sondern mit einem neuen Lebensabschnitt und dürfe nicht versäumen, mich darauf einzustimmen. Wie gesagt, ich meine eigentlich nicht den Kollegen, der als ziemlich langweilig und behäbig gilt, sondern fiebere dem Unbekannten, dem Spannenden entgegen, das sich meinetwegen am Flughafen einfinden wird, ängstige mich ein wenig davor. Beispielsweise würde mich in der Eingangshalle ein Schlangenbeschwörer erwarten, stelle ich mir vor, während ich den Falz des Briefumschlags ablecke, oder dunkelhäutige Kinder, mit grünen oder goldumwirkten Turbanen auf dem Kopf und glänzenden Augen, ständen da und freuten sich auf mich und ließen schon mal zur Probe die Finger auf schellenbehängten Tamburinen tanzen.

Hart setzt das Fahrwerk auf der Runway auf, poltert, rumpelt, hüpft und federt wie ein Tennisball, genau wie ich es befürchtet habe. Vor dem Start in Frankfurt habe ich dem baumlangen Lufthansa-Kapitän noch vertrauensvoll nachgeblickt, als er mit seinem Team die Zollschranke hoheitsvoll durchschritten hat, ohne dass jemand gewagt hat, ihn nach Waffen oder Kokain abzutasten. Aber wer weiß? Vielleicht hat er im Cockpit gekifft oder mit der blonden Flugbegleiterin geschäkert, statt die flackernden Warnlämpchen der Instrumententafel zu kontrollieren. Vielleicht hat er die Landepiste zu spät bemerkt oder die ganze Stadt Delhi, diesen fadenscheinigen Lichtteppich unter uns, und im allerletzten Augenblick seine Boeing im Sturzflug durch die paar Wolkenfetzen gepflügt, die seelenruhig am Himmel treiben. Aufgrund seiner Nachlässigkeit ist er zu steil hereingekommen, hat die Maschine im ungünstigen Winkel auf die Piste geknallt, deren Ende er schon fast erreicht hat. Bestimmt wird das von Scherenwinden gepeitschte Flugzeug mit seinen Tragflächen den Boden berühren. Die schweren Triebwerke werden abgerissen. Man kann sich leicht vorstellen, was dann passiert. Der Magen dreht sich mir um, während ich das waghalsige Landemanöver durch das Bullauge verfolge. Und am Ende der Landebahn, als die erleichterten Passagiere schon glauben, jetzt sei das Schlimmste überstanden, gerät die Maschine noch einmal ins Schlingern und macht einen Ruck zur Seite, sodass einige Unvorsichtige, die von den Sitzen aufgesprungen sind, zurückgeschleudert werden und auf dem Schoß einer Nachbarin landen. Eine Flasche Parfüm zerbricht, ja, man riecht es sofort, Kölnisch Wasser verbreitet seinen Duft. Ich raffe meine verstreuten Briefbögen vom Boden auf und wische mir den Schweiß von der Stirn. Sonst jedoch ist der Touchdown soweit glatt gelaufen. Keine Notrutsche muss ausgefahren werden, kein Feuerwehrauto jault, kein Sanitätswagen braust heran.

Endlich ist uns allen eine kurze Ruhe verordnet. Ein kurviger Tarmac führt unsere ausrollende Maschine durch Nacht und Nebel und düstere Lichtkegel zum hell erleuchteten Flughafengebäude, einem hochstelzigen Prachtgebäude, dessen Pfeiler mich spontan an die urzeitlichen Pfahlhütten am Bodensee erinnern. Im Innern der Halle ist alles für das übliche Zeremoniell vorbereitet, das ich von anderen Landeplätzen kenne. Die erste Frage lautet stets: Auf welchem Planeten bin ich eigentlich aufgeschlagen? Jedes Mal glaubt man, in ein Nichts gestürzt zu sein. Dann nimmt man ein erdrückendes Angebot von möglichen Verrichtungen wahr. Vor einem liegen zu viele Ausgänge, zu viele Empfangsschalter, zu viele Menschen erwarten einen. Man geht erst mal aufs Geratewohl, schaut nach allen Seiten, aber ohne etwas wahrzunehmen, bleibt wieder stehen, bekommt eine Sanitätsstation ins Blickfeld, vergewissert sich, ob man sein Handgepäck beisammen hat, ob die Richtung zum Ausgang stimmt, stapft weiter, erkennt in der Menge ein freudestrahlendes Gesicht, einen breit lachenden Mund, winkende Hände oder ein Stück braunen Karton. Welcome Mr Martin John! Nicht eine fest gefügte Wirklichkeit erwartet uns, sondern eine wirbelnde Vielfalt von Wirklichkeitsentwürfen.

Die Berührungen empfinde ich bereits als unangenehm. Fremde Menschen rempeln mich hinterrücks an. Ich muss mich vor Fäusten ducken, die mir ins Gesicht zu fliegen scheinen, werde von Reisenden geknufft, die ich nicht kenne. Offenbar haben sie sich verspätet und wollen jetzt über Kilometer hinweg irgendwelchen Freunden jenseits der Sperre zuwinken. Ich fange die feindseligen Befehle auf, die sie armseligen Gestalten zubellen. Es müssen die Gepäckträger sein, magere, kleinwüchsige, meist dunkelhäutige Männer, die jenseits des Zolls wie aufgeschreckte Ameisen durcheinanderkrabbeln. Gepäckbänder drehen sich probeweise im Kreis, noch leer, in Erwartung, dass der Frachtraum der Maschine geöffnet wird und meine roten Schalenkoffer ausspeit. Die Fahrer der Gepäckwagen lungern auf dem Vorplatz, schwatzen und rauchen eine letzte Zigarette.

Die Ankunftshalle ist schwarz von Menschen – dumpfige Luft, teuflische Gerüche, aufjaulende Orientmusik. Drei junge Kerle mit Kapuzen und Kappen, die Sonnenbrille ins Haar hochgeklappt, umzingeln mich so eng und bedrohlich, als wollten sie mich in aller Öffentlichkeit ausrauben. Eine Inderin schreitet hoch erhobenen Hauptes an mir vorbei und verhakt sich mit irgendwas, dem Zipfel ihres tiefblauen Saris oder dem Saum ihrer Kaschmirstola, an meinem Handgepäck. Ohne es zu merken, ziehe ich im Weitergehen die Frau hinter mir her. Ein Halbwüchsiger in Sturmjacke und Baggy-Jeans drängt zwischen den Wartenden durch. Ein Polizist wird auf ihn aufmerksam, will seine Papiere überprüfen, nähert sich, doch plötzlich ist der Junge untergetaucht. Der Beamte steht da wie erstarrt, fühlt sich übertölpelt, in aller Öffentlichkeit gedemütigt, von einem Minderjährigen hinters Licht geführt. Um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, mustert er als Nächsten mich, wird sofort misstrauisch, sieht einen übernächtigten Passagier, das Haar schlafzerzaust, nur einen Schuh am Fuß. Der Polizist setzt ein schlaues Komödiantengesicht auf und kommt näher. Unwillkürlich weiche ich zurück. Die Musik verstummt, plötzlich entsteht eine lähmende Stille, und die Inderin im tiefblauen Sari schreitet mitten hindurch.

Englisch sei die Verkehrssprache in Indien, hat man mir in Düsseldorf versichert. Mag sein. Aber denken Sie nun nicht, hier spricht tatsächlich jeder Mensch, dem man begegnet, geschliffenes Englisch. Schon nach fünf Minuten weiß man, dass es nicht stimmt. Jeder, der den Mund zum Sprechen, Schimpfen, Fluchen oder Lachen öffnet, produziert ein Singsang-Englisch, über das man lachen möchte, würde man nicht sein Leben riskieren, oder er spricht eine der zwanzig Hauptsprachen im Land – angeblich kommen fünfhundert Dialekte hinzu, die nicht mal Inder verstehen. Braunhäutige Menschen sehen für uns Europäer meist gleich aus oder jedenfalls zum Verwechseln ähnlich, aber sicherlich gehen auch sie getrennte Wege, wahren Abstand und bestehen auf ihrer individuellen Andersartigkeit. Um den gleichmachenden Blick des Europäers scheren sie sich nicht. Bald zerkratzen mir die scharfen Gerüche die Schleimhäute der Nase: Knoblauchzehen, exotische Gewürze, milder Fäulnisgeruch, sogar menschliche Ausscheidung – ich will es gar nicht genau wissen. Doch mit dieser kurzen Aufzählung ist der Gesamteindruck bei Weitem nicht umfasst.

Solche Vielfalt stürzt einen in Verwirrung. Gewiss, man ist vorgewarnt. Doch für einen Moment verliert man die Richtung. Die innere Kompassnadel zittert nach allen Seiten. Ich versuche vergeblich, den Gedanken, der mir auf der Gangway im Kopf herumgespukt hat und inzwischen entfallen ist, zurück ins Bewusstsein zu bekommen. Ach ja: Ich darf nicht vergessen, jemanden nach einem Postamt zu fragen, um die Briefe aufzugeben. Am Geldschalter wechsele ich einen Dollarbetrag, zähle automatisch die Rupien ab, die ich zurückbekomme. Es muss ein ausgesprochen schlechter Umtauschkurs sein, das merkt sogar der Neuankömmling. Offenbar ist die Grundgebühr so hoch, dass sie den größten Teil des Wechselgeldes auffrisst.

Die Eingangshalle ist auch am späten Abend überfüllt. Wie sollte es anders sein in einem Land mit einer Milliarde Einwohnern? Rassismus möchte sich beim ersten Anblick einstellen. Schon die Hautfarbe teilt die Menschen in zwei Kategorien: die aus weißen Ländern Eingeflogenen und die von der Sonne über Jahrhunderte Braungebrannten. Ich gehöre zur ersten Gruppe, obwohl ich bei meinem Aufenthalt im mexikanischen Hochgebirge ordentlich Farbe abbekommen habe.

Hinter einem schmiedeeisernen Gitter steht ein Begrüßungskomitee bereit, um mich zu empfangen. Es sind zwar nicht die turbanbekränzten Tamburinspieler, wie ich mir eingebildet habe, sondern an der Spitze steht …

»Hi, Kumpel«, sagt besitzergreifend die breite Männerstimme, die mir sofort unangenehm im Ohr vibriert.

»Oh, hallo, Herr Kollege!« Mit meiner gepflegten Ausdrucksweise setze ich mich zur Wehr und drehe mich zu dem Sprecher um. Soeben empfiehlt mir die Stimme mit einer Strenge, die keinen Widerstand duldet: »Hier lang, Kumpel.« Brunsweiler steht vor mir – ein dicker Kopf mit schütterem Haar und auffallend buschigen Brauen, die fast über die Augen hängen, fleischige Ohrlappen, wie auf alten Gemälden holländischer Kaufleute, ein breites Kinn, das sich auf einen kurzen, faltigen Hals stützt, den man ruhig als Stiernacken bezeichnen darf, darunter ein mächtiger Brustkasten, der von einer schottisch karierten Weste gehaltene Bauch, kurze Beine, alles Einzelheiten, die zu einem Prasser auf den Gemälden von Breughel passen würden. Unser Ingenieur hat es für angebracht gehalten, mir zur Begrüßung eine Flasche Whisky in die Hand zu drücken. Das Etikett kenne ich nicht.

»Der ist für Liebhaber von echtem Scotch Single Malt so gut wie ungenießbar, doch Sie – oder ich sag mal einfach DU, Kumpel, also du wirst es nicht glauben, den destillieren die Inder selbst, echt indischer Whisky, man mag es nicht glauben, doch daher ist er der einzige, den man hier offen am Flughafen vorzeigen darf. Aller Importschnaps wird nämlich erbarmungslos vom Zoll konfisziert und anschließend, wie jeder weiß, zu sündhaften Preisen auf dem Schwarzmarkt verhökert. Typisch!«, rechtfertigt er sich. Seine Augen funkeln boshaft.

Auf den Whisky kommt es mir nicht an. Man hat mich vorgewarnt. Der Projektleiter, mein neuer Duzfreund Brunsweiler, möchte etwas Falsches mit fragwürdigen Argumenten beweisen: Nämlich dass es um unser Bauvorhaben in Gurgaon, das seit Monaten Not leidet, zum Besten steht. Er hat immer die Zigarette im Mund oder auch einen Zigarillo, schluckt den Rauch herunter und lässt ihn in Wölkchen wieder heraus, manchmal von verstecktem Hüsteln begleitet oder echtem, rasselndem Raucherhusten.

Mit nur einem Schuh bin ich aus der Boeing gehumpelt, erzähle ich jetzt dem Kollegen und fühle mich in meinem Erscheinungsbild lädiert. In Frankfurt hat mir jemand den zweiten geklaut. Was kann der mit einem Schuh machen?

»Einen Schuh geklaut«, lacht Brunsweiler und schüttelt den Kopf. »Typisch!«, sagt er wieder. Wir kämpfen uns weiter, Schulter gegen Schulter, Richtung Ausgang. »Typisch Scheiße.« Das sagt Brunsweiler zwei Mal. Er liebt die Wiederholung.

Zwischen hastigen Schritten und Atemzügen schnaufe ich weiter: Ja, in der Cafeteria in Frankfurt hätte ich die verdammten Schuhe ausgezogen, nur für einen Augenblick, weil sie neu waren und ein bisschen drückten, und meine Füße, es war ziemlich kalt, an der Heizschlange gewärmt. Auf dem Tisch habe jemand einen Zeitungsbericht vom Finale der Champions League liegen lassen. Doch der habe mich nicht interessiert. Stattdessen hätte ich mir die Financial Times gekauft und mir den Kopf zerbrochen über Kurssprünge eines Konkurrenten, mich gefragt, ob das Auswirkungen auf unser eigenes Unternehmen habe. »Als ich nach zehn Minuten die Schuhe wieder anziehen will, ist der linke spurlos verschwunden. Gibt’s doch nicht, habe ich gedacht und überall gesucht, bin sogar unter den Tisch gekrochen. Alles für die Katz! Also bin ich auf nur einem Schuh und meiner Socke in die Maschine gehumpelt und habe mir die bequemen Baumwollslippers von der Lufthansa übergestreift. Hier am Flughafen Delhi haben die Leute verwundert geguckt, weil ich nur einen Schuh trage und am zweiten Fuß noch den Slipper.«

Mag ja alles nicht so schlimm sein, beruhige ich mich. Schlimm ist nur, dass ich jetzt lädiert vor dem hämischen Brunsweiler stehe und ihm das erzählen muss. Der erste Eindruck bleibt bei ihm haften, der sorgt in der deutschen Kolonie und auf der Baustelle bestimmt für Witze bis ins nächste Jahrhundert. »Ach, da kommt der große Blonde mit dem schwarzen Schuh!« Von heute an muss ich mich auch an sein »Kumpel!« und sein »Du« und sein »Typisch!« gewöhnen. Schon in Düsseldorf habe ich erfahren, was für ein Prahlhans er ist. Ständig brüstet er sich damit, wie umfassend er über Indien Bescheid weiß. In der ganzen Firma ist er der Indienexperte Numero Uno!

Als ich jetzt um Mitternacht indisches Territorium betrete, zum ersten Mal in meinem Reiseleben, von einem Kurzaufenthalt in Bombay abgesehen, verfalle ich also zunächst in den üblichen Schockzustand. Ich bin kürzlich vierzig geworden. Da sollte man damit anfangen, sich eine Bleibe zu schaffen. Aber es sind zäh lederne Zeiten gewesen, einfach aufeinandergepappt, als sollte ich auf den einzelnen Monaten und Jahren immer höher stehen und immer weiter in die Welt blicken, während diese sich zwar äußerlich rasend schnell verändert, innerlich aber im Allgemeinen doch irgendwie die gleiche bleibt. Man versteht, dass man angesichts dieses endlosen Wartezustands, der zu keiner neuen Erkenntnis führt, zuweilen trübsinnig werden kann – ein Zustand, der mir körperliche Beschwerden bei der Ankunft in einem unbekannten Erdteil verursacht und sich mit der Seekrankheit vergleichen lässt. Ich versuche sie zu überwinden, indem ich ein wohlgemutes Gesicht aufsetze und möglichst bald Kopf und Nase in die indische Nachtluft stecke, die zwar trotz der späten Stunde noch warm und schwül ist, aber wenigstens nicht steril eingepackt wie die Mitbringluft im Flugzeug. Einstweilen halte ich mich an einem der Geländer fest, zwischen denen Brunsweiler und ich und die anderen Passagiere aus Frankfurt und wer weiß woher wie eine blökende Schafherde erst zu den Gepäckbändern und anschließend zu den Schaltern der Einwanderungsbehörde entgegengetrieben werden.

»Komm hier mal rüber, Kumpel, hier geht’s flotter. Typisch«, schnaubt Brunsweiler dazwischen. Seine Kurzatmigkeit ist mir sofort aufgefallen. Einen schwerfälligen Dickwanst kann man ihn nennen. Wie spät ist es überhaupt? Ich blicke zur Wanduhr. Fast ein Uhr morgens indische Zeit, die sich nicht durch volle Stunden, sondern durch vier komplette und eine halbe von anderen Zeitzonen unterscheidet!

»Nur ein geklauter Schuh? Wo gibt’s denn so was?«, wundert sich der Ingenieur noch einmal, kann es gar nicht glauben und starrt auf meine Füße. »Vielleicht ein schlechtes Vorzeichen«, meint er missgünstig und sieht mich mit Spötteraugen an.

Denkt man nicht an Parallelexistenzen, wenn man von einem Land in ein anderes fliegt, von einem alten Leben in ein neues? Aber was ist das eigentlich, eine Parallelexistenz? Wer kann es mir zwanzig Meter vor der Gepäckausgabe sagen? Das frage ich mich, während ich am rotierenden Gepäckband stehe und auf meine Koffer warte. Wenn ich mich auf Zeitreise begebe und mich das Gefühl der Distanz beschleicht, als wären die Schalter, auf die ich zusteuere, die Gepäckbänder, die ihr Rippengeflecht leer drehen, die bunten Wandplakate, die für Badestrände in Goa werben – wenn das alles nur erdacht wäre, erträumt, nicht real, weil mein Bewusstsein sich noch in Düsseldorf befindet und ich mir vor Reiseantritt nur auszumalen versuche, was mich demnächst in Delhi erwartet, ist das dann eine Art Parallelexistenz? Ein verdoppeltes Leben, das zur gleichen Zeit in Deutschland und in Delhi abläuft? Entfernung und Zeitablauf wären demnach vollkommen unwichtig. Mit Gedankenschnelle überspringe ich die viereinhalb Zeitzonen, die Delhi von Düsseldorf trennen, und schon scheint mir Vergangenes näher und deutlicher zu sein als Künftiges.

An dieser Stelle muss ich eine Atempause einlegen, bevor ich es ehrlich ausspreche: Ich bin der falsche Mann. Ich habe mich bei unserer Firmenleitung nicht darum gerissen, so einen Job zu bekommen und mich im Ausland Strapazen auszusetzen, womöglich sogar Lebensgefahr auf mich zu nehmen. Wie oft liest man in der Zeitung von Ingenieuren, die in afrikanischen Uran- oder Diamantminen tätig sind oder in Brasilien tropische Wälder abholzen und von Halbwilden verschleppt und aufgegessen oder von Terroristen als Geiseln genommen werden, um einer vermeintlichen höheren Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Ich habe Stephanie streng vertraulich gebeichtet, dass ein Abenteuerleben mich nicht reizt, Sicherheit ist mir lieber, eine nette Frau, eine Familie mit Kindern. Unter vier Augen habe ich ihr versichert, dass ich gar nicht dazu in der Lage bin, den Beruf eines Projektinspizienten auszuüben. Natürlich habe ich mich gegen meine Ernennung nicht gesträubt und mir mein Missfallen nicht anmerken lassen, als der Finanzvorstand, Herr Altmann, mir vor versammelter Belegschaft seine wohlduftende Hand … aber nein, das erzähle ich später.

Vor zwei Jahren hat mir nämlich die Firma aufgetragen, von einem Erdteil zum anderen zu hetzen, obwohl ich, wie gesagt, vom Naturell her ein sesshafter Mensch bin. Es mag ja für Abenteurertypen in der Firma aufregend sein, es mag Elektrizität in ihr Dasein bringen, wenn sie ständig in unbequemen Hotelbetten schlafen, ungenießbare Mahlzeiten vorgesetzt bekommen, nachts vor Krach nicht die Augen zumachen können, sich nur per Dolmetscher mit anderen Menschen unterhalten, mit Indios aus Bolivien und Maoris auf Neuseeland, mit finsteren Gesichtern, die mir, ehrlich gesagt, wenig Vertrauen einflößen und sogar Angst machen – doch meine innere Kompassnadel gerät bei so einem Vagabundenleben ins Schlingern. Den Ruhepol meines Lebens, sprich Ausgeglichenheit und Zufriedenheit, mache ich geografisch in Stuttgart fest, woher ich nämlich stamme. Wohlbehagen ist für mich landsmannschaftlich geprägt, durch schwäbische Lebensart, durch Gewohnheiten, auch durch eine Portion Geruhsamkeit. Ich setze mir mein Heimatgefühl aus Belanglosigkeiten zusammen, die mir täglich begegnen: aus vielfach geübten Handgriffen, bodenständigen Mahlzeiten, traditionellen Gerichten, Spätzle, Maultaschen, und natürlich gehört herzhaftes Brot dazu. Heimatgewissheit besteht aus Entfernungen, die man sicher in den Beinen spürt und leicht bewältigt, aus Wanderwegen, die man am Wochenende einschlägt, sogar aus den Schritten, die ich als Schuljunge auf dem Weg vom Elternhaus zum Graf-Zeppelin-Gymnasium genau abgezählt habe. Auch wenn ich sonntags zur Sankt-Katharina-Kirche gegangen bin – das war in jubelreichen Kindheitstagen –, habe ich Schritt für Schritt gezählt, als könne ich sie hinterher dem Lieben Gott in Rechnung stellen. Sogar der Lichtschalter an der Haustür ist unentbehrlich für mein Heimatgefühl. In tiefster Nacht ertaste ich ihn blind an der gewohnten Stelle und bin auf sein Knacken vorbereitet, das so widerborstig klingt, als weckte ich jemanden aus dem Schlaf.

Belanglosigkeiten, ich weiß, jede ist entbehrlich, doch in der Summe haben sie vierzig Jahre lang einen Schutzschild um mich gebildet: Das Heimatgefühl, hinter dem ich mich geborgen weiß. Doch als ich meinen Abschluss an der Uni Stuttgart in der Tasche hatte, musste ich mich entscheiden und das schwäbische Heimatgefühl gegen die Berufsaussichten in der Industrie abwägen. Drei Monate später bin ich nach Düsseldorf gezogen, wo alles fremd war für jemanden aus dem behäbigen Süddeutschen. Als hätte mir jemand die Haut abgezogen – so habe ich mich in den ersten Wochen in der Firma gefühlt.

II.

Weshalb drehen sich die Gepäckbänder am Indira Gandhi Airport so langsam und geben mir viel zu viel Zeit, trübselig vor mich hin zu sinnieren? Weshalb muss sich Brunsweiler mit seiner Geschwätzigkeit ständig zwischen meine Überlegungen drängen? Und warum erscheint mir im Augenblick des Wartens und des Stillstands die Vergangenheit kompakt und hart wie ein Granitblock, wie etwas, das sich nicht aufspalten lässt durch ein Wie oder ein Weshalb, sondern unteilbar vor mir steht? Wäre Erinnerung ein Sedimentgestein, könnte ich sie in einzelne Schichten zerlegen, Tage, Stunden voneinander abheben und aufeinanderstapeln, um von oben einen Überblick zu bekommen. Aber nein, es muss Granit sein, an dem ich mir den Kopf einrenne. Und die Erinnerung gefällt sich nur in der Unbeweglichkeit. Habe ich mich je in Bewegungen erinnert? Stehen nicht Personen, Ereignisse, selbst Autounfälle, Flugzeugabstürze und sonstige Katastrophen stumm und starr um mich herum? Selbst die Waldläufe mit Lukas, bei denen es kein Stolpern, kein Hinfallen geben durfte, werden in der Erinnerung zur Zeitlupe gedehnt.

Ich brauche mich nicht dafür zu entschuldigen, dass ich am Rand des Schwäbischen Waldes geboren bin, im grünen Refugium vor den Toren Stuttgarts. Ein Erholungsgebiet mit einer Vielfalt an Tälern, Streuobstwiesen, Hügeln, sagenumwobenen Grotten, eine über weite Flächen fast unberührte Naturlandschaft mit gut ausgebauten Wanderwegen, wie dem Mühlenwanderweg, dem Limeswanderweg, dem Stollen- oder dem Jakobsweg. Manche führen den Jogger zu historischen Mühlen, friedlichen Seen, für deren Sauberkeit die Gemeinde sorgt, oder zu Bauspuren aus der Römerzeit, deren Alter dem Betrachter einen Schauer über den Rücken jagt. Daneben gibt es rasante Mountainbikestrecken und für Wohlbetuchte ländliche Reitervereine, Golfplätze und Freizeitflüge, um sich den Limes aus der Luft anzuschauen.

Mich also, Martin John, gebürtig in Stuttgart, entnerven im Augenblick die zeitfressenden Einreiseformalitäten am Indira Gandhi International Airport. Ich sagte es schon, Mitternacht ist vorbei. Der Uhrzeiger ruckt und zuckt und zeigt Unerbittlichkeit. Vor den Schaltern lange Schlangen. Beamten lassen uns ihre schlechte Laune spüren, zeigen dem Ausländer, wer hier Herr im Haus ist. Einige Inder werden höflich durchgewunken, zum Ärger anderer Passagiere, die sich die Beine in den Bauch stehen. »Minister, Offiziere und solches Pack«, raunzt Brunsweiler verächtlich und schürzt die Lippen. Ich fühle mich ausgelaugt, muss ins Bett, bringe kein Wort heraus, sehe zu, wie die Prominenz im Eiltempo abgefertigt wird.

Vor mir eine Inderin, nein, nicht die Derbknochige, die sich eben an mir verhakt hat. Die hier ist zierlich, hat einen kaffeebraunen Hals und teilt mein Schicksal: Auch sie muss warten. Zum Dank erfinde ich ihr trotz meines Dämmerzustands eine Parallelexistenz. Die Inderin arbeitet als Volksschullehrerin in einem Dschungeldorf. In Düsseldorf, in der Nähe der Firma, ist sie als Pflegerin im Altersheim angestellt. In Indien ist sie bettelarm und wohnt in einer Bude aus Palmenzweigen. In Deutschland beugt sie sich mit einem himmlischen Lächeln über Liegepatienten, die knöchern zurücklächeln, ihr ins Ohr flüstern, dass sie noch mal mit ihr jung sein möchten, und versprechen ihr zum Dank für ein kaffeebraunes Himmelslächeln das ungeschmälerte Vermögen. In Düsseldorf ist die Volksschullehrerin auf einmal steinreich. Sie dreht sich zu mir um und lächelt auch mir zu, weil ich mir eine freundliche Parallelexistenz für sie ausdenke und zwei komplett verschiedene Lebensweisen erfinde, um mir die Zeit zu vertreiben. Jetzt geht es in der Schlange einen Schritt weiter. Die Parallelexistenz endet abrupt.

Warum geht es denn bloß so langsam voran? Sakra Kreuz und Gott Sabaoth! So pflegte unser alter Pastor Remigius Huber in der Sakristei zu wettern, wenn einer von uns Ministranten, und ich war einer von ihnen, den Karton mit den ungeweihten Oblaten aus Unachtsamkeit vom Kredenzschrank heruntergestoßen hatte. Dann zerrte er den Missetäter an den Ohrläppchen quer durch den Raum und wurde vor heiligem Zorn puterrot im Gesicht. Hochwürden Remigius Huber ist vor dreißig Jahren aus dem tiefschwarzen Bistum Bamberg in die schwäbische Diaspora entsandt worden, um den ungläubigen Stuttgartern den Katechismus beizubringen. Doch er beliebt manchmal zu fluchen, ungeachtet seines geistigen Standes. Wir elf- und zwölfjährigen Frechdachse haben reumütig die Köpfe gesenkt und die Hände gefaltet und verstohlen gegrinst. Ich fand den Ausdruck so mordskomisch, dass ich ihn übernommen habe, gehijackt habe, zum Beispiel, wenn ich eine Lateinarbeit versaut hatte und mein Lehrer einen seiner dramatischen Wutanfälle bekam. Wenn Pater Remigius Huber sähe, wie hier die VIP-Prominenz durchhofiert wird, ich wette, da käme wieder Gott Sabaoth an die Reihe!

Ich erwache aus meiner Erinnerung, als Brunsweiler mir jetzt aufmunternd auf die Schulter klopft. Wie froh ich sei, versichere ich noch einmal hastig, ihn persönlich kennenzulernen, und auf Indien sei ich ja wahnsinnig gespannt. Auch die Kollegen in Düsseldorf ließen herzlich grüßen. Dann bleibe ich erschrocken stehen, nestle an der Brusttasche und suche in allen Rocktaschen nach meinem Vierfarbenschreiber. Den muss ich im Flugzeug vergessen haben. Also wende ich mich ohne Schuh und ohne Kugelschreiber dem Ausgang zu.

»Und jetzt nix wie ab in die Koje«, sagt Brunsweiler, als wir die misstrauischen Beamten der Einwanderungsbehörde und den umständlich schnüffelnden Rauschgifthund des Zolls passiert haben, und denkt wahrscheinlich mehr an sich selbst als an mich. Mein Kopf glüht fiebrig und wird bald in tausend Einzelteile zerplatzen. Tief in der Nacht scheinen noch immer eine Million brauner, gelber, schwarzer Menschen auf den Straßen zu sein, in allen Hautfarben existieren sie, die meisten beneidenswert schlank, auch mager. Ich gebe mir nicht die Mühe, eine Million Parallelexistenzen zu erfinden. »Unterernährt, rachitisch, Vegetarier«, hilft Brunsweiler meinem Verständnis nach. Die quirligen Menschenmassen in der Halle und auch auf dem Vorplatz erdrücken mich, sosehr ich mir Mühe geben möchte, das Land von der ersten Sekunde an zu lieben.

Neben Brunsweiler gehe ich her, unserer Old Indian Hand, dessen zweifelhafter Ruf bis Düsseldorf dringt. Ich fühle mich als Außenseiter, in Fremdheit eingepfercht, fast bis zur Atemlosigkeit isoliert, und versuche, mir beim Gang über den Parkplatz die braunen, gelben, schwarzen Menschen vom Leib zu halten. Überall stehen sie mir im Weg, auch auf den Straßen, bilden eine Barrikade, sodass wir kaum über den zugeparkten Platz zum Firmenauto vordringen. Der indische Fahrer reißt den Wagenschlag auf. Der Mann trägt mir zu Ehren eine mausgraue Livree und zieht die Mütze. Ich schüttele ihm die Hand, was ihn überrascht. Aber sozialen Abstand lasse ich nicht gelten. Brunsweiler schenkt mir ein schiefes Lächeln, vielleicht, weil ich mit dem Handschlag ein Zeichen setze, mit dem er im Land der Kasten nicht einverstanden ist.

»Was sind das für Bäume?«, frage ich unterwegs, als wir durch den immer noch zähen Autoverkehr zum Hotel Tadsch Mahal fahren, das angeblich das traditionsreichste in Delhi ist. Bäume interessieren mich auf beharrliche Art. Sie stehen still und lassen sich widerstandslos berühren, mit meinen Händen und meinen Blicken. Sie folgen mir überall nach. Aber Brunsweiler interessiert sich nicht für die Flora. Er will nur ins Bett, und der Fahrer hilft aus. »Ashokeichen«, erklärt er. »Und dahinten der mächtige Blütenbaum?« Wieder nennt der mausgraue Mann einen unbekannten Namen: »Ein Frangipani.« Als wir am Fuß der weißen Marmortreppe anhalten, springt mir ein goldener Fleck ins Auge. Der betresste, baumlange Portier mit Turban auf dem Kopf und gewaltigem Schnurrbart reißt mir den Schlag auf und begrüßt mich mit einer würdevollen Verneigung, die mir in Deutschland nirgendwo zuteilwird. Den smarten Angestellten an der Rezeption hingegen nehme ich vor Müdigkeit kaum wahr. Auch ich möchte endlich aufs Zimmer, die Klamotten irgendwohin schmeißen und die Beine lang ausstrecken! Die roten Wandteppiche und die blau glasierten Tonvasen mit orangefarbenen Paradiesblumen in der Hotelhalle beeindrucken mich nicht. Aber Brunsweiler weiß, was sich gehört. Trotz der Müdigkeit will er mich partout noch erst in die Bar schleppen und mir einen Schlummertrunk spendieren. »A last one for the bunk«, schnauzt er den schläfrigen Barkeeper an. Ich krame im Gedächtnis, um the bunk zu finden. Es ist die Schlafkoje.

Überall riecht es nach Abfall. Sogar in der mit weißem Marmor verkleideten Hotelbar fühle ich mich von Gerüchen verfolgt. Darum bleibe ich hier nicht lange vor Anker. Bald verabschiede ich mich von Brunsweiler und sause im Lift nach oben. Minuten später falle ich in meiner Kajüte aufs Bett und erhoffe mir einen Schlaf von bleischwerer Tiefe. -

Eine unendlich ferne, unendlich sanfte Frauenstimme summt bienengleich durchs Zimmer: der Weckdienst des Hotels. Es ist sieben Uhr. Wie gerädert bleibe ich im Bett liegen, kann mich nicht dazu überwinden aufzustehen und starre zur Decke.

Offenbar graut schon der grauenhafte Morgen. Wie kann das sein? So glatt die Rutschpartie von einem Tag zum nächsten, von einem Kontinent zum andern. Graues Dämmerlicht fällt durch die geschlossene Jalousie. Auf dem Tisch liegt mein Reisepass. Den muss ich schleunigst einstecken. Er darf nicht abhandenkommen wie der eine Schuh. Ohne Ausweis in Indien – nicht auszudenken, was mir passieren kann! Im Tadsch Mahal wird nichts gestohlen. Die Hotelangestellten sind über jeden Verdacht erhaben, hat mir der Front Desk Officer beim Einchecken versichert. Wertgegenstände gehören natürlich in den Hotelsafe, schickt er mir eine Warnung hinterher.

Draußen trommelt Wasser in eine Regenrinne, die unter dem geschlossenen Fenster herläuft. Aber in Indien regnet es doch nie! Seit meiner Landung hängt doch nur schwüle Trockenheit über der Stadt. Ich wühle mich aus dem Bett, dusche und binde mir ein Frotteetuch um, ehe ich mich am Fenster zeige. Ohne es zu öffnen und die Hitze, die draußen bestimmt schon eingesetzt hat, ins Zimmer zu lassen, drücke ich die Stirn gegen die Scheibe und blicke hinaus in die Idylle. Noch immer schießt Wasser aus einem Blechrohr, das an der Außenwand hinabführt, in eine Regentonne. Dann hört der Strahl so plötzlich auf, als sei ein Überlaufventil zugedreht worden.

Nein, ich behaupte nicht, dass ich gern nach Indien gehe. Widerstrebend habe ich die Abordnung akzeptiert. Die Mission abzulehnen würde mich in meiner Karriere zurückwerfen und in meiner Personalakte grellrot vermerkt. Aber dieses bettelarme, rückständige Land mit seiner verkrusteten Kastengesellschaft! Schmutz und Dreck überall. Sind Sie schon einmal in Bombay gewesen? Ja, ich weiß, neuerdings ist die Stadt umgetauft worden. Doch den neuen Namen habe ich mir noch nicht eingeprägt. Jedenfalls hatte ich das Vergnügen auf dem Flug nach Sydney, als ein Streik der Fluglotsen unsere Maschine zur Zwischenlandung zwang. Die Passagiere wurden zwei Tage im Hotel untergebracht.

Wieder das Telefon. Der freundliche Weckdienst will sich überzeugen, ob ich wach geblieben bin. Mittlerweile dämmert mir, dass es sich um eine Computerstimme handelt. Mit quengeligem Widerstreben zwänge ich mich in die Kleider.

Noch einmal ein Blick zum Fenster hinaus: Ein trister Hinterhof, in dem sich rostige Autokarosserien stapeln, Wracks alter Rennfahrerträume, bösartig funkelnder Müll, regenbogenfarbene Öllachen. So eine triste Brache könnte auch im Ruhrgebiet liegen! Wenn man bei passender Beleuchtung diese Metallknäuel in einem Museum aufstellt, darf man sie getrost als Kunstwerk bezeichnen, überlege ich, und zwar nicht spöttisch, sondern ernsthaft, weil da unten Gegenstände liegen, die keine Funktion erfüllen, keine Bedeutung haben und daher jede Bedeutung annehmen, die ich ihnen zuweise. Und heute Morgen ernenne ich sie zu Kunstwerken, denen der Zeitbegriff fehlt. Für die Ewigkeit geschaffen. Für die Ewigkeit von zehn Sekunden. Dann wende ich den Blick ab.

Um meinen persönlichen Zeitbegriff kurz einzublenden: Wie sauber weht mir die Luft – im Gegensatz zu diesem Hinterhof – im Schwäbischen Wald ins Gesicht! Wie viele malerische Orte mit historischem Stadtkern kenne ich dort! Mitten durchs heutige Welzheim verlief vor zweitausend Jahren die Nordgrenze des Römischen Reiches, der Limes. Soll man das glauben! Ja, ich zähle die Sehenswürdigkeiten gern auf, damit die Reiseveranstalter endlich ihre Suchscheinwerfer auf die idyllischen Orte richten und die eng bebauten Marktplätze mit behäbigen Touristenbussen verstopfen: Alfdorf, Althütte, Aspach, Gschwend, und so weiter. Für mich sind das nicht Ortsnamen auf einer Landkarte, sondern Haltegriffe, an denen ich mich zurückhangele in die Tiefe meiner Herkunft. Wenn ich den Namen nachhorche, geht mir das Herz auf. Im Flugzeug hätte ich der unbekannten Briefschreiberin aus Japan stundenlang von den Städtchen erzählen können, von denen einige tausend Jahre alt sind, und ihr gesagt, nichts gehe im Sommer über erfrischenden Perlmost aus dem Schwäbischen! Wahrscheinlich hätte sie dann die Sehenswürdigkeiten Japans aufgezählt, für die ich im Kopf keinen Platz hätte.

Letzte Nacht bin ich zwar binnen Sekunden eingeschlafen, doch drei Stunden später war ich infolge der Zeitverschiebung – in Deutschland war es zu dem Zeitpunkt acht Uhr morgens – wieder hellwach. Von da ab habe ich nur noch vor mich hingedämmert. Brunsweilers Einladung zum Schlummertrunk hätte ich besser ausgeschlagen. Jetzt brummt mir der Schädel, im Mund habe ich einen säuerlichen Geschmack, und die Zunge ist gelb belegt. Am Gaumen klebt mir etwas Pelziges, als hätte mir jemand über Nacht Katzenhaare zwischen die Kiemen gestopft. Das nervtötende Schlafdefizit nimmt bei meinen Reisen von Tag zu Tag zu, obwohl man meinen sollte, der Körper müsse allmählich begreifen, dass er in einer neuen Zeitzone gelandet ist. Gegen chronische Insomnie hilft nichts, was die Apothekenwerbung verspricht: kein Schlafmittel, keine Ohropax, keine Schlafbrille, die ich auf Reisen stets bei mir habe. Schon treibt mich die Unruhe hinaus in den Tag, obwohl mir unabgebaute Müdigkeit das Mark aus den Knochen saugt.

Wieder denke ich an meine Nachbarin, die distanzierte Bibliothekarin aus Osaka. Frau Shibuya, ja, so hat sie sich vorgestellt und unverzüglich an ihren Briefen weitergezirkelt. Mit ihren streng untereinander platzierten Schriftzeichen hat sie meine Neugier geweckt und eine Brücke nach Japan geschlagen. Sie hat Erinnerungen geweckt. Denn beim letzten Tokyo-Besuch bin ich irgendwo in der verwirrend großen, sprachlich mir vollkommen verschlossenen Stadt, in der ich kein Straßenschild lesen, keinen Taxifahrer fragen kann, an einer Filiale der Mitsubishi Bank vorbeigekommen. Im selben Moment ist eine junge Frau herausgetreten, eine Bankangestellte in dunkelblauem, eng geschnittenem Zweireihersakko und dazu passendem Rock. Sie hat im Schaufenster etwas zurechtgerückt, vielleicht einen Gebührenanschlag, und ist wieder in die Bank zurückgegangen. Die Frau hat mich nicht angesehen, nur stumm ihre Arbeit getan, ist bildhübsch und schlank gewesen, genau wie ich mir eine Japanerin als Mannequin vorstelle, so schön, dass es mir den Atem verschlagen hat. Zehn Sekunden lang habe ich sie beobachtet – wie eine überirdische Erscheinung.

Solch einer grazilen Frau bin ich in Deutschland noch nie begegnet, nicht mal auf der Düsseldorfer Prachtstraße oder auf dem Kurfürstendamm in Berlin oder was es sonst noch an deutschen Flaniermeilen gibt. Das ist mir wieder durch den Kopf gegangen, als die grauhaarige Bibliothekarin im Flugzeug neben mir Briefe kalligraphiert hat. Ich glaube, auch das ist eine Parallelexistenz gewesen. Einen Moment male ich mir aus, ich würde von der Firma nach Tokyo geschickt und nach der Bankniederlassung suchen. Im Internet würde ich alle Filialen der Mitsubishi and Tokyo Bank ausdrucken und mich im Taxi auf den Weg machen. Wie kann ich dem Fahrer auf dem japanischen Stadtplan zeigen, wohin ich möchte, wenn ich nicht mal die Straßennamen lesen kann? Es wäre zum Verzweifeln!

Mein Pass lautet auf JOHN, Martin, wohnhaft in Stuttgart, Fasanenstraße 23b, erster Stock, obwohl mein Schreibtisch in Düsseldorf, Berliner Allee 10–12, Nähe Schadowstraße, dritte Etage steht. In der heimischen Fasanenstraße steht kein kühler Bürokomplex aus den Achtzigerjahren, sondern da wohne ich im schummrigen Hinterhof, wo die Blaumeisen und Rotkehlchen um die besten Nistplätze streiten. Außer mir gibt es da nur noch den Elektroladen von Boris, einem Kriegsflüchtling aus dem Kosovo, und den Trödler, der alte Möbel verhökert. Dem habe ich leichtsinnigerweise versprochen, ihm eine holzgeschnitzte, bunt bemalte Tempeltür aus Südindien zu schicken. Aber wie mache ich das? Im Hotelfoyer habe ich ein riesiges Portal zur Dekoration ausgestellt gesehen. Es wiegt bestimmt eine Tonne. Wie kann ich so ein Paket mit der Post befördern? Dem Trödler zuliebe werde ich mir von einem Rikschafahrer kleine Läden in der Altstadt zeigen lassen. Vielleicht finde ich da etwas Passendes. Aber den Rikschafahrer bekomme ich nur, wenn der goldbetresste, turbangekrönte, mit einer kardinalsroten Fantasieuniform ausstaffierte Portier ihn zum Entree vorfahren lässt. Denn vermutlich sind dort nur ordentliche Taxis zugelassen. Schon jetzt sehe ich an der Rampe Männer kauern, einträchtig wie die Tauben, und demütig auf Kundschaft warten. Das kenne ich aus anderen Armutsländern.

Ja, mag alles sein mit der großen Ungerechtigkeit auf der Welt! Murrend schwanke ich zum Frühstückssaal. Ganz leicht schmecke ich einen Rest von dem Schlummertrunk, den Brunsweiler mir zur Begrüßung spendiert hat, aber vor allem Staub, den die Aircondition ins Hotel saugt. Das Tadsch Mahal ist höchst modern eingerichtet und wird international mit fünf Sternen geziert. Und trotzdem kann ich mich gegen Vorurteile nicht wehren. Wahrscheinlich rieche ich durch die dicken Wände den Schweiß der Leute, die schon so früh draußen schuften, umherirren, Handkarren vor sich her stoßen, Gemüse auf dem nahen gelegenen Markt verkaufen, bevor die Hitze unerträglich wird. In den Nasenhöhlen glaube ich sogar einen feinen Wüstenstaub zu spüren, den der Westwind aus dem Umland heranträgt. Durch Ritzen an Türen und Fenstern, durch das Fliegengitter dringt der Staub bis in meine Kaffeetasse – alles nur Einbildung, Dritte-Welt-Phobie, unter der ich leide. Unterentwickelte Länder, Mexiko, China, Bolivien, man möchte es nicht glauben, doch sie riechen irgendwie gleich – säuerlich.

Brunsweiler hat mich gestern Abend vorgewarnt. Auch im Fünf-Sterne-Hotel bitte nur Mineralwasser aus der Flasche trinken! Auch die hat er mir fürsorglich mitgegeben. Wieder oben in meinem Zimmer, schaue ich verbissen in den Spiegel und sehe nicht nur die Bartstoppeln, die in der Hitze schneller wachsen, sondern auch die Müdigkeit, den Missmut der Dritten Welt.

Ich also, Martin John, bin seit zwei Jahren Projektinspizient bei der Intertrans – unter dem Kurznamen sind wir börsennotiert. »Eine absolute Vertrauensstellung, cher Monsieur Martin«, hat der Finanzvorstand Altmann damals zu mir gesagt, als er mir die fleischige Hand auflegte. Meinen Familiennamen hat er mit französischem Nasallaut ausgesprochen und mir tief in die Augen geblickt. Warum er mich auf französische Art gegrüßt hat, kann ich mir nur damit erklären, dass er in der Gegend von Bordeaux, wie gerüchteweise verlautet, ein kleines Weingut gekauft hat.

Ich muss unbedingt nachtragen: Meine Firma, die Internationale Transformationsmotorenfabrik AG – so lautet der volle Name –, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von zwei schwäbischen Tüftlern im Hinterstübchen eines Gasthauses in Nördlingen mit einem Startkapital von zweitausend Goldmark gegründet, so sagt es die Firmenchronik. Wagemutige Männer, denn auch die zweitausend waren als Bankkredit mühsam zusammengekratzt. Heute haben wir gute Chancen, in den stolzen Kreis von M-Dax-Unternehmen aufzusteigen, und schon vor zwanzig Jahren hat die Firma ihren Verwaltungssitz nach Düsseldorf verlegt. Pünktlich zum sechzigsten Firmenjubiläum haben wir das ehrwürdige Fachwerkhaus in Nördlingen in Dauerpacht erworben und eine Gedenkstätte darin eingerichtet. Obwohl der Eintritt kostenlos ist, wird das kleine Industriemuseum von Einheimischen gemieden, da sie von der weltumspannenden Bedeutung der Intertrans eine arg verengte Vorstellung haben. Dabei muss nicht nur jeder neu Eingestellte unserer Firma das Stammhaus in Nördlingen besuchen, sondern gelegentlich reisen Abordnungen des Industrie- und Handelstages Stuttgart an, oder es sind Industriehistoriker aus Deutschland und USA und sogar eine Firmendelegation aus China. – Wir haben uns in hundert Jahren ordentlich herausgeputzt!

Jetzt stehe ich unschlüssig am Hotelfenster, die Hand am Fenstergriff, als wollte ich frische Luft hereinlassen. Ein Trugschluss, denn ich habe beim Gang in den Frühstücksraum gemerkt, welch schwül-heiße Luftglocke Delhi drückt. Da ist die Luft aus dem Klimagerät, die den Tüllvorhang zum Schiffssegel bauscht und aus den Ventilationsschlitzen den Luftstrom direkt auf meine Brust lenkt, ein Labsal. Auch wenn ich ruhig stehe, glaube ich leicht zu schwanken, als ob ein Erdbeben das Hotelgebäude bis in seine Grundfesten trifft. Oder es scheint sich alles zu drehen, was zweifellos auf eine Sinnestäuschung zurückgeführt werden muss, ausgelöst durch Schlafmangel und Klimaveränderung. Denn tektonische Festigkeit weist der Boden der Hauptstadt immerhin auf, das kann ich als Projektinspizient beurteilen.

Fürs erste Ausgehen an diesem heißen Tag kleide ich mich locker, nur leichte, helle Baumwolle. Den Anzug aus englischem Tropical, hauchdünnes Tuch, angeblich luftdurchlässig, der laut Reklame auch bei mitternächtlicher Schwüle wundersame Kühlung verspricht, hebe ich mir für den Abend auf, wenn ich vielleicht eingeladen werde. Den konventionellen Anzug werde ich nur im klimatisierten Büro tragen, wo wir die indische Kundschaft empfangen. Brunsweiler, der alles zu wissen glaubt, was Sitten und Gebräuche, tiefe Seelenregungen, Hassaufwallungen und geheime Neidsehnsüchte der Einheimischen betrifft, hat mir eine lange Liste mit Verhaltensregeln in die Hand gedrückt und behauptet, Inder fühlten sich von Europäern nur ernst genommen, wenn man sie im eleganten Zweireiher empfängt und so tut, als arbeitete man am Piccadilly Circus. Diese Weisheit, die er mir kostenlos überlassen hat, muss ein postkolonialer Phantomschmerz sein, an dem hier die Leute siebzig Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit leiden! Brunsweiler muss es ja wissen mit zwanzig Jahren Indienerfahrung, außerdem ist er mit einer fast ebenso viele Jahre jüngeren Inderin verheiratet.

Der dünne Luftstreifen, der durch eine Fensterritze hereinstreicht, riecht nach Schmieröl. Die Autowerkstatt nebenan, die wie gesagt so aussieht, als läge sie im Ruhrgebiet, hat sich, wahrscheinlich allen Bauvorschriften zum Trotz, für ewige Zeiten auf dem Hinterhof eingerichtet, wo sich wie Tierkadaver verrostete Taxikarosserien stapeln. Magere Hühner, die Federn halb ausgerupft, stolzieren unter einem Wellblechdach herum und recken die Hälse, um Wasser aus einer Büchse zu schlürfen. In der Ecke des Hofes, wo tagsüber die Arbeiter werkeln, liegt eine ausgebaute Ölwanne. Vergangene Nacht, kaum habe ich im Bett gelegen, es muss zwei Uhr früh gewesen sein, hat ein verrückter Halbwüchsiger eine halbe Stunde lang auf das Eisen gehämmert. Bei dem Krach bin ich fast verrückt geworden, doch niemand im Hotel schien sich um die Lärmbelästigung der Gäste zu kümmern. Schließlich habe ich mich beim Night Service beschwert. Passiert ist nichts. Jetzt, wo ich hinunterschaue, stellt sich ein Arbeiter neben die Wanne und pinkelt den Überschuss seiner Körperflüssigkeit hinein. Sofort bilde ich mir ein, den Urin bis ins Zimmer zu riechen. Das Fenster ist zwar hermetisch verschlossen, doch vielleicht dringt der Gestank durch die Klimaanlage herein.

An diesem Morgen leide ich an einigen Zwangsneurosen – nicht nur an der Parallelexistenz, sondern auch am Tunnelblick, was jedoch, genau genommen, nur eine Metamorphose der Parallelexistenz ist. Denn eigentlich sehe ich nicht den verwahrlosten Hinterhof, die ziellos herumlaufenden Hühner, die Autowerkstatt nebenan, ich sehe das ganze Land nicht – nur meinen mäandernden Lebensweg, der mich schon an manchen Ort geführt hat, doch noch nie zu einem, wo ich mir spontan gesagt hätte: Hier möchte ich für immer bleiben, bis zum letzten Wimpernschlag. Denn, wie gesagt, ich wurzele im Stuttgartschen, wo sich zwischen den Geländefalten des Stadtkessels, den von Weinreben bewachsenen Hügeln und den Niederungen des Nesel- und Vogelsangbachs zwar an Sommertagen schwitzige Schwüle und Luftfeuchtigkeit stauen, wohne jedoch halb im Berg, bin in gesunder Luft aufgewachsen und am Wochenende nach Herrenberg geradelt, dreißig Kilometer, habe am Marktplatz zwischen aufgefrischten Fachwerkfassaden gefrühstückt, dabei die mächtige Stiftskirche immer im Auge gehabt, bin kreuz und quer an den Ausläufern des Schönbuchs vorbeigejoggt, habe die friedlich im Sonnenlicht schimmernde Ammer nicht aus dem Blick verloren und mich schon halbwegs im Schwarzwald gewusst. Mit leibhaftigen Wildsauen, den sich durchs Unterholz wühlenden Keilern, den um die Frischlinge besorgten Bachen habe ich um die Wette gegrunzt, wenn ich mir im Wald die Lunge aus dem Hals gerannt bin. Wenn es den Ort gibt, wo ich sagen kann: Nur hier möchte ich eines Tages die Augen schließen, so wird er im Schwäbischen liegen.