Dialektik der Ordnung - Zygmunt Bauman - E-Book

Dialektik der Ordnung E-Book

Bauman Zygmunt

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Beschreibung

Der Holocaust wurde inmitten der modernen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muss daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden.

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War der Holocaust ein „Betriebsunfall“ der Moderne oder deren innere Konsequenz? Zygmunt Bauman zeigt in seinem Hauptwerk, wie die Soziologie mit diesem Phänomen methodisch umgehen könnte, mehr noch: was der Holocaust für die Soziologie bedeutet. Keine der traditionellen Lehrmeinungen der Soziologie kann in Zygmunt Baumans Analyse bestehen. Weder diejenige, die den Holocaust als ein Ereignis der jüdischen Geschichte interpretiert, noch diejenige, die den Holocaust als Produkt »barbarischer« Verhaltensweisen betrachtet, die vom zivilisatorischen Fortschritt langsam überwunden werden. Im Gegenteil, der Holocaust selbst muss als Ausdruck der Moderne verstanden werden: in diesem Sinne ein »normaler Vorgang« – immer und überall wiederholbar.

Für die vorliegende vierte Auflage dieses vielbeachteten Werks von Zygmunt Bauman hat Ulrich Bielefeld ein informatives Nachwort verfasst, welches das Gesamtwerk Baumans analysiert und in einen biografischen Zusammenhang stellt.

Zygmunt Bauman (1925–2017), Professor für Soziologie an den Universitäten Warschau, Tel Aviv und Leeds. Veröffentlichungen u. a.: »Legislators and Interpreters« (1987), Freedom« (1988), »Thinking Sociologically« (1990), »Modernity and Ambivalence« (1990; dt. 1992 »Modernität und Ambivalenz«), »Leben in der Flüchtigen Moderne« (Frankfurt, 2007), »Wir Lebenskünstler« (Berlin, 2010), »Die Angst vor den anderen« (Berlin 2016). Zahlreiche Preise und Ehrungen, darunter der Amalfi-Preis für Soziologie.

Zygmunt Bauman

Dialektik der OrdnungDie Moderneund der Holocaust

Aus dem Englischen übersetzt von Uwe Ahrens

Mit einem Nachwort von Ulrich Bielefeld

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-573-3

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

4. Auflage mit einem Nachwort von Ulrich Bielefeld: © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Deutsche Erstausgabe © EVA Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1992

die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Modernity and the Holocaust

© 1989 Polity Press, Basil Blackwell, Oxford

Print: ISBN 978-3-86393-098-1

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

INHALT

Vorwort

1 Einführung: Die Soziologie nach dem Holocaust

2 Moderne, Rassismus und Vernichtung I

3 Moderne, Rassismus und Vernichtung II

4 Einzigartigkeit und Normalität des Holocaust

5 Die Kooperation der Opfer

6 Ethik des Gehorsams (Milgram lesen)

7 Vorüberlegungen zu einer soziologischen Theorie der Moral

8 Nachbetrachtung: Rationalität und Scham

Anmerkungen

Bibliographie

Zygmunt BaumanDie soziale Manipulation der Moral: Moralisierung der Handelnden, Adiaphorisierung des Handelns

Ulrich BielefeldZygmunt Bauman – Ein europäischer Intellektueller

Für Janina und alle,

die überlebten, um die Wahrheit zu berichten.

Während ich dies schreibe, sitzen über mir hochzivilisierte Menschen in ihren Flugzeugen und versuchen, mich umzubringen. Nicht daß sie gegen mich als Individuum Feindschaft hegten, oder ich gegen sie. Sie »tun nur ihre Pflicht«, wie es so schön heißt. Ohne Zweifel sind die meisten von ihnen gutherzige, gesetzestreue Zeitgenossen, die in ihrem Privatleben nicht einmal im Traum an einen Mord dächten. Andererseits wird es keinem von ihnen den Schlaf rauben, wenn eine gutplazierte Bombe mich in Stücke reißt. Schließlich dienen alle ihrem Vaterland, das die Autorität hat, sie von allem Bösen freizusprechen.

George Orwell, England your England (1951)

Nichts ist so erschütternd wie Schweigen.

Leo Baeck, Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden, 1933–1943

Es muß unser Interesse sein, daß die große historische und soziale Frage »Wie konnte das passieren?« ihr ganzes Gewicht, ihre grelle Nacktheit, ihren Schrecken behält.

Gershom Scholem in der Begründung seiner Ablehnung der Hinrichtung Eichmanns

Vorwort

Nachdem Janina ihre Erinnerungen an die Zeit im Ghetto und im Untergrund niedergeschrieben hatte, dankte sie mir, ihrem Ehemann, für das Verständnis während ihrer langen Abwesenheit in den zwei Jahren, in denen sie an ihrem Buch schrieb und die sie in eine Welt zurückführte, die »nicht die seine« war. Mir war es gelungen, dem Schrecken und der Unmenschlichkeit zu entkommen, als sie in die fernsten Winkel Europas vordrangen. Und wie viele meiner Zeitgenossen unternahm ich später niemals den Versuch, das Geschehene zu ergründen, sondern überließ es den Alpträumen und den niemals heilenden Wunden jener, die ihre Angehörigen verloren hatten oder ihrer Persönlichkeit beraubt worden waren.

Natürlich wußte ich genug über den Holocaust. Das Bild, das ich davon hatte, entsprach dem vieler anderer aus meiner Generation oder dem der Jüngeren: ein entsetzliches Verbrechen, das die Bösen an den Unschuldigen verübt hatten. Die Welt des Holocaust zerfiel in anomale Mörder und hilflose Opfer und jene, die versucht hatten, den Opfern zu helfen, soweit es eben ging. Nach dieser Vorstellung begingen die Mörder ihre Verbrechen, weil sie Psychopathen waren oder von einer wahnwitzigen Idee besessen; die Opfer wurden hingeschlachtet, weil sie dem übermächtigen, schwer bewaffneten Gegner nichts entgegenzusetzen hatten; und die übrige Welt hatte erschüttert zusehen müssen, bis der Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten dem unsäglichen Leiden ein Ende bereitete. Meine Vorstellung vom Holocaust war wie ein gerahmtes Bild an der Wand, das von seiner Umgebung sauber getrennt ist und mit dem Rest des Mobiliars nichts zu tun hat.

Nach der Lektüre von Janinas Buch wurde mir bewußt, wie gering mein Wissen war – oder besser, wie wenig ich nachgedacht hatte. Mir dämmerte, daß ich überhaupt keine Vorstellung hatte von jener Welt, die »nicht die meine war«. Was dort geschehen war, entzog sich allen einfachen und gedanklich befriedigenden Erklärungsversuchen, die ich bis dahin für ausreichend gehalten hatte. Der Holocaust war nicht nur ein finsteres, schreckliches Geschehnis, sondern ließ sich mit gewohnten, »normalen« Kategorien nicht erfassen. Der Holocaust besaß seinen eigenen Code, den es zu entschlüsseln galt.

Ich begann mich dafür zu interessieren, was Historiker, Sozialwissenschaftler und Psychologen über den Holocaust herausgefunden hatten. Ich stöberte in Bibliotheksregalen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Der Faktenreichtum der vielen historischen Studien und die Seriosität der theologischen Traktate, auf die ich stieß, war außerordentlich. Es gab sogar einige wenige sorgfältig recherchierte und gut beschriebene soziologische Untersuchungen. Die Analyse der von den Historikern zusammengetragenen Fakten ließ nur eine Schlußfolgerung zu: Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben. Und was zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen. Der Blick durch dieses Fenster verstörte mich zutiefst, aber je bedrückter ich wurde, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, daß es äußerst gefährlich ist, diesen Blick nicht zu tun.

Anfangs war der Blick durch dieses Fenster für mich fremd, und darin glich ich vielen meiner Fachkollegen. Wie die meisten Soziologen nahm ich an, der Holocaust sei bestenfalls ein Untersuchungsgegenstand für die Sozialwissenschaften; daß der Holocaust seinerseits unseren Untersuchungsgegenstand erhellen könnte, ahnte ich nicht. Der Holocaust schien mir (weil ich es nicht besser wußte) eine Unterbrechung des normalen Ganges der Geschichte, ein Krebsgeschwür am Körper der zivilisierten Gesellschaften, ein Fall von Wahnsinn inmitten gesunder Verhältnisse. Nur deshalb konnte ich meinen Studenten ein Bild von der normalen, gesunden Gesellschaft zeichnen, denn ich glaubte, den Holocaust den Spezialisten für Pathologisches überlassen zu können.

Meine Selbstzufriedenheit und die meiner Kollegen wurde gefördert (auch wenn dies keine Entschuldigung sein darf) durch die Art und Weise, in der das Vermächtnis des Holocaust vereinnahmt und behandelt wurde. Im kollektiven Bewußtsein gilt der Holocaust als Tragödie der Juden und der Juden allein; von den anderen wird nicht viel mehr als Bedauern, Mitleid, vielleicht auch Rechtfertigung verlangt. Wieder und wieder von Juden und Nichtjuden wurde der Holocaust als kollektives Schicksal und Privatangelegenheit der Juden dargestellt, argwöhnisch bewacht von denen, die den Erschießungen und Gaskammern entkommen waren, oder von den Kindern der Ermordeten. Unter dem Strich ergänzten sich die »Innen«- und die »Außenperspektive«. Selbsternannte Sprecher der Opfer warnten vor einer Verschwörung derer, die den Juden den Holocaust entreißen und »christianisieren« oder sein spezifisch jüdisches Gepräge zu einer Frage der »Humanität« machen wollten. Der Staat Israel versuchte, die tragische Erinnerung in ein Zertifikat seiner politischen Legitimität, in einen Freibrief für die frühere und zukünftige Politik und sozusagen als Vorschuß auf das von ihm selbst begangene Unrecht umzumünzen. Alle diese Gründe trugen dazu bei, daß sich der Holocaust in das öffentliche Bewußtsein als rein jüdische Angelegenheit eingrub, die von nur geringer Bedeutung für die heutige Gesellschaft und die in ihr Lebenden (seien sie nun Juden oder nicht) ist. Wie sehr die Bedeutung des Holocaust fatalerweise auf die des privaten Traumas einer einzigen Nation reduziert worden ist, erlebte ich an einem gelehrten, klugen Freund. Als ich mich darüber beklagte, wie wenig allgemeingültige Schlußfolgerungen aus dem Holocaust in der soziologischen Literatur zu finden seien, war seine Reaktion: »Das finde ich auch erstaunlich, wenn man bedenkt, wieviel jüdische Soziologen es doch gibt.«

Der Holocaust wird zu Jahrestagen und besonderen Anlässen thematisiert, normalerweise in jüdischen Gemeinden oder vor einer jüdischen Zuhörerschaft. Universitäten bieten Kurse über die Geschichte des Holocaust an, wenn auch außerhalb der normalen Lehrveranstaltungen. Der Holocaust gilt als Spezialthema der jüdischen Geschichte, es gibt Fachleute, die einander auf Tagungen und Symposien immer wieder begegnen. Doch ihre produktive und äußerst interessante Forschungsarbeit findet nur selten Eingang in die allgemeine Fachwissenschaft oder das kulturelle Leben – was natürlich auf viele Spezialgebiete in unserer Welt der Spezialisten und des Spezialistentums zutrifft.

Wenn Erkenntnisse diesen Weg schließlich doch einmal finden, dann betritt der Holocaust die öffentliche Bühne in der Regel in gereinigter, demobilisierender und abgemilderter Form. Im Einvernehmen mit den gängigen Mythen rüttelt der Holocaust das Publikum als menschliche Tragödie auf, ohne jedoch die Selbstzufriedenheit zu tangieren. Ein Beispiel ist die amerikanische Fernsehserie Holocaust: Sie zeigte, wie gebildete, kultivierte Arztfamilien aufrecht, würdevoll und moralisch unversehrt in die Gaskammer gingen, geführt von widerlichen, degenerierten Nazischergen und ihren ungeschlachten, blutrünstigen slawischen Gehilfen. David G. Roskies, ein scharfsinniger und einfühlsamer Beobachter der jüdischen Reaktionen auf die Apokalypse, hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Beobachtung gemacht: Sei die Ghetto-Dichtung zunächst durch Nachdenklichkeit gekennzeichnet gewesen, so habe sich in den späteren Versionen – wie durch schleichende Selbstzensur – jüdisches Selbstbewußtsein durchgesetzt. »Je mehr die Zwischentöne verdrängt wurden«, so Roskies, »desto mehr bildeten sich die bekannten archetypischen Konturen des Holocaust heraus: Die jüdischen Opfer waren absolut gut, die Nazis und ihre Kollaborateure absolut böse.«1 Hannah Arendt löste einen Sturm der Empörung aus, als sie die These wagte, die Opfer eines unmenschlichen Regimes hätten auf dem Weg in die Vernichtung notgedrungen einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren. Der Holocaust war ohne Zweifel eine jüdische Tragödie. Zwar waren die Juden nicht die einzigen, die dem Naziregime zum Opfer fielen (auf Geheiß Hitlers starben 20 Millionen Menschen, davon 6 Millionen Juden), doch nur für die Juden war die vollständige Vernichtung geplant, da sie in der Neuen Ordnung der Nationalsozialisten keinen Platz hatten. Dennoch: Der Holocaust ist nicht einfach ein jüdisches Problem und nicht ausschließlich ein Element jüdischer Geschichte. Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muß daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden. Die Verdrängungsprozesse im historischen Gedächtnis unserer modernen Gesellschaft sind aus diesem Grunde mehr als nur Ignoranz, die die Opfer der Genozids verletzen muß; sie sind auch ein Indiz für eine gefährliche, potentiell suizidale Blindheit.

Wenn hier von einem Verdrängungsprozeß die Rede ist, bedeutet das nicht, daß der Holocaust aus dem Gedächtnis schwindet. Im Gegenteil. Abgesehen von einigen revisionistischen Kreisen, die die historischen Fakten abstreiten (und so durch die Schlagzeilen, die sie machen, ungewollt für mehr Aufsehen sorgen), nimmt das öffentliche Interesse an den grausamen Fakten des Holocaust eher noch zu. Das gesamte Thema hat – zumindest als Rahmenthema – einen festen Platz in Filmen, im Fernsehen und in der Literatur gefunden. Dennoch findet der Verdrängungsprozeß statt, denn zwei Vorgänge wirken zusammen.

Zum einen wird die Geschichte des Holocaust zunehmend in ein Spezialgebiet mit eigenen wissenschaftlichen Instituten, Stiftungen und Symposien abgedrängt. Ein bekannter Effekt dieser Verzweigung in Fachdisziplinen ist, daß das Spezialgebiet eine nur sehr lockere Verbindung mit der allgemeinen Forschung hält; die allgemeine Forschung bezieht nur wenige Impulse aus den Erkenntnissen der Spezialisten, insbesondere dann, wenn diese ihre eigene Sprache und Begrifflichkeit entwickeln. Das wissenschaftliche Spezialgebiet wird gewissermaßen partikularisiert und marginalisiert, das heißt, es verliert an Bedeutung für die wissenschaftliche Praxis. Die Folge ist, daß der Umfang und die wissenschaftliche Qualität der Spezialuntersuchungen zum Holocaust zwar in beeindruckender Weise zunehmen, daß die Beschäftigung mit diesem Thema aber kaum noch Eingang in allgemeinhistorische Darstellungen findet.

Ein weiterer Vorgang ist die bereits erwähnte Einfriedung des Holocaust im öffentlichen Bewußtsein. Der Holocaust ist an Gedenkfeiern und die damit verbundenen Reden geknüpft. Veranstaltungen dieser Art haben ihren Sinn, doch sie tragen nur wenig zur Analyse des Phänomens Holocaust und seiner beunruhigenden, unbequemen Aspekte bei. Eine weitere Tatsache ist, daß die Informationsmedien noch hinter diesem ohnehin beschränkten Diskussionsstand zurückbleiben.

Wenn die Öffentlichkeit mit der schrecklichsten Frage konfrontiert wird, nämlich »Wie war das Entsetzliche im Herzen des zivilisierten Teils der Welt möglich?«, geraten nur wenige darüber aus dem seelischen Gleichgewicht. Untersuchung der Schuld wird verwechselt mit der Forschung nach den Ursachen. Die Wurzeln des Bösen, so hören wir, seien im Wahn Hitlers, in der Unterwürfigkeit seiner Henker, der Brutalität seiner Anhänger und in der von seinen Ideen gesäten Morbidität zu suchen. Außerdem wird darauf verwiesen, die Windungen der deutschen Geschichte, die moralische Abstumpfung der Deutschen als Folge offenen oder latenten Antisemitismus hätten eine wichtige Rolle gespielt. Als Antwort auf die Frage, »wie so etwas möglich gewesen« ist, folgt in der Regel eine Litanei von Fakten über den SS-Horrorstaat, die Bestialität der Nazis oder andere Aspekte der »deutschen Krankheit«, die, wie man uns versichert, »der Entwicklung der Welt zuwiderlaufen«2. Nur wenn die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten und die Ursachen in unserer aller Bewußtsein kämen, sei es möglich »die Wunden, die der Nationalsozialismus der westlichen Zivilisation beigebracht habe, wenn sie schon nicht heilbar sind, wenigstens zu lindern«3. Das könnte heißen, daß die Ursachenforschung abgeschlossen wäre, wenn Deutschland, den Deutschen und den Nationalsozialisten ihre Schuld moralisch und materiell nachgewiesen sei.

Aber die Betonung und Erklärung des Holocaust als deutsches Verbrechen ist verhängnisvoll, denn sie führt dazu, daß alle anderen und insbesondere alles andere entlastet sind. Die Annahme, daß die Vollstrecker des Holocaust eine Wunde oder eine Krankheit unserer Zivilisation und nicht ihr schreckliches, doch legitimes Produkt waren, führt nicht nur zu ungerechtfertigter moralischer Selbstzufriedenheit, sondern kommt einer bedrohlichen moralischen und politischen Kapitulation gleich: Geschah das alles nicht »damals«, in einem anderen Land und einer anderen Zeit? Je mehr Schuld wir »den anderen« zuweisen können, desto mehr wiegen »wir« uns in Sicherheit. Wer die Schuldzuweisung mit Ursachenforschung verwechselt, verschließt die Augen vor dem labilen Zustand der Schuldlosigkeit und Gesundheit unserer Lebensverhältnisse.

Insgesamt gesehen verliert der Holocaust so paradoxerweise viel von seiner Bedrohlichkeit. Seine Botschaft für die Gegenwart und die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, das heißt ihre Institutionen, denen wir vertrauen, oder ihre Wertmaßstäbe, von denen wir unser Handeln und unsere Interaktionsformen leiten lassen, verhallt weitgehend ungehört. Sofern sich Fachleute damit auseinandersetzen, bleiben ihre Erkenntnisse auf den kleinen Kreis der Eingeweihten beschränkt. Es ist an der Zeit, diese Erkenntnisse in das allgemeine Bewußtsein, und wichtiger noch, in die moderne Praxis zu übersetzen.

Die vorliegende Studie ist ein Beitrag zu einer längst überfälligen Aufgabe von großer kultureller und politischer Bedeutung: Diese Aufgabe besteht darin, die soziologischen, psychologischen und politischen Implikationen des Phänomens Holocaust für das Selbstverständnis und die Praxis der Institutionen wie auch der Mitglieder der Gesellschaft zu verdeutlichen. Ich habe mit diesem Buch nicht den Versuch einer neuen historischen Deutung des Holocaust unternommen, sondern mich vielmehr auf die hervorragenden vorliegenden Forschungsarbeiten gestützt. Ziel meiner Studie ist die Kritik zentraler Bereiche der Sozialwissenschaften (möglicherweise auch der Sozialpolitik), die sich aus den Fakten, Dimensionen und dem verborgenen Potential des Holocaust herleitet. Der Zweck der in dieser Untersuchung vollzogenen Analyse ist nicht, einen weiteren Beitrag für eines der Spezialgebiete der Sozialwissenschaften zu liefern, sondern die Ergebnisse von Spezialuntersuchungen für die Sozialwissenschaften allgemein zugänglich und ihre Relevanz für deren Untersuchungen deutlich zu machen und sie somit in den Fokus der sozialen Theorie und Praxis zurückzuführen.

Kapitel 1 referiert die spärlichen Antworten der Soziologie auf theoretisch problematische und praktisch relevante Fragen aus dem Umkreis der Studien zum Holocaust. Einige der Aspekte werden in den folgenden Kapitel aufgegriffen und weiterverfolgt. In den Kapiteln 2 und 3 geht es um die Spannungen, die aus den grenzziehenden Tendenzen unter den Bedingungen der Modernisierung, des Zusammenbruchs der traditionellen Ordnung und der Konsolidierung der modernen Nationalstaaten hervorgegangen sind; ferner werden die Zusammenhänge zwischen bestimmten Merkmalen der modernen Zivilisation (besonders ist hier die auf zunehmender Verwissenschaftlichung beruhende Legitimation der sozialplanerischen Ambitionen zu nennen), das Aufkommen rassistischer Umdeutungen kommunaler Antagonismen und der Zusammenhang zwischen Rassismus und dem Genozid untersucht. Ausgehend von meiner These, daß der Holocaust als charakteristisches modernes Phänomen zu sehen ist, dessen Erklärung innerhalb des Kontextes moderner kultureller Tendenzen und technischer Entwicklungen zu suchen ist, behandelt Kapitel 4 das Problem der wahrhaft dialektischen Beziehung von Einzigartigkeit und Normalität des Holocaust (die seinen Status als modernes Phänomen ausmachen); meine Schlußfolgerung: Der Holocaust war das Resultat eines einzigartigen Zusammentreffens im Grunde normaler und gewöhnlicher Faktoren; die Möglichkeit dieses Zusammentreffens entstand in erster Linie durch die Entlassung des politischen Staates aus der sozialen Kontrolle, wodurch wichtige nichtpolitische Machtzentren und die Institutionen sozialer Selbststeuerung zerstört wurden. Das Ergebnis: Aus der Konzentration des staatlichen Gewaltmonopols erwuchs der Spielraum für sozialpolitische Ambitionen. Kapitel 5 geht die undankbare und schmerzvolle Aufgabe an, sich mit dem auseinanderzusetzen, »was wir lieber unausgesprochen ließen«4: nämlich mit den modernen Mechanismen, die die Kooperation der Opfer herbeiführen und den entmenschlichenden Effekt einer auf Zwang beruhenden Autorität verstärken – im Widerspruch zur Vorstellung von der veredelnden und moralisierenden Wirkung des Zivilisationsprozesses. Der »moderne Bezug« des Holocaust, sein Zusammenhang mit der von der modernen Bürokratie bis zur Perfektion entwickelten Form von Autorität, ist Gegenstand des Kapitels 6. Darin werden die hochinteressanten soziopsychologischen Experimente von Milgram und Zimbardo behandelt. Kapitel 7 liefert die theoretische Synthese und Konklusion, erörtert den gegenwärtigen Status der Moral in den vorherrschenden sozialen Theorien und schlägt eine grundlegende Revision vor – ein neues Konzept müßte die gefährliche soziale Manipulation durch physische wie geistige Distanzierung berücksichtigen.

Trotz der Vielfältigkeit der in diesem Buch behandelten Aspekte hoffe ich, daß alle Kapitel inhaltlich in eine Richtung weisen: Ich plädiere dafür, die Lehren aus dem Holocaust in die vorherrschenden Theorien der Moderne und des Zivilisationsprozesses aufzunehmen. Meiner Überzeugung nach sollte die Untersuchung des Phänomens Holocaust für die Diagnose der Gesellschaftsform, in der wir leben, genutzt werden.

Der Holocaust entstand aus dem Zusammentreffen alter, von der Moderne ignorierter, unterschätzter oder ungelöster Spannungen mit den mächtigen Instrumenten rationalen, zielgerichteten Handelns, die ein Ergebnis der Moderne selbst waren. Obwohl dieses Zusammentreffen einzigartig war und eine seltene Kombination von Umständen voraussetzte, sind die einzelnen Faktoren allgegenwärtig und »normal«. Es ist bisher versäumt worden, das furchtbare Potential dieser Faktoren weit genug zu ergründen und, vor allen Dingen, ihre grauenhafte Wirksamkeit zu verhindern.

In der Arbeit an diesem Buch habe ich besonders profitiert von der Kritik und dem Rat von Bryan Cheyette, Shmuel Eisenstadt, Ferenc Fehèr, Agnes Heller, Lukasz Hirszowicz und Victor Zaslavsky. Ich hoffe, die Genannten finden auf den folgenden Seiten mehr als nur flüchtige Spuren ihrer Gedanken und Anregungen. Mein besonderer Dank gilt Anthony Giddens für die aufmerksame Lektüre der verschiedenen Fassungen des Buches, für kluge Kritik und viele wertvolle Ratschläge. Meinem Herausgeber David Roberts danke ich für die Unterstützung und Geduld.

1

Einführung: Die Soziologie nach dem Holocaust

In Zukunft werden auch die Todeslager und ›Muselmänner‹ zu den materiellen und geistigen Hervorbringungen der Zivilisation zu zählen sein.

Richard Rubenstein und John Roth, »Approaches to Auschwitz«.

Wir begegnen in der Soziologie zwei Formen der Bewußtseinstrübung und Blindheit gegenüber dem Holocaust und seinen Konsequenzen für eine Theorie der Zivilisation und Moderne.

Das soziologische Denken wertet den Holocaust einerseits als etwas, das den Juden widerfuhr, als Ereignis spezifisch jüdischer Geschichte und damit als singuläres Ereignis, nicht weiter beunruhigend und ohne Relevanz für die soziologische Theorie. Der Holocaust gilt dann als Kulminationspunkt des christlich-europäischen Antisemitismus, als solcher seinerseits singulär und ohne Vergleich in einer langen, facettenreichen Tradition ethnischer und religiöser Vorurteile und Übergriffe. Derart ragt der Antisemitismus wegen seiner geschichtlich einzigartigen Systematik, seiner ideologischen Intensität und Internationalität, aber auch aufgrund seines besonderen regionalen und konfessionellen Nährbodens aus allen anderen gesellschaftlichen Antagonismen heraus. Der Holocaust, gedacht gewissermaßen als Fortsetzung des Antisemitismus mit anderen Mitteln, wird vor diesem Hintergrund zur monströsen historischen Ausnahme stilisiert. Die daraus abzuleitenden Erklärungen erhellen zwar die Pathologie der ihn hervorbringenden Gesellschaft, lassen aber keine Rückschlüsse auf ihren »gesunden/normalen« Zustand zu. Weder der orthodoxe soziologische Modernitätsund Zivilisationsbegriff, noch gar die Grundlagen dieser Wissenschaft scheinen von daher revisionsbedürftig.

Die andere Richtung soziologischer Betrachtung versucht diesen Fehler im Ansatz zu vermeiden, führt jedoch zur selben Konsequenz. Der Holocaust ist demnach in seiner Anhäufung von Monstrositäten zwar ein Extremfall – die einzelnen Phänomene, isoliert betrachtet, jedoch durchaus »normal«. Die These: Man könne (und müsse) mit diesen resistenten und universell anzutreffenden Phänomenen leben, da die soziale Ordnung sie normalerweise zähme, wenn nicht sogar neutralisiere. Der Holocaust erhält in dieser Sicht den Status eines Extremfalles unter vielen anderen »analogen« sozialen Konflikten oder Übergriffen. Die radikalste Denkrichtung behauptet gar, für den Holocaust seien bestimmte archaische, kulturell nicht auslöschbare, das hieße also »naturgegebene« Prädispositionen des Menschen verantwortlich – etwa unter Berufung auf Lorenz und die Aggression als Instinkt oder die von Arthur Koestler postulierte emotionale Prävalenz der stammesgeschichtlich älteren Hirnschichten.1 Die für den Holocaust vermeintlich verantwortlichen Faktoren werden aus dem Feld soziologischer Betrachtung eliminiert, wenn man sie als »präsozial« und immun gegen kulturelle Einflüsse betrachtet. Man kann den Holocaust dann allenfalls noch unter der schrecklich-finsteren – aber zumindest theoretisch faßbaren – Kategorie des Genozids subsumieren; oder ihn dem Kapitel ethnisch, kulturell oder rassistisch motivierter Unterdrückung und Verfolgung zuweisen.2

Unabhängig davon, welchem der beiden Ansätze die Soziologie folgt – der Holocaust läßt sich in die Kontinuität von Geschichte einfügen:

Das Kunststück, den Holocaust bei aller Singularität als normales Ereignis aufzufassen, gelingt unter Hinweis auf andere historisch belegte Greuel, von den Kreuzzügen über das Gemetzel an katharischen Ketzern und den türkischen Völkermord an den Armeniern bis hin zur britischen Erfindung des Konzentrationslagers in den Burenkriegen.3

Der Holocaust wird vielfach in die jahrhundertealte Tradition der jüdischen Ghettoisierung, Diskriminierung und Pogrome gestellt – als grauenerregende, wenngleich logische Konsequenz ethnisch und religiös motivierten Hasses. Derart ist die Sprengkraft des Schreckens entschärft, die grundlegende Revision der soziologischen Theorien überflüssig. Der gängige Modernitätsbegriff gerät nicht in Zweifel, daß die Analyse ihres latenten Potentials unterbleibt. Die ›erklärenden‹ und ›sinnstiftenden‹ Axiome und Methoden der Soziologie werden als perfektes gesellschaftspolitisches Rüstzeug angesehen. Das Resultat ist allgemeine Selbstzufriedenheit. Die modernen soziologischen Erklärungsmodelle, in einer bestimmten Konstellationsebene als theoretischer Rahmen wie pragmatischer Leitfaden soziologischen Handelns bewährt, bleiben der Kritik entzogen – auch trotz und nach dem Holocaust.

Kritik an dieser saturierten Soziologie wird bisher in erster Linie von Historikern und Theologen vorgetragen – ohne von der Soziologie ernsthaft zur Kenntnis genommen worden zu sein. Verglichen mit der beeindrukkenden Menge der gründlichen Studien von Historikern und der Weite der Auseinandersetzung unter christlichen und jüdischen Theologen nimmt sich der Beitrag der Soziologie zur Untersuchung des Holocaust dürftig und überflüssig aus. Ein Blick auf den gegenwärtigen soziologischen Forschungsstand zu diesem Thema offenbart das Paradox: Der Holocaust gibt mehr Aufschluß über den Stand der Soziologie, als diese in der jetzigen Form imstande ist, zur Erklärung des Holocaust beizutragen. Die Soziologen haben sich diesem alarmierenden Befund bisher nicht gestellt, geschweige denn sich damit auseinandergesetzt.

Wie man sich die soziologische Bewältigung des ›Komplexes Holocaust‹ vorzustellen hat, belegt ein Zitat des berühmten Everett C. Hughes:

Das nationalsozialistische Regime in Deutschland befahl das ungeheuerlichste Stück ›Vernichtungsarbeit‹, das die Juden in ihrer Geschichte zu erleiden hatten. Die entscheidenden Fragen angesichts eines solchen historischen Faktums lauten: (1) Wer erledigte dieser Arbeit? – und (2) Warum leisteten die ›guten‹ Menschen dagegen keinen Widerstand? Was wir brauchen, ist genaue Kenntnis über ihren Aufstieg zur Macht und bessere Mittel, sie von der Macht fernzuhalten.

Ganz im bewährten Stil soziologischer Praxis fordert Hughes eine gründliche psychosoziale Diagnose. Untersuchungsgegenstand sei die spezifische Kombination von Faktoren, die spezifische Verhaltensmuster bei den Erfüllungsgehilfen von ›Vernichtungsarbeit‹ auslösen (bzw. die damit korrelieren). Außerdem jene Faktoren, die den latenten Widerstand gegen diese Tendenz unterdrücken. Ziel dieses soziologischen Ansatzes: ein prädiktives Erklärungsmodell – basierend auf der Vorstellung von einer rational durchorganisierten, kausalen Gesetzmäßigkeiten und statistischer Wahrscheinlichkeit unterworfenen Welt – das den Ausbruch von ›Vernichtungstendenzen‹ verhindern helfen soll. Man hofft, die moderne Zivilisation durch eine konsequente Anwendung jener präventiven soziologischen Modelle garantieren zu können, denen sie angeblich ursächlich ihre rationale ›Beherrschbarkeit‹ verdankt. Allenfalls ein gewisser Nachbesserungsbedarf des – vermeintlich nicht diskreditierten – ›Social Engineering‹ wird eingeräumt.

In einer lesenswerten Studie vom Holocaust hat Helen Fein5 die von Hughes empfohlene Methodik Schritt für Schritt angewandt. Fein untersucht den Zusammenhang einer Reihe psychologischer, ideologischer und struktureller Variablen und der prozentualen Verteilung von Opfern und Überlebenden unter der jüdischen Bevölkerung im nationalsozialistisch besetzten Europa. Nach herkömmlichen soziologischen Maßstäben gelingt Helen Fein eine beeindruckende Forschungsleistung. Faktoren wie die nationale Ausprägung des Antisemitismus, der Grad der jüdischen Akkulturation und Assimilation sowie die daraus resultierende gesellschaftliche Solidarität in den einzelnen Ländern sind sorgfältig analysiert und präzise erfaßt. Einige Korrelationen konnten statistisch erhärtet werden, etwa die zwischen fehlender Solidarität und der Tendenz zur ›Aufhebung persönlicher moralischer Zwänge‹. Gerade die vorbildliche Arbeitsweise H. Feins legt aber die Schwächen der orthodoxen Soziologie auf diesem Gebiet in diesem Zusammenhang, wenn auch schonungslos, bloß. Tatsächlich gibt es ohne eine Revision der grundlegend stillschweigend akzeptierten Prämissen des soziologischen Diskurses keine Alternative zu dem von Fein beschrittenen Weg. Der Holocaust resultiert dieser Betrachtungsweise zufolge aus einer verhängnisvollen, zeitlich begrenzten Verkettung sozialer und psychologischer Faktoren. Das implizit oder explizit bemühte Modell eines human prägenden, prä- und antisoziale Triebe bändigenden zivilisatorischen Korsetts hat auch vor dem Holocaust Bestand. Die These: Moralisches Handeln verdankt sich der sozialen Ordnung, Erosionserscheinungen lassen auf gesellschaftliche Funktionsstörungen schließen. ›Im anomischen – das heißt ›gesetzlosen‹ – Zustand neigt der Mensch zur Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen.‹6 Im Umkehrschluß hieße dies, daß funktionierende soziale Regeln diese Skrupellosigkeit weitgehend ausschließen. Die Leistung der sozialen Ordnung – und damit auch der modernen Zivilisation, in der bekanntlich das regulative Element einen nie zuvor bekannten Entwicklungsstand erreicht – bestünde demzufolge darin, den Egoismus und die angeborene animalische Grausamkeit des Menschen im moralischen Zaum zu halten. Die enge, durch die eigene methodologische Zurichtung verfälschte These der orthodoxen Soziologie zum Holocaust kann daher nur lauten: Der Holocaust ist ein Betriebsunfall, nicht das Produkt der Moderne.

In einer anderen bemerkenswerten soziologischen Studie zum Thema Holocaust durchleuchtet Nechama Tec das soziale Spektrum von der entgegengesetzten Seite her: Wer waren die Helfer der Verfolgten? [Wer waren] jene, die sich der »Vernichtungsarbeit« widersetzten und ihr Leben für leidende Mitmenschen aufs Spiel setzten, wo ringsum Egoismus herrschte; wer waren sie, die inmitten amoralischer Zeiten moralisch blieben. Getreu dem Gebot der soziologischen Lehre versucht die Autorin zu ergründen, inwieweit ein nach damaliger Anschauung »abartiges« Verhalten sozial determiniert war. Nacheinander prüft sie die Hypothesen, die jeder ernstzunehmende Soziologe in einem solchen Forschungsprojekt herangezogen hätte. Allein die erwünschten Korrelationen zwischen Hilfsbereitschaft auf der einen und den verschiedenen Faktoren wie soziale Schicht, Bildungsstand, Konfessions- und Parteizugehörigkeit auf der anderen Seite lassen sich nicht nachweisen. Tecs Fazit fällt anders aus, als sie selbst – und der soziologisch beschlagene Leser – es erwartet hatte: »Die Retter empfanden ihr eigenes Verhalten als selbstverständlich – sie wandten sich spontan gegen die Schrecken ihrer Zeit.«7 Anders ausgedrückt: Diese Menschen bewiesen Hilfsbereitschaft, weil es in ihrer Natur lag. Daß sie keiner bestimmten Bevölkerungsgruppe und -schicht zuzuordnen waren, bedeutete einen herben Schlag für das Konzept einer »sozialen Determinanz« moralischen Verhaltens. Wenn überhaupt, so wirkten derartige Determinanten nur indirekt, indem sie nämlich nicht stark genug waren, den »Helferinstinkt« zu neutralisieren. Im Gegensatz zu vielen ihrer Fachkollegen kommt Tec der eigentlichen soziologischen Fragestellung nahe: diese nämlich lautet nicht »Wie können wir Soziologen den Holocaust erklären«, sondern »Welche Konsequenzen hat der Holocaust für unser Fach und unsere Methoden«.

Daß diese Frage ungestellt blieb, zeigt, welche sträflichen Versäumnisse in der soziologischen Aufarbeitung des Holocaust immer noch gemacht werden. Die Schlußfolgerungen daraus müssen jedoch genau bedacht sein. Die Bankrotterklärung der etablierten Soziologie zu diesem Thema führt allzu leicht zu Überreaktionen. Wer die Hoffnung aufgegeben hat, den Holocaust in den theoretischen Rahmen eines Scheiterns der Moderne an ihrem selbstgestellten Programm (dazu gehören: Unterdrückung der ewig fremdartigen Momente des Irrationalen, Zähmung der emotional-aggressiven Triebe durch den Zivilisationsprozeß, moralische Bildung durch Sozialisation) zu subsumieren, wählt nur zu gern einen »natürlichen« Ausweg aus dem Dilemma: der Holocaust als »Paradigma« der modernen Zivilisation, im Range eines »natürlichen«, »normalen«, wenn nicht gar alltäglichen Produktes und einer »historischen Tendenz«. Derart wird der Holocaust in den Status einer Wahrheit der Moderne erhoben, anstatt erkannt zu werden als eine der Moderne inhärente Möglichkeit – wobei diese Wahrheit von den ideologischen Phrasen derjenigen, die von der »großen Lüge« zu profitieren hoffen, nur unvollkommen verschleiert werden kann. Auf geradezu perverse Weise führt dieses Denken (von dem im vierten Kapitel noch zu reden sein wird) dazu, daß der Holocaust, dessen historische Bedeutung und theoretische Relevanz man zu betonen meint, im Gegenteil gerade relativiert wird. Mit anderen Worten: Die Schrecken des Holocaust werden tatsächlich identisch mit jenen Leiden, die die moderne Gesellschaft ohne Zweifel tagtäglich im Überfluß verursacht.

Der Holocaust als Test der Moderne

Vor einigen Jahren interviewte ein Journalist von Le Monde ehemalige Geiselopfer. Einer seiner bemerkenswertesten Befunde war eine besonders hohe Scheidungsrate unter Ehepaaren, die eine Geiselnahme gemeinsam als Opfer durchlitten hatten. Irritiert befragte der Journalist die Beteiligten nach den Gründen für ihren Schritt. Nur in wenigen Fällen war die Scheidung bereits vor der Geiselnahme in Erwägung gezogen worden.

Die Befragten beschrieben ihre Erfahrungen unter den alptraumhaften Bedingungen der Geiselnahme jedoch als »augenöffnend«, weil sie den Partner in einem »gänzlich neuen Licht« erlebt hatten. Brave Ehemänner »entpuppten« sich als selbstsüchtige Individuen, die nur die eigene Haut retten wollten; dynamische Geschäftsleute wurden zu erbärmlichen Feiglingen; souveräne »Männer von Welt« verfielen der Lethargie und bejammerten ihr nahes Ende. Der Journalist stieß auf eine heikle Frage: Welche Inkarnation dieser im Sinne des Wortes janusköpfigen Individuen sollte man das »wahre Gesicht« und welches die Maske nennen? Er erkannte, daß die Fragestellung falsch war. Keine Ausprägung war »wahrer« als die andere. Als Möglichkeiten schon immer im Charakter des einzelnen enthalten, zeigten sie sich nur zu unterschiedlicher Zeit und unter andersartigen Umständen. Das »gute« Gesicht schien nur deshalb normal zu sein, da es durch normale Umstände begünstigt wurde. Dennoch war auch die dunkle Seite immer präsent, wenn auch unter der Oberfläche. Der faszinierendste Aspekt dieser Recherchen ist, daß das »andere Gesicht« ohne die Geiselnahme vermutlich für alle Zeit verborgen geblieben wäre. Die Partner hätten ihr Eheglück weiter genießen können, ohne sich der unangenehmen Eigenschaften dessen, den sie zu kennen meinten, je bewußt zu werden. Erst unerwartete und außergewöhnliche Umstände waren imstande, diese ans Licht zu bringen.

Die oben zitierte Stelle aus der Studie von Nechama Tec endet mit folgender Beobachtung: »Ohne den Holocaust hätten die meisten dieser Helfer ihren Lebensweg relativ ungestört fortgesetzt, vielleicht mit sozialem Engagement, jedoch im allgemeinen ein unauffälliges Leben führend. Wir hätten es mit verkappten Helden zu tun gehabt, die von ihren Mitmenschen nicht zu unterscheiden gewesen wären.« Eine der wichtigsten (und überzeugendsten) Schlußfolgerungen ihrer Untersuchung: Es sei unmöglich, Anzeichen, Symptome oder Indikatoren für individuelle Hilfs- und Opferbereitschaft, oder auch Feigheit, angesichts einer Gefahr zu »isolieren«; mithin unmöglich, auch die Wahrscheinlichkeit solcher Manifestationen unabhängig vom »auslösenden« Kontext statistisch zu ermitteln.

John R. Roth hat diesen Gedanken einer Opposition von Potentialität und Realität (zusammenhängenden Modi, von denen nur der eine manifest, d. h. empirisch faßbar wird) in direkten Zusammenhang mit unserem Thema gebracht:

Hätte das Nazi-Regime obsiegt, wäre kraft seiner Autorität befunden worden, im Holocaust seien keine fundamentalen/natürlichen Gesetze mißachtet und kein Verbrechen gegen Gott und die Menschlichkeit begangen worden. Früher oder später hätte vermutlich das Zwangsarbeitssystem zur Disposition gestanden, wobei man die Entscheidung sicherlich nach rationalen Kriterien getroffen hätte.

Insgeheim wird die kollektive Erinnerung an den Holocaust (und geradezu ursächlich auch die Furcht vor der Konfrontation mit dessen historischer Realität) von der Horrorvision und dem nagenden Verdacht überlagert, der Holocaust sei vielleicht gar keine Verirrung vom geraden Weg des Fortschritts, kein Krebsgeschwür am gesunden Organismus der zivilisierten Gesellschaft. Wenn nun der Holocaust gar nicht die Antithese zur modernen Zivilisation (und all dessen, was wir damit verbinden) wäre? Der uneingestandene Verdacht lautet, der Holocaust könne ein verborgenes Antlitz derselben modernen Gesellschaft zutage gefördert haben, deren Erscheinungsbild uns so vertraut ist. Als hätten wir es mit zwei Gesichtern eines einzigen Organismus zu tun. Keine Vorstellung ist unerträglicher als die, daß keins der beiden ohne das andere existiere: wie die zwei Gesichter einer Münze.

Viele wagen nicht den letzten Schritt bis zu dieser schrecklichen Wahrheit. Henry Feingold z. B. besteht darauf, der Holocaust sei ein Bruch in der langen und insgesamt makellosen Entwicklungsgeschichte der modernen Gesellschaft. Der Schritt dorthin sei ebensowenig vorhersehbar gewesen wie etwa der gefährliche neue Stamm eines bezwungen geglaubten Virus.

Die »Endlösung« bezeichnet die Bruchstelle innerhalb der industriellen Entwicklung Europas, die, statt in ein besseres Leben – ursprünglich das Ziel der Aufklärung – in Selbstvernichtung mündete. Es war dasselbe industrielle System und Ethos, das Europa ursprünglich die Vorherrschaft in der Welt gebracht hatte.

Hier wird postuliert, das Rüstzeug für die Weltherrschaft sei qualitativ verschieden von den instrumentalen Voraussetzungen einer funktionierenden »Endlösung«. Und doch verkennt Feingold die Tatsachen nicht:

[Auschwitz] war auch eine sachlich-nüchterne Ausweitung des modernen Fabriksystems. Statt Güter zu produzieren, wurden hier aus dem Rohstoff Mensch Leichen produziert, die man in Einheiten pro Tag säuberlich in Schaubildern festhalten konnte. Die Schornsteine, Inbegriff der Fabrikproduktion, stießen den beißenden, für Verbrennung von Leichen typischen Rauch aus. Über das weitverzweigte europäische Eisenbahnnetz wurde der neuartige Rohstoff herangeschafft wie normales Frachtgut. In den Gaskammern starben die Opfer im Blausäuregas der weltweit führenden deutschen Chemieindustrie. Ingenieure entwarfen die Krematorien; die Bürokratie arbeitete mit einem Elan und einer Effizienz, um die rückständige Länder sie hätten beneiden können. Und selbst das Projekt insgesamt wurde bestimmt von modernem, wenn auch fehlgeleitetem wissenschaftlichen Geist. Das Ganze war im Grunde ein monströser Entwurf sozialen ›Engineerings‹ …9.

Die Wahrheit ist, daß die einzelnen »Elemente« des Holocaust – die ihn in ihrer Summe erst möglich machten – durchaus normal waren – »normal« nicht im Sinne vertrauter, gründlich beschriebener und klassifizierter Phänomene (dazu war die Erfahrung des Holocaust zu neu), sondern weil diese sich dem Begriff der Zivilisation und ihrer Zielvorstellungen, Prioritäten und inhärenten Visionen unterordneten – allen voran dem Streben nach menschlichem Glück und der perfekten Gesellschaft. Stillman und Pfaff schreiben dazu:

Es besteht ein gewiß nicht zufälliger Zusammenhang zwischen der angewandten Technologie der industriellen Massenproduktion, die auf schier unerschöpfliche Ressourcen gestützt ist, und der Tötungsmaschinerie des Konzentrationslagers und dem hemmungslosen Umgang mit dem Leben. Man mag jeden Zusammenhang bestreiten, aber Buchenwald gehört zur westlichen Zivilisation wie »River Rouge« in Detroit – wir dürfen Buchenwald nicht als Verirrung einer sonst heilen industriellen Welt hinstellen.10

Erinnern wir uns an die Schlußfolgerung, zu der Raul Hilberg in seiner unübertroffenen, vorbildhaften Studie zum Holocaust gelangt ist: »Die Vernichtungsmaschinerie unterschied sich grundsätzlich nicht von der gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands insgesamt. Die Vernichtungsmaschine war eine spezifische Ausprägung dieser Ordnung.«11

Richard L. Rubenstein formuliert die meiner Ansicht nach fundamentale Lehre aus dem Holocaust: »Er trägt die Signatur des zivilisatorischen Fortschritts.«Ein janusköpfiger Fortschritt, wie man hinzufügen sollte: In der Endlösung haben das industrielle Potential und das technologische Know-how, dessen sich unsere Zivilisation brüstet, eine Aufgabe nie dagewesener Größenordnung gefunden und diese gemeistert. Und in der Endlösung offenbarte die moderne Gesellschaft erstmalig, welcher Taten sie fähig ist. Nachdem technische Effizienz und perfekte Planung zum Maß aller Dinge erhoben worden sind, müssen wir nun einsehen, daß wir über dem Lobpreis materiellen Fortschritts, den wir der Zivilisation verdanken, dieses wahre Potential sträflich unterschätzt haben.

Die Welt der Konzentrationslager und der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, enthüllt eine eskalierende dunkle Seite der jüdisch-christlichen Zivilisation. Zivilisation bedeutet Sklaverei, Krieg, Ausbeutung und Todeslager. Zivilisation bedeutet aber auch Heilkunst, religöses Ethos, Kunst und Musik. Man hüte sich, Zivilisation und barbarische Grausamkeit als Antithese zu denken … In unserer Zeit wird Grausamkeit, wie fast alle anderen Aspekte des Lebens, nur wesentlich effizienter verwaltet als je zuvor. Grausamkeit ist nicht verschwunden und wird nie verschwinden. Kreativität und Destruktivität sind untrennbare Aspekte dessen, was wir Zivilisation nennen.12

Hilberg ist Historiker, Rubenstein Theologe. Wo sind die soziologischen Studien, in denen ein vergleichbares Problembewußtsein anklingt, in denen der Holocaust als eine Herausforderung für das Selbstverständnis und die Forschungsarbeit der Soziologen begriffen wird? Gemessen am Maßstab der Untersuchungen von Historikern und Theologen wirkt der Beitrag der Soziologie überwiegend wie ein Akt kollektiven Vergessens und Verdrängens.

Im großen und ganzen gesehen hat die Lektion des Holocaust kaum Spuren in der soziologischen Lehrmeinung hinterlassen. Deren bekannte Axiome postulieren die heilsame Vorherrschaft der Vernunft über die Emotionen; die Überlegenheit des Rationalen über irrationales Handeln (als verstünde es sich von selbst); oder sie konstatieren den unvermeidlichen Konflikt zwischen Zweckrationalismus und den moralischen Anforderungen, die eine problembelastete Domäne »persönlicher Beziehungen« sind.

Mir sind nicht viele offizielle Anlässe bekannt, bei denen sich Soziologen in ihrer Eigenschaft als Soziologen mit dem Faktum Holocaust auseinandersetzten. Eine dieser (wenn auch recht kleinen) Veranstaltungen war das Symposium »Western Society after the Holocaust« des »Institute for the Study of Contemporary Social Problems« 1978.13 Bei diesem Symposium unternahm Richard L. Rubenstein den phantasievollen, vielleicht überemotionalen Versuch einer Neuinterpretation der wesentlichen Weberschen Befunde über die Tendenzen der modernen Gesellschaft, und zwar vor dem Hintergrund der Holocaust-Erfahrung. Rubenstein fragte, ob die uns bekannten Tatsachen mit dem theoretischen Instrumentarium Max Webers (von diesem selbst oder seinen Rezipienten) hätten vorausgesehen werden können. Rubenstein meinte diese Frage bejahen zu können, zumindest suggerieren dies seine Thesen: innerhalb der Weberschen Begrifflichkeit von moderner Bürokratie, rationalem Geist, wissenschaftlicher Mentalität, Auslagerung von Werten in den Bereich der Subjektivität sei kein einziger Mechanismus isoliert worden, der nicht auch die Möglichkeit zu Nazigreueln in sich trüge; und mehr noch: aus der von Weber vorgeschlagenen Idealtypik heraus seien die Taten der Nationalsozialisten nicht notwendigerweise als Greuel zu bezeichnen. Beispiel: »Kein von deutschen Medizinern oder Technokraten verübtes Verbrechen steht im Widerspruch zu der Auffassung, daß moralische Werte an sich subjektiv und die Wissenschaft rein instrumenteller Natur und wertfrei sei.« Guenther Roth, bedeutender Weberianer und zurecht anerkannter Soziologe, reagierte mit unverhohlenem Mißfallen: »Ich stimme mit Professor Rubenstein absolut nicht überein. Seine Darlegungen enthalten keinen einzigen Satz, den ich unwidersprochen lassen würde.« Erbost vermutlich über diesen vermeintlichen Angriff auf das Webersche Vermächtnis (provoziert durch die Frage nach der Vorhersehbarkeit) erinnerte Guenther Roth die Versammelten daran, daß Max Weber ein Liberaler gewesen sei, der die Verfassung geliebt und das Wahlrecht für Arbeiter befürwortet habe (wohl um auf diese Weise die Nennung Webers in Zusammenhang mit einer so abscheulichen Angelegenheit wie dem Holocaust ad absurdum zu führen). Roth unterließ es indes, sich inhaltlich mit der These Rubensteins auseinanderzusetzen, und begab sich damit zugleich der Möglichkeit, die »unvorhersehbaren Folgen« jener zunehmenden Herrschaft der Rationalität einer strengen Analyse zu unterziehen, die Weber als wichtigstes Merkmal der Moderne identifiziert und für deren Analyse gerade er so viel geleistet hatte. So verstrich eine Chance ungenutzt, sich mit der furchtbaren »Kehrseite« der scharfsichtigen Theoreme eines Klassikers der Soziologie zu befassen; dabei brauchen wir die Reflexion darüber, ob nicht gerade unser schmerzvolles Wissen vom Holocaust, das wir den Gründervätern der Soziologie natürlich voraushaben, neue Einblicke in früher allenfalls zu erahnende Zusammenhänge und Konsequenzen erlaubt.

Man darf erwarten, daß Guenther Roth unter Soziologen nicht allein dasteht, wenn es darum geht, geheiligte Wahrheiten der Soziologie angesichts erdrückender Fakten zu verteidigen. Die meisten Soziologen werden jedoch kaum je so aus der Reserve gelockt.

Man kann sich in unserem beruflichen Alltag recht gut ohne die Herausforderung Holocaust einrichten. Der soziologische Berufsstand hat den Holocaust nahezu vergessen oder an »Spezialgebiete« delegiert, von wo aus kein Einbrechen in die laufende wissenschaftliche Diskussion droht. Wenn der Holocaust überhaupt soziologisch untersucht wird, gilt er als tragisches Exempel für das, was ungezähmte, angeborene Aggression des Menschen anzurichten vermag. Man verlangt daher, dieses Potential durch Steigerung des Zivilisationsdruckes zu bändigen, und mahnt unermüdlich fachmännische Problemlösungen an. Bisweilen wird der Holocaust gar als Einzelschicksal der Juden, als Konflikt zwischen Juden und Judenhassern abgehandelt (»Fürsprecher« des Staates Israel haben diese Tendenz zur »Privatisierung« häufig gefördert, nicht immer aus eschatologischen Gründen).14

Dieser Stand der Dinge ist nicht nur, und keinesfalls in erster Linie, beunruhigend aus fachlicher Sicht – wenngleich hier natürlich der Intelligenz und gesellschaftlichen Relevanz der Soziologie beträchtlicher Schaden droht. Viel schwerer wiegt eine andere Dimension des Holocaust: »Was in einem solchen Maßstab passieren konnte, kann überall wieder passieren. Es liegt im Bereich menschlicher Möglichkeiten – Auschwitz, ob wir es wollen oder nicht, hat das menschliche Bewußtsein um einen ebenso entscheidenden Schritt erweitert wie die Landung auf dem Mond.«15 Eine entsetzenerregende Vorstellung, da die gesellschaftlichen Bedingungen für Auschwitz eigentlich nicht verschwunden sind. Keine wirksamen Schritte wurden unternommen, die potentiell und prinzipiell mögliche Wiederholung einer Auschwitz-artigen Katastrophe zu verhindern. Leo Kuper schrieb erst kürzlich, daß »souveräne Nationalstaaten ihren Hoheitsanspruch, wenn sie wollen, auf die Verübung von Genozid, Massakern an bestimmten Volksgruppen und ihrem Staatsvolk ausdehnen können …, wobei die UNO dieses Recht sogar noch verteidigt.«16

Wenn uns der Holocaust posthum doch wenigstens diesen Dienst erweisen könnte: einen Einblick in die sonst ignorierten »andersartigen Aspekte« jener gesellschaftlichen Prinzipien zu geben, die in die Entwicklung der Moderne eingebettet sind. Meiner Ansicht nach sollte der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, als gewissermaßen soziologischer »Versuchsaufbau« aufgefaßt werden: Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten.

Die Bedeutung des Zivilisationsprozesses

Die Vorstellung, Humanität sei aus präsozialer Barbarei erwachsen, wirkt moralisch aufbauend und ist als diagnostischer Mythos tief in das Bewußtsein unserer westlichen Kultur eingegraben. Dieser Mythos macht den Reiz und die Popularität mancher einflußreichen soziologischen Theorie und mancher historischen Abhandlung aus, wurde von diesen umgekehrt aber auch wissenschaftlich-intellektuell untermauert; jüngstes Beispiel ist Berühmtheit und überraschender Erfolg des von Elias beschriebenen »Zivilisationsprozesses«. Abweichlerische Sozialforscher wie etwa Michael Mann oder Anthony Giddens, die sich aus historisch-vergleichender beziehungsweise analytisch-theoretischer Sicht gründlich mit dem vielschichtigen Zivilisationsprozeß befaßt haben und im Gegensatz dazu die Zunahme militärischer Gewalt und staatlicher Repressalien als entscheidende Attribute einer sich entwickelnden Zivilisation sehen, haben es entsprechend schwer, diesen Mythos aus dem Handbuchwissen der wissenschaftlichen Zunft oder gar dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen. Der Volksglaube ist von jeher nahezu immun gegen die Anfechtung seiner Mythen. Der traditionelle Zivilisationsbegriff wird getragen von einer großen Koalition wissenschaftlich-intellektueller Lehrmeinungen, zu der die liberalkonservative Vorstellung vom glorreichen Ringen zwischen Vernunft und Aberglauben zählt; Max Webers Konzept von der Zweckrationalität, die immer mehr mit immer weniger Aufwand erreicht; das psychoanalytische Versprechen, das Animalische im Menschen zu entlarven, zu packen und zu bändigen; die Marxsche Prophezeiung, Leben und Geschichte würden schließlich, seien die Beschränkungen der Produktivkräfte nur erst abgeworfen, vom Menschen beherrscht; die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die eine Verdrängung der Gewalt aus dem Alltagsleben annimmt; und nicht zuletzt die zahllosen Fachleute, die versichern, soziale Probleme könnten durch vernünftige Politik behoben werden. Im Kern stützt sich diese Allianz auf eine Vorstellung vom »Gartenstaat«, die die regierte Gesellschaft als Feld der Planung, Veredelung und Unkrautvernichtung begreift.

Wie sollte man unter dem Einfluß dieses im modernen Alltagsbewußtsein tief verwurzelten Mythos den Holocaust anders beschreiben denn als Entgleisung der Zivilisation (und damit des zweckrationalen, vernunftgeleiteten menschlichen Handelns) bei der Bändigung aggressiver Triebreste? Mit anderen Worten: Die Hobbessche Vision gilt nach wie vor, das Hobbessche Dilemma ist noch immer nicht bewältigt. Oder: Wir haben noch nicht genug Zivilisation, der Zivilisationsprozeß harrt noch seiner Vollendung. Die wichtigste Lehre aus dem organisierten Massenmord wäre demnach: Größere zivilisatorische Anstrengungen sind vonnöten, sollen derartige Rückfälle in die Barbarei vermieden werden. Zweifel an der Wirksamkeit solcher Bemühungen und deren Ergebnis sind selten. Wir wähnen uns auf dem richtigen Kurs, alles andere ist eine Frage des Tempos.

In dem Maße, wie die historische Forschung die Fakten freilegt, gewinnt eine alternative, womöglich glaubwürdigere Interpretation des Holocaust an Kontur: Der Holocaust habe gezeigt, wie schwach und zerbrechlich die menschliche Natur (das heißt die natürliche Abscheu und Abneigung gegenüber Mord und Gewalt, die Angst vor Schuldbewußtsein und immanentes Verantwortungsgefühl) sich erwiesen habe, konfrontiert mit der nüchtern-sachlichen Effizienz der gepriesenen Produkte der Zivilisation: der Technologie, den rationalen Entscheidungskriterien und der Tendenz, Denken und Handeln rational zu begründen und berechenbar zu machen. Die Hobbessche Dimension des Holocaust erhob sich nicht aus einem zu flach geratenen Grab und kam nicht in einem Tumult irrationaler Gefühle über die Menschen. Der Holocaust kam in einer Gestalt, die Hobbes ganz und gar fremd gewesen wäre, auf einem fabrikneuen Vehikel, mit Waffen, die fortschrittlichste Wissenschaft erst ermöglicht hatte, und nach einem wissenschaftlicher Präzision folgenden Schlachtplan. Die moderne Zivilisation war gewiß nicht die einzige, mit größter Wahrscheinlichkeit aber eine notwendige Voraussetzung des Holocaust. Ohne die Zivilisation ist der Holocaust undenkbar. Erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation macht den Holocaust möglich. »Der von den Nazis verübte Massenmord an den europäischen Juden stützte sich nicht nur auf die technologischen Errungenschaften der Industriegesellschaft, sondern auch auf die organisatorische Effizienz ihrer Bürokratie.«17 Man führe sich vor Augen, wodurch der Holocaust einzigartig in der Zivilisationsgeschichte wird, die an Beispielen von Massenmord nicht gerade arm ist:

Aus der Beamtenschaft gewann das hierarchische System das Organisationstalent und die bürokratische Gründlichkeit. Vom Militär übernahm die Vernichtungsmaschinerie Präzision, Disziplin und die Affektlosigkeit. Der Einfluß der Industrie machte sich in der Betonung von genauer Buchführung, Wirtschaftlichkeit und optimaler Verwertung sowie in der industriellen Effizienz der Todeslager bemerkbar. Die Partei schließlich durchtränkte den gesamten Apparat mit ›Idealismus‹, ›Sendungsbewußtsein‹ und einem Gefühl historischer Bedeutung …

Wir haben es hier in der Tat mit gesellschaftlichen Organisationsstrukturen in einer ganz spezifischen Variante zu tun. Obwohl es um einen Massenmord ungeheuren Ausmaßes ging, kümmerte sich der riesige Beamtenapparat um die korrekten bürokratischen Verfahren, feilte an präzisen Begriffsbestimmungen und regulativen Details und sorgte sich um die Einhaltung bestehender Gesetze und Verordnungen.18

Die Abteilung der SS-Führung, die mit der Vernichtung der europäischen Juden befaßt war, hieß offiziell Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) – das war nur zum Teil als Deckname gedacht und nur zum Teil erklärbar als »Sprachregelung« mit dem Zweck, zufällige Beobachter von außen zu täuschen, oder um die weniger Hartgesottenen in den eigenen Reihen zu beruhigen. Die Bezeichnung spiegelt auch getreu den organisatorischen Charakter der Abteilung wider und ist daher um so beunruhigender. Von der Abscheulichkeit ihrer Aufgabe (oder genaugenommen der moralischen Größenordnung) abgesehen, ähnelten die Maßnahmen der Abteilung in formaler Hinsicht (der einzigen bürokratisch legitimen Form von Sinngebung) denen »normaler«, geplanter und durchorganisierter Maßnahmen in Verwaltung oder Wirtschaft. Denn für jede Handlung, die einer bürokratischen Rationalisierung unterzogen werden kann, ist Max Webers nüchterne Charakterisierung der modernen Verwaltung zutreffend:

Genauigkeit, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Kenntnis der Akten, Kontinuität, Diskretion, Einmütigkeit, strenger Gehorsam, reduzierte Reibungsverluste sowie Material- und Personalkosten – all das erreicht in einer streng bürokratischen Verwaltung einen Kulminationspunkt … Die Bürokratisierung bietet zuallererst die Möglichkeit der Spezialisierung von Verwaltungsfunktionen auf der Basis völlig objektiver Kriterien. … ›Objektive‹ Amtsausübung richtet sich nach berechenbaren Regeln und wird ›ohne Ansehen der Person‹ vollzogen.19

Die Übertragung dieser Definition von Bürokratie auf den Holocaust mag vielen als furchterregende Travestie oder als Zynismus besonderer Grausamkeit erscheinen.

Und doch: Der Holocaust liefert eine wichtige Hilfe zum Verständnis der modernen bürokratischen Rationalisierung, und zwar nicht nur, weil daran erkennbar wird, was ohnehin jedermann weiß, daß nämlich bürokratisches Streben nach Effizienz mit formaler und ethischer Blindheit erkauft wird. Die Bedeutung des Holocaust erschöpft sich ebensowenig darin, daß wir erkennen, in welchem Maße dieser beispiellose Massenmord hochentwikkelte Qualifikation und präzise Arbeitsteilung voraussetzte, den reibungslosen Fluß von Anweisung und Information ebenso wie die unpersönliche und perfekt synchronisierte Einzelaktion – mit einem Wort all jene Qualifikationen und Fähigkeiten, die in einer Büro- und Verwaltungsatmosphäre kultiviert werden. Nein, der Holocaust rückt unser Wissen von der bürokratischen Rationalität in ein viel grelleres Licht, sobald wir uns bewußt werden, daß das Konzept der Endlösung* geradezu als Ergebnis der bürokratischen Kultur zu betrachten ist.

Karl Schleuner20 verdanken wir die Einsicht, daß die physische Vernichtung der europäischen Juden einen sehr komplexen Verlauf nahm. Die Endlösung entsprang weder der Vision eines wahnsinnigen Monsters, noch vollzog sie sich nach wohlüberlegten Entscheidungen im Sinne einer »Problemlösung« ideologisch motivierter Führer. Der Gedanke der Endlösung entwickelte sich allmählich und nahm in jedem Stadium Richtungswechsel vor, dabei auf Krisen reagierend und vorangetrieben von der »Entschlossenheit, jedes sich bietende Hindernis zu überwinden«. Schleuners Konzept faßt anschaulich die Erkenntnisse der »Funktionalisten« unter den Historikern des Holocaust zusammen, die sich in den letzten Jahren zunehmend gegen die »Intentionalisten« durchsetzten, deren Kausalerklärung des Holocaust, das heißt die Vorstellung einer dem Genozid an den Juden eigenen Motivationslogik oder Konsistenz, kaum noch haltbar ist.

Die Funktionalisten sehen die Dinge so: Hitler benannte das Ziel des Nazismus: »Entfernung der Juden, das heißt ein judenfreies* deutsches Reich* – legte jedoch nicht fest, wie dieses Ziel zu verwirklichen sei.21 In dem Augenblick, als Klarheit über das Ziel herrschte, folgte alles dem von Max Weber hellsichtig beschriebenen Schema: »Der ›politische Führer‹ sieht sich in der Rolle des ›Dilettanten‹, konfrontiert mit dem ›Fachmann‹, einem ausgebildeten Technokraten aus den Reihen der Verwaltungshierarchie.«22 Der Befehl lautete, das Ziel zu verwirklichen, das »Wie« richtete sich nach den Umständen, nach der »fachmännischen« Beurteilung von Durchführbarkeit, nach Kostengesichtspunkten sowie alternativen Lösungsmodellen. So entschied man sich zunächst für die Emigration als praktische Umsetzung der Wünsche des Führers; hätten sich andere Länder aufnahmebereiter gegenüber den jüdischen Flüchtlingen gezeigt, wäre das judenfreie* Deutschland vielleicht auf diese Weise zu verwirklichen gewesen. Nach dem »Anschluß« Österreichs verdiente sich Eichmann erste Lorbeeren mit der Forcierung der jüdischen Massenemigration. Aber das von den Nazis beherrschte Territorium wuchs. Zunächst schwebte der Nazi-Bürokratie die Eroberung und Verwendung semikolonialer Territorien als Wunschlösung im Sinne des Führers vor: Generalgouvernements* schienen die geeigneten Auffangräume für die Juden aus dem rassisch zu säubernden Reichsgebiet. Als künftiges »Judenreservat« war Nisko in Mittelpolen (Westgalizien) im Gespräch. Die deutsche Bürokratie in den eroberten polnischen Gebieten stellte sich jedoch quer. Man hatte zu viele Probleme mit den »eigenen« Juden. Eichmann beschäftigte sich nun ein ganzes Jahr mit dem Madagaskar-Projekt: Warum nicht jetzt, da Frankreich besiegt war, die ferne Kolonie in einen Judenstaat verwandeln, der in Europa nicht realisierbar war? Dieses Projekt wurde jedoch für undurchführbar erklärt, zu groß waren die Entfernung und die damit verbundenen logistischen Probleme, zumal angesichts britischer Präsenz auf den Weltmeeren. Unterdessen vergrößerte sich das okkupierte Gebiet und damit die Zahl der unter Naziherrschaft geratenden Juden weiter. Ein von den Nazis beherrschtes Gesamteuropa (nicht nur ein neuerliches »Großdeutschland«) zeichnete sich ab, das »Tausendjährige Reich«* nahm allmählich aber unaufhaltsam die Gestalt des deutsch beherschten Europa an. Die Forderung eines judenfreien Deutschlands geriet in diesen Sog und wandelte sich fast unmerklich zur Vision eines judenfreien* Europa. Für ein derartig monumentales Projekt reichte eine »Überseelösung« nicht aus. (Eberhard Jäckel verweist jedoch darauf, daß es noch im Juli 1941, als Hitler mit der Bezwingung der Sowjetunion binnen weniger Wochen rechnete, Pläne gab, alle europäischen Juden in die russischen Weiten jenseits der Linie Archangelsk-Astrachan zu deportieren.) Als sich der Zusammenbruch Rußlands hinauszögerte und alternative Lösungen mit der wachsenden Dringlichkeit des Problems nicht Schritt hielten, ordnete Himmler am 1. Oktober 1941 die Beendigung sämtlicher Emigrationsmaßnahmen an. Die »Entfernung der Juden« wurde auf andere Weise angestrebt: Die Massenvernichtung wurde als einzig praktikables und effizientes Mittel für die ursprüngliche, inzwischen aber erweiterte Zielsetzung erkoren. Alles andere war nur noch eine Frage der Kooperation der beteiligten bürokratischen Abteilungen; eine Frage der minutiösen Planung, der Entwicklung geeigneter Technologien und Geräte, der finanziellen Etats und Bereitstellung notwendiger Ressourcen – das heißt also, eine bürokratische Routineangelegenheit.

Das ist die erschütterndste Lehre aus der Analyse des »komplexen Phänomens Auschwitz«, die Tatsache, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung* der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten. Um es noch deutlicher zu formulieren: Die Entscheidung wurde im ernsthaften Bemühen um möglichst rationelle Lösungen für sich verändernde Problemstellungen getroffen. Auch die vielzitierte Tendenz der Bürokratie zur Erweiterung von Zielsetzungen – so normal wie bürokratische Routine – hatte daran wesentlichen Anteil. Allein die Tatsache, daß es Funktionäre mit speziellen Aufgaben gab, hatte zur Folge, daß immer neue Initiativen ergriffen und die ursprünglichen Ziele ständig höher gesteckt wurden. Das Expertenwissen – das eigentlich nur instrumentellen Charakter hatte – bewies wieder einmal seine Eigendynamik und eine ausgeprägte Neigung, die ursprünglich gesetzten Ziele zu übertreffen und umzudefinieren.

Allein die Tatsache, daß es eine Gruppe von Fachleuten für Judenfragen gab, verlieh der nazistischen Judenpolitik eine bürokratische Eigendynamik. Noch 1942, als Deportationen und Massenmord bereits begonnen hatten, wurde es den Juden gesetzlich untersagt, Haustiere zu halten, arische Friseure aufzusuchen oder das Reichssportabzeichen zu erwerben. Es bedurfte keiner besonderen Weisungen von oben – das Aufgabengebiet eines »Fachmannes« für Judenfragen bot die Gewähr, daß die Kontinuität der diskriminierenden Gesetzgebung nicht abriß.23

Zu keinem Zeitpunkt ihrer langen, qualvollen Vollstreckung geriet die Endlösung in Widerspruch zu den Grundsätzen der Rationalität. In keiner Phase kollidierte die »Endlösung« mit dem rationalistischen Credo effizienter, optimaler Zielverwirklichung. Im Gegenteil, der Holocaust entsprang genuin rationalistischen Überlegungen und wurde von einer Bürokratie in Reinkultur produziert. Die Menschheit hat Massaker, Pogrome und Massenmorde in der Nähe des Genozids erlebt, die ohne moderne bürokratische Unterstützung, ohne deren administrativ-technische Möglichkeiten und rational begründete Organisationsstrukturen vollzogen wurden. Der Holocaust war ohne eine solche Bürokratie jedoch undenkbar. Er ist keineswegs das irrationale Hervorbrechen nicht überwundener Relikte prämoderner Barbarei. Der Holocaust ist ein legitimer Bewohner im Haus der Moderne, er könnte in der Tat in keinem anderen je zu Hause sein.

Das soll nicht heißen, der Holocaust sei durch die moderne Bürokratie oder die in ihr verkörperte Kultur des instrumentellen Rationalismus determiniert gewesen; die moderne Bürokatie bringt nicht notwendig holocaustartige Phänomene hervor. Dennoch, so lautet meine These, sind die Grundsätze eines instrumentellen Rationalismus eindeutig ungeeignet, derartige Phänomene zu verhindern; auf der Ebene dieser Grundsätze lassen sich die Methoden des Holocaust nicht von »sauberem Social Engineering« trennen, weil nämlich deren irrationaler Charakter unerkannt bleibt. Ich gehe noch weiter: Gerade die bürokratische Kultur, die Gesellschaft ja als administratives Objekt und Konglomerat von »Problemen« begreift, die einer Lösung harren, schuf die Atmosphäre, in welcher der Gedanke des Holocaust langsam, aber kontinuierlich reifen und zur Vollstreckung gebracht werden konnte. Die Problemstellungen, deren Lösung das »Social Engineering« in Angriff nimmt, entsprechen einer »Natur«, die »beherrscht«, »gebändigt«, und »gebessert« oder »umgestaltet« werden muß wie ein Garten, dessen Planung notfalls gewaltsam durchzusetzen und zu sichern ist (in der Terminologie des Gärtners besteht eine strenge Trennung zwischen »Kulturpflanzen« und »Unkraut», das ausgemerzt werden muß). Ich behaupte schließlich, daß der Geist des instrumentellen Rationalismus und seine moderne bürokratisch-institutionalisierte Ausprägung die Lösungmöglichkeiten in der Art des Holocaust nicht nur ermöglichte, sondern »rational« begründbar machte – und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß man sich für sie entschied. Unterstützt wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch die Fähigkeit moderner bürokratischer Systeme, das Handeln vieler, an sich ethisch eingestellter Individuen derart zu koordinieren, daß am Ende jedes noch so unethische Ziel zu verwirklichen ist.

Die soziale Erzeugung moralischer Indifferenz

Dr. Servatius, der Verteidiger Eichmanns in Jerusalem, faßte seine Verteidigungslinie so zusammen: Eichmann beging Taten, für die man als Sieger dekoriert, als Unterlegener aber an den Galgen kommt. Die Botschaft dieser Aussage – zynischere hat es in diesem an provozierenden Einsichten nicht gerade armen Jahrhundert kaum gegeben – ist banal: Wer die Macht hat, hat das Recht.