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Deutschlands Zukunft entscheidet sich im Klassenzimmer
Unser Bildungssystem hat versagt: Jeder fünfte Jugendliche in Deutschland kann nicht richtig lesen, schreiben, rechnen. In keinem anderen Industrieland ist der schulische Erfolg eines Kindes so abhängig von Herkunft und Bildungsstand der Eltern wie bei uns. Unbildung ist aber nicht nur das Problem der Ungebildeten – sie gefährdet unsere Gesellschaft als Ganzes, denn die Kosten unseres Sozialsystems explodieren. Wenn wir das Wohl unserer Gesellschaft und das Überleben unserer Volkswirtschaft sichern wollen, müssen wir dringend handeln.
Mit Jörg Dräger benennt ein ausgewiesener Fachmann nicht nur die Probleme unseres Bildungssystems und ihre dramatischen Folgen, sondern zeigt auch konkrete Lösungen auf. Klaus von Dohnanyi ordnet die Vorschläge gesellschaftspolitisch ein. Nur wenn wir alle für die Bildung unserer Kinder Verantwortung übernehmen und Kitas, Schulen und Ausbildung angemessen auf die Bedürfnisse einzelner Kinder und die Veränderungen unserer Gesellschaft reagieren, finden wir den Weg aus der Bildungskrise.
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Seitenzahl: 282
Das Nachdenken über unser Bildungssystem, über dessen Schwächen und Probleme, über mögliche Lösungen, ist mein Beruf. Jeden Tag diskutiere ich darüber, was besser sein könnte: auf Konferenzen, bei Vorträgen und in Kommissionen, an Universitäten und Schulen, mit Politikern, Eltern und Großeltern, mit Wissenschaftlern, Lehrkräften und Erziehern. Eines wird dabei immer deutlich: Zufrieden mit dem Zustand unseres Bildungssystems ist kaum einer.
Dabei ist längst nicht alles falsch gelaufen bei der Bildung in Deutschland. Immerhin hat sich in den vergangenen 50 Jahren der Anteil der Abiturienten ebenso verdoppelt wie der Anteil der Studienanfänger. Am anderen Ende des Bildungssystems erleben wir aber eine Katastrophe: Jeder fünfte Jugendliche in Deutschland kann kaum lesen und rechnen, viel zu viele verlassen die Schule ohne Abschluss, viel zu viele haben keine Berufsausbildung. Um diese Bildungsverlierer kümmern wir uns bislang zu wenig. Sie gehen uns aber alle an, nicht nur weil sie eine Chance verdienen, sondern auch weil sie eine Gefahr für unsere Gesellschaft sind.
Viele Eltern sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder: Sie fürchten zu Recht, dass die im weltweiten Vergleich nur durchschnittliche Qualität des deutschen Bildungswesens auf Dauer nicht genügt. Und sie sehen die ständig wachsende kulturelle und soziale Vielfalt in den Schulen mit einer gewissen Beunruhigung. Natürlich ist den meisten von ihnen klar, dass insbesondere in den großen Städten unseres Landes mittlerweile mehr als die Hälfte der Kinder aus Zuwandererfamilien stammt und unsere Kitas und Schulen daher anders arbeiten müssen als früher. Wenn der eigene Nachwuchs aber in seiner Klasse kaum noch auf deutschsprachig erzogene Mitschüler trifft, wächst oft die Sorge, dass die Förderung dieser Schüler zulasten des eigenen Kindes gehen könnte. Einige Eltern versuchen daher, ihre Kinder an weniger heterogenen Schulen unterzubringen – und fahren sie dafür notfalls durch die halbe Stadt. Andere schicken ihre Kinder gleich auf eine Privatschule.
Ich bin selbst Vater von zwei kleinen Kindern, mein Sohn kommt in wenigen Wochen zur Schule. Ich gebe zu: Auch ich war nicht frei von solchen Befürchtungen. Wer aber einmal die Gelegenheit hatte, in einer wirklich guten Schule zu hospitieren, gewinnt Vertrauen, dass man sehr wohl die Schwachen wie die Starken gleichermaßen erfolgreich fördern kann. Wer sein Kind an einer solchen Schule weiß, macht sich um die Zusammensetzung der Klasse weniger Sorgen. Wer einmal Unterricht an solchen Schulen erlebt hat, möchte seine Kinder nicht mehr unter die Käseglocke eines homogenen Schulumfeldes schicken, sondern sie Unterschiedlichkeit von klein auf als Selbstverständlichkeit erfahren lassen. Das Problem ist nur: Bisher gibt es viel zu wenige Schulen in Deutschland, die mit heterogenen Klassen und individueller Förderung umgehen können. Deshalb brauchen wir grundlegende Veränderungen in unserem Bildungswesen – damit unsere staatlichen Schulen so gut werden, dass alle Eltern ihre Kinder gerne dorthin schicken. Diese Veränderungen sind machbar, das soll dieses Buch verdeutlichen.
Als Hamburger Wissenschaftssenator war ich knapp sieben Jahre lang Mitglied der Kultusministerkonferenz (KMK). Meine ehemaligen Kollegen beneide ich nicht: Bildungsminister gehören oft zu den unbeliebtesten Politikern, Wahlen sind mit dem Thema Bildung kaum zu gewinnen, sehr wohl aber zu verlieren. Ob Unterrichtsausfall oder schlechte PISA-Ergebnisse, ob Elternprotest oder Lehrermangel: Das Thema Bildung liefert gern negative Schlagzeilen und immer genügend Angriffsflächen für die politische Opposition. Gleichzeitig muss es dafür herhalten, wenn es um Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Gesellschaft geht. Ob Fachkräftemangel, internationale Wettbewerbsfähigkeit oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ob Integration oder Wertevermittlung: Immer soll es das Bildungssystem, immer sollen es Kitas, Schulen und Universitäten richten. Mehr Geld wird es dafür angesichts der jetzt in der Verfassung verankerten Schuldenbremse kaum geben. Und während uns die Probleme im Hier und Jetzt drücken und die Medien beschäftigen, dauert es Jahre, bis Bildungsreformen ihre Wirkung entfalten. Seien wir ehrlich: Es ist einfacher, auf die Politiker zu schimpfen, als unter diesen Umständen politische Verantwortung zu übernehmen.
Dieses Buch zeigt die Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft, es beschreibt die heutigen und künftigen Probleme des Bildungswesens und berechnet die – in Teilen dramatischen – gesellschaftlichen Konsequenzen. Darüber hinaus versucht es aber auch, Wege aus der Bildungskrise aufzuzeigen. Ohne Frage ist es nicht einfach, machbare Lösungen zu entwickeln. Aber nicht nur wir, sondern viele Länder dieser Welt stehen vor der Herausforderung, für eine zunehmend heterogene Gesellschaft das passende Bildungssystem zu schaffen. Und ein Blick nach Kanada, Australien oder Finnland zeigt: Es geht. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, wir können aus aller Welt lernen. Es gilt nur, den guten Ideen zum Erfolg zu verhelfen. Auch dazu soll dieses Buch beitragen.
Bildungsreform ist eine Daueraufgabe, schließlich muss sich unser Bildungssystem beständig auf den gesellschaftlichen Wandel einstellen. Ausruhen darf sich niemand, wenn es darum geht, Kindern die bestmögliche Bildung zukommen zu lassen. Die eine, richtige Struktur, in der wir für immer verharren können, gibt es nicht. Dennoch haben wir in der KMK vor allem über Schulstrukturen gestritten, über die Zuständigkeiten von Bund und Ländern, über die Vereinheitlichung der Zahl der Wochenstunden, die ein Schüler bis zum Abitur im Klassenzimmer gesessen haben muss. Über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, über andere Arten zu unterrichten, über innovative Wege der Lehrerausbildung habe zumindest ich zu wenig nachgedacht. Seit drei Jahren kann ich als Bildungsvorstand einer der größten »Denkfabriken« Europas, der Bertelsmann Stiftung, unideologischer, längerfristiger und mit internationaler Perspektive auf unser Bildungssystem blicken und Lösungen entwickeln.
Mit der Idee für dieses Buch bin ich auf jemanden zugegangen, den ich sehr schätze und mit dem ich vor zehn Jahren die Hamburger Hochschulreform entwickelt habe: Klaus von Dohnanyi, ehemaliger Hamburger Bürgermeister und Bundesbildungsminister. Wir sind sehr unterschiedlich: Er ist Jurist, erfahrener Unternehmensstratege, ein echter Elder Statesman, Sozialdemokrat mit einer langen, bewundernswerten politischen Karriere auf Bundes- und Landesebene; ich bin Physiker, vierzig Jahre jünger, mit Erfahrungen als Unternehmensberater, Wissenschaftsmanager und Landesminister einer bürgerlichen Regierung. Klaus von Dohnanyi wollte nicht nur von den Problemen unseres Bildungssystems hören, sondern auch von den Lösungen – und zwar solchen, die in einem überschaubaren Zeitraum umsetzbar sind. Er wollte nicht nur den gesellschaftlichen Wandel verstehen, sondern wissen, wie andere Länder damit umgehen. Aus unseren Diskussionen ist dieses Buch entstanden. Trotz unserer verschiedenen Perspektiven kamen wir meist zu den gleichen Lösungen. In manchen Punkten haben wir aus unterschiedlichen Erfahrungen heraus aber unterschiedliche Vorstellungen. Auch das verbergen wir hier nicht.
In der Gliederung orientiert sich dieses Buch an dem, was das Bildungssystem leisten muss – nicht an seinen Institutionen: Was müssen unsere Kinder in Zukunft lernen, wie und wo? Wie machen Eltern und Lehrer es ihnen leicht, und was kann die Politik auf kommunaler, Länder- und Bundesebene dazu beitragen? Schließlich: Wer soll das alles bezahlen, und wie bringen wir die nötigen Veränderungen am schnellsten und möglichst reibungslos auf den Weg? Das sind die Fragen, auf die dieses Buch eine Antwort geben will.
Jede dieser Fragen wäre ein eigenes Buch wert, ebenso jeder der hier aufgeführten gesellschaftlichen Trends. Doch schien mir der Versuch wert, die Themen auf das Wesentliche zu reduzieren. Das mag den Experten gelegentlich unbefriedigt lassen, erlaubt aber einen umfassenden Blick auf die Entwicklungen in unserem Bildungssystem.
Bildung geht uns alle an. Jeder ist direkt oder indirekt betroffen, jeder hat eine Meinung dazu. Es gibt viele Studien von hoher wissenschaftlicher Tiefe darüber, sie sind aber nicht allen verständlich. Viele Zeitungsartikel hingegen beleuchten mal den einen, mal den anderen Aspekt unseres Bildungswesens, ohne jedoch in die Breite gehen zu können. Dazwischen gibt es nichts: nichts, was so anschaulich ist wie ein Zeitungsartikel und doch so umfassend wie eine wissenschaftliche Studie. Das ist der Mittelweg, den dieses Buch beschreiten will.
Jörg Dräger im Juli 2011
»[Das] Erziehungs- und Bildungswesen der Bundesrepublik [ist] bei weitem nicht mehr in der Lage, den Bedarf unserer Gesellschaft an qualifizierten Nachwuchskräften zu decken. Unser Bildungswesen ist funktionsunfähig geworden. Es vermag die Aufgaben nicht mehr zu erfüllen, für die es eingerichtet worden ist.
Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen. Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. In der modernen Leistungsgesellschaft heißt soziale Gerechtigkeit nichts anderes als gerechte Verteilung der Bildungschancen; denn von den Bildungschancen hängen der soziale Aufstieg und die Verteilung des Einkommens ab. Der gesamte soziale Status, vor allem aber der Spielraum an persönlicher Freiheit, ist wesentlich durch die Bildungsqualifikationen definiert, die von dem Schulwesen vermittelt werden.
Abgesehen von dem Rückstand der Bundesrepublik im internationalen Vergleich ergibt sich ein wahrhaft erschütternder Unterschied zwischen den verschiedenen Bundesländern. Dieser Unterschied hängt weder von der Sozialstruktur noch von der Finanzkraft der verschiedenen Bundesländer ab, sondern ergibt sich lediglich aus dem unterschiedlichen Ausbau des Schulwesens. Die Entscheidungen der Unterrichtsverwaltungen beziehungsweise der Landtage verfügen darüber, wie groß die Sozialchancen der Bevölkerung eines Bundeslandes sind. Zurzeit gibt es in der Bundesrepublik Staatsbürger erster bis vierter Klasse.«1
Diese vernichtende Beschreibung des deutschen Bildungssystems klingt vertraut. Seit dem PISA-Schock vor rund zehn Jahren haben sich Talkshowgäste und Publizisten mit solchen oder ähnlichen Analysen überboten, auch wenn die Wortwahl eine andere war. Denn die Textpassagen sind fast ein halbes Jahrhundert alt. Sie stammen aus einem Buch von Georg Picht aus dem Jahr 1964. Es trägt den alarmierenden Titel Die deutsche Bildungskatastrophe.
Picht monierte darin den Lehrermangel und die Bildungs-Kleinstaaterei der Bundesländer ebenso wie die mangelnde Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungswesens. Er sah die Zukunft der Schule und damit die Zukunft unserer Gesellschaft in den Händen der Finanzminister.2 Weil Bildung nicht wirklich als die entscheidende Zukunftsinvestition begriffen werde, habe sie in den öffentlichen Haushalten keine feste, von Konjunkturschwankungen unabhängige Verankerung. »Die Wahrheit ist, dass wegen der Vernachlässigung unseres Bildungswesens tragende Grundrechte unserer Verfassung Tag für Tag verletzt und missachtet werden«, sagte der Pädagoge und Philosoph 1965 in einer Rede vor demonstrierenden Studenten.3
Dreiundvierzig Jahre später, im Jahr 2008, rief die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die »Bildungsrepublik« aus – nicht etwa, weil das Land sich in der Zwischenzeit in eine solche verwandelt hatte, sondern um endlich die Arbeiten an dem entscheidenden Fundament unserer Gesellschaft, der Bildung, voranzubringen. Denn in dem halben Jahrhundert dazwischen hat die Politik viel über Bildung geredet, einiges versucht und zu wenig bewirkt. Sie hat viele ideologische Schlachten geschlagen, doch kaum Wert darauf gelegt, die jeweiligen Positionen mit wissenschaftlichen Fakten zu belegen. So haben wir immer noch keinen Ausweg aus der Bildungskatastrophe gefunden.
Ideologie kann lähmen. Soll ein Bildungssystem vor allem die Schwächsten fördern, damit auch sie eine Chance haben? Oder soll es die Stärksten noch weiter nach vorne bringen, damit sie zu mehr Wachstum und Wohlstand für alle beitragen? Statt beides gleichermaßen in den Blick zu nehmen, haben die bürgerlichen Parteien jahrzehntelang für ein leistungsstarkes Bildungssystem gefochten und die Sozialdemokraten für ein chancengleiches. Dieser Streit zwischen den politischen Lagern verfestigte sich: Gesamtschule gegen Gymnasium, Förderunterricht gegen Hochbegabtenförderung.
Das Gegeneinander hat uns blockiert, denn mit der Zeit nahm auch die Öffentlichkeit Leistung und Chancengerechtigkeit als unüberbrückbaren Gegensatz wahr. Unlängst scheiterte die Hamburger Schulreform,4 weil Teile der bürgerlichen Mittelschicht befürchteten, dass eine Förderung der schwächsten Schüler zulasten der starken Schüler ginge. Andere Länder, etwa Kanada, haben diesen angeblichen Gegensatz nicht gesehen. Sie sind deshalb an Deutschland vorbeigezogen, nicht nur was die Chancengerechtigkeit, sondern auch was die Qualität des Bildungssystems angeht.
Schulpolitik in Deutschland war und ist geprägt durch ein Gegeneinander. Wir streiten über Schulstruktur, nicht über gute Schule und das, was sie ausmacht. Und seit annähernd 50 Jahren schicken wir nicht zuletzt aus – teils antiquiertem – parteipolitischem Verständnis heraus eine Schülergeneration nach der anderen von einer Schulstrukturreform in die nächste, statt unser Augenmerk und unsere Kraft auf das zu richten, was wirklich hilft: guter Unterricht und gute Lehrer.
Lange schon haben die Wähler zwischen Flensburg und Berchtesgaden die Wichtigkeit von Bildung erkannt. Sie gehört bei Landtagswahlen zu den entscheidenden Themen. Das hat Konsequenzen: Je nach Länge der Legislaturperiode wird alle vier oder fünf Jahre eine neue bildungspolitische Sau durchs Dorf getrieben, kein Regierungswechsel vergeht ohne anschließende Bildungsreform. Deutschland ist kein Bildungsland, Deutschland ist ein Bildungsreformland: Irgendwo wird immer gerade reformiert, denn Bildung ist das Schlachtfeld der politischen Profilierung auf Landesebene. Und häufig zählen dabei Ideologien mehr als wissenschaftliche Erkenntnisse. Man stelle sich vor, Ärzte würden anders operieren, wenn Rot-Grün und nicht Schwarz-Gelb regiert. Undenkbar? Normal im Bildungsalltag.
Doch jede Reform produziert auch Verlierer: Kinder, die in die Mühlen der Übergänge vom Alten zum Neuen geraten, frustrierte Lehrer statt Reformtreiber, verärgerte Eltern statt Reformunterstützer. Auf der Strecke bleibt die Verlässlichkeit. Dabei ist sie wichtiger als die Schulstruktur selbst: Viele internationale Beispiele zeigen, dass man in mehr als nur einer Schulstruktur erfolgreich Bildung betreiben kann. Kein Wunder, denn Kinder – und darauf müssten sich Bildungspolitik und Schule einstellen – sind noch unterschiedlicher als die Bildungssysteme von Bayern und Bremen.
In der Bildung bedeutet Föderalismus made in Germany zu häufig Gerangel um Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern statt Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder. Und seit Picht hat sich an den regionalen Unterschiedlichkeiten nur wenig geändert: Die Chancen für die Kinder dieser Republik sind ungleich verteilt und hängen nicht zuletzt davon ab, wo im Land ein Kind aufwächst. Mehr Flexibilität täte häufig gerade da gut, wo die Länder Wert auf Einheitlichkeit legen: Wir streiten ohne sachlichen Grund über den Stichtagsmonat, mit dem die Schulpflicht beginnt. Wir vergrätzen eine ganze Generation von Schülern mit der Umstellung der neunjährigen auf die achtjährige Gymnasialzeit, anstatt auf die unterschiedlichen Fähigkeiten der Kinder einzugehen und beides möglich und vom Wissensstand und Lerntempo der Schüler abhängig zu machen.
Auch daran, dass – wie Picht konstatiert – die Zukunft der Bildung und damit die Zukunft unserer Gesellschaft in den Händen der Finanzminister liegt, hat sich seit annähernd 50 Jahren nichts geändert. Sicher: Seit dem PISA-Schock ist das Thema Bildung in aller Munde. Gemessen an unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geben wir im Vergleich zu anderen – erfolgreicheren – Nationen aber immer noch zu wenig für unser Bildungssystem aus.
Das hat nicht zuletzt etwas mit unserer gesellschaftlichen Grundeinstellung zu tun. Verteilungsgerechtigkeit ist uns Deutschen wichtiger als Chancengerechtigkeit. Daher entschädigen wir Menschen über Sozialleistungen für mangelnde Chancen und Verdienstmöglichkeiten, anstatt die Chancen gerechter zu verteilen. Die Folge: Unsere Sozialsysteme verschlingen, trotz aller Reformversuche und Kürzungen, über die Hälfte der Etats von Bund, Ländern und Kommunen, während für die Bildung nur weniger als 10 Prozent verbleiben.5 Das ist alles andere als zukunftsorientiert. Aber keine ernst zu nehmende politische Kraft in Deutschland hat dieses Prinzip bisher wirklich infrage gestellt.
Die Sozialausgaben sind also nahezu unangreifbar. Sie sind unabhängig von der Konjunktur in den staatlichen Haushalten verankert und haben damit genau den Status, den die Bildung noch immer nicht erreicht hat. Mit anderen Worten: Lieber gleichen wir im Nachhinein die durch ungenügende Bildung und Ausbildung verursachten Nachteile im Sozialetat teuer aus, als sie durch ausreichende Bildungsinvestitionen von vornherein gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir reparieren, statt zu investieren.
Dies ist eine Ursache dafür, dass in Deutschland weniger die Leistung, sondern vor allem das Elternhaus über Bildungschancen und -erfolg entscheidet: ein Defizit unseres Bildungssystems, das bereits vor einem halben Jahrhundert moniert wurde – und dazu eines, das sich seither noch verschlimmert hat. In kaum einem entwickelten Land der Welt sind der Sozialstatus der Eltern und der Bildungserfolg ihrer Kinder so stark voneinander abhängig. Viele Kinder in unserem Land haben allein aufgrund ihrer kulturellen oder sozialen Herkunft kaum Möglichkeiten, ihr individuelles Potenzial zu entfalten. Nur jedem fünften sozial benachteiligten Schüler gelingt es, seine ungünstigen Voraussetzungen wettzumachen und ein hohes Bildungsniveau zu erreichen.6 Die Kinder von akademisch ausgebildeten Beamten dagegen studieren fast alle.7
In modernen Industriestaaten ist Transparenz ein wesentlicher Faktor für Erfolg. In Europa lässt sich die Ausfuhr von Gewindeschrauben auf eine griechische Insel in der hintersten Ägäis problemlos nachvollziehen. Wo Exportweltmeister Deutschland in Sachen Bildung steht, war jedoch lange Zeit unbekannt. Bis zum PISA-Schock haben wir uns der Bildungsrealität schlichtweg verweigert. Die Gewerkschaften bevorzugten »Mästen statt messen«, forderten mehr Geld statt Transparenz und trugen dazu bei, dass in Hamburg die erste PISA-Runde im Jahr 2000 verhindert wurde. Dabei wäre gerade hier der Vergleich aufschlussreich gewesen, leistete sich die Hansestadt doch immerhin das teuerste Schulsystem der Republik, ohne ersichtlich gute Resultate zu erzielen.
Während sich andere Staaten seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dem Vergleich stellten, zog Deutschland aus dem dürftigen Abschneiden bei Bildungsstudien in den Jahren 1964 und 1971 eine sonderbare Konsequenz: Es verweigerte sich dem Wettbewerb und nahm für die nächsten 25 Jahre an entsprechenden Studien schlicht nicht mehr teil. Daher wussten wir allzu wenig über Bildungserfolg und Bildungsgerechtigkeit in unserem Land. Erst Lernvergleiche wie PISA machten deutlich, dass Deutschland im Bildungsbereich nicht einmal mehr Mittelmaß war und vor allem nach wie vor viel zu viele Bildungsverlierer produzierte. Wie wichtig Transparenz ist, haben wir in den vergangenen zehn Jahren gesehen: PISA hat mehr bewirkt als 30 Jahre ideologisch geprägte Bildungsreformen zuvor.
Und das Mauern geht weiter. Die für die Bildung verantwortlichen Bundesländer kontrollieren sich selbst und haben so jüngst den durch die OECD bisher unabhängig durchgeführten Bundesländervergleich PISA-E abgeschafft. Der Bund hingegen, so sieht es die Föderalismusreform vor, soll sich auf internationale Vergleiche beschränken. Während in anderen Ländern der Bildungserfolg auf der Ebene jeder Schule im Internet nachgelesen werden kann, verhindern wir bei uns Transparenz. So tappen wir an vielen Stellen weiter im Dunkeln, wissen kaum etwas über den Bildungserfolg von Migranten, geschweige denn einzelner Schulen. Bei Hauptschülern, wo eine Analyse am dringlichsten wäre, wollten die Bundesländer zuletzt angesichts schlechter Ergebnisse die Überprüfung der Bildungsstandards ganz aussetzen; die Förderschulen nehmen nur sporadisch an Vergleichsstudien teil.
In der Bildung verteilen wir Verantwortung so lange, bis keiner mehr verantwortlich ist: Es grenzt an einen Schildbürgerstreich, dass die Kommunen für Schulgebäude, Turnhallen, Hausmeister und Sekretärinnen zuständig sind, die Länder für Lehrer und Curricula, während der Bund den Ausbau der Ganztagsschulen und die Nachhilfe subventioniert. Wie soll dabei ein ganzheitliches Schulkonzept entstehen, wie sollen Inhalte zu den Abläufen passen? Es hilft niemandem, wenn beispielsweise Schulen, Jugendhilfe und Familienzentren nebeneinanderher statt miteinander arbeiten. Schließlich sind es dieselben Kinder, die hilfsbedürftig sind. Das Problem: Alle dürfen mitreden, aber niemand trägt die Gesamtverantwortung.
Bildungsföderalismus ist heute kein Wettbewerb mehr, bei dem Bund, Länder und Kommunen um das beste System konkurrieren und voneinander lernen. Vielmehr verharren wir in einem Konsensföderalismus, und durch das Einstimmigkeitsprinzip in der Kultusministerkonferenz bestimmt der Langsamste das Tempo – der Tritt auf die Bremse wird zum Dauerzustand. Wenn aber ohnehin Einheitlichkeit das Ziel ist und der kleinste gemeinsame Nenner die Politik bestimmt, könnte auch gleich der Bund die Kultushoheit übernehmen.
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt geben wir nicht nur wenig für Bildung aus, sondern liegen dort, wo wir investieren, auch häufig falsch und verschwenden unsere Mittel für populistische Maßnahmen ohne nennenswerten Effekt. So gibt es kaum eine Landtagswahl, vor der nicht der Ruf nach kleineren Schulklassen laut wird. Ein solcher Schritt kostet eine Menge, bringt aber Studien zufolge wenig.8 Oder nehmen wir die Erhöhung des Kindergeldes und die Diskussion über ein zusätzliches Betreuungsgeld. Beides sichert vielleicht die eine oder andere Wählerstimme, positive Auswirkungen auf die Bildungschancen der Kinder sind jedoch nicht bekannt. Würden wir mit dem Geld den Ausbau von Kindertagesstätten9 oder Ganztagsschulen finanzieren, sähe das anders aus.
So erhöht sich beispielsweise durch den frühen Besuch einer Kita für ein Kind die Wahrscheinlichkeit, später auf ein Gymnasium zu gehen, um fast 40 Prozent.10 Besonders positiv wirkt sich der Krippenbesuch auf den Lernerfolg der Bildungsfernen aus. Dennoch bieten die alten Bundesländer gerade einmal für 17 Prozent der unter Dreijährigen einen Kita-Platz an, und der Ausbau kommt nur schleppend voran.11
Abhilfe könnte das von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld schaffen für Familien, die ihre Kinder nicht in eine Kita schicken. Dadurch würde die Nachfrage nach Kita-Plätzen sinken, der Bildungsnotstand aber würde weiter verschärft. Denn das Beispiel Norwegen zeigt, dass dort das seit einigen Jahren gezahlte Betreuungsgeld vor allem von Unterschicht-und Einwandererfamilien in Anspruch genommen wird.12 So kann das Betreuungsgeld der Eltern für die Kinder zur Verdummungsprämie werden.
Auch bei der häufig geäußerten Forderung nach längeren Ausbildungszeiten für Lehrer ist die Realität komplexer als der vermeintlich einfache Wahlslogan. Richtig ist: Es kommt auf die Lehrer an, sie machen den Unterschied. Erzieher und Lehrer spielen eine herausragende Rolle für die Zukunft unserer Kinder und damit unseres Landes. Allerdings zeigen amerikanische Studien, dass eine längere Ausbildung der Lehrer den Lernerfolg der Schüler nicht entscheidend beeinflusst.13 Wichtig sind vielmehr die Praxisnähe der Ausbildung und die Auswahl der Studierenden. Denn häufig gewinnen wir nicht die Besten für den Lehrerberuf: Eignungstests vor Aufnahme des Studiums gibt es nicht, und viele der Lehramtsstudenten setzen auf Sicherheit, lange Ferien und vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 14 In der Konsequenz fühlt sich schon ein Viertel der Lehrkräfte beim Berufsstart überfordert,15 nur gut ein Drittel hält bis zum 65. Lebensjahr durch.16
Dazu kommt ein rigides und wenig motivierendes Besoldungssystem. Zwar werden Lehrer hierzulande im internationalen Vergleich relativ gut bezahlt, finanzielle Anreize für herausragende Leistungen sind aber verpönt. Und dort, wo die Herausforderungen am größten sind, in den Grund- und Hauptschulen, sind die Gehälter am schlechtesten.
Unser Bildungssystem lässt zu viele durch das Raster fallen. Die Reparaturkosten, die dadurch entstehen, sind enorm. Ein Paradebeispiel dafür ist das Sitzenbleiben: Jahr für Jahr wiederholt rund eine Viertelmillion Schüler die Klasse und kostet durch die so verlängerte Schulzeit die Bundesländer jährlich fast eine Milliarde Euro. Einen positiven Effekt hat das aber weder für den jeweiligen Sitzenbleiber noch für die restliche Klasse.17Und das Geld, das wir dafür verschwenden, fehlt dem Staat für eine sinnvollere individuelle Förderung der Kinder.
Diese findet dann außerhalb der staatlichen Verantwortung durch private Nachhilfe statt – eine zweifelhafte, zumindest aber unfaire Reparaturmaßnahme: Insgesamt anderthalb Milliarden Euro pro Jahr zahlen die Eltern in Deutschland, die es sich leisten können, für private Nachhilfe.18 Sie gleichen also mit ihren Mitteln die Defizite der staatlichen Bildungseinrichtungen aus, die doch eigentlich für den Lernerfolg der Schüler verantwortlich sind. Zugleich verschärft sich durch private Nachhilfe aber auch die Chancenungerechtigkeit in unserem Land. Denn sozial schwächere Familien können sich diese teure Investition in ihre Kinder nicht leisten.
Ins Bild passt, dass mittlerweile immer mehr Grundschulkinder – und nicht unbedingt nur die schwächsten – Nachhilfeunterricht erhalten. Die Eltern helfen ihren Kindern damit vor allem im vierten Schuljahr beim gewünschten Wechsel aufs Gymnasium auf die Sprünge.19 Besser und gerechter wäre aber die konsequente individuelle Förderung aller Kinder während des regulären Unterrichts, die in Deutschland allerdings noch weitgehend die Ausnahme ist. Und so nehmen die Unterschiede zu: Während einige Eltern ihre Kinder schon in der Kita Chinesisch lernen lassen, verbringt der durchschnittliche deutsche Jugendliche mehr Zeit vor dem Fernseher, mit Computerspielen und in sozialen Netzwerken als in der Schule – und die Eltern lassen ihn gewähren. Gerade Kinder aus sozial schwächeren Familien und vor allem Jungen sind anfällig dafür, in Parallelwelten abzudriften, wenn die Schule für sie nicht viel mehr als Frust zu bieten hat.
Deutlich zeigt sich der Herkunftseffekt, wenn man die Kinder nach dem von ihnen angestrebten Schulabschluss fragt. Insgesamt wünscht sich die Hälfte der Kinder das Abitur. Kinder aus der Unterschicht nennen es aber nur zu 19 Prozent als Bildungsziel, Kinder aus der unteren Mittelschicht zu 30 Prozent und Kinder aus der Mittelschicht zu 45 Prozent. Bei den Kindern aus der Oberschicht sind es 75 Prozent.20 Nach ihren Berufswünschen gefragt, stehen bei vielen Jugendlichen Popstar oder Fußballer an erster Stelle: Berufe, mit denen man auch ohne gute schulische Ausbildung viel Geld verdienen kann. Während also die einen von ihren Eltern auf die englische Privatschule geschickt werden, setzen die anderen lieber auf Castingshow als auf Lehrstelle.
Damit sind wir bei dem größten Problem unseres Bildungswesens: Seit Jahrzehnten sehen wir zu, wie sich am unteren Rand unserer Gesellschaft eine Gruppe der Bildungs- und Chancenlosen verfestigt. Fast 20 Prozent aller 15-Jährigen – und nahezu 25 Prozent der männlichen Jugendlichen – können höchstens auf Grundschulniveau lesen.21 Diese häufig als »Risikoschüler« bezeichnete Gruppe – in der Regel sind es die Kinder von »Risikoeltern« – wird dauerhaft unsere Sozialsysteme belasten. Doch noch viel schlimmer: Diese Menschen stehen auch dauerhaft am Rand der Gesellschaft, sie können kaum an ihr teilhaben – weder finanziell noch sozial. Das von Picht vor einem halben Jahrhundert gefällte Urteil über unser Bildungssystem gilt also nach wie vor: Es ist ungerecht und zukunftsgefährdend – auch wenn die chancenlosen katholischen Arbeitermädchen vom Land inzwischen von männlichen Risikoschülern mit Migrationshintergrund aus der Stadt abgelöst worden sind.
Jahr für Jahr verlassen fast 60 000 junge Menschen die Schule ohne Hauptschulabschluss – das sind sieben Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung und entspricht der Einwohnerschaft einer mittelgroßen Stadt. Noch dazu sind die Chancen von Schülern auf einen solchen Abschluss regional sehr unterschiedlich verteilt. Während im Jahr 2009 in Wismar annähernd 25 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss blieben, waren es im Landkreis Würzburg weniger als anderthalb Prozent.22
Mit den Förderschulen, den früheren Sonderschulen, existiert in Deutschland eine ganze Schulart, die zwar gut gemeint, aber eben in Summe nicht gut ist. Jährlich 2,6 Milliarden Euro lassen wir uns die Förderschulen zusätzlich kosten,23 je nach Bundesland schicken wir bis zu neun Prozent der Kinder dorthin – insgesamt knapp 400 000. Oft schieben wir Kinder zu schnell und zu einfach in die Förderschulen ab: aus den Augen, aus dem Sinn. Das gilt vor allem für solche aus Zuwandererfamilien, bei denen ein großer Leistungsrückstand oder Sprachförderbedarf diagnostiziert wird – mit verheerenden Folgen: Nicht mal jedes vierte Kind schafft es, dort einen Schulabschluss zu machen.24 Von den Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss stammt in Deutschland mehr als die Hälfte aus Förderschulen.
Doch auch ein Schulabschluss führt nicht unbedingt zu einem Berufsanschluss, der erfolgreiche Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt misslingt bei uns zu oft. Zum einen gibt es schlicht zu wenige Lehrstellen, zum anderen genügt die schulische Bildung nicht den Anforderungen der ausbildenden Unternehmen. Das gilt längst nicht mehr nur für die Risikoschüler. So ist in den alten Bundesländern die Gruppe der Realschulabsolventen, die eigentlich ausbildungsreif sein sollten, aber trotzdem keinen Ausbildungsplatz finden, inzwischen genauso groß wie die der Schulabbrecher. Und auch ihr Arbeitslosigkeitsrisiko ist vergleichbar.25
Abhilfe an der Schwelle zwischen Schule und Beruf soll das sogenannte Übergangssystem schaffen. Ursprünglich als Provisorium gedacht, war es zeitweilig neben Schule und Kita das größte Bildungssystem der Bundesrepublik – und das mit den geringsten Erfolgsaussichten.26 Denn weder gelingt damit der Übergang, noch hat es System. Es ist vielmehr Maßnahmendschungel und Warteschleife zugleich. Im Jahr 2010 wurden rund 325 000 Jugendliche im Übergangssystem »geparkt«, weil sie keine Lehrstelle bekamen.27 Sie absolvierten berufsvorbereitende Maßnahmen, die zu keinerlei Ausbildungsabschluss führen, sondern eher eine Art qualifizierter Zeitvertreib sind. Nach drei Jahren in der Warteschleife hat etwa ein Viertel der Teilnehmer noch immer keine Ausbildung begonnen28 und landet dann häufig bei geringfügiger Beschäftigung oder gleich bei Hartz IV.
Das Übergangssystem hilft somit dem Staat, die Jugendarbeitslosigkeit zu überdecken. Und das lässt er sich einiges kosten, aktuell mehr als vier Milliarden Euro pro Jahr.29 Das wiederum sorgt für erkleckliche Einnahmen bei den Anbietern der Leistungen. Auf diese Weise erfreut sich das System zahlreicher Anhänger in allen Teilen der Republik, die wenig Interesse daran haben, etwas zu ändern. Dabei ist gerade in Deutschland der formale Ausbildungsabschluss so wichtig wie in fast keinem anderen Industriestaat. Für Hauptschulabsolventen mit Ausbildung betrug im Jahr 2007 das Risiko der Arbeitslosigkeit neun Prozent, ohne Ausbildung jedoch 24 Prozent.30 Diese Asymmetrie wird sich noch verschärfen, denn der Fachkräftemangel nimmt ebenso zu wie die Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten.
Dass wir die Probleme unseres Bildungssystems nicht in den Griff kriegen, insbesondere die hohe Zahl der Schulabbrecher und Ausbildungslosen, hat Auswirkungen für uns alle. Für die unmittelbar Betroffenen werden sie jeweils am Monatsende beim Blick auf die Gehaltsabrechnung deutlich, sofern sie eine erhalten und nicht am Tropf des Staates hängen. Doch unser Versagen in der Bildung hinterlässt weitaus größere Schäden als den auf dem Konto. Geringe Bildung führt auch zu Ausgrenzung und Frustration, sie führt zu hohen Kosten für die Gesellschaft – schwächeres Wachstum, höhere Sozialausgaben, weniger Steuereinnahmen, mehr Kriminalität – und beeinträchtigt so unsere Zukunftsfähigkeit. Unbildung ist nicht nur ein Problem der Ungebildeten. Was schlechte Bildung persönlich, gesellschaftlich und volkswirtschaftlich anrichtet, gefährdet das Überleben unserer Gesellschaft als Ganzes.
Bildung hat für jeden Menschen individuell einen erheblichen Wert, aber eben auch für das soziale Zusammenleben. Bildung ist dabei mehr als eine Qualifizierung für die künftige Arbeitswelt oder ein Treiber der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie beeinflusst wesentlich das Vertrauen in die Gesellschaft, die demokratische Grundhaltung, die politische Stabilität und die Einhaltung von Menschenrechten, das bürgerschaftliche Engagement, die soziale Gerechtigkeit und die ökologische Nachhaltigkeit.
Der oft beklagte bröckelnde gesellschaftliche Zusammenhalt steht in einem Zusammenhang mit der Chancenungerechtigkeit unseres Bildungssystems. Fehlende Bildungschancen verstärken die Ghettobildung in Städten mit der Konsequenz, dass Kinder und Jugendliche in diesen Milieus keine positiven Vorbilder mehr haben. Denn entscheidend ist bei uns insbesondere das Schulumfeld: Wer eine Schule in einem sozial schwachen Milieu besucht, hinkt bis zu zweieinhalb Jahre hinter gleichbegabten Schülern her, die zwar ähnliche soziale Voraussetzungen haben, aber in einem günstigen Umfeld zur Schule gehen.31 Damit ist der weitere Weg für diese Kinder vorgezeichnet – und führt kaum aus den sozialen Brennpunkten heraus.
Abbildung 1
Zusammenhang zwischen Bildungskompetenzen und volkswirtschaftlichem Wachstum
Quelle: Wößmann (2009): Was unzureichende Bildung kostet – Eine Berechnung der Folgekosten.
Der Zusammenhang zwischen Bildungskompetenzen (Durchschnitt aller internationalen Vergleichstests zwischen 1964 und 2003, gemessen äquivalent zu PISA-Testpunkten) und realem jährlichen Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum (1960 bis 2000) im internationalen Ländervergleich nach Herausrechnen weiterer Einflussfaktoren zeigt: Je besser die Ergebnisse eines Landes bei den Schülerleistungen sind, desto höher ist das durchschnittliche Wirtschaftswachstum. Abkürzungen der Länder: siehe Seite 247.
Schließlich hat ungenügende Bildung immense volkswirtschaftliche Folgen. Die etwa 150 000 jungen Menschen, die jedes Jahr ohne Ausbildung bleiben, kosten uns Milliarden Euro an entgangenen Lohnsteuern und Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung sowie an Sozialhilfe und Arbeitslosengeld: Gelänge es uns, nur für ein einziges Jahr die Zahl der Ausbildungslosen zu halbieren, könnten wir 1,5 Milliarden Euro sparen. Gelänge uns dies zehn Jahre nacheinander, summierten sich die eingesparten Kosten schon auf 15 Milliarden Euro.32 Wie viel sinnvoller wäre es – für die Jugendlichen selbst, für die Gesellschaft als Ganzes –, einen Bruchteil dieser Summe in Ausbildungsplätze zu investieren und so zu verhindern, dass diese jungen Menschen ohne Ausbildung bleiben.
Schlechte Bildung – und nicht nur eine zu geringe Zahl an Hochqualifizierten – ist zudem der entscheidende Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. In Langzeitstudien zeigt sich sehr deutlich der enge Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Bevölkerung und dem Wirtschaftswachstum eines Landes (Abb. 1). In der Konsequenz bedeutet das: Wenn es uns im Rahmen einer Bildungsreform gelänge, den Anteil der Risikoschüler – also derjenigen mit eklatanten Schwächen beim Lesen und Rechnen – drastisch zu verringern, würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt innerhalb eines Menschenlebens um insgesamt 2800 Milliarden Euro steigen – das ist weit mehr als die deutsche Staatsverschuldung. Bereits zehn Jahre nach Abschluss einer solchen Bildungsreform würde das zusätzliche Wachstum das komplette heutige Bildungsbudget von Bund und Ländern übertreffen (Abb. 2).33 Dieses Wachstum käme uns allen zugute, vor allem aber unseren Kindern und Enkeln, die wir durch den angehäuften Schuldenberg enorm belasten.
Unzureichende Bildung beeinflusst aber auch das tägliche Leben von uns allen, indem sie unsere Straßen unsicherer macht.
Abbildung 2
Entgangenes Wirtschaftswachstum (BIP) durch unzureichende Bildung
Quelle: Wößmann (2009): Was unzureichende Bildung kostet – Eine Berechnung der Folgekosten.
Folgekosten unzureichender Bildung als Summe des bis zum jeweiligen Jahr entgangenen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Verglichen wird der heutige Bildungsstand mit einem Szenario, bei dem die Zahl der Risikoschüler bis 2020 um 90 Prozent reduziert wird.
Denn Misserfolge in der schulischen Laufbahn begünstigen kriminelle Karrieren. Könnte die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss halbiert werden, gäbe es weitaus weniger Gewalt- und Eigentumsdelikte. Hochgerechnet hätten dann im Jahr 2009 mehr als 400 Fälle von Mord und Totschlag, mehr als 13000 Raubüberfälle und mehr als 300 000 Diebstähle nicht stattgefunden, haben Forscher der Universität Frankfurt errechnet und damit erstmals in Deutschland den direkten kausalen Zusammenhang zwischen schlechter Bildung und Kriminalität nachgewiesen.34
Mit anderen Worten: Ein besseres Bildungssystem hätte bei den Opfern und ihren Angehörigen viel persönliches Leid verhindern können – und würde der Gesellschaft darüber hinaus jedes Jahr rund anderthalb Milliarden Euro an entstandenen Schäden, an Polizei-, Gefängnis- und Justizkosten, an Hilfen zur Wiedereingliederung, Versicherungsleistungen und Ähnlichem ersparen (Abb. 3).35
Abbildung 3
Sinkdende Kriminalität durch bessere Bildung
Quelle: EntorflSieger (2010): Unzureichende Bildung – Folgekosten durch Kriminalität.
Verringerung der Fallzahlen bei einzelnen Deliktarten und entsprechende Kostenersparnis durch eine Halbierung des Anteils der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss
Ein halbes Jahrhundert nach Picht sind wir von einer Bildungsrepublik nach wie vor noch weit entfernt. Die Probleme haben sich hier und da ein wenig verlagert, neue sind hinzugekommen, wenige weggefallen. Die von Picht monierten viel zu geringen Abiturientenzahlen sind seit 1964 zwar deutlich gestiegen, durch die Verfestigung des sogenannten unteren Drittels der Bildungsverlierer treten wir aber im Ergebnis nach wie vor auf der Stelle und lassen zu, dass die Folgen schlechter Bildung unsere Gesellschaft auseinanderbrechen lassen. Das ist umso problematischer, als wir nicht noch einmal 50 Jahre Zeit haben werden, unser Bildungssystem auf Vordermann zu bringen. Denn der internationale Wettbewerbsdruck wird ständig größer, und unsere Gesellschaft schrumpft.
Ist der Bevölkerungsrückgang insgesamt schon höchst bedenklich, so ist die Entwicklung der jungen Generation noch viel dramatischer. Was der Osten bereits hinter sich hat, steht dem Westen jetzt bevor: Wegen des demografischen Wandels werden die Schülerzahlen in den kommenden 15 Jahren in einigen Regionen Deutschlands deutlich einbrechen – im Saarland beispielsweise um bis zu 30 Prozent, in Teilen Bayerns sogar noch stärker. Das muss zu massiven Schulschließungen und Abbau von Lehrpersonal führen. Zugleich gibt es immer mehr Rentner. Ihre Zahl wird bis 2025 um 20 Prozent zunehmen.36 Der Generationenvertrag wird nicht mehr funktionieren, die wenigen Arbeitenden werden die Sozialsysteme für die vielen anderen nicht mehr finanzieren können – erst recht nicht, wenn sie nicht exzellent ausgebildet sind.