Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen - Clemens Hillenbrand - E-Book

Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen E-Book

Clemens Hillenbrand

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Unterrichts- und Verhaltensstörungen sind ein Dauerbrenner in der Schule. Dieses Lehrbuch stellt für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer wissenschaftlich fundierte Handlungsmöglichkeiten vor. Grundlage sind Modelle aus der Allgemeinen Didaktik und Ergebnisse aus der Sonderpädagogik. Theorieansätze aus beiden Disziplinen werden anschaulich beschrieben, kritisch durchleuchtet und auf ihre Brauchbarkeit für den täglichen Unterricht – auch in inklusiven Settings – abgeklopft.

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Seitenzahl: 373

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Clemens Hillenbrand

Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen

Mit 14 Abbildungen und 11 Tabellen4. Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Clemens Hillenbrand, Studium und Promotion Sonderpädagogik, praktische Tätigkeit im pädagogischen Dienst eines Heims und Sonderschullehrer an verschiedenen Sonderschulen, 1994–1998 Lehrtätigkeit an der Universität München, anschließend Vertretung von Professuren an den Universitäten zu Köln, Oldenburg und Leipzig. 2000–2003 Professor für Heil- und Sonderpädagogik an der Fachhochschule Bielefeld, 2003 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Erziehungshilfe und sozial-emotionale Entwicklungsförderung am Department Heilpädagogik der Universität zu Köln, seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen des schulischen Lernens, Universität Oldenburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2080ISBN 978-3-8252-6082-8 (Print)ISBN 978-3-8385-6082-3 (PDF-E-Book)ISBN 978-3-8463-6082-8 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EUEinbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 MünchenNet: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Zur Arbeit mit dem Buch

1Einleitung

1.1Gestörter Unterricht – ein pädagogisches Phänomen

1.2Eine eigene Didaktik?

1.3Unterrichtsstörungen – ein Thema allgemeiner Didaktik?

1.4Zum Begriff „Unterrichts- und Verhaltensstörungen“

2Didaktische Theorien und Unterrichtsstörungen

2.1Erwartungen an didaktische Theorien

2.2Die bildungstheoretische Didaktik

2.3Die lerntheoretische Didaktik

2.4Die kritisch-kommunikative Didaktik

2.5Didaktik heute

2.6Verortung in der kritisch-kommunikativen Didaktik

2.7Der Aspekt des Störfaktors

2.8Der empirische Zugang: Das Angebots-Nutzungs-Modell des Unterrichts

2.9Störfaktoren und ihre Berücksichtigung in der Unterrichtsplanung

2.10Lernfragen

3Ergebnisse allgemeiner Didaktik

3.1Unterrichtsplanung

3.2Artikulation des Unterrichts

3.2.1Stufen des Unterrichts

3.2.2Unterrichtsbeispiel

3.2.3Kritik

3.2.4Lernfragen

3.3Gute Schulen – Guter Unterricht

3.3.1Funktion der Schule

3.3.2Merkmale einer guten Schule

3.3.3Merkmale eines guten Unterrichts

Die Sache

Das Ziel

Der Schüler

Die Elementarisierung

Die Sozialisierung

Überblick

3.3.4Lernfragen

3.4Sozialformen und Differenzierung des Unterrichts

3.4.1Sozialformen des Unterrichts

3.4.2Differenzierung des Unterrichts

3.4.3Lernfragen

3.5Problemsituationen des Unterrichts

3.5.1Pädagogische Problemsituationen im Unterricht

3.5.2Klassifikation

3.5.3Bedingungen

3.5.4Handlungsmöglichkeiten

3.5.5Lernfragen

4Der pädagogisch-didaktische Auftrag des Unterrichts mit schwierigen Schülern

4.1Das Gutachten zum Deutschen Bildungsrat 1974

4.2Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 6. Mai 1994 „Zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“

4.3Das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG)

4.4Rechtliche Grundlagen in Nordrhein-Westfalen

4.5Ergebnis

4.6Lernfragen

5Historischer Exkurs: Der Unterricht in den ersten Erziehungsklassen

5.1Der Auftrag der Volksschule

5.2Störungen von Erziehung und Unterricht

5.3Begründung der E-Klassen

5.4Erziehung und Unterricht

5.5Prinzipien der E-Klasse

Intention der E-Klasse

Organisationsstruktur

Rahmenbedingungen

Erziehung in der E-Klasse

Der Lehrer in der E-Klasse

Elternarbeit

Das Prinzip Re-Integration

Erfolg

5.6Kritik

5.7Lernfragen

6Konzeptionen schulischer Förderung bei Verhaltensstörungen

6.1Das Modell gestörten Lernens: Reizreduktion nach Cruickshank

6.1.1Hirngeschädigte Kinder

6.1.2Das Prinzip der Reizreduktion

6.1.3Strukturierung der Erziehung

6.1.4Strukturierung von Lern- und Arbeitsmitteln

6.1.5Prinzipien des Unterrichts für hyperaktive Schüler

6.1.6Kritik

6.1.7Lernfragen

6.2Das Modell der Verhaltensmodifikation: Der durchstrukturierte Klassenraum nach Hewett und Schumacher

6.2.1Hewetts Konzeption im Überblick

6.2.2Der durchstrukturierte Klassenraum nach Schumacher

Zielsetzungen

Ein statistischer Begriff von Verhaltensstörung

Leitlinien des durchstrukturierten Klassenraums

Hierarchie von Verhaltenssequenzen

Organisation des Unterrichts

Pädagogische Interventionen

6.2.3Evaluation

6.2.4Kritik

6.2.5Lernfragen

6.3Das Modell der Verhaltensmodifikation: Kooperative Verhaltensmodifikation nach Redlich und Schley

6.3.1Die Intention

6.3.2Theoretische Grundlegung und Erweiterung

Klassische Verhaltensmodifikation

Selbstbewertungskonzept

Kooperation

Handlungsstrategie

6.3.3Anwendungsbereiche

6.3.4Beispiele

6.3.5Kritik

6.3.6Lernfragen

6.4Das psychodynamische Modell: Konfliktverarbeitung im Unterricht nach Baulig

6.4.1Intention des Versuchs

6.4.2Ausagierende Schüler verstehen

6.4.3Handlungsansätze

Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung

Pädagogische Einwirkung auf Stigmatisierungen

Konfliktverarbeitung im Unterricht

Maßnahmen zur Strukturierung und Ich-Stützung

Prinzipien der Unterrichtsgestaltung

Stärkung des Selbstbewusstseins und Ausbau der Frustrationstoleranz

Förderung der Realitätsorientierung

6.4.4Beispiele

6.4.5Wertung

6.4.6Entwicklung der Gruppe

6.4.7Kritik

6.4.8Lernfragen

6.5Das psychodynamische Modell: Neutralisierung der Lerninhalte nach Sigrell

6.5.1Stützung der Persönlichkeit

6.5.2Neutralisierung

6.5.3Entdramatisierung

6.5.4Beispiel

6.5.5Kritik

6.5.6Lernfragen

6.6Das Psychodynamische Modell: Unterricht als Ermutigung

6.6.1Individualpsychologie und Verhaltensstörungen

6.6.2Individualpsychologische Erziehungsprinzipien

6.6.3Individualpsychologische Gestaltung des Unterrichts

6.6.4Beispiel

6.6.5Kritik

6.6.6Lernfragen

6.7Das Entwicklungs-Modell: Der Entwicklungstherapeutische Unterricht nach Wood und Bergsson

6.7.1Basisannahmen

6.7.2Das Entwicklungscurriculum

6.7.3Diagnostik

6.7.4Unterrichtsgestaltung

6.7.5Pädagogisch-therapeutische Interventionen

6.7.6Team

6.7.7Organisationsstruktur

6.7.8Elternarbeit und Sozialpädagogik

6.7.9Evaluation

6.7.10Kritik

6.7.11Lernfragen

6.8Das Synthese-Modell: Der strukturiert-schülerzentrierte Ansatz nach Neukäter und Goetze

6.8.1Basisannahmen

6.8.2Phasen der Rehabilitation

6.8.3Evaluation

6.8.4Kritik

6.8.5Lernfragen

6.9Neuere Ansätze der Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen

6.9.1Therapeutisch orientierter Sonderunterricht nach Vernooij

Das Prinzip TOS

Lehrerbildung

Aufbereitung therapeutischer Grundkonzepte

Kritik

6.9.2Sozialdidaktik nach Januszewski

Grundlegende Annahmen

Unterricht als Sinngestalten

Sozialdidaktik

Kritik

6.9.3Alltagsästhetischer Ansatz nach Bröcher

Kritik an der Pädagogik bei Verhaltensstörungen

Verhaltensstörungen als Ausdruck von Lebensproblemen

Alltagsästhetik im Unterricht

Kritik

6.9.4.Ökologische und systemische Ansätze

6.9.5.Lernfragen

6.10Ergebnis

7Prozess und Gestaltung heilpädagogischer Förderung

7.1Rahmenbedingungen der Förderung in besonderen Schulen

7.2Der Prozess heilpädagogischer Förderung

7.3Gestaltungsprinzipien

7.4Fördermaterialien

7.4.1Materialien für den primären Einsatzort

7.4.2Materialien für den sekundären Einsatzort

7.4.3Materialien für den tertiären Einsatzort

7.5Der Auftrag der Re-Integration

7.5.1Kriterien der Re-Integration

7.5.2Phasen der Rückführung

7.5.3Erfolgsbedingungen

7.5.4Kritik

7.6Lernfragen

8Reformansätze bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen

8.1Offener Unterricht

8.1.1Zum Begriff „Offener Unterricht“

8.1.2Methodik des Offenen Unterrichts

8.1.3Offener Unterricht als Chance bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen

8.1.4Probleme im Offenen Unterricht

8.1.5Evaluation

8.1.6Kritik

8.1.7Lernfragen

8.2Inklusion und Integration: Gemeinsamer Unterricht von Schülern mit und ohne Verhaltensstörungen

8.2.1Der Begriff „Integration“

8.2.2Die besondere Problematik der Integration von Schülern mit Verhaltensstörungen

8.2.3Modelle der Integration

8.2.4Didaktische Fragen der Integration

8.2.5Ergebnis

8.2.6Lernfragen

9Beratung bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen

9.1Kollegiale Beratung

9.2Handlungsstrategie zur Konfliktlösung

9.2.1Zum Begriff „Konflikt“

9.2.2Handlungsmatrix zur Konfliktlösung

9.2.3Analysebeispiel

9.2.4Kritik

9.3Lernfragen

10Die Perspektive der Betroffenen

10.1Die Perspektive der Lehrer

10.2Die Perspektive der Eltern

10.3Die Perspektive der Schüler

10.4Ergebnis

10.5Lernfragen

11Ergebnis

Literatur

Vorwort zur 3. Auflage

Inklusion stellt eine der aktuellen Herausforderungen für das gesamte Bildungssystem dar. Mit diesem Begriff ist das Recht aller Schüler angesprochen, das allgemeine Bildungssystem zu besuchen – damit aber wird sich das System der sonderpädagogischen Förderung, das in Deutschland bisher schwerpunktmäßig in speziellen Schulformen organisiert war, erheblich verändern.

Professionelles Wissen und Können wird, wenn auch unter geänderten organisatorischen Rahmenbedingungen, weiterhin von entscheidender Bedeutung für die Verwirklichung dieses Rechts sein. Wenn in Zukunft verstärkt auch Schüler, die bisher in Förderschulen beschult wurden, in der allgemeinen Schule den Unterricht besuchen, wird der Umgang mit schwierigen Unterrichtssituationen zunehmend Aufgabe der Lehrkräfte aller Schulen sein!

Insofern weitet sich die Zielgruppe für dieses Buch aus: Es richtet sich noch stärker als bisher an die Lehrkräfte allgemeiner Schulen. Die nun vorliegende, 3. Auflage intendiert die Qualifizierung für belastete, problematische Unterrichtssituationen, die unter anderem durch unerwartetes, herausforderndes Schülerverhalten entstehen können. Insbesondere das empirische Modell des Unterrichts, das neu aufgenommen wurde, kann zur Planung und Reflexion heran gezogen werden. Weitere aktuelle Entwicklungen werden in der Darstellung nun stärker berücksichtigt.

Es wird spannend sein, zu beobachten, wie das Bildungssystem in Zukunft mit diesen Aufgaben umgeht.

Oldenburg, im November 2010

Clemens Hillenbrand

Vorwort zur 1. Auflage

„Schule brutal.“ „Faustrecht macht Schule.“ „Erpressung, Prügel, Terror – an deutschen Schulen ist die Hölle los“ „Schon jedes dritte Kind ist gestört“ – solche Schlagzeilen, aus bekannten Zeitschriften entnommen, sind derzeit wöchentlich zu lesen. Die Publizistik hat das Problem auffälliger Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen auf die Titelseiten öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Daran wird deutlich, dass Störungen und Problemsituationen des Unterrichts, Verhaltensstörungen, Erziehungsschwierigkeiten oder wie man das Phänomen bezeichnen mag, ein akutes Problem mit Breitenwirkung darstellen. Die Schule steckt in diesem Zusammenhang in einem mehrfachen Dilemma:

•  Einerseits ist sie der Ort, an dem solche Phänomene manifest werden. Die Schule und die hier tätigen Professionellen stehen im Verdacht, eine mitverursachende Rolle zu spielen.

•  Die Schule, Schüler und Lehrer, erscheinen zugleich auch als Opfer – hilflose Helfer, denen die Hände gebunden sind, vielleicht auch inkompetente Amateure, die ihr Handwerk nicht verstehen und höchstens noch auf mitleidiges Lächeln hoffen dürfen.

•  Gleichzeitig steigen die Erwartungen an die Schule. Der Transfer gesellschaftlicher Probleme auf den Erziehungsauftrag der Schule stellt schon einen Quasi-Mechanismus der öffentlichen Diskussion dar.

Mit den daraus resultierenden Belastungen müssen Lehrer, Schüler und die Schule als Institution jedoch ohne besondere Hilfen fertig werden! Unter diesen Vorgaben befinden sich viele Lehrkräfte unter einem starken Erfolgsdruck, der nicht selten zu einer unablässigen Suchbewegung nach neuen Methoden und Erfolgsrezepten führt.

Die spezialisierte Teildisziplin der Pädagogik, die das Problem der Verhaltensstörungen bearbeitet, fand dabei als Gesprächspartner bisher kaum Beachtung. Diese sonderpädagogische Arbeitsrichtung wurde mit den ihr zugeordneten besonderen Institutionen, den Sonderschulen für Verhaltensgestörte, der Erziehung und dem Unterricht in Heimen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in Jugendstrafanstalten, identifiziert. Die Relevanz ihrer Erkenntnisse für die allgemeine Erziehung geriet aus dem Blick. Einige wenige Zahlen aus diesem Fach verstärken noch die Problembestimmung: Nach anerkannten Kriterien (DSM, ICD) sind ca. 15% der Schüler als „verhaltensgestört“ zu bezeichnen (Myschker 1993), jedoch gibt es nur für ca. 0,3% der Schüler Plätze in Schulen zur Erziehungshilfe. Mobile Dienste bei Erziehungsschwierigkeiten fallen zahlenmäßig kaum ins Gewicht und sind in aller Regel völlig überlastet. Als Schlussfolgerung lässt sich festhalten, dass die überwiegende Mehrzahl von Schülern mit Verhaltensstörungen in der Grund- und Hauptschule, z. T. auch in weiterführenden Schulen und insbesondere in Berufsschulen, betreut werden. Das Problem gestörten Unterrichts ist also ein gemeinsames Problem!

Vielleicht führt diese Situation jedoch zu einer gegenseitigen Kenntnisnahme und gemeinsamen Diskussion. Erste Schritte werden von Seiten der allgemeinen Didaktik insbesondere durch Arbeiten von Rainer Winkel gemacht und auch der Schulpädagoge Hans Jürgen Apel erkennt die Aufgabe: „Erziehungshilfe als Aufgabe pädagogischen Handelns muss deshalb zunehmend Bestandteil einer schulpädagogischen Theorie werden“ (Apel 1996, 6). Er stellt daher die Frage, „welche Bedeutung sonderpädagogische Erkenntnisse für die Theorie und Praxis des pädagogischen Handelns in Schule und Unterricht haben“ (Apel 1996, 3). Apel umschreibt damit eine Aufgabe, die hier zu bearbeiten ist: die Darstellung sonderpädagogischer Erkenntnisse der Verhaltensgestörtenpädagogik in didaktischer Perspektive.

Vom systematischen Standort der Pädagogik bei Verhaltensstörungen als Arbeitsrichtung innerhalb der Heilpädagogik (Möckel) ist ein solcher Diskurs seit jeher gedacht und gefordert worden. In der ersten „Heilpädagogik“, die Mitte des 19. Jahrhunderts die verschiedensten Bemühungen um bisher vernachlässigte Kinder in einer Theorie zusammenfasst, wird nämlich die enge Verknüpfung von Heilpädagogik und allgemeiner Pädagogik, von besonderen Erziehungsinstitutionen und allgemeiner Schule, von Heilerziehung und sozialem Fortschritt begründet: „Die Heilpädagogik im Ganzen ist ein Zweig der allgemeinen Pädagogik“ (Georgens/Deinhardt 1861, 2).

Folglich stellen heilpädagogische Mittel und Methoden, so die Verfasser der ersten „Heilpädagogik“, nichts anderes als Modifikationen allgemeiner Mittel und Methoden dar. Die spezialisierte Heilerziehung verändert das Vorgehen der allgemeinen Erziehung nicht grundlegend. Im Zuge der Arbeitsteilung bildet sie „durch den Heilzweck bedingte Modificationen der Aufgaben und Mittel, welche die allgemeine Pädagogik hat oder haben sollte“ (Georgens/Deinhardt 1861, 5), aus. Die Kenntnis heilpädagogischer Handlungsansätze erweitert damit den Horizont für alle erzieherischen Bemühungen!

Daraus ergibt sich die Aufgabe, für einen „Wissenstransfer“ zu sorgen. Dabei darf der Begriff Transfer nicht als Transport eines fertigen Inhalts verstanden werden, sondern eher als Aufbau einer gemeinsamen Diskussionsbasis, als „Wissensdialog“. Für den Unterricht in Schulen ohne heilpädagogische Unterstützung gilt es daher, wichtige Ergebnisse heilpädagogischer Bemühungen um einen adäquaten Unterricht bei problematischen Erziehungsbedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Für die Sonderpädagogen wiederum sind die didaktischen Grundlagen aus der Schulpädagogik und allgemeinen Didaktik häufig nicht geläufig. Zudem zeigte sich in Einführungsveranstaltungen in didaktische Fragestellungen bei Verhaltensstörungen, die von zukünftigen und aktiven Sonderpädagogen mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörtenpädagogik und Lernbehindertenpädagogik besucht wurden, der Mangel eines Lehrbuchs für spezifische Ansätze des Unterrichts bei Verhaltensstörungen. Das vorliegende Werk intendiert daher zweierlei:

1.  Angesichts der Probleme mit Störungen des Unterrichts in allen Schulformen bietet es einen Überblick über die Grundlagen, Methoden und Medien didaktischer Konzeptionen bei Verhaltensstörungen an, die das Handlungsrepertoire für Lehrer in allen Schularten erweitern können. Insofern wendet es sich an Studenten aller Lehrämter, aber auch an Referendare und Kollegen in der Fort- und Weiterbildung.

2.  Angesichts des fehlenden Studienmaterials in der Sonderschullehrerbildung wird versucht, ein Lehrbuch über zentrale wissenschaftliche Ergebnisse für didaktische Fragen bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen zusammenzufassen. Ganz basal gehören dazu allgemeindidaktische Grundlagen, auf deren Basis ein Überblick über die spezifischen unterrichtlichen Konzeptionen und erprobten Handlungsvorschläge für eine heilpädagogische Förderung bei Verhaltensstörungen gewonnen werden kann. Insofern wendet sich das Buch an Studenten der Sonderpädagogik, insbesondere mit den Schwerpunkten Lernbehindertenpädagogik und Verhaltensgestörtenpädagogik.

Da die Probleme von Allgemeiner Didaktik und von Didaktik bei Verhaltensstörungen zunehmend als gemeinsame Themen erkennbar werden, soll dieses Lehrbuch insgesamt den Interessenten einen fundierenden Überblick bieten und zugleich eine Anregung zur Belebung des Dialoges leisten.

Ein Vorwort gibt immer auch die Möglichkeit des Dankes. An erster Stelle muss ich die Schüler meiner Klassen in verschiedenen Sonderschulen nennen, die mir manche lehrreiche Lektion erteilten. Besonderen Dank schulde ich meinen Studenten in München und Köln, die durch ihre Nachfragen, Kritik und ihre Geduld in der Verfolgung des Gedankengangs wesentlich zum Entstehen dieses Buches beitrugen. Meiner Frau und meiner Familie habe ich für alle Formen der Unterstützung zu danken, die jeden Tag notwendig war und doch nicht alltäglich ist.

Der im Text verwendete sprachliche Genus schließt immer die andere Form ein. Damit soll eine gute Lesbarkeit des Textes erhalten bleiben.

Zur Arbeit mit dem Buch

Für eine möglichst produktive Arbeit mit dem Buch bieten sich zwei Wege an: die Beantwortung der Lernfragen am Ende eines Abschnitts und die Erstellung von Mind Maps aus den angebotenen Schlüsselbegriffen.

1.  Die meisten Lernfragen ermöglichen einerseits die Wiederholung des dargestellten Inhalts. Die Kontrolle der Lösungen kann leicht durch eine nochmalige Lektüre des Textes erfolgen. Viele Fragen regen andererseits zu einer selbständigen Stellungnahme und Diskussion an. Beide Verwendungsmöglichkeiten haben sich in Arbeitsgruppen und zur Vorbereitung auf Prüfungen bereits bewährt.

2.  Die Schlüsselbegriffe bieten eine Hilfe für die Erstellung von so genannten Mind Maps. In solchen kognitiven Landkarten werden die gelernten Inhalte, die Verknüpfungen und Zusammenhänge graphisch dargestellt. Da jeder Lerner auf individuelle Art den Lernstoff strukturiert, gibt es keine gültigen oder ungültigen Lösungen. Die aktive Erstellung einer solchen Mind Map, insbesondere mit der Verwendung von bildlichen Elementen, fördert auf hervorragende Weise das Verstehen und Behalten des Lerninhalts – und nicht zuletzt macht es meist großen Spaß!

Als Beispiel folgt auf Seite19 eine Mind Map zu den Sozialformen des Unterrichts (Kap. 3.4), das auf folgenden Schlüsselwörtern basiert:

Schlüsselwörter: Sozialformen • Differenzierung • Passung • Individualisierung des Lernens • Frontalunterricht • Unterrichtsgespräch • Gruppenarbeit • Partnerarbeit • Einzelarbeit.

Buntstifte und ein großes Blatt Papier sollten daher zum Arbeitsmaterial bei der Bearbeitung des Buches gehören. Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg!

Osnabrück, Köln, im August 1998

Clemens Hillenbrand

Abb. 1: Beispiel für die Erstellung einer Mind Map: Sozialformen und Differenzierung

1Einleitung

Eine harmonische Gemeinschaft (von Emöke Beatrice Kovac, 14 Jahre)

Daniel schubste zurück, und zwei Sekunden später hing er so halb und halb über Regensburgers Schulter, und noch eine Sekunde später wurde er per Tae-Kwon-Do-Griff oder so was Ähnlichem auf den PVC-Boden geschleudert, wo er dann hocken blieb und erst mal seine Eingeweide ordnete. Aus seinem linken Nasenloch kam eine ziemliche Menge Blut geschossen. Er kam hoch und nahm sich ein Tempo, das er sich an die Nase hielt. Sie sah ein bißchen krumm aus. Später sagte Vanessa, Regensburger hätte Daniels Nase gar nicht angerührt, der kriegt doch immer Nasenbluten, wenn er Schiß hätte, das wär schon in der Grundschule so gewesen… Auf dem Elternsprechtag sagte die Gabler, unsere Klasse sei gut zusammengewachsen, auch der neue Schüler, Regensburger also, der von der neunten in die achte zurückgegangen war, sei freundlich aufgenommen worden und ein recht beliebter Schüler geworden. Das hat mir meine Mutter erzählt, und dann hat sie noch gesagt, wie schön es doch sei, daß ich trotz der ganzen Berichte über Gewalt an deutschen Schulen, die man dieser Tage lesen müsse, in so einer harmonischen Klassengemeinschaft untergebracht sei. (Teuter/Teuter 1997, 129ff)

Schwierige und gestörte Unterrichtsprozesse bilden massive Belastungen für die Beteiligten, für Lehrer und Schüler. Die Erzählungen der 14-jährigen Emöke und ihrer jugendlichen Mitautoren zeigen zugleich, dass Gewalt eine latente Realität für Kinder und Jugendliche in und außerhalb der Schule darstellt. Gestörter Unterricht bildet eine Wirklichkeit für Kinder und Jugendliche, die Lehrerinnen und Lehrern zumindest teilweise verborgen bleibt. Zugleich erleben sich die professionellen Pädagogen in schulischen Institutionen, wenn man Medienberichten glauben kann, durch Störungen verschiedenster Formen und Ursachen zunehmend belastet.

Schlüsselwörter: Unterrichtsstörungen • Verhaltensstörungen • Stigmatisierung • Eigene Didaktik? • wissenschaftlicher Status und Auftrag der Didaktik • Weite des Aufgabenfeldes

1.1Gestörter Unterricht – ein pädagogisches Phänomen

Die Vielzahl von Berichten in den Medien macht deutlich, dass gestörte Unterrichtssituationen eine brisante Problematik für alle Schulformen darstellen – sie sind keineswegs eine Erscheinung besonderer Institutionen, etwa der Sonderschulen, allein. Eigentlich werden in allen Schulen Kompetenzen für die Bewältigung von Störungen dringend benötigt.

Die Einrichtung von besonderen Schulen für Schüler mit Verhaltensstörungen, die in manchen Bundesländern Schulen zur Erziehungshilfe, Schulen für Verhaltensgestörte oder Schulen mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung (Kultusministerkonferenz 2000) heißen, kann man als eine Maßnahme verstehen, um durch Spezialisierung der pädagogischen Berufe und Institutionen die gestörten Unterrichtssituationen zu beantworten. Die besondere Institution mit eigenen Maßnahmen sollte bessere Hilfen für die Kinder und Jugendlichen und zugleich bessere Handlungsmöglichkeiten für die Lehrer und Erzieher schaffen (Möckel 2007). Die negativen Effekte werden jedoch zunehmend deutlich. Die „Kehrseite“ der Spezialisierung, schon zu Beginn der besonderen Förderung auffälliger Schüler durchaus geahnt, ist die Stigmatisierung ihrer Klientel, die Selbstwertproblematik und die Chancenminderung für die betroffenen Schüler. Eine Konsequenz daraus sind die Bemühungen um eine Beschulung solch auffälliger Kinder und Jugendlichen „so normal wie möglich“ (Normalisierungsprinzip) und gemeinsam mit allen anderen Schülern (Integration und Inklusion). Mit der gemeinsamen Beschulung stellt sich die Aufgabe, spezialisiertes Handlungswissen in nichtspezialisierte Institutionen, sonderpädagogische Kompetenz in allgemeinpädagogische Kontexte zu implementieren. Eine Zusammenfassung relevanter Erkenntnisse kann einen Überblick über die in der Wissenschaft diskutierten Handlungsansätze für die Lehrerbildung und für die Praxis bieten.

Wenn also der Versuch gemacht wird, eine lehrbuchartige Zusammenfassung pädagogisch-didaktischer Erkenntnisse über das Handeln bei Unterrichtsstörungen, wie sie insbesondere in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen formuliert sind, vorzulegen, dann muss eine solche Grundlegung allgemeine Tragfähigkeit für verschiedene Schulformen besitzen. Damit scheint die Integration von wissenschaftlich-heilpädagogischen Erkenntnissen (Theorie-Ebene) zum ferneren Ziel der besseren Erziehung und Unterrichtung von Schülern (Praxis-Ebene) dringend geboten. Einige stichpunktartige Argumente sprechen deutlich für die Verbindung von heilpädagogischen und allgemeindidaktischen Erkenntnissen:

1.  Die Mehrzahl der Schüler mit Verhaltensstörungen, deren Anteil nach nationalen und internationalen Studien auf 12% bis 20% geschätzt wird (Ihle/Esser 2002)), wird nicht in heilpädagogischen Einrichtungen gefördert, sondern in der allgemeinen Schule betreut. Weit weniger als 1% der Schüler eines Jahrgangs besuchen eine Schule zur Erziehungshilfe – zugleich bilden Unterrichts- und Verhaltensstörungen eine aktuelle und äußerst belastende Wirklichkeit in allen Schularten (John/ Stein 2008).

2.  Die zukünftigen Aufgaben von Lehrern mit Kompetenzen in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen werden nach dem Motiv der Inklusion (Lindmeier 2009) zunehmend im Bereich allgemeiner Schulen liegen, also von besonderen Institutionen in die Regelschulen verlegt werden und daher allgemeindidaktische Kompetenzen voraussetzen.

3.  Die Erfahrungen und Ergebnisse heilpädagogischer Konzeptionen können eine präventive Handlungsweise in allen Schulformen unterstützen und anleiten (Hartke 2005, Hillenbrand 2009).

Wenn die Probleme, die traditionellerweise von der Heilpädagogik bearbeitet werden, sich immer deutlicher als Probleme jeder Schulpädagogik zeigen, dann ist die Integration heilpädagogischer Erkenntnisse in die allgemeine Pädagogik und Didaktik notwendig (Möckel 1979, 2007). Damit wird eine Verortung der nachfolgenden Überlegungen in der allgemeinen Didaktik und Schulpädagogik notwendig, um spezialisierte, durch Arbeitsteilung gewonnene Erkenntnisse auch tatsächlich für gestörte Unterrichtssituationen möglichst in allen Schularten übergreifend fruchtbar zu machen. Aber welchen Status haben solche Erkenntnisse? Sind es Ergebnisse einer eigenen Wissenschaft? Anders gefragt: Gibt es überhaupt so etwas wie eine eigene „Didaktik“ bei Unterrichtsstörungen oder Verhaltensstörungen?

1.2Eine eigene Didaktik?

Von Studierenden und praktisch tätigen Lehrern wird häufig eine eigenständige, für problematische Unterrichtssituationen funktionierende Unterrichtstechnologie erwartet, ja verlangt. Zur Begründung einer solchermaßen verstandenen „eigenständigen Didaktik“ wird auf die Auffälligkeiten der Schüler hingewiesen oder die besondere Institution der Schulen mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung oder wie der jeweilige Name lautet, hervorgehoben.

Zutreffend an dieser Erwartungshaltung ist, dass in der Gestaltung des Unterrichts mit schwierigen Schülern von einem Lehrer besonderes Geschick bis hin zur therapeutischen Kompetenz gefordert wird (Hußlein 1983). Dies gilt in besonderem Maße für eine spezialisierte pädagogisch-didaktische Institution, wie sie die Schule mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung und andere schulische Formen der Erziehungshilfe darstellen.

Weder diese Erwartungen noch die eigene Institution bilden jedoch hinreichende Argumente für die Begründung der wissenschaftlichen Eigenständigkeit einer Didaktik bei Verhaltensstörungen. Gegenüber solchen Vorstellungen sind eine Reihe von Argumenten anzuführen.

Die Zielsetzung eines Unterrichts kann bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen nicht grundsätzlich anders lauten als die Zielsetzung jeder Bildungsbemühung, als der reguläre Auftrag. So gilt in der Schule zur Erziehungshilfe der Lehrplan der jeweiligen Bezugsschule. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass alle Formen der Förder- oder Sonderschule ausdrücklich zum allgemein bildenden Schulsystem zählen.

Könnte das beobachtete störende Verhalten eine besondere Didaktik erforderlich machen? Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Verhaltensweisen von Schülern mit Verhaltensstörungen äußerst divergent sind, so dass in der Konsequenz eine eigene Didaktik bei aggressiven oder ängstlich-gehemmten Schülern, bei hyperkinetischen oder delinquenten, bei entwicklungsgehemmten oder teilleistungsgestörten Verhaltensweisen bestehen müsste. Daran wird der Charakter des Kontraktionsbegriffs „Verhaltensstörung“ deutlich (Hillenbrand 1996a), der sehr unterschiedliche Phänomene zusammenführt. Aber es leuchtet ein, dass die Vorstellung einer solchermaßen spezialisierten, störungsspezifischen Didaktik nicht realistisch ist. Zudem belegen Studien zur Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen, dass geeignete Maßnahmen durchaus mehrere Zielbereiche positiv beeinflussen (im Überblick: Mitchell 2008).

Die Bearbeitung erzieherischer und unterrichtlicher Probleme oder gestörter Unterrichtsprozesse sind keineswegs nur Aufgabe der besonderen Schulform – vielmehr stellen sie eine Aufgabe aller Teilsysteme des Schulsystems dar. Schon das Gutachten zum Deutschen Bildungsrat betonte 1974 die Zuständigkeit der Regelschulen. Demnach sind „Hilfen für Verhaltensgestörte vorrangig Aufgabe der allgemeinen Schulen und Gegenstand der allgemeinen Pädagogik“, in dem „ein gestuftes Angebot pädagogischer Maßnahmen“ (Bittner et al. 1974, 91, Hervorhebung im Original) notwendig ist. Ein besonderes, eigenständiges Profil von Schulen zur Erziehungshilfe lässt sich zudem empirisch kaum nachweisen (Hennemann et al. 2009; Petermann et al. 1993). Insgesamt steht unterrichtliches Handeln bei erschwerten Bedingungen unter der Anforderung, eine spezielle Methode der Anwendung (Bittner), eine Modifizierung (Speck) oder besondere Akzentuierung (Hußlein) allgemeindidaktischer Grundlagen durchzuführen – und gerade daher lässt sich eine besondere, Eigenständigkeit beanspruchende Didaktik auch aus Sicht der Praxis nicht rechtfertigen.

Wichtiger jedoch ist der wissenschaftliche Status und der Auftrag der Didaktik. Nach dem griechischen „didaskein“ (lehren, unterweisen und lernen, belehrt werden) versteht man unter Didaktik im weiten Sinn „die Theorie des Lehrens und Lernens“, im engeren Sinn „die Theorie des (schulischen) Unterrichts“ (Böhm 1982, 131). Sie ist eine „Wissenschaft, die sich mit allen Lern- und Lehrerscheinungen befaßt und sich um die Erfassung aller Vorgänge und Faktoren in diesem Feld bemüht“ (Peterßen 1994, 658, Hervorhebung im Original). Gerade aus diesem weiten Begriff der Didaktik lässt sich begründen, dass Erkenntnisse über gestörte Unterrichtsprozesse in sich einen Teil jeglicher Didaktik bilden. Eine Konzentration auf gelingende, ungestörte Lehr-Lern-Prozesse schneidet wichtige Vorgänge des Feldes aus dem wissenschaftlichen Diskurs heraus und engt die Wahrnehmung ein. Eine wissenschaftliche Reflexion gestörter Unterrichtsprozesse erweitert so die Didaktik insgesamt, wie die Heilpädagogik seit ihrem Beginn eine Erweiterung der Pädagogik darstellt – auf Erziehungsprozesse, die bisher gescheitert sind (Möckel 2007). Die damit angesprochene Erweiterung des Aufgabenfeldes kann allerdings eine wissenschaftliche Spezialisierung für die didaktische Lehre und Forschung sinnvoll und notwendig machen.

1.3Unterrichtsstörungen – ein Thema allgemeiner Didaktik?

Die Erweiterung des Aufgabenfeldes erfordert zugleich die Berücksichtigung weiterer, den Unterricht überschreitende Dimensionen: Störungen des Unterrichtsgeschehens bilden sich in komplexen Zusammenhängen. Sie stellen nicht nur ein Problem des Unterrichts dar, sondern müssen in einem umfassenderen schulpädagogischen Zusammenhang gesehen und beantwortet werden. „Der Einbezug institutionell-organisatorischer und gesellschaftlicher Bedingungen in das didaktische Denken ist eine wertvolle Blickerweiterung“ (Einsiedler 1994, 650) – gerade bei der Frage von Unterrichts- und Verhaltensstörungen.

Die Reflexion gestörter Unterrichtsprozesse stellt einen Themenbereich und einen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkt innerhalb des weiten Arbeitsgebietes der allgemeinen Didaktik und Schulpädagogik dar. Einerseits ist damit ausgesagt, dass in diesem Arbeitsgebiet die gleichen Prämissen gelten wie in anderen didaktischen Feldern auch. Andererseits stellt eine Spezialisierung didaktischer Forschung keinen Widerspruch dazu dar, sondern wiederholt nur eine normale Entwicklung der modernen Wissenschaften. Die Arbeitsteilung in der Wissenschaft erfordert in der Konsequenz jedoch das Zusammenführen und die Integration von Erkenntnissen – das kann wiederum nur auf der Basis didaktischer Theorien geschehen.

Arbeitsergebnisse aus der speziellen Reflexion gestörter Unterrichtsprozesse erlauben daher keineswegs die Konstruktion einer eigenständigen Didaktik. Diese Überlegungen führen zur Forderung nach einer allgemeindidaktischen Grundlegung und Einordnung, auf deren Basis spezialisiertere Aussagen verarbeitet werden können.

1.4Zum Begriff „Unterrichts- und Verhaltensstörungen“

Ein wichtiges Ziel der vorliegenden Darstellung besteht in der Zusammenführung von Erkenntnissen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Arbeitsrichtungen: aus didaktischen Ansätzen zur Förderung von Schülern mit „Verhaltensstörungen“ im Rahmen der Sonder- und Heilpädagogik und aus den Überlegungen zum Problembereich „Unterrichtsstörungen“ im Rahmen der Schulpädagogik und der allgemeinen Didaktik, die insbesondere durch die kritisch-kommunikative Didaktik (Schäfer/Schaller 1976, Winkel 1977) angeregt wurden. Die Integration der Ergebnisse verschiedener Wissenschaftszweige vermag die Perspektive zu erweitern – sowohl für die Theorie als auch für die Praxis. Die Verbindung der Arbeitsrichtungen schon ab der ersten Phase der Lehrerbildung könnte einerseits zu einer erweiterten Reflexionsbasis beitragen, andererseits praxisrelevante Handlungsvorschläge unterschiedlicher Herkunft in breitere Praxisfelder einbringen.

Die Integration verschiedener Wissenschaftszweige wird folglich im Begriff „Unterrichts- und Verhaltensstörungen“ zum Ausdruck gebracht.

Dabei ist die vielfach diskutierte Problematik der Begriffe, insbesondere des Begriffs „Verhaltensstörung“, durchaus bekannt: Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse, die Verdinglichung personaler Prozesse, die Problematik der Normativität, die mangelnde Objektivität, ja Willkürlichkeit der Begriffsverwendung sind hier anzuführen. Als Resultat der theoriegeleiteten Begriffsanalyse (Hillenbrand 1996a, 2008a) lässt sich festhalten: Der Begriff Verhaltensstörung ist das Ergebnis einer kommunikativen Konstruktion und fasst unterschiedlichste Verhaltensweisen zusammen. Er signalisiert Probleme im erzieherischen und unterrichtlichen Feld. Er ist zwar ein unscharfer und vager Begriff, wie Schlee (1989) konstatiert, aber damit nicht sinnlos, beliebig oder einfachhin verzichtbar. Er erfüllt vielmehr wichtige Funktionen, etwa die (finanzpolitische) Legitimation von besonderen Formen der Hilfe. Es widerspricht seiner kommunikativen Funktion, die Kriterien naturwissenschaftlich-empirischer Begriffsbildung an ihn zu stellen, die er gar nicht erfüllen kann (Hillenbrand 1996a, 197). Der Terminus Verhaltensstörung findet hier Verwendung als Zentralbegriff einer sonderpädagogischen Teildisziplin und der von ihr erarbeiteten didaktischen Vorschläge, Befunde und Ergebnisse. Im unterrichtlichen Rahmen treten Verhaltensstörungen dann als Störungen des Unterrichts auf.

Verhaltensstörungen in didaktischer Perspektive sind Unterrichtsstörungen.

Zwischen noch akzeptablen Störungen und heilpädagogische Hilfe verlangenden Problemen bestehen fließende Grenzen und sensible Gleichgewichte, die nicht zuletzt von der psychosozialen Belastbarkeit des Lehrers abhängen. Um diese fließenden Übergänge und die Notwendigkeit der Integration heilpädagogischer Kompetenzen in jede Form von Unterricht auszudrücken, findet der Begriff „Unterrichts- und Verhaltensstörungen“ Verwendung. Er steht für die Tatsache, dass Störungen des Unterrichts alltäglich sind. Sie entstehen in einem Beziehungsgeflecht, ihre Verursachung ist häufig nicht zu klären und die Frage der Ätiologie ist zudem oftmals ohne Relevanz für die Gestaltung von Erziehung und Unterricht. Von dieser Problemlage sind alle Personen mit Erziehungs- und Bildungsauftrag betroffen (z. B. Berufsschullehrer, Grundschullehrer, Hauptschullehrer, Förderlehrer, heilpädagogische Unterrichtshilfen, Zivildienstleistende, Sonderpädagogen an allgemeinen Schulen und verschiedenen Förderschulen und viele andere mehr).

Auch wenn der Lehrer einzelne Schüler als Verursacher von Störungen auszumachen glaubt, so lässt sich eine Störung doch niemals vom sozialen Rahmen, also dem Unterrichtsprozess und der Unterrichtssituation, trennen. Die Abkehr von einer nur eindimensionalen, personenbezogenen Ursachenvermutung soll in diesem Begriff ebenfalls zum Ausdruck gebracht werden.

„Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn der Unterricht gestört ist, d. h. wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert, unerträglich oder inhuman wird“ (Winkel 1996, 31, Hervorhebung im Original). Es ist der Versuch, Störungen „vom Unterricht her zu kennzeichnen“ (Winkel 1996, 31). Damit greift die allgemeine Didaktik eine grundlegende Erkenntnis der Heilpädagogik auf: Störungen im Erziehungsprozess lassen sich immer von beiden Seiten her verstehen (Möckel 2007).

Die vorliegende Darstellung will daher in Studium, Fort- und Weiterbildung den Kolleginnen und Kollegen aller Lehrämter dienen, die sich mit problematischen, gestörten und konfliktträchtigen Unterrichtssituationen und den darin verwickelten Personen auseinander zu setzen haben. Einen wichtigen Adressatenkreis stellen insbesondere die Studierenden für das Lehramt an Sonderschulen dar. Aus diesen Intentionen heraus werden folgende Themen bearbeitet:

1.  zur Grundlegung bietet der Band einen Überblick über die in der Allgemeinen Didaktik wichtigen Theorien;

2.  relevante Ergebnisse aus der Allgemeinen Didaktik werden zusammen gefasst;

3.  den besonderen Auftrag der Förderung bei Verhaltensstörungen beschreibt die Empfehlung der Kultusministerkonferenz;

4.  ein geschichtlicher Exkurs zeigt die Entstehung der spezifischen schulischen Förderung und Institution;

5.  spezielle Konzeptionen heilpädagogischer Förderung bei Verhaltensstörungen im Kontext Schule und Unterricht werden referiert;

6.  der Prozess und die Gestaltung der heilpädagogischen Förderung sowie

7.  Reformansätze bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen werden beschrieben; wobei

8.  Beratung bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen und

9.  die Perspektive der Betroffenen, also von Lehrern, Schülern und deren Eltern eine eigene Akzentsetzung erfahren.

Der Leser gewinnt daraus einen Überblick über wissenschaftliche Reflexionen zum Thema Unterrichts- und Verhaltensstörungen, der zu eigenen Entscheidungen und weiterführenden Bildungsbemühungen befähigen kann.

2Didaktische Theorien und Unterrichtsstörungen

Unterricht stellt ein komplexes Phänomen dar. Jeder Ansatz didaktischer Theoriebildung unterliegt daher der Notwendigkeit, diese Komplexität zu reduzieren. Dies geschieht durch zusammenfassende Begriffe und Kategorien, die wiederum zu Aussagesätzen verknüpft werden. Wichtiges wird von Unwichtigem unterschieden, Zusammenhänge werden vermutet und untersucht, Erkenntnisse formuliert, kritisiert und korrigiert – kurz: Theorien werden gebildet. Didaktische Theorien versuchen also, Struktur und (rationale) Ordnung in ein hochkompliziertes Alltagsphänomen zu bringen.

Schlüsselwörter:Didaktische Theorien • Erwartungen • Komplexität • Praxis • differente Theorien der Didaktik

2.1Erwartungen an didaktische Theorien

Damit aber müssen die Erwartungen an jede Form didaktischer Theorie kontrolliert und reflektiert werden. Der häufig vorhandene Wunsch nach Handlungsanleitung durch „Didaktik“ und insbesondere nach Lösung der akuten Schwierigkeiten gestörter Unterrichtsprozesse ist aufgrund des Problemdrucks in praktischen Handlungssituationen nur zu verständlich. Im Sinne einer „Rezeptologie“, etwa der Art: „bei dieser Störung benutze man jene Technik oder jene Therapie“, können solche Erwartungen jedoch nur enttäuscht werden.

Bleidick (1987) hat aus sonderpädagogischer Sicht die Gründe für die bleibende und unvermeidliche Differenz von Theorie und Praxis nachgewiesen. Die Theorie sucht nach typischen Vorgängen, untersucht einen Aspekt mit dem Ziel einer genauen Identifizierung der Probleme und Begriffe, um daraus eine konsequente Ordnung und Struktur des begrifflichen Systems unter Ausschaltung situativer Variablen zu konstruieren. Sie reduziert dafür Beziehungen auf formale Konstanten, ihre Erkenntnis wird durch eine Methode angeleitet und – nicht zu vergessen – dies alles geschieht unter Eliminierung von Zeit und ohne Handlungsdruck. Der unterrichtlich Handelnde, der „Praktiker“, ist dagegen in einen Gesamtprozess eingebunden, der von vielen situativen Variablen bestimmt wird, die sein Handeln unter Zeit- und Erfolgsdruck setzen.

Ist didaktische Theorie also „nutzlos“ – was übrigens nicht gleichbedeutend mit sinnlos wäre? Die Problematik des Zusammenhangs von Theorie und Praxis in Pädagogik und Didaktik kann hier nicht eingehender diskutiert werden. Aber ich möchte auf zwei weiterführende Lösungsansätze hinweisen. Winfried Böhm (1985) trifft in Anlehnung an Aristoteles die wichtige Unterscheidung zwischen „Theorie“, „Praxis“ und „Poiesis“: Während „Praxis“ die situative Klugheit und Bildung des Handelnden im Entscheidungsprozess verlangt, die prinzipiell offen und nie nur zweidimensional, etwa richtig oder falsch ist, verlangt „Poiesis“ die Anwendung einer Technik oder eines handwerklichen Machens. Didaktisches Handeln lässt sich in seiner Struktur als praktisches Handeln, damit dem politischen Handeln ähnlich, identifizieren. Für ein solches Handeln aber entspricht die Anwendung einer Technologie nicht der geforderten Struktur. Jürgen Oelkers (1984) sieht den Zusammenhang von Theorie und Praxis als unterschiedene Ebenen eines Diskurses, in dem die teilnehmenden Personen unterschiedlichen Anforderungen ausgesetzt sind. Auch der „Praktiker“ muss sich verantworten und reflektieren – und das verlangt nach Wissenschaft. „Theorie“ kann ihm neue Verstehenszusammenhänge und Handlungsalternativen aufzeigen, die er dann in einem auf professioneller Bildung basierenden Entscheidungsprozess auswählen und erproben kann.

Eine solche, eher ernüchterte Erwartungshaltung ist der Auseinandersetzung mit didaktischer Theorie zugrunde zu legen. Die Ernüchterung wird noch verstärkt durch die Beobachtung, dass differente Theorien der Didaktik vorliegen, die z. T. in prononcierter Konkurrenz zueinander stehen. Die Unterschiede resultieren im wesentlichen aus einem unterschiedlichen Verständnis von Wissenschaft. In diesem Rahmen beschränke ich mich auf drei didaktische Theorien: die bildungstheoretische, die lerntheoretische und die kritisch-kommunikative Didaktik. Diesen Ansätzen liegen ein geisteswissenschaftliches, analytisches bzw. kritisches Verständnis von Wissenschaft und Theorie zugrunde. Die verschiedenen Ansätze haben sich jedoch in den Diskussionen der letzten zwei Jahrzehnte deutlich aufeinander zu bewegt. Eine detailliertere Darstellung und einen Überblick zu weiteren wichtigen Didaktiken, insbesondere zur kybernetischen Didaktik oder zur curricularen Didaktik, bietet das Lehrbuch von Peterßen (1989). Anschließend erfolgt der Rückgriff auf eine empirisch fundierte Theoriebildung der Didaktik, die eine zunehmende Bedeutung errungen hat und wesentliche Kriterien für eine erfolgreiche Gestaltung des Unterrichts bereitstellt.

2.2Die bildungstheoretische Didaktik

Die älteste und dennoch aktuelle Konzeption von Didaktik ist die bildungstheoretische Didaktik. Führende Vertreter sind Herman Nohl, Erich Weniger und Wolfgang Klafki. Sie entwickelte sich aus der Reflexion reformpädagogischer Schul- und Unterrichtsreformen mit ihren zentralen Motiven der Arbeitsschule, der Entwicklungsgemäßheit und der Gemeinschaft. Damit stellte sie sich in dezidierten Gegensatz zur Herbartschen Formalstufenlehre (vgl. Kap. 3.2.1).

Der hier zentrale Begriff der „Bildung“ wird verstanden als Prozess und Ergebnis der Menschwerdung, als innere Haltung und Geformtheit des Menschen (Klafki, z. B. 1985). Die innere Formung des jungen Menschen geschieht durch seine Begegnung mit der kulturellen Wirklichkeit. Dieser Prozess erfordert Anregung, Hilfestellung und Förderung – dazu ist Unterricht und Lehren notwendig. Demnach besitzt jeder Bildungsprozess zwei Seiten: Durch Bildung wird die Wirklichkeit dem Menschen und der Mensch für die Wirklichkeit erschlossen. Diese doppelseitige Erschließung charakterisiert Bildungsprozesse, andere Lernprozesse finden keine Beachtung. Bildung besitzt einen materialen (Inhalte, Wissenserwerb) und einen formalen (Fähigkeiten, Methoden) Aspekt. Die Verknüpfung beider Aspekte in ausgewählten Bildungsinhalten führt zu einer Formung und Veränderung der Kenntnisse wie der Fähigkeiten des werdenden Menschen – sie ist „kategoriale Bildung“, wie Klafki in seiner Dissertation herausgearbeitet hatte.

Die Aufgabe der Didaktik ist nun die Auswahl derjenigen Bildungsinhalte, die für diese Erschließung repräsentativ und für das Kind angemessen sind. In den Bildungsinhalten begegnet der Zögling der Wirklichkeit, wenn ein Inhalt für viele andere Kulturinhalte stehen kann. Damit aber steht für die bildungstheoretische Didaktik der Inhalt an erster Stelle vor der Methode. Es werden sieben verschiedene Grundformen der kategorialen Bildung identifiziert, z. B. das Fundamentale, das Exemplarische, das Typische, das Klassische oder das Repräsentative. Didaktische Theorie beschäftigt sich mit der Auswahl und Anordnung der bildenden Kulturinhalte. Als Handlungsanleitung für die Unterrichtsvorbereitung entwickelte die bildungstheoretische Didaktik die „didaktische Analyse“, in der der Lerninhalt auf seinen Bildungsgehalt hin untersucht wird.

Um einen Überblick über die didaktischen Theorien und ihre Strukturen zu gewinnen, werden die Grundlagen jeweils in einer Tabelle dargestellt. Entscheidend ist dabei

•  das Verständnis der Bedingungen, unter denen didaktische Prozesse stattfinden,

•  die der Theorie zugrunde liegende Absicht oder Intention,

•  die angenommenen Entscheidungsfelder,

•  die herausgearbeitete Struktur des Lehr-Lern-Prozesses und

•  das für den Lernenden postulierte Ziel von Lernprozessen.

Anhand dieser Kategorien lassen sich die drei wichtigsten Entwürfe allgemeiner Didaktik vergleichen.

Tab. 1: Bildungstheoretische Didaktik

Bedingungsfeld:

Mensch – Kultur – Geschichte

Intention:

Entscheidungsfelder:

Struktur:

Ziel:

kategoriale Bildung

Bildungsinhalte – Gestaltung der Begegnung

Primat der Didaktik i. e. S. (Lernziel und

Lerninhalt), davon ist der Unterricht und seine

Gestaltung (Methoden und Mittel) abhängig

Erschließen der Wirklichkeit/des Menschen für

die Wirklichkeit

Schlüsselwörter:bildungstheoretische Didaktik • Zentralbegriff Bildung • Didaktik – Bildungsprozess • Geschichtlich-kulturelle Wirklichkeit • materialer/formaler Aspekt der Bildung • kategoriale Bildung • Bildungsinhalte • didaktische Analyse

2.3Die lerntheoretische Didaktik

Auf der Basis eines empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriffs tritt in den 1960er Jahren die lerntheoretische Didaktik in Konkurrenz zum bildungstheoretischen Ansatz. Vertreter sind P. Heimann, G. Otto und W. Schulz. Bei diesen Didaktikern steht der Begriff des Lernens – allerdings nicht auf behavioristischer Grundlage – im Zentrum. Im Gegensatz zum ideologiebelasteten Terminus Bildung – so die damalige Diskussion – soll „Lernen“ realitätsnäher und wertneutral sein. Als Forschungsgegenstand erkennt die lerntheoretische Didaktik folglich das „Lernen und Lehren“ und die Erfassung aller dafür relevanten Faktoren. Die Aufgabe didaktischer Reflexion wird ausgeweitet und Didaktik wird zur Theorie des Unterrichts, des Lehrens und Lernens überhaupt. Dieser umfassenden Aufgabe versucht die lerntheoretische Didaktik gerecht zu werden, indem sie dem Lehren und Lernen zugrunde liegende Strukturen aufdeckt und im so genannten Berliner Modell der Didaktik zusammenfasst.

Dabei werden zwei Bedingungsfelder, also dem Unterricht vorgegebene Strukturen, und vier Entscheidungsfelder, die Handlungsmöglichkeiten des Lehrers, unterschieden. Zu den Bedingungsfeldern, denen Lehren und Lernen unterliegt, zählen die soziokulturellen Voraussetzungen, etwa die in der Gesellschaft bestehenden Werte und Normen, das Bildungssystem, die Wirtschaftsordnung. Dazu gehören außerdem die anthropologisch-psychologischen Voraussetzungen, etwa das Alter, der Entwicklungsstand, die Vorkenntnisse oder die soziale Herkunft. Diese Bedingungen sind für das Ziel einer möglichst optimalen Gestaltung des Unterrichts zu berücksichtigen. Der Lehrende hat unter diesen Bedingungen vier Entscheidungen zu treffen, über

1.  die Intentionen, gegliedert in kognitive, affektive und pragmatische Lernziele;

2.  die Inhalte, also Erkenntnisse der Wissenschaften oder grundlegende Techniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die im Unterricht zu vermitteln sind;

3.  die Methoden, etwa das Verfahren bei der Motivierung, Darbietung oder Lernzielkontrolle, und

4.  die Medien, die zur Vermittlung der Lerninhalte herangezogen werden.

Zwischen diesen Entscheidungen besteht ein innerer Bedingungszusammenhang, sie beeinflussen und verändern sich gegenseitig – die Entscheidungsfelder stehen in gegenseitiger „Interdependenz“. Die Interdependenz der Entscheidungsfelder weist daher die These vom Primat der Didaktik i. e. S. zurück. Mit der ausdrücklichen Untersuchung der Bedingungen des Unterrichts sollen ideologisch-politische Instrumentalisierungen aufgedeckt und zurückgewiesen werden können. Zur Handlungsanleitung für die Unterrichtsvorbereitung entwickelte die lerntheoretische Didaktik das 4-Spalten-Schema, in dem die vier Entscheidungsfelder nebeneinander stehen und das in unendlichen Variationen immer noch weite Verbreitung für die Planung von Unterricht besitzt.

Tab. 2: Lerntheoretische Didaktik

Bedingungsfelder:

Soziokulturelle und anthropologisch-psychologische Voraussetzungen

Intention:

Entscheidungsfelder:

Struktur:

Ziel:

Optimale Gestaltung des Unterrichts

Intention (kognitiv, affektiv, instrumentell) – Inhalt – Methode – Medien

Interdependenz der Entscheidungsfelder, Berücksichtigung der Voraussetzungen

anthropologisch: Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse; soziokulturell: Innovation und Stabilität

Schlüsselwörter:lerntheoretische Didaktik • Zentralbegriff Lernen • Didaktik – Unterricht • Berliner Modell • Bedingungen • soziokulturelle Voraussetzungen • anthropologisch-psychologische Voraussetzungen • optimale Gestaltung des Unterrichts • Entscheidungsfelder • Interpendenz

2.4Die kritisch-kommunikative Didaktik

Im Gefolge der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und ihrer Rezeption der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwickelte sich in der Pädagogik die Kritische Erziehungswissenschaft (Mollenhauer), deren didaktisches Pendant die „Kritisch-kommunikative Didaktik“ darstellt. Hauptvertreter sind K.-H. Schäfer, K. Schaller und R. Winkel. Kritisch-kommunikative Didaktik basiert auf dem kritisch-aufklärerischen Wissenschaftsbegriff der Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno, Habermas), der durch Ideologiekritik eine Aufklärung über gesellschaftliche Verhältnisse und die Reform der Herrschaftsverhältnisse anstrebt. Das Ziel der Erziehung wie des Lernens besteht demnach in der „Emanzipation“, der Befreiung des Menschen aus ungerechten, repressiven Verhältnissen.

Unterricht in kritisch-kommunikativer Perspektive soll zu einer solchen, gerechteren Gesellschaft beitragen. Unterricht gilt als kommunikativer Prozess, der durch eine Inhalts- und eine Beziehungsdimension geprägt wird, wobei letztere Priorität besitzt. Während auf der Inhaltsebene vor allem ideologiekritische Arbeit geleistet werden sollte, verlangt die kritisch-kommunikative Didaktik eine repressionsfreie Gestaltung der Beziehungsebene als Bedingung für eine Ermöglichung von Emanzipation der Lernenden. Durch Metakommunikation, also Kommunikation über die ablaufende Kommunikation und ihre Strukturen, sollen die Schüler eine gleichberechtigte Gestaltungsmöglichkeit von Unterrichtsprozessen erhalten. Die Forderung nach rationalem Diskurs und symmetrischer Kommunikation stellt zugleich eine grundlegende Kritik an den älteren Didaktik-Modellen dar.

Handlungsanleitende Entwürfe und beispielhafte Unterrichtsplanungen, die die Realisierung so hoher Ansprüche verdeutlichen, blieb die kritisch-kommunikative Didaktik lange schuldig. Sie sind erst ansatzweise verwirklicht. Die kritisch-kommunikative Didaktik hat vielmehr auf Kategorien und Handlungsvorschläge der früheren Ansätze zurückgegriffen, diese kritisch diskutiert und mit eigenen inhaltlichen Schwerpunkten versehen.

Tab. 3: Die kritisch-kommunikative Didaktik

Bedingungsfelder:

Soziokulturelle und anthropologisch-psychologische Voraussetzungen

Intention:

Entscheidungsfelder:

Struktur:

Ziel:

Emanzipation als Voraussetzung und Ergebnis

des Unterrichts

Inhaltsdimension und Beziehungsdimension

Unterricht als Kommunikationsprozess mit der Möglichkeit der Metakommunikation

Emanzipation

Schlüsselwörter: kritisch-kommunikative Didaktik • Frankfurter Schule • Ziel „Emanzipation“ • Inhalts- und Beziehungsdimension • Metakommunikation • rationaler Diskurs • systematische Kommunikation

2.5Didaktik heute

Zwischen diesen verschiedenen Modellen lassen sich deutliche Weiterentwicklungen und Annäherungen erkennen (Peterßen 1989). Klafki (1987) bspw. nennt seine didaktische Konzeption inzwischen ein „kritisch-konstruktives“ Modell, Schulz berücksichtigt in seinem Hamburger Modell nunmehr ebenfalls gesellschaftspolitische Zusammenhänge und fordert eine partnerschaftliche Gestaltung des Unterrichts. Die kritisch-kommunikative Didaktik greift ausdrücklich die Kategorien der anderen Didaktik-Modelle auf (Winkel 1992a).

Welche der didaktischen Konzeptionen eignet sich nun in besonderer Weise für die Reflexion von gestörten Unterrichtsprozessen? Welche didaktische Theorie berücksichtigt die Probleme des Unterrichtens von Schülern mit Verhaltensstörungen?

Schlüsselwörter: Didaktik heute • Kritisch-konstruktive Didaktik • Hamburger Modell • Kommunikative Didaktik • Vertreter der Richtungen

2.6Verortung in der kritisch-kommunikativen Didaktik

Nur in der kritisch-kommunikativen Didaktik kommt die Problematik gestörter Unterrichtsprozesse zu systematischer Geltung. Von diesem Ansatz gehen auch relevante Forschungsaktivitäten zum Themenbereich Unterrichtsstörungen, auffälliges Schülerverhalten oder didaktisches Handeln unter erschwerten Bedingungen aus (Benikowski 1995; Mand 1995, Winkel 1994, 1995). Aufgrund der ausdrücklichen Thematisierung von solchen Problemsituationen liegt es nahe, die folgenden Überlegungen auf diese Konzeption einer kritisch-kommunikativen Didaktik zu stützen. Daher ist ein Überblick über grundlegende Kategorien dieser didaktischen Theorie hilfreich für eine Grundlegung zur Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörungen. Unterrichtsprozesse sind demnach durch vier Aspekte strukturiert:

1.  der Vermittlungsaspekt: die Lernakte, Medien, Methoden, Artikulation und Organisation des Unterrichts;

2.  der Inhaltsaspekt: Lehrplan, Sache, Sacherfahrung;

3.  der Beziehungsaspekt: Formen, Richtungen und Elemente der Interaktion;

4.  der störfaktoriale Aspekt: Störungsarten, Festlegungen von Störungen, Störungsrichtungen, Störungsfolgen und Störungsursachen.

Diese strukturellen Kategorien stehen nach Winkel in einem Interdependenzverhältnis, wie es die lerntheoretische Didaktik für die vier Entscheidungsfelder formulierte. Die Bedingungen und Entscheidungen in einem Bereich führen zu Konsequenzen in den anderen Bereichen, sie bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Die kritisch-kommunikative Didaktik berücksichtigt erstmals auch den Faktor der Störung. Damit gewinnt die Unterrichtsstörung eine vergleichbare Bedeutung für die Analyse und Planung von Unterricht (Winkel 1987).

Schlüsselwörter: Verortung • 4 Aspekte des Unterrichtsprozesses • Analyse • Planung

2.7Der Aspekt des Störfaktors

Wie versteht die kritisch-kommunikative Didaktik den Aspekt des Störfaktors? Erfolgt eine einseitige Ursachenzuschreibung an die Schüler? Also ist hier der verhaltensgestörte Schüler die Ursache des gestörten Unterrichts?

Schon vom Ansatz her betont die kritisch-kommunikative Didaktik die Interaktion, die prinzipiell sensibel und störanfällig ist, meist ohne dass man eine Ursache erkennen oder einen Interaktionspartner verantwortlich machen kann. Vielmehr unterliegen die Unterrichtsprozesse bestimmten Bedingungen, die eben auch zu Störungen führen können. Die Prozesse selbst können in unerwünschter Weise eine Eigendynamik entwickeln. Auch die möglicherweise störenden Interaktionsformen der beteiligten Partner stellen Komplikationsfaktoren dar. Störungen sind damit nie eindimensional oder nur vom Schüler verursacht – die pädagogisch-didaktische Kompetenz des Lehrers gehört mit zum Prozess des gestörten Unterrichts! Auch psychische Erkrankungen, Störungen aus dem Außenbereich, Störungen durch schlechten Unterricht, durch gesellschaftliche oder institutionelle Verursachungen werden ausdrücklich berücksichtigt (Winkel 1987). Insbesondere Rainer Winkel bearbeitete diesen Problembereich eingehend (Winkel 1988, 1989, 1994, 1995).

Abb. 2: Unterrichtsstrukturen gemäß kritisch-kommunikativer Didaktik (Winkel 1987, 85)

So sehr aus der Sicht der Pädagogik bei Verhaltensstörungen die Untersuchung des Störfaktors zu begrüßen ist, muss doch andererseits auch Kritik geübt werden. Die wissenschaftliche Basis, die zur Thematisierung von Unterrichtsstörungen herangezogen wird, erscheint veraltet und einseitig. So sind nicht nur tiefenpsychologische und gesellschaftskritische Erkenntnisse von Bedeutung, wie sie etwa in der „Pädagogischen Psychiatrie“ dominieren (Winkel 1995), vielmehr gibt es eine ganze Reihe wichtiger Erkenntnisse aus anderen theoretischen Richtungen (Juul 1978).

Nicht nur aus der Sicht der Pädagogik bei Verhaltensstörungen sondern auch aus der Perspektive der Didaktik trifft der Aspekt des Störfaktors auf Kritik. Klafki erkennt durchaus an, dass dieser Faktor eine wichtige Bereicherung didaktischer Reflexion darstellt. Aber die entscheidende Frage nach der Position und Bedeutung dieses Faktors bleibt weitgehend unbeantwortet:

„Darüber hinaus ist mir auch noch nicht ganz klar, welchen systematischen Stellenwert der Aspekt ,Störungselemente im Unterricht‘ eigentlich in einer Planungstheorie haben muß; es scheint mir aber eine notwendige theoretische Aufgabe, dies zu bestimmen.“ (Klafki in Gudjons 1987, 108)

Die Position dieses wichtigen Faktors ist also noch nicht systematisch geklärt. Dennoch bleibt es das Verdienst der kritisch-kommunikativen Didaktik, damit den Blick von der Illusion optimaler Lernprozesse weg auf die Realität gestörter Unterrichtsprozesse gelenkt zu haben. Wie solch eine veränderte, wissenschaftlich reflektierte Didaktik aussehen könnte, soll anhand neuerer Erkenntnisse der Pädagogik bei Verhaltensstörungen demonstriert werden.

Schlüsselwörter: Störfaktor • Komplikationsfaktoren • didaktische Reflexion • systematische Position

2.8Der empirische Zugang: Das Angebots-Nutzungs-Modell des Unterrichts

Seit den 1990er Jahren erfolgten auch im deutschen Bildungssystem zahlreiche große Untersuchungen zur Wirksamkeit des deutschen Schulsystems wie etwa TIMSS, PISA, IGLU oder DESI, die auf empirisch-quantitativer Basis den Vergleich zu den Bildungssystemen anderer Länder erlaubten. Diese Studien stellen für den deutschen Sprachraum zugleich den Durchbruch empirischer Bildungsforschung gegenüber den früheren didaktischen Ansätzen dar. Die empirischen Befunde lösten gerade durch den internationalen Vergleich der Ergebnisse zahlreiche politische Initiativen aus, die zu einer Verbesserung der Lernerfolge von Schülern führen sollten (Schavan 2004