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Blade Runner meets Killing Eve – Maud Woolf lässt in ihrem messerscharfen SF-Thriller-Debüt einen Klon in einem futuristischen Los Angeles Jagd auf ihre Schwestern machen. Als der 13. Klon einer berühmten Filmschauspielerin hat Lulabelle Rock es nicht leicht. Schon weil sie kurz nach ihrer Geburt eine Pistole in die Hand gedrückt bekommt zusammen mit dem Auftrag, alle früheren Versionen ihrer selbst umzubringen, die in Bubble City unterwegs sind. Was als Marketing-Coup beginnt, nimmt als Killing-Spree seinen Lauf und verwandelt sich, Mord für Mord, in die Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen. Was macht uns als Individuum aus? Wie kann man seine Freiheit finden, in einer Welt, in der jede Handlung vorherbestimmt zu sein scheint? Eins ist klar: Am Ende ihrer langen Reise durch die Nacht wird Lulabelle Rock nicht mehr dieselbe sein. Für Leser*innen von Blake Crouch, Naomi Alderman und Fans von Black Mirror
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Seitenzahl: 352
Maud Woolf
Als der 13. Klon einer berühmten Filmschauspielerin hat Lulabelle Rock es nicht leicht. Schon weil sie kurz nach ihrer Geburt eine Pistole in die Hand gedrückt bekommt zusammen mit dem Auftrag, alle früheren Versionen ihrer selbst umzubringen, die in Bubble City unterwegs sind. Was als Marketing-Coup beginnt, nimmt als Killing-Spree seinen Lauf und verwandelt sich, Mord für Mord, in die Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen. Was macht uns als Individuum aus? Wie kann man seine Freiheit finden, in einer Welt, in der jede Handlung vorherbestimmt zu sein scheint? Eins ist klar: Am Ende ihrer langen Reise durch die Nacht wird Lulabelle Rock nicht mehr dieselbe sein.
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Maud Woolf lebt und arbeitet in Schottland. Wenn sie nicht gerade die labyrinthischen Unterwelten von Glasgow erforscht, sieht sie sich zuhause Hollywood-Filme an und versucht dabei zu stricken. Ihre Kurzgeschichten erschienen in zahlreichen Magazinen, »Die 13 Tode der Lulabelle Rock« ist ihr erster Roman.
Kapitel Null Der Narr
Kapitel Eins Der Magier
Kapitel Zwei Die Hohepriesterin
Kapitel Drei Die Kaiserin
Kapitel Vier Der Kaiser
Kapitel Fünf Der Hierophant
Kapitel Sechs Die Liebenden
Kapitel Sieben Der Streitwagen
Kapitel Acht Stärke
Kapitel Neun Der Eremit
Kapitel Zehn Das Glücksrad
Kapitel Elf Die Gerechtigkeit
Kapitel Zwölf Der Gehängte
Kapitel Dreizehn Tod
Epilog Mäßigung
Danksagung
Die Sonne scheint, als sich der Narr auf die Reise begibt. All seinen Besitz hat er sich um die Schulter gehängt, und in der Hand hält er eine weiße Rose. Ein sorgloser Vagabund, der nur zum Horizont blickt, ohne zu ahnen, dass er gleich über den Rand eines Abgrunds schreiten wird.
Lulabelle Rock nippt erneut an ihrem rosa Smoothie. Ein pastellfarbener Tropfen fällt auf ihren weißen Bademantel, wo der Frotteestoff ihn sogleich aufsaugt. Sie bemerkt es nicht, und falls doch, lässt sie sich nichts anmerken.
Stattdessen schmatzt sie kurz und sieht mich freiheraus und ernst an.
»Darf ich dir von meinem neuen Film erzählen? Er ist ein Riesenflop. Ein Desaster.«
Ich weiß nicht genau, ob ich nicken soll. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie mich ernsthaft um Erlaubnis bittet. Sie fährt nicht fort, neigt leicht den Kopf zur Seite und wartet ab.
Wir schauen einander einen Moment lang an, dann lenke ich ein. »Ja, bitte.«
Stolz strafft Lulabelle den weißen Seidenschal um ihr Haar. Eine blonde Locke löst sich und baumelt gefährlich nahe an ihren üppigen erdbeerfarbenen Lippen.
»Also …« Sie beugt sich über den Tisch. »Als ich den Vertrag unterschrieb, hielt ich das für eine sichere Sache. Spencer – mein Agent Spencer – meinte, das sei eher ein Projekt, das man durchziehen und dann das Weite suchen sollte. Das Weite suchen. Ist das nicht clever?«
Ich stimme murmelnd zu.
»Tja, es ist eine Adaption. Irgend so ein Arthouse-Ding. Aus Schweden, Polen, Italien oder so. In Schwarzweiß. Mit Untertiteln. Das volle Programm. Der Regisseur, und versteh mich nicht falsch, er ist gut, weißt du, einer der besten … er liebt das Projekt schon, seit er ein hungernder Student an der Filmakademie war. Der Titel lautet: Medea. Es ist die Geschichte einer Mutter.«
»Spielst du sie?«, frage ich.
Wir sitzen draußen auf dem Balkon, und zwischen uns steht ein großer Glastisch. Als die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, verwandelt er sich in eine blendende Lichtscheibe. In diesen kurzen Momenten ist mir zumute, als unterhielten wir uns über die Oberfläche des Mondes hinweg.
»Natürlich«, antwortet sie, offenbar leicht beleidigt. »Jedenfalls hat diese Mutter Kinder.«
»Klar.«
»Zwei Kinder. Zwei kleine Jungs. Und es gibt natürlich auch einen Vater … Wie auch immer, sie leben alle in einem großen alten Haus auf dem Land. Da ist es sehr feucht und diesig. Vielleicht England – sumpfige Gegend.«
»Sind sie glücklich?«, frage ich.
»Oh, ich glaube schon.« Lulabelle schlürft an ihrem Drink. »Sie sind bestimmt glücklich. Aber dann bricht ein Krieg aus. Oder er tost schon seit einer Weile … das ist nicht ganz klar, glaub ich. Jedenfalls muss der Vater losziehen. Er ist Soldat, weißt du? Also geht er fort und lässt die Mutter zurück.«
»Mit den Kindern?«
»Klar. Dann vergehen die Jahre, während sie in dem unheimlichen Haus leben und ständig Radio-Nachrichten über den Krieg hören, in diesen Sendungen von früher, du weißt ja, wie die sind. Und die Mutter ist so verängstigt und paranoid, ganz allein in dem großen alten Haus.«
»Mit den Kindern«, erinnere ich sie, und sie wedelt ungeduldig mit den glänzend lackierten Fingernägeln.
»Ja, ja, ist doch klar. Aber sie hat Angst. Ist furchtbar schreckhaft. Ständig malt sie sich aus: Was passiert, wenn es zu einer Invasion kommt? Wird der Feind uns finden? Was macht er mit uns? Und dann, nach vielen, vielen Jahren, klopft es an der Tür.« Lulabelle hält inne und sieht mich bedeutungsschwanger an.
Nach einem Moment begreife ich, dass ich offenbar raten soll. »Ist es ihr Ehemann?«
»Tja.« Sie stößt den Atem aus. »Ja. Aber das ist erst mal nicht klar. Es könnte jeder sein. Jedenfalls glaubt sie, es ist der Feind, der sie abschlachten und ihren Babys unaussprechliche Dinge antun will. Also tötet sie sie.«
»Wen? Den Feind?«
»Nein … die Kinder.« Sie lässt in jeder Silbe pures Entsetzen mitschwingen. »Sie ermordet ihre eigenen Kinder, damit der Feind ihnen nichts tun kann. Und dann, als beide tot sind, öffnet sie die Tür, mit einem Küchenmesser in der Hand. Und wer steht draußen?«
Ihre gewölbte Augenbraue lugt über den Rand ihrer Sonnenbrille. Kurz sehen wir einander ausdruckslos an.
»Der Ehemann?«, frage ich.
»Der Ehemann!« Entzückt klatscht sie in die Hände. »Und das ist das Ende.«
Ich denke darüber nach. »Hm. Und das ist ein Schwarzweißfilm?«
»Das Original schon.« Sie zuckt mit den Schultern. »Aber unsere Version nicht. Unsere ist wunderschön ausgeleuchtet. In Rot und Blau und so weiter. Hast du je Suspiria gesehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht, aber angeblich ist unser Film genauso. Wir wollten nicht so ein teures, trashiges Studio-Remake machen, das komplett in Pastelltönen gehalten und für den garantierten Erfolg geglättet ist. Wir wollten – der Regisseur wollte – das Ganze blutig gestalten. Brutal. Das war seine Formulierung. Unerschrocken.«
»War ihm das Original nicht blutig genug?« Allmählich bekomme ich Kopfschmerzen von der Sonne. Scheußlich. Kopfschmerzen bin ich nicht gewohnt.
Lulabelle Rock trägt eine große Sonnenbrille. Sie kann mich unbeschwert ansehen, ich hingegen muss die Augen zusammenkneifen, um den rosafarbenen Fleck auf ihrem weißen Bademantel zu sehen, den gepflegten Garten, der sich hinter ihr erstreckt, den azurblauen Swimmingpool in der Ferne und die makellosen Formschnitthecken. Hier draußen auf dem Land ist es schön. Der Anblick gleicht einem Filmset oder einem gemalten Hintergrund, so perfekt ist er. Am Rand des Anwesens muss ein Zaun stehen, der die Unberührtheit wahrt, aber von hier aus kann ich ihn nicht sehen.
»Beim Original war das alles …« Sie hält inne und tippt sich mit dem stahlblau lackierten Fingernagel auf einen Eckzahn. »… größtenteils in die Handlung eingebettet. Die Gewalt. Die Reaktion der Figur in Nahaufnahme. Geschmackvoll verteilte Blutspritzer an der Wand. Eine Kinderhand, die einen Spielzeugtruck in Zeitlupe fallen lässt. Bla, bla, bla. So was wollten wir nicht. Wir wollten aufs Ganze gehen. Etwas so Entsetzliches schaffen, dass das Publikum am liebsten wegsehen würde. Es aber nicht kann. Verstehst du?«
»Ihr habt die Mordszene gezeigt?«
»Extrem detailliert. Die war wirklich widerlich. Und originell. Die Sterbeszenen dauern zwanzig Minuten pro Kind. Eimerweise Blut. Was natürlich nervig war, denn erstens gibt das schnell Flecken, und zweitens ist das Zeug genießbar, so dass die Kinder es sich ständig von den Lippen geleckt haben, obwohl sie sich tot stellen sollten.«
Ein dunkler Schatten wandert über ihr Gesicht.
»Arbeite nie mit Kindern«, rät sie mir eindringlich. »Die glauben, es geht nur darum, sich zu verstellen. Sie rauben der Schauspielerei alle Würde.«
»Nie mit Kindern«, verspreche ich.
Sie seufzt. »Jedenfalls sollte das Ganze ein Meisterwerk werden. Die Rolle, die mir Anerkennung einbringt. Nie wieder die Ehefrau spielen, die schüchterne Sekretärin oder das Partyluder. Nie mehr extrem teuren Bullshit mit Motion-Capture, Greenscreen und CGI oder als Synchronstimme für Snicklesnork den Troll herhalten.«
»Ich bin sicher, du warst großartig in der Rolle.«
»Die Kritiker waren mir gewogen.« Sie zuckt anmutig mit den Schultern und zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche, dazu ein billiges Plastikfeuerzeug. Der Glimmstängel schwebt vor ihrem Mund, ihr Gesicht ist dem weitläufigen Garten zugewandt. Für einen Moment sieht sie aus wie Lulabelle Rock, der Filmstar.
»Medea sollte meine Rettung sein«, sagt sie mit zitternden Lippen und shakespearischer Theatralik. »Aber es sieht so aus, als würde das Projekt meine Karriere zu Grabe tragen. Die Vorabvorführungen waren ein Desaster. Katastrophal, meint Spencer.«
»Fand das Publikum den Film abstoßend?«
»Nein«, sagt sie bedrückt. »Schlimmer. Sie fanden ihn langweilig. Bestenfalls komisch. Spencer meinte, die Leute hätten gekichert, als der kleine Robbie mit der Axt erschlagen wurde.«
»Das tut mir leid.«
»Ich glaube, die Kunst ist tot – aber was geschehen ist, ist geschehen.«
Ich lächle mitfühlend, höre aber schon nicht mehr richtig zu. Ich beäuge die Zigarettenschachtel. Sie liegt fast genau mittig zwischen uns. LUCKY GIRL steht in großen schwarzen Buchstaben darauf. Die klobige Schriftart mutet leicht autoritär an. Will sie mir vermitteln, dass ich ein glückliches Mädchen bin? Oder sind die Zigaretten ausschließlich für Mädchen, die schon glücklich sind? Vielleicht ist man schon glücklicher, wenn man sie einfach raucht.
»Der Film kommt in einer Woche raus.« Lulabelle schlägt plötzlich einen geschäftsmäßigen Ton an. »Ich brauche ein bisschen Presse. Damit Interesse generiert wird. Etwas, das den Film von einem peinlichen Machwerk in einen Kult-Hit verwandelt. Ich glaube, es ist okay, wenn man einen schlechten Film gemacht hat, solange er zum Kult-Hit wird. Das sagt jedenfalls Spencer. Und da kommst du ins Spiel.«
»Ich?«, frage ich überrascht.
»Na klar. Willst du gar nicht wissen, wieso du hier bist? Warum ich dich erschaffen habe?«
Ich blinzele. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht darüber nachgedacht. Unvermittelt überkommt mich das starke Gefühl, am falschen Ort zu sein.
»Wie lange sitzen wir hier schon?«, frage ich.
Lulabelle Rock sieht mich kühl über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg an. »Dein ganzes Leben schon. Seit zwanzig Minuten, wenn du es genau wissen willst. Du weißt aber, wer du bist, oder?«
Wieder blinzle ich und schaue auf meine metallblauen Fingernägel. Ich bewege die Finger auf und ab, und die Nägel scheinen verschwommene blaue Bahnen hinter sich herzuziehen. Meine Kopfschmerzen haben ihren schrillen, stechenden Höhepunkt erreicht.
»Ich bin Lulabelle«, sage ich. »Lulabelle Rock.«
Lulabelle lächelt teilnahmsvoll und tätschelt mir brüsk die Hand. »Eine Lulabelle Rock«, korrigiert sie mich. »Ich bin die Lulabelle Rock. Nimm dir eine Zigarette. Das hilft.«
»Ich rauche nicht. Das ist nicht gut für meinen Teint.«
»Nein«, sagt Lulabelle leicht ungeduldig. »Ich rauche nicht. Ich muss mich um meine Karriere sorgen. Und um meine Gesundheit. Und um Zeitschriften-Cover. Du kannst tun, was du willst.«
Ich greife zur Zigarettenschachtel und reiße die Folie ab. Unbeholfen ziehe ich einen der makellos weißen Stängel heraus und klemme ihn mir zwischen die Lippen. Ich versuche dreimal, das Feuerzeug zu zünden, schließlich seufzt Lulabelle und nimmt es mir zusammen mit der Zigarette ab. Sie zieht eine zweite Zigarette aus der Packung, steckt sich beide zwischen die Lippen, zündet das Feuerzeug an, und für einen Moment spiegeln sich zwei Flammen in den dunklen Gläsern ihrer Brille.
»Hier«, sagt sie und reicht mir eine. »Inhaliere. Glaub mir, du hast schon bald den Dreh raus. Ist bei allen so.«
»Wer sind ›alle‹?«, frage ich, und die Zigarette wackelt gefährlich in meinem Mundwinkel.
»Die anderen Porträts. Mittlerweile habe ich so einige erschaffen. Du bist mein dreizehntes.«
»Unglückszahl«, murmle ich und versuche, ihre Aussage zu begreifen. »Ich kann nicht … ich glaube … ich …«
»Inhaliere den Rauch«, blafft Lulabelle mich an.
Ich folge der Aufforderung, und der Rauch erfüllt meinen Mund, strömt in meine Kehle und erreicht die Mandeln. Ich spüre, wie er in meine Lunge eindringt wie dichter schwarzer Smog, der mich innerlich ausfüllt. Ich habe Angst. Ich huste und würge, Tränen treten mir in die Augen.
Lulabelle verdreht die Augen. »Oh, werd erwachsen. Ein bisschen Rauch hat noch niemandem geschadet. Inhalieren, einhalten und dann ausatmen.«
Ich will das nicht, aber sie beobachtet mich, klopft mit den Fingern auf die Tischplatte, klack, klack, klack. Beim dritten Versuch habe ich den Bogen raus, aber meine Hände zittern noch immer.
»Erinnerst du dich jetzt?«, fragt Lulabelle schließlich. Sie scheint sich wieder im Griff zu haben. Sie lächelt mich sogar an, sanftmütig, als wäre ich ein Kind, das sein Bestes gibt. Als sie an ihrer Zigarette zieht, wirkt es mühelos und einfach.
»Ich glaube schon«, sage ich und krame angestrengt in meinen Erinnerungen.
Mein Gedächtnis hat zwei Ebenen. Ich entsinne mich deutlich an den rosafarbenen Fleck auf Lulabelles Bademantel. Ich erinnere mich an den Glastisch, in dem sich die blendende Sonne spiegelt. An Medea. Und daran, dass ich niemals mit Kindern arbeiten soll. Ich weiß noch, dass ich die Zigarette gehalten habe, als sie noch makellos war. All diese Erinnerungen sind in Technicolor. Ich kann sie riechen. Sie riechen nach dem Waldbeeren-Smoothie, nach Zigarettenrauch und Lulabelles Parfüm.
Unter diesen Erinnerungen schlummern andere in Sepiatönen. Flach und geruchlos wie eine Fotografie. Diese Erinnerungen sind viel weitreichender, sie umspannen dreißig Jahre. Ein Leben. Ich sehe zwei Gesichter. Kann ihnen Namen zuordnen. Eins davon gehört Mum. Das andere Daddy. Ich empfinde nichts für die beiden. Diese Erinnerungen sind wie ein Traum.
»Ich bin auf dem Land aufgewachsen«, sage ich vorsichtig und suche bei Lulabelle Bestätigung. »Deshalb habe ich das hier gekauft. Das Anwesen.«
»Ja«, erwidert sie. »Aber so darfst du nicht denken. Damit verwirrst du dich nur selbst. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Du wurdest nur aus einem Tank in meinem Keller gefischt. Woran erinnerst du dich noch?«
»Ich … du bist in die Stadt gezogen.«
»Ja. Gut.«
»Du bist Schauspielerin.«
»Ja.«
»Du hast das schon mal gemacht.«
»Ja. Zwölfmal. Du bist die dreizehnte. Warum habe ich die anderen erschaffen?«
Ich denke angestrengt nach, und auf der anderen Seite des Tisches lächelt Lulabelle mir zu. Es ist kein sonderlich freundliches Lächeln. Sie entblößt dabei viele Zähne, die wie feuchte Murmeln glitzern.
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
»Ich hab sie gemacht, weil ich ein sehr, sehr beschäftigtes Mädchen bin und der Tag nur eine begrenzte Zahl an Stunden hat. Ich hab sie gemacht, weil ich nur eine Person bin und nicht alles schaffen kann. Ich allein kann der Welt nicht so viel Lulabelle geben, wie sie haben will.«
»Ja.« Mein Kopfschmerz ist zu einem tiefen Summen abgeebbt. Die Wolken brechen wieder auf, und ich zucke im plötzlichen Sonnenlicht zusammen.
»Warum habe ich dich gemacht?«
Ich stocke. Ich kenne die Antwort, bin aber nicht sicher, ob sie wirklich der Wahrheit entsprechen kann. »Du hast mich erschaffen, um sie zu töten. Die, die vor mir kamen.«
»Um sie zu entsorgen«, korrigiert sie mich sanft, doch dann nickt sie, lehnt sich im Stuhl zurück, ohne den Blick von mir abzuwenden, und schlürft in einem letzten Zug ihren Drink aus. Mir wird plötzlich bewusst, wie trocken mein Mund vom Rauch ist. Ich sehe mich in der Hoffnung um, einen hilfreichen Angestellten zu erblicken, der einen Krug mit kaltem, erfrischenden Wasser trägt.
Ich glaube, hier in der Villa gibt es viel Personal. Das Anwesen ist groß. Schwer instand zu halten, aber die Aussicht und Abgeschiedenheit sind es wert. Ich denke und denke. Es tut gut, manchmal aus der Stadt herauszukommen. Die frische Luft wirkt belebend. Das weiß jeder. Oder nicht? Als ich das Anwesen gekauft habe, stand das Personal draußen aufgereiht, um mich zu begrüßen. In meiner Erinnerung sind all ihre Gesichter ausdruckslos.
Sie müssen mich angelächelt haben. Alle lächeln mich an. Lächeln sie an.
»Weißt du, warum ich sie ausmustern will?« Lulabelle runzelt die Stirn. »Rauch weiter. Du aschst den ganzen Tisch voll.«
Ich nehme noch einen halbherzigen Zug. »Ich weiß es nicht«, gebe ich zu. »Das ist seltsam. Ich erinnere mich an das, was ich getan habe, weiß aber nicht mehr, warum ich es getan oder wie ich mich dabei gefühlt habe. Wie kann ich all das so klar vor Augen haben und trotzdem nicht wissen, was ich gedacht habe? Warum kann ich mich nicht daran erinnern?«
Sie zuckt die Schultern, verzieht kurz den rechten Mundwinkel. »Das weiß ich auch nicht. Ich begreife die Technologie nicht ganz. Man hat es mir erklärt, aber das war ein sehr langweiliger Vortrag. Stell’s dir wie Magie vor. Dann ist es leichter. Jedenfalls will ich die anderen loswerden, weil ich glaube, ein bisschen Tod weckt wieder das Interesse der Leute an mir.«
Lulabelle wirft den letzten Satz so beiläufig hin, dass ich ihr kurz nicht folgen kann. »Wird nicht in den Nachrichten darüber berichtet?«, frage ich. »Auch wenn nur ein Porträt gestorben ist und kein echter Mensch?«
»Wenn es nur ein Porträt wäre, eher nicht. Jede Stunde wird ein Porträt ausgemustert, erst recht in Bubble City. Aber wenn all meine Porträts binnen einer Woche zerstört werden? Das ist eine Story! Das ist aufregend. Vor allem, wenn keiner weiß, wer dahintersteckt. Ein Serienkiller mit nur einem Opfer. Was für ein Spaß!«
»Also ist die Sache geheim. Bekomme ich eine Verkleidung?« Eine wichtigere Frage drängt sich mir auf, und ich lasse die Zigarette sinken. »Wieso überhaupt ich? Du musst doch jemanden haben, der besser dafür geeignet ist.«
»Süße.« Lulabelle streckt den Arm aus und nimmt mir den Stummel aus der Hand. Ihre Finger streifen meine Haut, sie fühlen sich weich an und sehr kalt. »Mach dich nicht lächerlich. Klar will ich, dass du das übernimmst. Ich traue niemandem in der Welt mehr als dir. Und natürlich darf nur ich mich umbringen.«
»Natürlich«, murmele ich.
»Wenn du es tust, ist es kein Verbrechen. Ein juristisches Schlupfloch. Zumindest sagen das meine Anwälte. Obwohl Mitosis sicher trotzdem ordentlich Wirbel drum machen wird …« Sie mustert mein Gesicht. »Mach dir keinen Kopf darum. Das ist nicht dein Problem.«
Ich halte den Atem an und sehe zu, wie sie den letzten Zug inhaliert. Die Zigarette glimmt ein letztes Mal auf und erlischt, als kein Tabak mehr übrig ist. Drachengleich stößt Lulabelle eine große Rauchwolke durch die Nase aus und senkt den Kopf. Ihre Schultern entspannen sich.
Danach haben wir uns nur noch sehr wenig zu sagen. Wir sitzen eine Weile da und reden übers Wetter, aber irgendwann langweilt sich Lulabelle wohl, denn sie holt ihr Handy hervor. Ich betrachte den Rasen und die bunten Farbkleckse im Rosengarten.
Es ist einfach nur ein weiterer schöner Morgen, denke ich, wie alle anderen zuvor.
Lulabelles Handy gibt einen Glockenton von sich, und wie herbeigezaubert erscheint ein Angestellter aus dem Haus und beugt sich über Lulabelles linke Schulter. Er ist nicht groß, hat aber die Ausstrahlung eines großen Mannes. Sein teurer schwarzer Anzug wirkt an ihm eigenartig unscheinbar. Sein Haarschnitt wäre in den meisten Epochen unauffällig gewesen, und seine Schuhe sind sehr sauber. Das Einzige, was ihn nicht wie einen völlig nichtssagenden Menschen wirken lässt, ist sein rostroter Vollbart, der fast bis zur schwarzen Krawatte reicht und dessen Schnäuzer ihm über die Oberlippe wächst.
Ein Wikinger in Business-Klamotten, denke ich, aber weder besonders furchteinflößend, interessant noch nobel. Ein Wikinger, der beim Überfall auf ein Kloster in der Menge nicht auffiele. Ein Wikinger, der nicht viel Staub aufwirbeln würde.
»Bereit?«, fragt er.
Lulabelle schnalzt mit der Zunge und zieht ein Blatt Papier aus der Tasche ihres Bademantels. Sie kneift die Augen zusammen und schabt mit dem Fingernagel über den Zettel, was leise Kratzgeräusche erzeugt.
»Ich denke, das wäre alles«, sagt sie kurz darauf und lässt das Blatt auf den Tisch fallen. Ich versuche, den auf dem Kopf stehenden Text zu lesen, kann aber nur vereinzelte Formulierungen entziffern (ein Menschenleben ist heilig, vertrauen Sie dem Ingenieur), ehe Lulabelle uns mit einem Handwedeln entlässt. »Dann mal los. Nimm sie mit.«
Ich vermute, das bezieht sich auf mich, also stehe ich rasch auf, wanke ein wenig und stütze mich am Tisch ab. Ich spüre einen unangenehmen Luftzug um die Beine, senke den Blick und stelle fest, dass ich einen weißen Frotteebademantel trage. Als ich mir an den Kopf fasse, fühle ich kein Haar, sondern glatte Seide.
Instinktiv halte ich nach einem rosafarbenen Fleck auf dem Bademantel Ausschau, aber der Stoff ist durchweg knochenweiß. Ich blicke zu Lulabelle, die mir ein blendendes Lächeln zuwirft. Mir wird bewusst, dass der Prozess schon begonnen hat: Wir entfremden uns voneinander.
»Also«, beginnt sie, und dann scheint ihr nichts mehr einzufallen. »Viel Glück, würde ich sagen.«
»Sehe ich dich wieder, wenn’s erledigt ist?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf, überlegt es sich dann anders und nickt. »Vielleicht«, sagt sie entschieden. »Ganz sicher vielleicht. Nimm die Zigaretten mit.«
Ich nehme die Schachtel auf, wende mich ab und folge dem Wikinger im dunklen Anzug. In der abgedunkelten Bogentür zum Haus werfe ich einen letzten Blick zurück.
Sie hat den pinkfarbenen Fleck auf dem Bademantel entdeckt und wischt mit dem Ärmel darauf herum. Dabei wirkt sie wie am Boden zerstört. Ich glaube, sie hat mich schon vergessen, doch dann hebt sie den Blick.
»Ich hab versucht, es einfach zu halten«, sagt sie. »Das verstehst du doch, oder?«
Ehe ich ihr antworten oder den Kopf schütteln kann, packt mich der Wikinger am Ellbogen und zieht mich ins Haus.
Vom einen Moment zum anderen ist Lulabelle für mich auf ewig verloren.
Der Magier reckt eine Hand gen Himmel, die andere weist zur Erde. Eine mächtige Verbindung zwischen den Welten, vor ihm liegt alles, was er für sein Werk braucht. Etwas sehr Bedeutsames nimmt seinen Lauf. Rings um ihn herum beginnen seltsame Blumen zu sprießen.
Man bringt mich in einen kleinen beigefarbenen Umkleideraum, und hier sehe ich sie wieder, diesmal im Spiegel.
Sie ist ungefähr eins achtzig groß. Ich löse das Seidentuch, und ihr Haar fällt mir auf die Schultern wie ein platinblonder Wasserfall. Jede ihrer perfekten Locken fühlt sich spröde an. Ich öffne den Bademantel. Darunter kommt Lulabelles Körper zum Vorschein, nackt und makellos. Ich drehe mich und betrachte sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Beugung ihrer Knie, die dünnen Knochen ihrer Fuß- und Handgelenke zeugen von großer Kompetenz: Sie sieht aus, als hätte ein erfahrenes und detailverliebtes Expertenteam sie entworfen. Ich rieche an der Innenseite meines Handgelenks.
Die Haut ist völlig geruchslos und leicht feucht.
Ihr Körper ist nicht vollständig. Einige Elemente fehlen.
Meine Handflächen sind so glatt wie die eines Babys. Sogar glatter. Jemand hat mir mal gesagt – nein, jemand hat es Lulabelle gesagt –, man solle sich stets bewusst sein, dass Porträts keine Menschen sind. Daher haben sie keine Handlinien oder Fingerabdrücke. Für den allgemeinen Seelenfrieden.
Ich rufe mir das in Erinnerung, beuge mich dicht vor den Spiegel und kneife mich fest in die Wange. Es tut weh, erzeugt aber keine Rötung.
Ich bin bloß die Kopie des Originals. Obwohl der kopierte Text auf Entfernung wie echte Handschrift aussieht, erkennt man den Unterschied bei näherer Betrachtung.
Der Wikinger wartet geduldig in der Ecke, bis ich meine Begutachtung beendet habe. Er hat den Blick abgewandt, betrachtet ein kleines Gemälde. Ich sehe ihn im Spiegel und frage mich, ob er mir ein wenig Privatsphäre geben will oder nur gelangweilt ist. Vielleicht macht er es ja auch aus Loyalität zu Lulabelle. Vermutlich ist es ihm unangenehm, den eigenen Boss nackt zu sehen. Oder er hat sie schon viel zu oft so gesehen. Zwölfmal, um genau zu sein. Sein dunkler Anzug verwehrt mir die Sicht auf das Gemälde. Ich stelle mir vor, es zeigt eine windgepeitschte Küste.
»Was jetzt?«, frage ich schließlich, und er deutet stumm zu einem Stuhl, auf dem ein Stapel gefalteter Kleidung liegt.
»Ein Polohemd?«, frage ich kritisch, als ich die Sachen durchwühle. »Khakihose? Wieso soll ich Turnschuhe tragen?«
»Sie schützen deine Füße«, sagt er teilnahmslos. »Falls du rennen musst.«
Ich blicke finster drein und ziehe sie an. Als ich wieder in den Spiegel schaue, sieht Lulabelle nicht länger aus wie ein sexy Filmstar, sondern wie jemand, der zweckmäßige Schuhe trägt.
»Hier.« Der Wikinger reicht mir einen Hut und eine Wraparound-Sonnenbrille. »Setz die auf. Bind dein Haar hoch.«
»Ist das meine Verkleidung?«, frage ich. Eigentlich will ich »Kostüm« sagen, aber ich darf nicht vergessen, dass ich keine Schauspielerin mehr bin.
»Deine Augen brauchen Zeit, um sich anzupassen.«
Das ergibt Sinn. Im Tank war es sicher dunkel.
Als ich zum dritten Mal in den Spiegel blicke, sieht mir eine überdurchschnittlich große, kompakte Frau entgegen. Ihr Blick ist ausdruckslos. Allein der Mund verrät noch die Ähnlichkeit zu Lulabelle. Mich überkommt große Angst, dass die Zigarette gelbliche Ablagerungen auf meinen kostspielig gebleichten Zähnen hinterlassen hat. Muss ich mir darüber noch Gedanken machen? Ich trete näher an den Spiegel, um mich zu vergewissern, und im nächsten Moment ist der Wikinger an meiner Seite.
»Das reicht jetzt«, sagt er streng. »Wir müssen los.«
Als wir den Raum verlassen, sehe ich, dass das Gemälde ein großes und recht hässliches blaues Auge zeigt.
Der Wikinger legt mir seine fleischige Hand auf die Schulter und führt mich durch einige Räume und Gänge: eine Treppe hinauf, durch Türbögen, einmal sogar über einen offenen Laufsteg zwischen zwei Gebäuden. Trotz der Sonnenbrille blendet mich das Licht. Ich erhasche kurze Blicke in geschmackvolle, malvenfarbene Räume, sehe stählerne Küchentresen, Glaswände, die einen Ausblick auf säuregrüne Grasflächen bieten. Überall ist es brutal sauber, nirgends ein Anzeichen von Leben. So sauber wie eine Luftschleuse.
Der Wikinger schweigt. Vermutlich ist er an solche kurzen Hausführungen gewöhnt. Ich will ihn fragen, was die anderen gedacht haben. Ob sie auch hierbleiben wollten.
Doch ich bleibe stumm. Mein Instinkt rät mir, nicht mit Angestellten zu plaudern. Nicht weil ich unhöflich sein will, sondern weil es sehr anstrengend ist, in der eigenen Villa, in die man sich vor der Gesellschaft anderer Menschen flüchtet, ständig Smalltalk zu betreiben.
Diesen Gedanken habe ich wohl geerbt, fällt mir auf, aber er fühlt sich trotzdem passend an, so wie eine gebrauchte Jacke, die ja auch nicht weniger wärmt, weil sie zuvor einem anderen gehört hat.
In einem schrecklich hellen Aufzug fahren wir Schulter an Schulter hinab.
»Hier«, sagt er, und als ich den Kopf wende, reicht er mir einen kleinen Plastikkoffer.
Ich nehme ihn entgegen, und meine Arme sacken ein wenig ab, weil er unerwartet schwer ist. Ich öffne die beiden Riegel. Im Inneren liegt eine Pistole, eingebettet in schwarzen Schaumstoff.
Während ich die Waffe beäuge, ertönt ein leises Läuten, dann gleitet die Tür des Aufzugs auf. Vor uns liegt ein unterirdisches Parkhaus, das fast ebenso grell erleuchtet ist. Mir ist klar, das ist unser Zielort, aber keiner von uns steigt aus.
»Da ist auch ein Schalldämpfer drin«, sagt der Wikinger sanft. »Und Munition. Du weißt, wie du sie abfeuerst.«
»Ja«, höre ich mich selbst sagen. Ich glaube, ich weiß, wie das geht. Ein verruchtes Ding, diese Pistole. Eine wunderschöne Arbeit. Das Design ist so effizient, dass ich an Lulabelles Körper denken muss.
Der Wikinger sieht mich an, aber ich blicke weiterhin geradeaus.
»Porträts gehören ihrem Erschaffer, dem Original. Stell es dir wie ein Urheberrecht vor. Lulabelle hat dich autorisiert, die anderen Porträts zu beseitigen. Das ist erlaubt. Wenn du ein Porträt von Dritten ausmusterst, ist das unrechtmäßige Zerstörung von Eigentum. Wenn du einen Menschen tötest, ist das Mord. Am besten versuchst du nichts von beidem.« Seine Stimme wirkt beruhigend, fast wie ein Schlaflied. Sein Redefluss klingt rhythmisch. Vertraut. Ich frage mich, ob er diese Ansprache einstudiert hat.
»Mach ich nicht«, sage ich.
»Kannst du nicht«, korrigiert er mich und reicht mir einen kleinen Silberknopf an einer kurzen Kette.
»Was ist das?«
»Dein Schlüssel. Dein Auto steht in der dritten Parkbucht.«
Ich verliebe mich auf den ersten Blick in das Gefährt. Es ist furchtbar hässlich. Ein seelenloses weißes Monster von einem Wagen.
Er hat absolut nichts Besonderes oder Menschliches an sich. Er wirkt gefährlich wie eine Fabrik im Hochbetrieb oder ein Hai im Meer. Er scheint schnell zu sein. Ich trete ein wenig näher heran, ohne mir meine Vorsicht anmerken zu lassen. Wie ein Tier spürt der Wagen vermutlich meine Panik und greift mich dann an. Ich lege eine Hand auf die Wagenseite und stelle mir vor, das Gaspedal so weit wie möglich durchzudrücken. Male mir das Rauschen der Reifen auf der Straße unter mir aus. Denke daran, über Ampeln hinwegzurasen, die Hupe zu betätigen, und bin überrascht, wie viel Freude mir die Vorstellung macht. Ich kann mich nicht entsinnen, dass Lulabelle je schnell gefahren ist. Eigentlich erinnere ich mich nicht einmal daran, dass sie überhaupt je gefahren ist.
»Er fährt vollautomatisch«, erklärt der Wikinger und hält mir die Tür auf.
Ich klettere hinein, werfe Sonnenbrille und Pistolenkoffer auf den Beifahrersitz und betrachte die komfortable Lederverkleidung. Sie riecht wie frisch von der Fertigungsstraße, und ein warmes Gefühl der Verbundenheit durchströmt mich.
»Wie funktioniert er?«, frage ich. Es gibt keine Bedienelemente, und das Armaturenbrett aus Kastanienholz ist völlig flach.
Der Wikinger beugt sich zu mir und berührt das Armaturenbrett. Ein verborgener Spalt weitet sich und offenbart einen Bildschirm. Grüne Wörter leuchten im Dunkeln auf.
Willkommen, steht da. Wohin soll es heute gehen?
»Kann man ihn auf manuell umschalten?«, frage ich hoffnungsvoll.
»Im Notfall.« Der Wikinger drückt auf einen kleinen, verborgenen Knopf unter der Armatur.
Ein weiteres Paneel gleitet beiseite, und klickend entfaltet sich ein Lenkrad. Ich senke den Kopf und schaue in den Fußraum, wo zwei Pedale ausgefahren sind.
»Ich glaube, ich fahre selbst.« Ich schenke dem Wikinger ein Lächeln, das hoffentlich herablassend wirkt.
»Kannst du versuchen«, erwidert er. »Aber der Wagen lässt dich vielleicht nicht. Die manuelle Einstellung ist nur dazu da, dem Fahrer ein Gefühl der Sicherheit zu geben.«
»Hmpf.« Auf einmal kann ich es gar nicht erwarten loszufahren. »Wäre das alles?«
»Fast.« Zum ersten Mal bewegen sich die Barthaare um seinen Mund, als würde er lächeln. Ich werfe ihm einen alarmierten Blick zu. Zu meiner Erleichterung verändert sich seine Mimik nicht. Vielleicht hat er nur die Zähne zusammengebissen.
»Was?«, frage ich forsch. »Was ist?«
»Im Handschuhfach liegt eine Mappe. Sie enthält alle Informationen, die du brauchst, um die anderen aufzuspüren und zu entsorgen. Ich habe die erste Adresse schon einprogrammiert, alle weiteren musst du selbst eingeben. Falls du uns kontaktieren musst, benutz das Cockpit-Kurznachrichtensystem. Wenn dir die Energie ausgeht, findest du SPRIT im Minikühlschrank.«
»Treibstoff? Für den Wagen?«
»SPRIT. SPRITTM. Das gibt dir Energie.«
»Ich esse das Zeug?«
»Es gibt dir Energie«, wiederholt er. Klingt wie ein Slogan.
»Schön«, antworte ich. »Okay, was auch immer.«
Ich ziehe einfach die Tür vor seiner Nase zu, setze mir wieder die Sonnenbrille auf und berühre mit dem Finger das leuchtende Armaturendisplay. Das System sagt mir, ich kann die Musik meiner Wahl abspielen, Anrufe tätigen oder E-Mails verschicken. Es empfiehlt mir gute Restaurants in der Nähe und zeigt das inspirierende Zitat des Tages an.
NICHT NACHDENKEN, EINFACH HANDELN.
»Okay«, sage ich zum System und scrolle weiter.
Ich erfahre, dass es draußen sonnig ist, die Höchsttemperatur 27 Grad beträgt, der Verkehr gerade nicht allzu dicht ist, dies der ›Internationale Tag gegen Nukleartests‹ ist und an diesem Datum Ulysses S. Grant starb, Ingrid Bergman geboren wurde und die Beatles ihr letztes Konzert gaben (wenn auch alles nicht im selben Jahr). Nachdem mir das System all diese Informationen mitgeteilt hat, will es erneut wissen, wohin ich fahren möchte.
Ich ändere die Systemeinstellungen auf »schnell«. Mit einem Klicken startet der Motor. Ich lehne mich im Sitz zurück und warte.
Und warte.
Nach einer Weile klopft der Wikinger sacht an die Scheibe. Mit einem Knopfdruck lasse ich das Fenster zwei Zentimeter herab.
»Du musst dich anschnallen, sonst fährt der Wagen nicht los«, erklärt er mir.
Ich nicke, und als ich das Fenster wieder schließe, steckt er seinen Finger in den Spalt und hält es auf. »Es gibt einen Diner auf halber Strecke nach Bubble City. Das Aunt Julia’s. Die haben drei Sorten Eiscreme auf der Karte.«
»Und?«
»Ich muss wissen, welche die beste ist.«
Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. »Ist das ein Auftrag von Lulabelle?«
»Nein. Von mir.« Er greift in seine Brusttasche und zückt ein paar sorgfältig gefaltete Geldscheine.
Ich mustere seine Miene, doch sie ist undurchdringlich, und schließlich nehme ich das Geld entgegen und schnalle mich gleichzeitig an. Sobald das Schloss einrastet, fährt der Wagen mit quietschenden Reifen an. Der Wikinger hebt die Hand zum Abschied, doch ich nicke ihm nur zu, meine Hand umklammert fest sein Geld.
Vor dem Parkhaus scheint gleißend die Sonne, erfüllt das Auto schlagartig mit beängstigender Helligkeit und Wärme. Die Bordtechnik leitet Gegenmaßnahmen ein, tönt die Scheiben ab, verborgene Ventilatoren aktivieren sich surrend, dennoch bin ich für einen Moment wie gelähmt. Vor mir erstreckt sich ein langer, von hohen Hecken gesäumter Kiesweg, der an einem Metalltor endet. Es kommt immer schneller näher, je mehr Tempo der Wagen aufnimmt.
Keuchend presse ich mich in den Sitz und blicke über die Schulter zur Villa zurück.
Ich will nicht fort von hier!, will ich laut rufen. Lulabelle, zwing mich nicht zu gehen!
Kieselsteine werden aufgewirbelt, während der Wagen zunehmend beschleunigt. Das Tor ist noch immer fest verschlossen. Kurz glaube ich, ein verborgener Mechanismus hat versagt, und ich ende hier, gleich am Startpunkt, in einem Klumpen aus verformtem Metall und Feuer, doch im letzten Moment gleitet das Tor auf, und ich werde ohne Abschiedszeremonie in die Welt geschleudert.
Ich habe alles Grün hinter mir auf dem Anwesen zurückgelassen. Als ich über die Schulter zurückschaue, sehe ich die Formschnitthecken andeutungsweise über die staubigen Betonmauern lugen. Je mehr ich mich entferne, desto mehr wirkt das Anwesen wie eine Festung, riesig und uneinnehmbar.
Die Straße ist aus glattem Asphalt, und obwohl sie breit genug für drei Fahrspuren wäre, habe ich sie für mich allein, eine einsame Linie, deren Ende ich nicht sehe. Die nächste Stunde verbringe ich zusammengekauert im Sitz, das Gesicht zwischen die Knie gedrückt.
Es ist seltsam, diesen Körper kennenzulernen, der mir aufs engste vertraut und neu zugleich ist. Es ergibt Sinn, mit den grundlegenden Funktionen zu beginnen, daher übe ich für eine Weile das Atmen und versuche, meinen Herzschlag zu hören. Als mich das langweilt, gehe ich die Musikkanäle durch. Ich nehme die Pistole aus dem Koffer und schraube den Schalldämpfer auf. Ich würde gern ein paar Zielübungen machen, doch obwohl der Wagen ein Fünfsitzer ist, bietet er dafür nicht genug Platz.
Ich schütte die Zigaretten aus der Packung auf den Beifahrersitz und zähle sie (achtzehn). Dann stecke ich sie wieder in die Schachtel, sehr sorgsam, um das Papier nicht anzureißen oder sie zu zerdrücken. Als auch diese Tätigkeit ihren Reiz verliert, werfe ich endlich einen Blick ins Handschuhfach.
Die Unterlagen sind tatsächlich in einer DIN-A4-Ringmappe mit zwölf Folientaschen. Einige davon sind mit Papierseiten vollgestopft, andere enthalten nur eine einzige.
Ich blättere die Mappe durch. Meine Zielpersonen sind durchnummeriert, aber ich weiß nicht, ob sie nach Alter sortiert sind. Nirgends finde ich Datumsangaben und erfahre nicht, wer wann erschaffen wurde. Das ärgert mich aus irgendeinem Grund, aber ich verdränge den Gedanken fürs Erste. Vielleicht ergibt sich ein Muster, während ich mit dem Auftrag fortfahre.
Die Informationen über mein erstes Ziel füllen gerade mal eine halbe Seite.
Registrierungscode:PROCKL78912913
Standardklasse. Keine kosmetische oder sonstige Abweichung
Zielort: Bushaltestelle, kurz vor der Abzweigung der A21 in die M73.
Wartungsintervall: (keins)
In smaragdgrüner Schrift hat Lulabelle eine knappe Notiz unten links auf der Seite hinterlassen.
Hab sie erschaffen, weil ich an dem Montag depressiv war. Zu müde, um mich mit Freunden zum Brunch zu treffen. Wollte sie vor zwei Tagen abholen, hab’s aber vergessen.
Der Wagen informiert mich, dass ich mein Ziel um 11.35 Uhr erreiche. Bis dahin sind es noch zwei Stunden. Ich mache es mir bequem und betrachte die vorbeiziehende Landschaft.
Nach wie vor gibt es nichts zu sehen als flaches, orangefarbenes Buschland. Es erstreckt sich in alle Richtungen bis zur dünnen Linie am Horizont. Der Himmel lastet darauf wie ein großer blauer Hammer.
Ich versuche, die Geschwindigkeit zu erhöhen, doch der Wagen lässt das nicht zu. Ich schalte auf manuelle Steuerung um, aber obwohl das Steuer ausfährt, spüre ich beim Lenken nicht den geringsten Widerstand. Ich komme mir vor wie ein Kind, dem man ein Spielzeugtelefon in die Hand gedrückt hat. Trotzdem tue ich eine Weile so, als könnte ich mit meinem nutzlosen, nicht aktivierten Lenkrad das Auto steuern.
Beschleunigen, bremsen, Spur wechseln.
Der Wagen toleriert das für eine Weile und fährt dann die Pedale ein. Das Surren der Mechanik klingt in meinen Ohren abschätzig.
»Beep, Beep«, wispere ich in die Ödnis. Mein Mund ist noch immer trocken. Als ich den Minikühlschrank öffne, erblicke ich eine Reihe von Plastikflaschen, auf deren Etikett das Wort SPRIT gedruckt ist, gleich unter einer comichaften, weißgelben Blume. Ich schraube eine Flasche auf und nippe zaghaft daran. Die dicke Flüssigkeit ist geschmacklos und hinterlässt einen dünnen Film in meinem Mund.
Das Diner ist unübersehbar.
Es ist das erste Lebenszeichen seit meinem Aufbruch, ein einsames viereckiges Gebäude am Straßenrand. Von der Werbetafel auf dem Dach lächelt gütig eine alte Frau mit pinkfarbener Schürze auf mich herunter, sie hält einen Löffel und einen dampfenden Essnapf in Händen. Aunt Julia’s Eatery, lese ich, dann biegt der Wagen auf den Parkplatz ab.
Der Motor schaltet sich ab, und das Bordsystem piept vorwurfsvoll und zeigt mir auf dem Display, dass ich meine geplante Ankunftszeit gefährde, sollte ich die Haltezeit beim Diner überziehen. Ich steige aus und schlage die Autotür heftiger zu als nötig. Die trockene Erde knirscht unter meinen Turnschuhen. Die Luft fühlt sich staubig auf der Zunge an und schmeckt schwach nach Eukalyptus.
Das Diner ist klein, plump und grau, aber neben dem Eingang wachsen einige lila Blumen in Pflanztöpfen. Mein Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz, und ich frage mich, wo Aunt Julia wohl wohnt, wenn sie jeden Tag so weit rausfahren muss. Ein kleines Neonschild im Fenster verkündet: DURCHGEHEND GEÖFFNET.
Drinnen ist es fast menschenleer, nur in einer Fensternische sitzt ein dürrer Goth-Junge, der sich über seinen Apfelkuchen mit Schlagsahne hermacht. Als ich auf dem Weg zur Toilette an ihm vorbeikomme, sieht er nicht auf, beugt sich nur in seiner Lederjacke tiefer über den Teller.
Ich benutze die sanitäre Einrichtung und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Meine Haut fühlt sich unter meinen Fingerspitzen leicht glitschig an. Vielleicht eine Folgeerscheinung, weil ich in einem Tank gelegen habe. Ich reiße ein Papiertuch ab und schrubbe mir damit das Gesicht, bis meine Haut brennt. Es fühlt sich befriedigend an, diese Rückstände meiner amniotischen Herkunft zu entfernen.
Als ich den Toilettenraum verlasse, weisen nur noch der schmutzige Teller und eine zerknüllte Serviette auf den Goth-Jungen hin. Ich höre Stimmen durch die Luke zur Küche und frage mich, ob dort hinten Aunt Julia persönlich steht und in ihrem großen Suppentopf herumrührt. Ich betätige die Glocke auf dem Tresen, und kurz darauf kommt ein mürrisch wirkender Mann durch die Schwingtür.
»Ja?«
Aunt Julia grinst mir von seinem T-Shirt entgegen. Auf ihrem Gesicht sind gelbe Eiflecken.
»Eiscreme«, sage ich. »Sie haben drei Geschmacksrichtungen.«
Er schnaubt. »Blaubeere, Schokoladentod und Stechwinde.«
»Ich nehme von jeder Sorte eine Kugel.«
Während er das Eis in einen kleinen Pappbecher füllt, sehe ich den Postkartenständer am Tresen durch. Es gibt ein paar Wüstenszenen, Steppenläufer, einen zerfledderten Geier, aber die meisten zeigen Bubble City, wieder und wieder. Glitzernde Türme vor blauem Himmel. Die Heiligenstatue auf dem hohen Felsen. Die Aussicht vom Tal bei Nacht. Alles davon hat Lulabelle schon gesehen, trotzdem ist das Gefühl von Vertrautheit seltsam. Als hätte man Heimweh nach einem Ort, den man nur aus dem Fernsehen kennt.
Ich nehme eine Postkarte mit einer comichaften Landkarte und der Aufschrift »Du würdest dir wünschen, hier zu sein«. Ich lege sie auf den Tresen, und sie wird mit dem Eis zusammen abgerechnet.
Draußen sitzt der Goth-Junge im Schneidersitz auf meiner Motorhaube und wischt über sein Handydisplay.
Als er die Türglocke hört, sieht er auf und rutscht von der Haube. Seine Augen sind unter einer Sonnenbrille mit perfekt runden Gläsern verborgen. »Ist das Ihr Auto?«, fragt er mit hoher, nasaler Stimme.
Ich sehe ihn schweigend an und probiere ein wenig vom Blaubeereis. Dass der Wagen mir gehört, ist offensichtlich. Er ist der einzige auf der Parkfläche.
»Fahren Sie nach Bubble City?« Er schwitzt sichtlich und tut mir fast leid. Es ist sicher kein Vergnügen, in dieser Hitze Schwarz zu tragen.
»Wieso?«, frage ich ihn.
»Tja, also, ich dachte … vielleicht können Sie mich mitnehmen?«
Das Blaubeereis hat einen leicht chemischen Nachgeschmack. Stirnrunzelnd stochere ich in der Stechwinde-Kugel herum.
Mein Möchtegern-Anhalter tritt vom einen Bein aufs andere und errötet. Im Sonnenlicht erkenne ich, dass sein Haar amateurhaft gefärbt ist. Einige orangefarbene Strähnen durchziehen das Schwarz.
»Es ist nämlich so«, sagt er. »Ich bin momentan ein bisschen knapp bei Kasse. Aber ich könnte Ihnen aus der Hand lesen, wenn Sie wollen?«
Ich gehe zu ihm, stecke mir den kleinen Plastiklöffel in den Mund und halte ihm meine Hand hin, damit er die glatte, anonyme Haut sehen kann. Er muss sich ein wenig vorbeugen, um etwas zu erkennen, die Sonnenbrille fällt ihm fast vom Kopf, und er schiebt sie zurück.
»Oh«, sagt er ernüchtert. »Sie sind ein Porträt.«
Ich nicke und schiebe den Plastiklöffel vom einen Mundwinkel zum anderen.
»Dann müssen Sie jemand Wichtiges sein?«
Ich nehme die Sonnenbrille ab und zwinkere ihm zu. Er sieht mich verständnislos an.
»Du erkennst mich nicht?«, frage ich. »Schaust du dir keine Kinofilme an?«
Er zuckt mit den Schultern und kratzt sich am Hinterkopf. »Wo ich aufgewachsen bin, gab es kein Kino, und äh … meine Eltern sind sehr strikt in Bezug auf …«
Ich neige den Kopf zur Seite. »Wie alt bist du?«
»Fünfundzwanzig«, antwortet er zu schnell. Er denkt wohl, ich bin von gestern. Da liegt er einen Tag daneben. Zu meiner Überraschung lache ich kurz auf. »Ich nehm dich mit. Spring rein.«
Als er in den Wagen klettert, ist ihm sein Misstrauen anzusehen. Wie lange er wohl hier auf eine Mitfahrgelegenheit gewartet hat? Seine Wangen sind noch immer gerötet von der Hitze draußen, und als er das Wageninnere erblickt, weiten sich die kajalgeschwärzten Augen. Falls er beeindruckt ist, hat er genug Selbstkontrolle, um nichts zu sagen, dennoch bemerke ich, wie steif er dasitzt, als hätte er Angst, das Leder zu berühren.
Als wir losfahren und Aunt Julia im Rückspiegel immer kleiner wird, lehne ich mich im Sitz zurück, drehe den kleinen Pappbecher in den Händen und beobachte, wie das blaue, braune und orange Eis ineinander verläuft.
»Also, wohin musst du genau?«, frage ich.
»Einfach irgendwo in Bubble City ist prima. Da lebt mein Meister.«