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Seitenzahl: 420
Verfasser: Octave Mirbeau
Herausgeber: Gabriel Arch
Digitale Reproduktion der Originalausgabe von 1901
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Im Sommer will es die Mode, oder auch die Besorgniß um die werthe Gesundheit, die ja auch eine Mode ist, daß man auf Reisen geht. Wenn ein feister Bürgersmann den Gebräuchen der guten Gesellschaft treu ist und sie hochachtet, muß er zu einer gewissen Zeit des Jahres seine Geschäfte, seine Vergnügungen, seine theure Unthätigkeit, seine lieben Gewohnheiten verlassen, um sich, ohne recht zu wissen, weshalb, in das große All zu stürzen. Gemäß der diskreten Sprache der Zeitungen der feinen Welt heißt das eine Verlegung des Wohnsitzes, ein Ausdruck, der zwar minder poetisch als Reise klingt, aber ungleich treffender ist! ... Sicherlich ist man nicht immer mit vollem Herzen dabei, seinen Wohnsitz zu verlegen, man könnte selbst behaupten, daß man dazu nie recht gestimmt ist, doch schuldet man dieses Opfer seinen Freunden, seinen Feinden, seinen Lieferanten, seinen Dienstboten, denen gegenüber man den hervorragenden Rang, der Einem gebührt, würdig vertreten muß, denn Reisen setzt Geld voraus und Geld hat alle sozialen Würdigungen und Vorzüge im Gefolge.
Folglich reise ich, was mich ungemein langweilt; ich reise sogar in den Pyrenäen, was die allgemeine Langweile, die ich beim Reisen empfinde, in eine ganz spezielle Folter verwandelt. Als hauptsächlichsten Vorwurf erhebe ich gegen die Pyrenäen diesen, daß sie ein Gebirge sind ... Wohl fühle ich angesichts der Gebirge ebensogut, wie irgend ein Anderer, deren ungeheuer wilde Poesie, doch gleichzeitig verkörpern sie für mich all' das, was das Weltall an unheilbarer Trauer, an finsterer Entmuthigung, an unathembarer tödtlicher Atmosphäre enthalten kann ... Ich bewundere ihre großartigen Formen und ihre wechselnden Lichtstimmungen ... Aber die Seele des Ganzen flößt mir Entsetzen ein ... Mir ist es, als ob das Reich des Todes voll von Gebirgen wäre, gleich denen, die ich, während ich diese Zeilen schreibe, vor Augen habe. Und gerade deshalb lieben sie vielleicht so viele Menschen.
Die hervorragendste Eigenschaft dieser Stadt, in der ich mich gegenwärtig aufhalte und deren »hervorragend idyllische Schönheit« der ausgezeichnete Baedecker, dieser trockene deutsche Spottvogel, in ungewöhnlich poetischen Ausdrücken besingt, liegt darin, daß sie eigentlich keine Stadt ist. Im Allgemeinen setzt sich eine Stadt aus Straßen zusammen, die Straßen aus Häusern, die Häuser aus Bewohnern. Nun gibt es in X. aber weder Straßen noch Häuser, noch eingeborene Bewohner, dort gibt es nichts als Hotels ... 75 Hotels, wahre Riesenbauten, die Kasernen oder Irrenhäusern gleichen, die in einer endlosen Linie aneinandergereiht sind, tief in einem nebelerfüllten dunklen Thale, in welchem ein winziger Wildbach gleich einem kleinen Lungenkranken ohne Unterlaß hüstelt und speit ... Hier und dort sieht man einige Auslagen, die an den Hotels angebracht sind, Handlungen, in denen Bücher, Ansichtspostkarten und Photographien der Wasserfälle, Bergspitzen und Seen, sowie ganze Kollektionen von Alpenstöcken und weitere Gebrauchsartikel für Bergsteiger feilgeboten werden. Ferner einige Villen, die auf die Abhänge hingestreut sind ... und in der Tiefe eines Felsloches die Badeanstalt, die von den alten Römern herrührt ... ach ja ... von den alten Römern! ... Das ist aber auch Alles. Mir gegenüber sehe ich das hohe, düstere Gebirge, hinter mir das düstere hohe Gebirge ... Rechts erhebt sich ein Riesenberg, an dessen Fuße ein See schlummert; links selbstverständlich wieder ein Berg und auch noch ein anderer See ... Aber kein Stückchen Himmel ... nie bekommt man ein Stückchen Himmel über sich zu Gesicht! Dicke Wolken ziehen von einem Berge zum anderen und dehnen ihre schweren, undurchdringlichen, russigen Massen ...
Wenn das Gebirge schon niederdrückend und düster erscheint, was soll man dann erst von den Seen sagen? – Oh! diese Seen! – deren falsches und grausames Blau, das weder wasserblau, noch himmelblau, noch überhaupt ein Blau ist, mit gar nichts von dem, was sie umgibt und was sie spiegeln, übereinstimmt? ... Sie scheinen angestrichen zu sein – oh, Natur! – und zwar durch Herrn Guillaume Dubufe, wenn sich dieser von Herrn Leygues geliebte Künstler bis zu weiten symbolischen und religiösen Schöpfungen erhebt ...
Aber vielleicht würde ich den Gebirgen verzeihen, daß sie Gebirge sind, und den Seen, daß sie Seen bleiben, wenn sie zu ihrer natürlichen Feindseligkeit nicht noch dieses schlimmere Unheil hinzufügten, daß sie einen Vorwand dazu abgeben, unerträgliche Kollektionen aller Sorten von Menschheit in ihren Felsschlünden und an ihren verdrießlichen Ufern zu vereinigen.
In X. z. B. sind die fünfundsiebzig Hotels mit Reisenden von oben bis unten vollgestopft. Nur mit der größten Mühe habe ich endlich ein Zimmerchen ausfindig machen können. Alles Erdenkliche ist dort vertreten: Engländer, Deutsche, Spanier, Russen, ja sogar Franzosen. Diese Leute kommen keineswegs hierher, um ihre kranken Lebern, ihre verdorbenen Mägen und ihre Hautkrankheiten auszukuriren ... Sie kommen – hören Sie gut auf das, was ich sagen will – zu ihrem Vergnügen hierher! ... Und vom Morgen an bis zum Abend sieht man sie in schweigsamen Gruppen oder düsteren Reihen längs der Hotels einherschlendern, vor den Auslagen Posto fassen, lange Zeit an einer bestimmten Stelle stehen bleiben und ungeheure Operngläser auf einen berühmten, schneebedeckten Berg richten, dessen Platz sie genau kennen und der wohl immer noch an dieser Stelle vorhanden ist, von dem man aber wegen des dichten, mauerartigen Wolkenvorhanges, der ihn ewig verhüllt, keine Spur entdecken kann ...
All' diese Leute sind außerordentlich häßlich; sie haben diese Häßlichkeit am Leibe, die den Sommeraufenthaltsorten ganz besonders eigen ist, und kaum erlebe ich einmal am Tage inmitten all' dieser aufgetriebenen Masken und der schwerfälligen Bäuche die Überraschung, ein hübsches Gesicht oder eine schlanke Gestalt vor mir zu sehen. Selbst die Kinder nehmen sich wie winzige Greise aus. Dies ist ein trostlos stimmendes Schauspiel, denn bei diesem Anblick wird man sich so recht klar darüber, daß der Bürgerstand überall in körperlichem Niedergang begriffen ist; und was man auch davon begegnet, selbst die Kinder, die so armselig aus den verpesteten Sümpfen solcher Ehen hervorgegangen sind ... ist so jammervoll, daß sie alle schon der Vergangenheit anzugehören scheinen! ...
Gestern Abend dinirte ich auf der Terrasse des Hotels ... An einem Nebentische hielt ein Herr überlaute Reden. Er sagte:
– Die Bergbesteigungen? ... Na ja, die Bergbesteigungen ... das habe ich so ziemlich Alles hinter mir, ich, der ich mit Ihnen spreche ... und ohne jeglichen Führer! ... Hier ist ja nichts, als fauler Zauber ... die Pyrenäen haben nichts zu bedeuten ... das ist ja gar kein Gebirge ... Ja, in der Schweiz, da ist das eine ganz andere Sache! ... Ich habe dreimal den Mont-Blanc bestiegen ... als ob ich auf einem Sessel Platz nähme ... es hat nicht länger als fünf Stunden gedauert. Ja, binnen fünf Stunden, mein bester Herr!
Der beste Herr sagte nichts; er beugte sich über seine Schüssel und aß. Der Andere begann von neuem:
– Ich will Ihnen gar nicht von dem Monte Rosa sprechen, – auch nicht von dem Mont-Bleu ... noch von dem Mont-Jaune ... das ist Alles gar kein Kunststück ... Aber sehen Sie, ich selber, der ich hier mit Ihnen spreche, fand vor einigen Jahren auf dem großen Sarah-Bernhardt drei Engländer, die sich im Schneesturm verloren hatten. Ich habe sie gerettet. Ja! Wenn ich damals hätte Faschoda voraussehen können! ... Er erzählte noch eine Menge Dinge, wobei ich die Einzelheiten nicht genau hören konnte; in der Erzählung kam aber ohne Unterlaß dieses eine Wort wieder: Ich! Ich! Ich! ... Dann wurde er mit dem Kellner grob, schickte einzelne Gerichte in die Küche zurück, begann wegen der Güte einer Weinmarke einen Zank und wandte sich endlich von neuem an seinen Gesellschafter:
– Nun ja, nun ja! ich habe noch viel stärkere Sachen geleistet. Ich habe im Ruderboot allein binnen vier Stunden den Genfer See von Territet bis Genf durchkreuzt! Ja, ich ... ich ... ich!
Ist es nothwendig, Ihnen noch eigens zu sagen, daß dieser Herr ein echter Franzose aus Frankreich war?
Die Zigeunermusik hinderte mich daran, Weiteres zu vernehmen, denn es gibt hier auch eine Zigeunerkapelle ... Sie sehen, es fehlt nichts ...
Was kann ich also Besseres anfangen, als einige meiner Freunde, einige der Leute, welche ich hier tagtäglich treffe, Ihnen vorzustellen? Die Mehrzahl dieser Lebewesen ist theils grotesk, theils widerlich; im Allgemeinen sind es vollendete Schufte, deren Lebensbeschreibung durchaus nicht zur Lektüre für junge Mädchen geeignet ist. Ich höre förmlich, wie Sie in Bezug auf mich bemerken werden: »Das ist aber ein Herr, der komische Bekanntschaften hat«, aber ich habe eben auch andere Bekannte, die durchaus nicht komisch sind, von denen ich niemals spreche, da sie mir außerordentlich lieb und werth sind. Ich bitte Sie also, meine verehrten Leser und auch Sie, meine keuschen Leserinnen, das berühmte Sprüchwort: »Sage mir, mit wem Du umgehst ...« nicht auf mich anzuwenden, denn diese Seelen, deren Bild ich Ihnen vorführen werde, deren wenig erfreuliche Geschichten und fast stets skandalösen Reden ich Ihnen erzählen werde, mit all' diesen gehe ich nicht um, im Sinne des Sprüchwortes ... Ich begegne ihnen, was doch eine ganz andere Geschichte ist und spreche meinerseits in Bezug auf sie keinerlei Billigung aus. Ich bringe diese Begegnungen nur, um Sie und mich zu unterhalten, zu Papier ... Ja, um mich zu unterhalten! ...
Diese Einleitung fand ich nöthig, um Ihnen auseinanderzusetzen, daß mein Freund Robert Haguemann eigentlich nicht mein Freund ist. Das ist ein Mensch, dessen Bekanntschaft ich ehedem irgendwo gemacht habe, der mich duzt, den ich duze und den ich von Zeit zu Zeit, in längeren Zwischenräumen, zufällig und ohne mich darüber zu freuen, wiedersehe.
Sie kennen ihn übrigens auch. Mein Freund ist nämlich kein einzelnes Lebewesen, sondern der Vertreter einer ganzen Art. Leute in dem weiten, weichen grauen Hut, schwarzem Jaquet, röthlichem Hemd und weißem Kragen, weißen Hosen mit der in der Mitte gut ausgebügelten Falte und Schuhen aus weißem Leder, findet man am Meeresstrande und im Gebirge überall ... In diesem Augenblicke gibt es dreißigtausend Robert Haguemanns; man möchte glauben, daß derselbe Schneider ihre Kleider und ihre Seelen angefertigt habe, – die Seelen selbstverständlich als Zugabe, denn es sind Ausschuß-Seelen – aus einem Stoffe, welcher gerade nicht viel werth ist.
Als ich heute Morgens die Brunnenhalle verließ, bemerkte ich meinen Freund Robert Haguemann. Seine Frühtoilette zeigte tadellose Korrektheit, was die bewunderungswürdigen Platanen der Allee durchaus nicht in Erstaunen zu versetzen schien, diese hervorragend philosophischen Bäume, welche noch ganz andere Dinge zu Gesichte bekommen haben seit der Begründung des Bades durch die Römer, diese Schöpfer eleganter Thermal-Aufenthaltsorte.
Ich that im ersten Augenblicke so, als ob ich mich leidenschaftlich für das Gebahren eines Arbeiters interessirte, der, mit einer Casserolle bewaffnet, Wasser aus dem alten Rinnsteine schöpfte, und dieses sodann in der Allee ausschüttete, augenscheinlich unter dem Banne des administrativen Vorwandes stehend, daß er die Allee besprenge. Ich ließ mich sogar, um meinem Freunde Zeit zu lassen, sich aus dem Staube zu machen, mit dem Taglöhner in eine Unterhaltung über die Seltsamkeit der urweltlichen Form seiner Spritzvorrichtung ein, doch Robert Haguemann hatte mich gleichfalls bemerkt.
– Ei, der Teufel! rief er.
Dann kam er in überschwänglichster Weise auf mich zu und streckte mir seine mit weißen Handschuhen bekleideten Hände entgegen.
– Wie, Du bist's? Was treibst Du denn hier?
Ich kann mir nichts auf der Welt vorstellen, was ich so verabscheue, als fremde Leute ins Vertrauen meiner kleinen Leiden zu ziehen. Ich antwortete:
– Nun, ich erhole mich etwas, ich gehe spazieren ... Und Du?
– Oh! ich! Ich brauche gewissenhaft eine Kur. Mein Arzt hat mich hierhergeschickt. Ich bin ein bischen heruntergekommen, verstehst Du?
Die Unterhaltung nahm von allem Anfang an eine banale Wendung. Robert erzählte mir von Paul Deschanel, der für die nächsten Tage erwartet würde, von dem Kasino, das dieses Jahr gerade nicht glänzend erschien; von dem Taubenschießen, das noch nicht recht im Gange sei, u. s. w.
– Und keine Weiber gibt's, altes Haus, absolut keine Weiber! damit schloß er. Wo werden diese Geschöpfe nur dieses Jahr sein? Ich habe keine Ahnung; es ist eine verwünscht verkrachte Saison, weißt Du!
– Aber Du hast doch die Gebirge vor Dir! rief ich, voll von ironischem Enthusiasmus. Es ist hier doch wundervoll, das reine Paradies auf Erden. Sieh doch nur diese Pflanzen an, diese Flammenblumen, diese Weißblumen, welche die Höhe von Buchen erreichen ... diese riesigen Rosenstöcke, die aus Gott weiß welchem Traumlande in Herrn de Jussien's Hut mitgebracht zu sein scheinen.
– Ach, bist Du jung!
Ich begeisterte mich noch weiter:
– Und die Wildbäche und die Gletscher! Also all' das sagt Dir gar nichts?
– Du machst mir Spaß, antwortete Robert. Sehe ich etwa wie ein Biedermann aus, der auf so einen Schwindel hereinfällt? Mir kann man mit den Wildbächen schon lange nichts mehr vormachen. Was ist denn an dem Gebirge so Verblüffendes? Das ist eben der Mont-Valerien in etwas vergrößertem Maßstabe, aber weit weniger ulkig ...
– Demnach ziehst Du das Meer vor?
– Das Meer? Ah, was redest Du mir da vor? Mein lieber Junge, ich gehe seit fünfzehn Jahren alle Sommer nach Trouville ... Einer Geschichte kann ich mich wahrhaftig rühmen, d. h. ich habe noch nie einen Blick auf das Meer geworfen ... es ekelt mich an! Nein, wahrhaftig ... ich glaube, ich habe zu viel Grütze im Kopfe, als daß ich mich über das, was Du Naturschauspiele nennst, entzücke und ... das kommt mir schon zum Halse heraus, weißt Du? ...
– Kurz, Du bist Deiner Gesundheit halber hierhergekommen? Gebrauchst Du wenigstens Deine Kur peinlich genau?
– Mit der größten Genauigkeit! erklärte Robert. Was denn sonst?
– Und was hast Du zu thun?
– Als Kurvorschriften?
– Ja.
– Na, Folgendes: Ich stehe um neun Uhr auf; dann mache ich eine Promenade durch den Park, rund um das Brunnenhaus. Da treffe ich den Einen oder den Anderen, Männer und Frauen. Man athmet ein wenig auf ... man erzählt sich, daß man sich langweilt. Man zieht über die Toiletten los ... So schwindle ich mich langsam bis zum Dejeuner heran. Nach dem Dejeuner mache ich eine Partie Poker bei Gaston; um fünf Uhr kommt das Kasino, ich thue dabei bei einem Baccarat, das gerade nicht sehr leidenschaftlich betrieben wird, mit ... so mit Einsätzen von vier Sous, kurz eine Familienbank ... Diner ... Neuauflage des Kasino ... weiter nichts, das ist Alles ... Und am nächsten Morgen beginnt das von neuem. Zuweilen ein kleines Zwischenspiel mit einer Laïs aus Toulouse oder einer Phryne aus Bordeaux ... Aber ach, altes Haus, möchtest Du das glauben? Dieser vielgerühmte Sommeraufenthalt, der alle Krankheiten heilen soll, hat mir bisher noch gar nichts genützt. Ich fühle mich ebenso kaput, wie bei meiner Ankunft. Mit diesen Quellen ist es nichts, als fauler Zauber ...
Er schnüffelte in die Luft und bemerkte:
– Dabei gibt es stets diesen Geruch! Riechst Du? Es ist scheußlich!
Ein Schwefelgeruch, der aus dem Brunnenhause drang, schien zwischen den Platanen zu lagern ...
Mein Freund begann von neuem:
– Das riecht wie ... Donnerwetter! ... Gott, welche Erinnerung! ... das riecht wie bei der Marquise.
Dann brach er in ein geräuschvolles Lachen aus.
– Stelle Dir vor. Eines Abends sollte ich mit der Marquise de Turnbridge im Restaurant diniren. Erinnerst Du Dich noch an die Marquise? Diese große Blondine, mit der ich zwei Jahre lang zusammen war? Nein? Du erinnerst Dich ihrer nicht? Aber, altes Haus, alle Welt weiß das doch in Paris! Na, das hat nichts zu bedeuten.
– Was gab es denn mit der Marquise? fragte ich.
– Das war eine Person mit einem riesigen Chic, altes Haus.
Sie war früher Wäscherin in Concarnau und dann weiß Gott durch welchen Esel Marquise geworden, und dazu noch Marquise von Turnbridge. Ein geistvolles Weib, mehr brauch' ich Dir nicht zu sagen! Nun schön, statt im Restaurant zu diniren, wie wir dies von allem Anfang an ausgemacht hatten, zog es die Marquise, die häufig solche Grillen hatte, vor, in ihrer Wohnung zu diniren. Ich hatte nichts dagegen. Wir begaben uns also nach ihrem Hause. Doch kaum hatten wir die Thür hinter uns zugemacht, als uns ein schändlicher Gestank im Vorzimmer zu ersticken droht. Kreuzelement! ruft die Marquise, das ist schon wieder meine Mutter. Ich werde ihr das nie abgewöhnen können! Und wüthend stürmt sie nach der Küche. Die edle Mutter befand sich thatsächlich dort und bereitete eine Kohlsuppe. »Ich will es nun einmal nicht haben, daß Du in meinem Hause Kohlsuppe kochst. Ich habe Dir das schon zwanzigmal gesagt. Es verpestet die ganze Wohnung. Wenn ich nun einen anderen Herrn als meinen Geliebten mit nachhause gebracht hätte, wie würde ich mich inmitten dieses Closetgeruches ausnehmen? Hast Du mich nun endlich verstanden?« – Dann wandte sie sich zu mir und bemerkte noch: »Man möchte meinen, Kreuzelement, daß ein ganzes Kürassierregiment hier Wind gemacht habe.«
Bei dieser Erinnerung war er plötzlich ganz melancholisch geworden und seufzte:
– Sie war trotzdem ein großartiges Weib, weißt Du? Einen Chic besaß sie!
Dann wiederholte er:
– Dieser Geruch, der Einen hier verfolgt, erinnert mich an die Kohlsuppe der Mutter Turnbridge. Das kommt ganz auf dasselbe heraus.
– Das Andenken der Marquise sollte Dir helfen, den Geruch leichter zu ertragen, sagte ich. Dann reichte ich ihm die Hand:
– Na, also, gute Besserung. Ich will Deine Kur nicht stören.
– Aber sag' einmal! rief Robert.
Doch ich war bereits in die Wiese gesprungen und hatte zwischen meinen Freund und mich die Scheidewand einer riesigen Wellingtonia gebracht.
Heute Abend habe ich das Kasino besucht; ja, ich habe mich nach dem Kasino begeben, um mich dort eine Weile herumzutreiben. Man muß doch irgendwo die Stunden des Zubettegehens erwarten.
Als ich mich nun dort befand und im Garten auf einer Bank saß und die Leute vorüberziehen sah, kam plötzlich ein fetter, dicker Mann, der mich schon seit einiger Zeit beobachtet hatte, auf mich zu.
– Ich täusche mich doch nicht? sagte er zu mir. Du bist Georges Vasseur?
– Ja.
– Erkennst Du mich nicht?
– Nein.
– Ich bin Clara Fistule, altes Haus.
– Nicht möglich!
– Aber selbstverständlich, selbstverständlich! Nun, das macht mir ein riesiges Vergnügen, Dich wiederzusehen.
Er zerdrückte mir fast die Hand vor Freude.
– Wie? Du wußtest nichts von mir? Aber ich bin ja hier eine bedeutende Persönlichkeit. Ich bin der Direktor des Reklamewesens. Ja, gewiß, altes Haus. Im Übrigen stehe ich Dir vollständig zur Verfügung.
Mit einer freundschaftlichen Begeisterung, die mich übrigens durchaus nicht rührte, bot er mir seine Dienste an: freien Eintritt ins Kasino, ins Theater, Kredit im Klub, freies Table-d'hote und die Dämchen ...
– Ja, wir werden uns hier nicht schlecht amüsiren! rief er. Und, weißt Du, Alles auf Pump. Nein, dieser verteufelte Georges! Donnerwetter, ja, das hatte ich wahrhaftig nicht erwartet.
Ich dankte ihm lebhaft, und um mir den Anschein zu geben, als ob ich irgend welches Interesse für ihn hätte, fragte ich ihn:
– Und Du? Bist Du schon lange hier?
– Als Kranker seit zehn Jahren, erwiderte er. Als Beamter der Badeanstalt seit vier Jahren ...
– Und bist Du zufrieden?
– Na, selbstverständlich, altes Haus!
Ehe ich hier fortfahre, möchte ich Ihnen Clara Fistule vorstellen. Ich habe hier gerade ein Bild von ihm zur Hand, das ich in meinen Notizen gefunden habe.
*
»Heute erhielt ich einen Besuch von Clara Fistule.
Clara Fistule ist keine Frau, wie man nach dem weiblichen Geschlecht seines Vornamens annehmen könnte. Er ist übrigens auch nicht ganz und gar ein Mann ... Er ist eine Art Zwischending zwischen Mensch und Gott. Einen Zwischenmenschen würde ihn Nietzsche nennen. Selbstverständlich ist er Dichter, aber er ist nicht nur Dichter, er ist auch Bildhauer, Komponist, Philosoph, Maler, Architekt, er ist Alles. ›Ich totalisire in meinem ›Ich‹ die verschiedentlichen Intellekte des Weltalls,‹ erklärte er; ›aber es ist recht ermüdend und ich beginne langsam, matt zu werden, ganz allein das erdrückende Gewicht meines Genies zu tragen.‹ Clara Fistule ist noch nicht 17 Jahre alt und, oh Wunder, er ist schon seit langer Zeit in die Tiefe aller Dinge hinabgetaucht. Er kennt das Geheimniß der Quellen und das Räthsel aller Abgründe. Abyssus abyssum fricat.
Sie stellen ihn sich zweifellos seltsam lang und bleich vor, mit einer Stirn, die vom Anstürmen des Gedankens verunstaltet ist, mit vom Träumen und Nachdenken verzehrten Augenlidern? Keineswegs!
Clara Fistule ist ein dicker, feister, schwerfälliger Geselle und von dem gedrungenen Wuchse eines Auvergnaten. Seine Wangen erstrahlen in feuerrother Gesundheit. Er ist sich aber über die körperliche Solidität seines Leibes nicht klar und hält sich gern für ein unkörperliches Wesen. Obwohl er Geschlechtslosigkeit predigt und durch alle Gassen Ausdrücke wie »die Scheußlichkeit, ein männliches Wesen zu sein« und »der Schmutz, als ein Weib zu gelten« schreit, schwängert er doch verstohlen sämmtliche Obsthändlerinnen seines Viertels.
Sie sind ihm sicher schon in den Gemäldeausstellungen, in der Bodinière und bei den Vorstellungen der freien Bühne begegnet. Er ist ein Wesen, das mit einem langen, perlgrauen Überrock bekleidet ist, die Brust in eine kupferrothe Sammtweste gepreßt. Der Schädel, mit seinem langen schlichten Haare, ist mit einem weiten, weichen Schlapphut bedeckt, einem Presbyterhut, auf dem ein Bändchen mit sieben Eichelknöpfen befestigt ist, zur Erinnerung an die sieben Schmerzen des Weibes. So beschaffen ist Clara Fistule. Wie Sie jedenfalls bemerkt haben, stimmen die verschiedenen Einzelheiten nicht allzugut zusammen. Aber Logik kann man von 17jährigen Genies, die Alles verstehen, Alles gefühlt und Alles gesehen haben, nicht verlangen.
Ich empfing Clara Fistule in meinem Arbeitszimmer. Zunächst begann er einen verächtlichen Blick auf die Ausstattung der Wände, die erfindungsreiche Anlage meiner Bibliothek und meine Bilder zu werfen.
Ich erwartete eine Schmeichelei.
– Oh! meinte er, ich interessire mich nicht für solche Sachen. Ich lebe nur im Abstrakten.
– Ist es wohl möglich? antwortete ich, ein wenig verstimmt. Das muß Ihnen zuweilen recht unbequem sein.
– Keineswegs, mein lieber Herr. Das Material der Möbel, die unsymmetrische Rohheit der Wanddekoration bringt mir immer eine Wunde bei. So bin ich auch dazu gelangt, mich gänzlich von diesen kleinlichen Äußerlichkeiten zu befreien. Ich unterdrücke die Umgebung, ich erhebe mich über das Materielle. Meine Bilder, meine Wände sind nur Lichtbilder meines »Ichs«; ich bewohne ein Haus, das nur durch meine Gedanken geschaffen ist und das nur die Strahlen, die von meiner Seele ausgehen, schmücken. Aber darum handelt es sich nicht ... Ich kam zu Ihnen, um von viel ernsteren Dingen zu sprechen ...
Clara Fistule geruhte jedoch, auf einem Sessel, den ich ihm anbot, Platz zu nehmen. Ich entschuldigte mich, daß ich ihm nur einen Sessel zur Verfügung stellen konnte, der so wenig Harmonie mit den Ausstrahlungen seines Astralgesäßes besaß.
– Mein bester Herr, sagte er zu mir, nachdem er eine leutselige, herablassende Geberde als Einleitung gemacht hatte, ich stelle mich Ihnen als der Erfinder einer neuen Methode zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes vor.
– Ah?
– Ja! Ich nenne dies die Stellogenesis. Es ist dies eine Art des Empfängnisses, die mir außerordentlich am Herzen liegt. Ich kann mich eben gar nicht mit dem Gedanken zurechtfinden, daß ich – Clara Fistule – durch die Brutalität eines Mannes und die prostituirende Beihilfe eines Weibes geschaffen sein soll. Deshalb habe ich auch nie die beiden niedrigen Geschöpfe, die das bürgerliche Gesetzbuch meine Eltern nennt, als solche anerkennen wollen.
– Das ehrt Sie, stimmte ich bei.
– Nicht wahr? Sehen Sie, mein bester Herr, es ist doch nicht statthaft, daß ein intelligentes Wesen, wie ich es bin, daß ein nur aus Seele bestehendes Wesen, wie ich es bin, kurz, daß ein der Allgemeinheit überlegenes Wesen, das vom menschlichen Körper nur den unbedingt nöthigen äußeren Schein behalten hat; ich sage, daß es nicht statthaft ist, daß ein solches Wesen aus den scheußlichen Gliedern, die nicht nur Liebesinstrumente, sondern auch die Abzugskanäle der Entleerungen sind, hervorgegangen sein kann. Wenn ich davon überzeugt wäre, daß ich mein Leben einer solchen Kombination von Scheußlichkeiten verdanke, möchte ich keinen Augenblick diese ursprüngliche Entehrung überleben. Aber ich glaube, daß ich von einem Stern gezeugt worden bin ...
– Ich glaube es auch.
– Ich glaube dies umsomehr, als ich zuweilen Nachts in meinem Schlafzimmer rings um mich herum einen eigenartigen Schein verbreite.
– Dazu gratulire ich Ihnen.
– Nun also, mein Herr, um ein für allemal zu Ende zu kommen mit dieser physiologischen Verirrung der Reproduktion des Menschen durch den Menschen, habe ich ein außerordentliches, elementares Werk geschaffen, das ich die »kosmogonischen Fähigkeiten« nenne. Es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Trilogie, welche ich, um sie umso klarer und fühlbarer zu machen, in drei Ausdrucksweisen anführe: Die Bildhauerei, die Dichtkunst und die Musik. Durch die Bildhauerei zeige ich mittelst geometrischer Linien und paralleler Kurven die Verschiebung des Stellar-Eies in dem genauen, furchtbaren Augenblick, da es von den tellurischen Pollen berührt, in menschlicher Form aufbricht ... Das Buch ist die rhythmische Paraphrase dieser Plastik und die Musik ist die orchestrirte Verdichtung, oder deren verdichtete Orchestrirung. Sie sehen, so verschieden es auch im Ausdruck erscheint, ist mein Werk durch die Auffassung und den Zusammenhang des Symbols einheitlich. Nun finde ich aber keinen Menschen, der die Herausgabe besorgen will. Mit anderen Worten: wollen Sie mir zwanzig Francs pumpen?«
Damit enden meine Notizen über Clara Fistule.
Durch den Umstand, daß ich ihm zwanzig Francs gepumpt hatte, die er mir übrigens niemals zurückgab, waren wir Freunde geworden und dann hatte ich eines schönes Tages nicht mehr von ihm sprechen hören.
Wie hatte es nur geschehen können, daß er von einem so hochschwebenden Traum in so tiefgelegene Wirklichkeit herabsank?
Ich drückte ihm meine Verwunderung darüber aus.
– Oho! Du findest mich verändert? sagte er zu mir; das entspricht vollkommen der Wahrheit und es ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Soll ich sie erzählen?
Und ohne ein Zeichen der Zustimmung meinerseits abzuwarten, begann er folgenden seltsamen Bericht:
– Vor beiläufig zehn Jahren war ich leicht unpäßlich und wurde nach X. geschickt. Sicherlich verdient X. den Ruf großer Heilkräftigkeit, mehr als alle anderen Kurorte dieser Art. Während der sechs aufeinander folgenden Jahre, während deren ich in seinem Wasser Genesung suchte, in seinem Klima, durch die Behandlung seiner Spezialärzte gesund werden wollte, hörte ich nicht ein einziges Mal vom Tode sprechen, nicht ein einziges Mal ward mir kund, daß ein Kranker gestorben sei. Ja, der Tod schien in der That in diesem Winkel französischer Erde unterdrückt worden zu sein. Zur Steuer der Wahrheit muß angeführt werden, daß wohl täglich mehrere Personen plötzlich verschwanden, und, wenn man sich erkundigte ... lautete in diesen Fällen die unweigerliche Antwort: »Sie sind gestern abgereist«. Als ich eines Tages mit dem Direktor der Badeanstalt, dem Bürgermeister der Stadt und dem Pächter des Kasinos zusammen dinirte, äußerte ich mich entzückt über dieses dauernde Wunder, wobei ich jedoch einigen Unglauben merken ließ.
– Sie können Erkundigungen einziehen, riefen sie mir im Chor zu. Nun ist es schon zwanzig Jahre her, daß hier kein einziges Begräbniß stattgefunden hat. Unter solchen Umständen, mein bester Herr, haben wir aus dem Personal der Leichenbitter unsere Badewärter, unsere Croupiers und unsere Gesangskomiker herangebildet. Wir gehen allen Ernstes mit dem Gedanken um, unseren Kirchhof nunmehr in einen prächtigen Taubenschießplatz zu verwandeln.
Erst im letzten Jahre meines Kurgebrauches erfuhr ich das Geheimniß dieser außergewöhnlichen Unsterblichkeit. Das ging folgendermaßen zu:
Eines Nachts war ich ungewöhnlich spät auf der Heimkehr begriffen und Alles schien in der unsterblichen, glückseligen Stadt zu schlafen. Da unterschied ich plötzlich von einer Seitenstraße herdringend, dumpfes Geräusch, das Summen gedämpfter Stimmen und leises Flüstern, schwerfällige Schritte, ein eigenartiges Rasseln von Lasten, die aneinanderstießen. Ich bog in diese Straße ein, die eine einzige Gaslaterne nothdürftig erhellte, und zwar am anderen Ende, so daß über das ganze Bild nur ein düsteres, ungewisses, zitterndes Licht fiel. Noch ehe ich genau wahrnehmen konnte, was eigentlich vorging, hörte ich deutlich die folgenden Worte:
– Aber, Kreuzdonnerwetter! Seid doch nur still, ihr werdet noch die Fremden aufwecken! Wenn einem von diesen Kerlen die Laune käme, nachzusehen, was wir eigentlich hier treiben, dann wären wir in einer netten Tinte.
Ich trat noch näher und sah ein seltsames, unerwartetes, düsteres Schauspiel: zehn Särge, deren jeder einzelne von vier Männern getragen wurde. Zehn Särge in einer langen Reihe. Wovon die letzten sich gleich einer endlosen Prozession in Schatten und Dunkel verloren ... In einer Stadt, wo kein Mensch starb, hatte ich plötzlich eine förmliche Stauung von Särgen angetroffen ... Welche verblüffende Ironie des Schicksals!
Nunmehr begriff ich, weshalb seit zwanzig Jahren kein öffentliches Begräbniß in X. stattgefunden hatte. Die Todten wurden eben einfach in nächtlicher Stunde verschickt.
Wüthend darüber, daß ich durch städtische und Kasinobehörden so angeführt worden war, fragte ich einen der Leichenbitter, dessen rothe Nase in dieser shakespeareschen Nacht leuchtete:
– Hollah, mein Freund, was hat das denn zu bedeuten? rief ich ihn an, indem ich auf die Särge deutete.
– Das da? Das sind Koffer – Koffer von Fremden, die abreisen.
– Koffer? Ha, ha, ha!
– Jawohl, Koffer. Wir tragen sie auf den Bahnhof, auf den großen Bahnhof.
Ein Schutzmann, der die ganze Expedition leitete, kam auf mich zu.
– Gehen Sie Ihrer Wege, mein Herr, bat er mich höflich. Sie sind diesen Leuten im Wege, die sich ohnehin schon verspätet haben. Diese Koffer – denn es sind in der That Koffer – haben ein gehöriges Gewicht, und der Zug wartet nicht.
– Der Zug? Ha, ha, ha! Und wohin geht denn eigentlich der Zug?
– Aber ...
– Er geht zur Ewigkeit, nicht wahr?
– Ewigkeit? sagte der Schutzmann ganz kalt; dieses Land kenne ich nicht.
Du kannst Dir jedenfalls lebhaft vorstellen, daß ich am nächsten Morgen dem Bürgermeister der Stadt, dem Direktor der Badeanstalt und dem Pächter des Kasinos durch dieses Abenteuer Entsetzen einflößte. Ich drohte ihnen, Alles zu enthüllen. Sie besänftigten mich, indem sie mir einen bedeutenden Geldbetrag zur Verfügung stellten und mich durch einen günstigen, langdauernden Vertrag zum alleinigen Direktor des Reklamewesens ernannten. Ja, so geht's.
Dabei schlug er mich mit ruhiger Heiterkeit auf die Schenkel.
– Die Geschichte ist nicht schlecht, wie? meinte er.
Dann fuhr er fort:
– Apropos, hast Du schon einen Arzt?
– Jawohl.
– Fardeau-Fardat?
– Nein, Triceps, den Doktor Triceps, meinen Freund.
– Aha, umso besser; denn mit Fardeau-Fardat ist es so eine Sache. Höre mal! Die Geschichte muß ich Dir doch noch erzählen. Es gibt hier wirklich sonderbare Käuze. Man findet in der That nicht die Zeit, sich auch nur eine Minute zu langweilen.
Und Clara Fistule stürzte sich in eine neue Erzählung.
*
»Wie schon bemerkt, war ich Krankheit halber nach X. geschickt worden. Am Tage meiner Ankunft noch suchte ich den Doktor Fardeau-Fardat auf, dem ich angelegentlichst empfohlen worden war. Ich fand einen kleinen, charmanten, lebhaften und lustigen Menschen mit überschwänglicher Redseligkeit, komischem Gebahren, der nichtsdestoweniger Vertrauen einflößte.
Er empfing mich mit aufmerksamer Herzlichkeit, welche gewöhnlich war, und erklärte, nachdem er mich mit einem raschen Blicke vom Kopf bis zu den Füßen abgemessen hatte:
– Aha, aha! Blutarmuth, angegriffene Lungen? Neurasthenisch? Alkoholismus? Syphilitisch? ... ausgezeichnet ... Na, wir wollen mal sehen ... wollen mal sehen. Nehmen Sie einstweilen Platz.
Und während er, ich weiß nicht was, inmitten der Unordnung seines Schreibtisches suchte, fragte er mich mit einem meckernden Lachen in der Stimme, ohne mir die Zeit zu lassen, eine Antwort zu geben:
– Bedauerliche erbliche Belastung? Schwindsüchtige Familie? Syphilitische Eltern? Von väterlicher Seite? Von mütterlicher Seite? ... Verheirathet? ... Junggeselle? ... Aha! ... also die Dämchen! Ach ja, die Dämchen! Na, freilich! Paris! ... Paris! ...
Nachdem er endlich gefunden hatte, was er suchte, begann er mich von neuem des Längeren und Breiteren auszufragen, jedoch mit mehr Methode. Er untersuchte mich mit peinlicher Genauigkeit, maß meinen Brustkasten mit den Bewegungen eines Schneiders, prüfte meine Muskelkraft mit einem Dynamometer, notirte in einem kleinen Notizbuche meine Antworten und Einwände; dann wandte er sich mir plötzlich mit freundlicher, jovialer Miene zu:
– Vor Allem eine Frage? Falls Sie hier vom Tode ereilt werden sollten ... würden Sie sich dann einbalsamiren lassen?
Ich fuhr, wie von der Tarantel gestochen, auf.
– Aber, Herr Doktor?
– Nun, nun, soweit sind wir ja noch nicht, berichtigte sich dieser liebenswürdige Arzt. Zum Teufel auch; aber schließlich, man kann nie wissen ...
– Ich glaubte, sagte ich ein wenig entsetzt, ich glaubte, in X. stürbe man niemals?
– Selbstverständlich! selbstverständlich! Im Prinzip stirbt man hier nicht, aber schließlich ... ein unvorhergesehener Zufall ... persönliches Pech ... eine Ausnahme, nicht wahr, eine Ausnahme von der Regel kann sich immer ereignen? Sie haben neunundneunzig Chancen auf hundert, daß Sie hier nicht verscheiden. Das ist so klar wie irgend etwas ... Aber trotzdem ...
– Nun, ich finde, dann brauchen wir gar nicht davon zu sprechen, Herr Doktor.
– Verzeihung, das ist außerordentlich wichtig. Schon wegen der Art der Behandlung. Alle Wetter!
– Schön, Herr Doktor, falls ich außergewöhnlicherweise und nur dieses einemal hier sterben sollte, würde ich mich nicht einbalsamiren lassen ...
– Oho! meinte der Doktor ... daran thun Sie sehr unrecht. Wir haben nämlich hier einen großartigen Einbalsamirer ... ein wahres Wunder, einen genialen Menschen. Das ist in der That eine ganz einzige Gelegenheit, mein bester Herr, allerdings läßt er sich sehr theuer bezahlen, aber er ist eben auch ein Künstler in seiner Art. Wenn Jemand hier einbalsamirt wird von seiner feinfühligen Hand, so glaubt der Todte, er sei noch am Leben. Er hat die vollkommenste Illusion; man möchte meinen, er würde laut aufschreien. Ja, er balsamirt ein ... balsamisch!!!
Und da ich noch immer den Kopf schüttelte, um ein energisches Nein auszudrücken, fuhr er fort:
– Sie wollen also nicht? Nun, meinetwegen. Schließlich hat man ja hier nicht allgemeinen Einbalsamirungszwang.
Und auf die Notizbuchseite, wo er alle die Bemerkungen, die er in Bezug auf meine Krankheit aufgenommen hatte, einschrieb, schrieb er mit rothem Stift und großen Buchstaben: »Nicht einbalsamiren«. Dann schrieb er mir ein endloses Rezept auf, das er mir mit den Worten übergab:
– Hiernach leben Sie, das ist eine ernste Kur. Ich werde Sie täglich besuchen, sogar zweimal des Tages.
Dann drückte er mir warm die Hand und rief im Fortgehen:
– Na, sei es, wie es sei, im Grunde haben Sie nur recht daran gethan. Auf Wiedersehen, morgen!
Ich muß hier bemerken, daß ich nach und nach Geschmack an seiner genialen, aufopfernden Pflege fand. Seine Originalität, seine unwandelbare Fröhlichkeit, die immer ganz von selbst zum Ausdruck kam und nur manchmal etwas absonderlich erschien, hatten mich ganz und gar für ihn gewonnen. Mit der Zeit wurden wir treue, intime Freunde.
Als er sechs Jahre darauf eines Abends bei mir dinirte, theilte er mir mit, daß ich endgiltig geheilt sei, was ihm so aufrichtige Freude zu bereiten schien, daß ich bis in die Tiefe des Herzens hinein gerührt war.
– Und wissen Sie, lieber Freund, sagte er zu mir, daß Sie fast von den Pforten des Todes zurückgekommen sind? Alle Wetter, ja!
– Ich war also sehr krank, nicht wahr?
– Ja, wie man's nimmt. Eigentlich verhält sich die Sache etwas anders. Erinnern Sie sich noch des Tages, als ich so sehr in Sie drang, Sie mögen sich einbalsamiren lassen?
– Selbstverständlich ...
– Nun, ja, wenn Sie damals »Ja« gesagt hätten, dann wären Sie ein todter Mann gewesen ...
– Aber ich bitte Sie, weshalb denn?
– Nun, weil ...
Er unterbrach sich plötzlich, wurde ernst und sorgenvoll, was einige Sekunden lang andauerte; dann fand er seine gewohnte Fröhlichkeit wieder und erklärte:
– Nun, weil die Zeiten damals schlecht waren; man muß doch leben ... Herrgott, haben wir damals arme Kerle einbalsamirt ... Leute, die in diesem Augenblicke ebenso lebendig und frisch wären wie ich ... Was soll man machen? Der Tod der Einen ist das Leben der Anderen ...
Dann zündete er sich eine Zigarre an.
*
Clara Fistule hatte geendet ... Ich war höchst verblüfft über diese vertrauliche Mittheilung, während er noch zu mir bemerkte:
– Der Doktor Fardeau-Fardat ist ein prächtiger Kerl, dessen kannst Du überzeugt sein ... Nur ... siehst Du ... Du darfst mich nicht mißverstehen ... bei ihm ist man seiner Sache niemals so recht sicher ... er balsamirt ein ... balsamisch ... Na, sei es, wie es sei ... gestehe mir nur, daß Du mich recht verändert findest?
– Alle Wetter, ja! entgegnete ich; es gibt also keine kosmogonischen Kräfte mehr für Dich ... auch keine Stellogenesis?
– Was sprichst Du da? rief Clara Fistule aus. Mein Gott, die Begeisterung der Jugend ... Das Alles liegt jetzt recht ferne ...
Es fiel mir an jenem Abend außerordentlich schwer, mich von meinem Freunde zu befreien, der mich absolut nach dem Spielsaale schleppen wollte. Er versprach sogar, mich mit sehr netten Dämchen bekannt zu machen ...
Obwohl der Doktor Triceps nicht gerade mehr werth ist, als der Doktor Fardeau-Fardat ... nenne ich Triceps doch meinen Freund. Ich kenne ihn ja schon seit so langer Zeit ... Und da er doch nun einmal hier ist ... da er doch nach einer hübschen Reihe von Abenteuern schließlich in diesem Bade gestrandet ist, so nehme ich ihn ebenso gern wie einen anderen. Wenn man schon sterben soll, kommt es auf einen Arzt mehr oder weniger nicht an.
Das ist auch ein toller Kerl, wie Clara Fistule sich auszudrücken pflegt.
Äußerlich erscheint er als ein kleiner, mittelmäßig veranlagter, ehrgeiziger, unruhiger und starrköpfiger Mensch. Er kümmert sich um Alles und Jedes und glaubt in allen Dingen gleichmäßig erfahren und sachverständig zu sein. Er ist es, der im Jahre 1897 bei dem internationalen Ärzte-Kongreß in Ungarn die Entdeckung machte, daß die Armuth eine Nervenkrankheit sei. Im Jahre 1898 übergab er der biologischen Gesellschaft ein höchst gehaltvolles Denkschreiben, in dem er Blutschande als ein Mittel zur Wiederherstellung einer guten Rasse verkündet. Im folgenden Jahre passirte mir eine ziemlich ungewöhnliche Geschichte, die mir alles Vertrauen in seine diagnostische Fähigkeit gab.
Eines Tages hatte ich mich nach dem Keller begeben – Gott weiß, weshalb – dort fand ich in einer alten Schachtel unter einer Decke von Heu, die als Einpackmittel benutzt worden war, ja, da fand ich ... einen Igel. Zu einer Kugel zusammengerollt schlief er jenen tiefen schrecklichen Winterschlaf, dessen logische Erklärung uns die Gelehrten noch schuldig sind – man nennt dies, glaube ich, Morphologie? ...
Die Thatsache, daß dieses Thier in einer Schachtel schlummerte, verwunderte mich nicht gerade. Der Igel ist ein scharfsinniger und außergewöhnlich schlauer Vierfüßler. Statt sich für den Winter die wenig angenehme Schutzbedeckung unter dem unsicheren Dache verfaulender Blätter oder in der Höhlung eines alten, abgestorbenen Baumes zu suchen, hatte dieser richtig genug geurtheilt, daß er wärmer und ruhiger in einem Keller untergebracht sei. Berücksichtigen Sie ferner, daß er zu dieser raffinirten Annehmlichmachung seines luxuriösen Aufenthaltes diese Schachtel für den Winterschlaf ausgesucht hatte, weil sie an die Wand gelehnt stand, genau an der Stelle, wo das Rohr der Centralheizung vorüberging. Ich erkannte daran einen der den Igeln eigenthümlichen Kniffe, die nicht wie gewöhnliche arme Schlucker vor Kälte umkommen ...
Das Thierchen, das ich durch geschickte Bäder nach und nach aufweckte, schien nicht übermäßig verblüfft zu sein, daß in diesem Keller ein Mensch, der sich über seine Schachtel beugte, es indiskret untersuchte. Langsam rollte es sich auf, dehnte sich mit schlauen Bewegungen ein wenig, richtete sich auf seine niedrigen Pfoten auf, streckte sich wie eine Katze und kratzte mit seinen Nägeln den Boden ... Ein merkwürdiger Moment ist noch zu verzeichnen. Als ich ihn in die Höhe hob und in meine Hand nahm, rollte er sich nicht nur nicht wieder in eine Kugel zusammen, sondern er streckte sogar nicht eine einzige seiner Stacheln aus und runzelte auch nicht die Falten seiner winzigen Stirn. Im Gegentheil! An der Art, wie er brummte und seine Kinnladen bewegte, an der Art, wie sein schnupperndes Näschen zitterte, sah ich, daß er Freude, Vertrauen und ... Appetit zum Ausdruck bringen wollte. Das arme Teufelchen! Es erschien bleich und sozusagen hektisch, farblos nach Art der Salate, die lange Zeit an einem dunkeln Orte gelegen haben. Seine tiefschwarzen Augen glänzten in den eigenthümlichen Strahlen der Augen bleichsüchtiger Menschen und seine feuchten, leicht triefenden Augenlider enthüllten meinem geübten Auge den Zustand weit vorgeschrittener Blutarmuth.
Ich brachte ihn in die Küche herauf, wo er uns alle sogleich durch sein vertrauliches Wesen und durch die gemüthliche Ruhe verblüffte. Er that ganz so, als ob er zu Hause wäre. Er schnüffelte wie ein Ausgehungerter nach den Kochtöpfen, die auf dem Herd schmorten und seine Nasenlöcher sogen mit Entzücken den Duft der Saucen ein, der in der Luft schwebte.
Ich gab ihm zuerst Milch, die er gierig aufschlürfte. Dann reichte ich ihm ein Stückchen Fleisch, auf das er sich, nachdem er es berochen hatte, heißgierig stürzte, ganz wie ein Tiger auf seine Beute. Er kreuzte beide Vorderpfoten auf dem Stück Fleisch, was ein Zeichen endgiltiger Besitznahme sein sollte, begann es an den Ecken anzuknabbern, wobei er schnurrte, während seine schwarzen Äuglein in wildem Glanz erstrahlten. Winzige rothe Fleischfetzchen hingen von seinen Kinnbacken herab, sein Schnäuzchen wurde von dem Safte feucht. Binnen wenigen Sekunden hatte er das Fleisch verschlungen. Ein ähnliches Schicksal ereilte eine Kartoffel; einige Weinbeeren verschwanden, so wie ich sie ihm gegeben hatte. Dann vertilgte er eine Taffe Kaffee, wobei er laut schmatzte. Vollgefressen, ließ er sich sodann auf die Schüssel niedergleiten und schlief ein.
Am nächsten Morgen war der Igel ganz wie ein Hündchen gezähmt; so wie ich das Zimmer betrat, in dem ihm ein warmes Nest bereitet worden war, zeigte er außerordentliche Freude, lief mir entgegen und war erst zufrieden, wenn ich ihn in meine Hände genommen hatte. Wenn ich ihn dann streichelte, wobei seine Stacheln auf dem Rücken lagen und sich wie ein Katzenfell anfühlten, ließ er ein freudiges Grunzen vernehmen, das schließlich in seiner eintönigen, einschläfernden Folge dem Schnurren einer Katze glich.
Ja, ich muß dies allen Naturforschern zur Kenntniß bringen: mein Igel schnurrte!
Da er mir viel Vergnügen bereitete und ich ihn recht lieb gewonnen hatte, erwies ich ihm die Ehre, ihn zu Tische heranzuziehen. Seine Schüssel wurde neben der meinen aufgestellt. Er langte von Allem zu und zeigte komische Ausbrüche von Ärger, wenn ein Gericht weggetragen wurde, ohne daß er davon gekostet hatte ... Ich habe nie ein Geschöpf kennen gelernt, das so leicht wie er zu ernähren gewesen wäre. Fleisch, Gemüse, Konserven, Mehlspeisen, Obst, all' das verschlang er mit gleichem Eifer. Für Kaninchen aber hatte er eine ganz besondere Vorliebe. Ihren Duft schnüffelte er schon von ferne ... An jenen Tagen wurde er förmlich toll. Man konnte ihn gar nicht sättigen. Dreimal überfraß er sich an Kaninchen dermaßen, daß der arme Kerl fast draufgegangen wäre. Ich mußte ihm drastische Medikamente und starke Abführmittel eingeben.
Das Unglück wollte es, daß ich aus Schwachheit und vielleicht auch aus Verderbtheit ihn allmälig an alkoholische Getränke gewöhnte. Nachdem er sie einmal gekostet hatte, weigerte er sich mit zorniger Halsstarrigkeit, etwas Anderes zu trinken. Er vertilgte tagtäglich sein Gläschen Cognac, ganz wie ein Erwachsener. Es genirte ihn in keiner Weise, er wurde weder aufgeregt, noch zeigte er Trunkenheit. Er war ein solider Trinker, der »sein Theil« vertrug, ganz wie ein alter Kriegsmann. Er gewöhnte sich auch an Absinth und schien sich nicht übel dabei zu befinden. Seine Färbung war dunkler geworden, seine Augen troffen nicht mehr, jede Spur von Blutarmuth war verschwunden. Zuweilen entdeckte ich in seinem Blicke einen sonderbaren Ausdruck, eine Art wollüstigen Strahlens. Da ich überzeugt war, daß er stets nach seinem Heim zurückkehren würde, ließ ich ihn in schönen, warmen Nächten in das Wäldchen wandern, wo er auf Abenteuer ausging. Am nächsten Tage, beim ersten Morgengrauen war er wieder vor der Thür angelangt, und wartete, bis man ihm öffnete. Dann schlief er fast den ganzen Tag über einen bleiernen Schlaf und machte so seine nächtlichen Ausschweifungen wett.
Eines Morgens fand ich ihn auf seinem Lager ausgestreckt. Er erhob sich nicht, als ich mich ihm näherte. Ich rief ihn an. Er rührte sich nicht. Ich nahm ihn in die Hand, er war ganz kalt. Er athmete indessen noch. Seine Äuglein warfen mir einen Blick zu, zu dem er noch die Kraft fand, einen Blick, den ich nie vergessen werde. In diesem sonderbaren Blick lagen Erstaunen, Trauer, Zärtlichkeit und soviel geheimnißvolle tiefe Dinge, die ich wohl hätte verstehen mögen, die ich aber nicht begriff ...
Er athmete noch ... eine Art leises Röcheln, gleich dem Glucksen einer Flasche, die sich leert, entschlüpfte ihm ... Dann zuckte er zusammen. Ein Schrei, ein Schauer, ein Schrei, wieder ein Schauer ... er war todt ...
Fast wäre ich in Thränen ausgebrochen ...
Betroffen betrachtete ich ihn, während ich ihn in der Hand hielt. Er trug keinerlei Spuren von Gewalt an seinem Körper, der jetzt schlaff wie ein Fetzen war; kein Anzeichen von Krankheit war zu erkennen. Am Vorabend war er überhaupt nicht nach dem Wald gegangen und hatte fröhlich und männlich sein Gläschen Cognac vertilgt. Woran war er also gestorben? Weshalb war dies so plötzlich gekommen?
Ich schickte Triceps den Leichnam, der die Autopsie vornahm und hier sehen Sie die Zeilen, die er mir drei Tage darauf zusandte:
»Lieber Freund! Vollständige Alkoholvergiftung. Starb am Lungenschlag der Säufer. Ein besonders bei Igeln seltener Fall.
Dein ergebenerAlexis Triceps Doctor med.«
Sie sehen also, daß mein Freund Triceps kein absoluter Idiot ist.
Der gute Triceps!
Ach, eine merkwürdige Reise war es, die ich seinerzeit nach X. unternahm ... in Familienangelegenheiten. Wie lange dies schon her ist! Als ich meine Angelegenheiten erledigt hatte, erinnerte ich mich, daß ich einen Freund unter den Ärzten der Irrenanstalt hatte, der kein Anderer als Triceps war. Ich beschloß also, ihm einen Besuch abzustatten. An jenem Tage herrschte ein wahres Hundewetter. Die Luft war eisig; wilde Nordwindstöße fuhren mir unsanft über das Gesicht. Statt mich in ein Kaffeehaus zu flüchten, winkte ich einen Wagen herbei und ließ mich nach dem Irrenhause fahren.
Der Wagen durcheilte die Geschäftsviertel und die übervölkerten Vorstädte. Er durcheilte das trübselige Ende der Stadt und machte plötzlich zwischen freien Baugründen, die von Lattenzäunen umgeben waren, während ringsum riesige schwarze Neubauten auftauchten, zwischen Spitälern, Gefängnissen und Kasernen Halt. Krähen und Raben trieben dort ihr Unwesen, als ich anlangte. Das Gebäude selbst war aus traurigen, dicken, erstickenden Mauern zusammengesetzt; nur hie und da unterschied man kleine vergitterte Fenster, hinter denen man Leiden, Verdammniß und Tod ahnte. Vor einem schmutzigen, grau angestrichenen Thore stieg ich aus.
– Hier sind die Narren ... wir sind zur Stelle ... sagte der Kutscher.
Ich zögerte einige Sekunden lang, diese fürchterliche Schwelle zu überschreiten. Zunächst zweifelte ich nicht daran, daß ich von Seiten meines Freundes mit Fragen indiskreter Natur und Quälereien jeder Art bestürmt werden würde; dann fiel mir auch ein, daß ich den Blick eines Irrsinnigen nicht ertragen konnte. Dieser Blick des Wahnsinns entsetzte mich besonders durch die Möglichkeit einer Ansteckung, und der Anblick der langen, verkrampften Finger der Narren und ihrer zu einer Grimasse verzogenen Lippen macht mich krank. Mein Hirn wird also gleichsam die Beute ihres eigenen Deliriums; ihr Wahnsinn überträgt sich im nämlichen Augenblick auf meinen ganzen Organismus; an den Sohlen fühle ich ein schmerzhaftes und höchst beunruhigendes Kribbeln, wodurch ich in den Höfen eines Krankenhauses wie ein Truthahn hüpfen muß, den grausame Jungen über eine heiße Platte jagen.
Dennoch trat ich ein. Der Portier wies mich an einen Wärter, der mich Höfe, Höfe und wieder Höfe durchkreuzen ließ, die zu dieser Stunde glücklicherweise öde und verlassen waren. Dann ging es durch endlose Gänge und Treppen, Treppen und wieder Treppen hinauf. In den Wandelgängen konnte man von Zeit zu Zeit durch vergitterte Thüren große Säle mit weiß angestrichener Wölbung unterscheiden. Auch sah ich, wie sich Nachtmützen in schauriger Weise auf bleichen, verzogenen Stirnen bewegten. Dann aber zwang ich mich, nur noch die Wände und den Fußboden anzusehen, auf dessen Fliesen, an den von der Sonne beleuchteten Stellen der Schatten verkrampfter Hände zu fallen schien. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie es geschah, daß ich mich plötzlich in einem recht hellen Zimmer befand. Mein Freund Triceps fiel mir um den Hals.
– Ei! Ei! ... Nein, diese Überraschung! ... Bist Du es wirklich? ... Du kommst mir gerade recht! Du könntest gar nicht zu einer gelegeneren Zeit anlangen! Das war ja ein ausgezeichneter Gedanke! ...
Und ohne mich weiter zu begrüßen, begann er:
– Hör' mich mal an! ... Du willst mir doch einen Gefallen thun? ... Sag mal, ich habe gerade eine kleine Arbeit über »Dilettanten der Chirurgie« vollendet ... Du weißt wohl nicht, was das sein soll? ... Nein? ... Das ist eine neue Wahnsinnsform, die soeben entdeckt worden ist ... Die Kerle, die alte Frauen zerstückeln ... sind nämlich keine Meuchelmörder, das sind ganz einfach »Dilettanten der Chirurgie«. Statt sie guillotiniren zu lassen, sollten sie eine Kaltwasserkur erhalten ... Aus Deibler's (des Scharfrichters von Paris) Händen müßten sie eigentlich in die meinen übergehen ... Ja, so verhält sich das in der That. Ist das nicht zum Todtlachen? ... Im Grunde genommen, ist mir das ja ganz egal. Ich habe eine äußerst gehaltvolle Denkschrift über die »Dilettanten der Chirurgie« verfaßt. Ich habe sogar – das ist das Allerspaßigste – ich habe sogar den Auswuchs im Gehirn gefunden, der dieser Manie entspricht ... verstehst Du? ... Na also, ich will diese Denkschrift der medizinischen Akademie von Paris vorlegen ... Du mußt Dich also für mich verwenden und Intriguen spinnen, damit ich einen Preis erhalte ... einen kolossalen Preis und die akademischen Palmen ... Ich rechne auf Dich ... Du wirst in meinem Interesse die Herren Lancereaux, Pozzi, Bouchard, Robin und Dumontpallier aufsuchen ... Du wirst sie Alle besuchen ... ich rechne auf Dich, das kann ich doch thun, nicht wahr? ... Übrigens wollte ich Dir gerade schreiben ... Nein wahrhaftig, altes Haus! Du kommst im rechten Augenblick ... alle Wetter ja, das ist ein wahres Glück ...
Während er sprach, beobachtete ich ihn. Seine Taille schien noch engbrüstiger geworden zu sein, sein Schädel gerader, sein Kinnbart spitzer. Mit seiner Sammtmütze und seiner Blouse, die sich wie ein Ballon aufblies, mit seinen kurzen abgehackten Bewegungen glich er einem Kinderspielzeug, einem Hanswurst, wie man deren auf Weihnachtsmärkten zu sehen bekommt.
– Und was sagst Du zu meinem Zimmer? fragte er mich unvermittelt. Hier ist es hübsch, nicht wahr? ... Ich bin hier recht gut untergebracht? ... Und das erst? ... Was sagst Du erst zu dem da?
Damit öffnete er das Fenster und deutete mit der Hand hinaus.
– Diese Bäume da in nächster Nähe und die kleinen weißen Dinger, das ist der Kirchhof ... Hier ... rechter Hand ... diese großen, schwarzen Häuser, das ist das Hospital ... zu Deiner Linken ... Du siehst doch genau, was ich Dir zeige ... das sind die Kasernen der Marineinfanterie ... Das Gefängniß kannst Du von hier aus nicht genau unterscheiden ... aber nachher, wenn wir im Hofe sind, werde ich es Dir zeigen ... Ja! hier gibt es frische Luft und Ruhe ... hier wird man in Frieden gelassen ... Gehen wir hinunter ... ich will Dir jetzt dies Alles zeigen ...
Wir gingen in der That hinunter ... Gleichzeitig ertönte eine Glocke.
– Sieh mal an. Du kannst wirklich von Glück reden! sagte Triceps zu mir; jetzt ist gerade die Stunde, wo die Narren in die Höfe hinabgelassen werden.
Dann begaben wir uns nach einem der Höfe. Einige Geisteskranke gingen unter den Bäumen auf und ab, sie sahen traurig und unstät aus; andere Narren saßen unbeweglich und trotzig auf Bänken. Längs der Mauern, besonders in den Ecken hatten sich einige Narren auf dem Boden niedergelassen, einige stöhnten; andere erschienen schweigsamer, gefühlloser, todter als Leichen.
Der viereckige Hof wird von hohen, schwarzen Gebäuden umschlossen, in die Fenster gebrochen sind, die Einen gleichfalls mit wahnsinnigen Blicken anzustarren scheinen. Kein Ausblick auf Freiheit und Freude; stets ein und dasselbe Viereck des Himmels. Und man hört ein dumpfes Klagen, unterdrückte Schreie, gedämpftes Geheul, das aus Gott weiß welchen Folterkammern hervordringt, aus Gott weiß welchen unsichtbaren Gräbern und fernen Höllen ... Ein Greis springt auf seinen schlotternden, schwachen Beinen hin und her mit steifem Leib, die Hände in die Hüften gepreßt. Einige gehen rasch auf irgend ein unbekanntes Ziel los, andere zanken mit sich selber herum.
So wie die Wahnsinnigen uns bemerken, werden sie aufgeregt, bilden Gruppen, flüstern, berathen, erwägen und richten verstohlen ihre naiven, mißtrauischen Blicke auf uns. Man sieht sie auch vom Boden aufspringen und drohende Bewegungen machen, wobei ihre fahlen Hände in der Luft einem Schwarm aufgeschreckter Vögel gleichen. Die Wärter schreiten durch die Gruppen und ermahnen sie in rauhem, grobem Tone, sich ruhig zu verhalten. Ich höre einige Brocken der Unterhaltung.
– Ob es wohl der Präfekt ist?
– Geh Du doch nur mal hin!
– Nein, Du ...
– Er versteht mich nicht, wenn ich mit ihm spreche.
– Auf mich hört er überhaupt nicht.
– Wir müssen aber doch von ihm verlangen, daß uns nicht wieder Kröten in der Suppe vorgesetzt werden.
– Wir müssen ihn wirklich bitten, daß man uns ein bischen im Freien spazieren führt.
– Geh Du doch nur zu ihm hin ... und sprich ohne Weiteres wie ein Mann mit ihm ...
– Nein, Du!
– Schön, ich gehe.
Einige Kranke lösen sich von den Gruppen ab, gehen auf Triceps zu und beklagen sich gehässig und unklar über schlechte Nahrung, grobe Behandlung seitens der Wärter und die Ungerechtigkeit des Schicksals. Die Gesichter werden ganz eifrig und sie strecken die Hälse weit vor. In allen diesen armen, erschreckten Kinderaugen erscheint ein Leuchten ungewisser Hoffnung, während der Greis, der auf den Zwischenfall gar nicht geachtet hat, auf seinen schlechten Beinen immer weiter springt und ein junger Mann mit begeisterten Augen, die Arme weit ausgestreckt, mit seinen langen Knochenhänden ohne Unterlaß den leeren Raum zu umarmen scheint.
Triceps gibt auf alle diese Reklamationen die eine Antwort:
– Schön, ich werde mir es merken ... Es wird schon geschehen.
Dann sagte er zu mir:
– Diese Armen sind im Grunde ganz gute Kerle. Sie erscheinen nur etwas verschroben ... Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben.
Ich antwortete:
– Sie sehen durchaus nicht verrückter als andere Menschen aus ... Ich hatte mir einen ganz anderen Begriff von ihnen gemacht ... Ich finde, dieser Hof hier ist ein getreues Abbild der Deputirtenkammer, nur etwas malerischer.
– Es geht hier auch viel lustiger her ... und dann, lieber Freund, wirst Du eine sehr spaßhafte Sache hier zu sehen bekommen ... Du kannst Dir gar keinen Begriff davon machen, wieviel Geist diese armen Kerle zuweilen entwickeln ...
Er hielt einen der vorübergehenden Narren an und befragte ihn:
– Weshalb willst Du heute von mir nichts haben?
Der Wahnsinnige macht eine traurige Bewegung ... er sieht bleich, mager und niedergeschlagen aus.
– Wozu? erklärt er.
– Bist Du böse? ... Hast Du Dir etwas in den Kopf gesetzt?
– Ich bin durchaus nicht böse ... ich bin traurig.
– Du sollst aber nicht traurig sein, ... für Deinen Zustand ist das nicht zweckmäßig ... Sage uns doch nur, wie Du heißt?
– Was wünschen Sie?
– Ich möchte Deinen Namen hören ... sage uns Deinen Namen!
In milder Weise und im sanften Tone des Vorwurfs antwortete der Geisteskranke:
– Das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie einen armen Menschen zum Besten haben. Sie wissen doch besser, als irgend ein Anderer, daß ich gar keinen Namen mehr besitze. Soll ich den Herrn hier als Schiedsrichter anrufen? Der Herr ist doch zweifellos der Herr Präfekt?
Und auf eine bejahende Geste von Triceps hin fuhr er fort:
– Schön, ich bin über dieses Zusammentreffen sehr erfreut. Sehen Sie, Herr Präfekt, ich hatte einen Namen, wie alle Welt ... nicht wahr, das war mein gutes Recht? Das ist doch wirklich nicht zuviel verlangt, was meinen Sie dazu? Nun, als ich in dieses Haus trat, hat dieser Herr mir meinen Namen weggenommen.
– Du weißt nicht, was Du sagst.
– Verzeihung, ich weiß sehr genau, was ich sage ...