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Das Buch wirft einen neuen Blick auf die Christenheit des Mittelalters. Sie war vielfältig, und durch einfache Lebensverhältnisse in viele Glaubensgemeinschaften aufgeteilt, wuchs sie erst im Laufe der tausend Jahre des Mittelalters zusammen. In diesen tausend Jahren wurden aus den kleinen christlichen Gemeinschaften der Mächtigen unter der Führung von Königen eine Christenheit, die sich über ganz Europa erstreckte und Menschen aller Schichten umfasste. Dieser Prozess war voller Wandlungen, die die Christenheit tiefgreifend veränderten, begleitet von Konflikten und Neuanfängen. Martin Kaufhold verfolgt diese Wandlungen aus der lebendigen Perspektive der handelnden Menschen dieser Zeit und ihrer großen Fragen. Die Darstellung ist nahe an den historischen Quellen, und die 17 Kapitel entwerfen in verständlicher Sprache den Kosmos der mittelalterlichen Christenheit von den frühmittelalterlichen Anfängen über die dramatischen Umbrüche bis zu den letzten Dingen.
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Seitenzahl: 693
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martin Kaufhold
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Hermann-Herder-Str. 4, D-79104 Freiburg i. Br.
Alle Rechte vorbehalten
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Satz: dtp studio eckart | Jörg Eckart, Frankfurt am Main
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ISBN Print 978-3-451-02977-6
E-Book (EPub) 978-3-451-84277-1
Mir erscheint, König, das gegenwärtige Leben der Menschen auf der Erde im Vergleich zu der Zeit, die für uns ungewiss ist, wie wenn Du mit deinen Earldomen und Thanen im Winter beim Mahle sitzt, am lodernden Feuer in der Mitte, in der erwärmten Halle, während draußen die Winterstürme mit Regen und Schnee wüten, und einer der Sperlinge hereinkommt und die Halle sehr schnell durchfliegt; wenn er durch die eine Tür hereinkommt, fliegt er bald durch die andere hinaus. Zwar wird er während der Zeit, in der er drinnen ist, vom Wintersturm nicht berührt, aber er entkommt dennoch deinen Augen, da er nach dem raschen Ende der sehr kurzen Zeit des schönen Wetters sogleich vom Winter in den Winter zurückkehrt. So erscheint dieses Leben der Menschen als sehr kurze Zeit; was aber folgt und was vorausgeht, das wissen wir überhaupt nicht. Wenn aber diese neue Lehre etwas Gewisseres bringt, scheint sie zu Recht befolgenswert zu sein.
Ein Berater König Edwins von Northumbria plädiert im Jahr 627 für die Annahme des Christentums in dessen Königreich.1
Vorwort
Einleitung: Ein anderer Blick
Teil IWeite Räume und wenige Priester: Die Christen im frühen Mittelalter (5.–11. Jahrhundert)
1 Das römische Erbe und die barbarische Herausforderung
Das Absinken der römischen Ordnung
Bedas Welt
2 Wege zum Glauben
Die irische Mission
Regionale Welten des Glaubens
Die Christenheit im Übergang zum Mittelalter
3 Bekehrungen (500–1000)
Chlodwigs Bekehrung (um 500)
Die Bekehrung Edwins von Northumbria (627)
Die Königinnen
Die Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen (772–um 800)
Island wird christlich (1000)
4 Könige und Bauern
Im Kreis der Könige
Liuthar-Evangeliar und Regensburger Sakramentar
Bäuerliche Welt und christlicher Glaube
5 Gelebtes Vorbild und hierarchische Doktrin: Die Vermittlung und Verbreitung des Glaubens
Bonifatius
Synoden und schriftliche Überlieferung
Regino von Prüm
Die Grenzen der geistlichen Autorität
Die Welt der Klöster
Benedikt von Nursia und die Benediktregel
Der Weg der Mönche
Teil IINeue Fragen, radikale Antworten: Der Glaube im hohen Mittelalter (11.–13. Jahrhundert)
6 Das Christentum als Lebensform: Die Christianisierung Europas (1050–1300)
Aufbrüche
7 Der Aufstieg des Papsttums in unruhigen Zeiten
Gregor VII.
Das Papsttum auf dem Höhepunkt seiner Macht
8 Die Grenzen der päpstlichen Macht
Widerstände gegen Gregor VII.
Das Beispiel Konstanz
Das Unbehagen des Sigebert von Gembloux
Soziale und religiöse Unruhe
Anselm von Canterbury: Cur Deus Homo
Die Sorge um das Seelenheil
9 Aufbruch in Armut
Leben wie die Apostel
Franziskus
Die Franziskaner nach Franziskus
Grundzüge des Aufbruchs in Armut
10 Gewalt und Verfolgung
Kreuzzüge und Judenpogrome
Die blutige Eroberung Jerusalems
Die Verfolgung von Häretikern
Die Inquisition
11 Die Heilige Schrift und die Wirkung christlicher Texte
Eine Religion des Buches
Christliches Personal für eine Welt der Helden
Der Text der Heiligen Schrift
Übersetzungen
Der Sitz im Leben
Die biblische Bibliothek
Skriptorien und die Verbreitung der Texte
Neue Leserschichten
Neue Formate
Hilfsmittel für das Verständnis der Bibel
Exegese
12 Weibliche Spiritualität
Maria von Oignies – eine frühe Begine
Die tägliche Arbeit des Glaubens
Christliche Mütter
Dhuoda als Erzieherin
Führende Frauen
Heloïse
Eine Ausnahmeerscheinung: Hildegard von Bingen
Katharina von Siena und die Krise des Papsttums
Birgitta von Schweden
Anmut in der Bedrängnis: Johanna von Orléans
13 Auf Augenhöhe mit guten und finsteren Mächten: Der religiöse Alltag
Dämonen
Natürliche Geister
Engel
Dunkle Magie
Figürliche Darstellungen
14 Die besonderen Christen: Ein neues Klerikerideal
Gratian
Sanktionen
Neue Priester
Pfarrer und Pfarreien
Städtische Pastoral
Landpfarrer
Geistliche Rivalitäten
Wilhelm Durandus und sein Rationale
Teil IIIMenschen aus Fleisch und Blut: Die Christenheit im späten Mittelalter (14.–15. Jahrhundert)
15Ecce homo: Leiden mit dem Gekreuzigten
Neue Ausdrucksformen in der Passionsdarstellung
Leidenserfahrungen
Andacht
Eine neue religiöse Haltung
Die innere Einstellung
Die verletzliche Kreatur
16 Viele Aufbrüche, aber kein Umbruch: Reformen
Reformbedarf
Konzilien
Ein Klerus in vielen Gestalten
Reformvorschläge
Das Basler Konzil und das Ende des Konziliarismus
Ordensreformen
Jan Hus und John Wyclif
Die Aufbrüche der Laien
Thomas von Kempen
Antonello da Messina
17 Die letzten Dinge
Im Angesicht des Todes
Augustinus
Biblische Belege
Reinigendes Feuer
Jenseitsvorstellungen
Jenseitsreisen
Das Jüngste Gericht
Die Hölle
Auferstehung und Paradies
Schluss Grundzüge einer Geschichte der Christenheit im Mittelalter
Frühes und hohes Mittelalter: Ein Glaube für Macht und Sieg
Der Umschwung im 13. Jahrhundert: Die Armutsbewegung und die Hinwendung zur Passion
Reale Vielfalt und die Illusion der Einheit
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Zitierte Quellen
Weiterführende Literatur
Bildnachweis
Zum Autor
Personenregister
Das Anliegen dieses Buches ist eine lebendige Geschichte der mittelalterlichen Christenheit. Die Darstellung bleibt nah an den Menschen, von deren Fragen, von deren Leben und von deren Glauben es handelt. Die Christenheit im Mittelalter war eine Welt in Bewegung, geprägt von Traditionen, aber voller Aufbrüche, voller Widersprüche und voller Leben. Für die historische Darstellung bedeutet das, nahe an den Quellen zu bleiben. Die Geschichte des Papsttums, der Kirchenstrukturen, der vielen Ämter spielt hier nur eine Nebenrolle. Dazu gibt es bereits viel Literatur. In diesem Buch geht es besonders um den Wandel der Christenheit in den tausend Jahren des Mittelalters. Tausend Jahre sind eine lange Zeit, und in dieser Zeit änderte die lateinische Christenheit ihre Zusammensetzung und ihr Erscheinungsbild entscheidend. Aus kleinen Christenheiten, die von Königen dominiert wurden, entstand eine europäische Christenheit, die von Menschen sehr verschiedener Herkunft geprägt wurde. Sie war weniger harmonisch, als dies meist vermutet wird. Sie war lebendig, aber auch aggressiv, dynamisch, aber auch von autoritärer Unbeweglichkeit. Die Vielfalt macht ihren Reiz aus. Viele ihrer Ansätze und ihrer Aufbrüche prägen das Bild der Christenheit bis heute. Dabei überwiegt heute meist ein autoritäres Bild dieser Epoche. Das liegt in einem hohen Maß an einer Interpretation der Geschichte, die die Rolle des Papsttums und der Hierarchie in den Mittelpunkt stellt. Es geht auch anders. Dieses Buch versucht die Perspektive zu öffnen und die unruhigen Menschen im Mittelalter ins Zentrum zu stellen.
Es gehört zur guten Praxis in der Wissenschaft, Quellenzitate nachzuweisen. Darum habe ich mich bemüht. Es ist ein Privileg des Professorenberufs, großen Fragen über längere Zeit nachgehen zu können. Und ich bin meinem Lektor, Dr. Bruno Steimer, sehr dankbar, dass er diese Leidenschaft für große Fragen verstanden und durch eine ganze Reihe von Vorschlägen unterstützt hat. Auf diese Weise ein Buch zu vollenden, ist ein Vergnügen. Philipp Müller-Augustin hat mit seinem scharfen Blick auf den fertigen Text die Leserinnen und Leser vor manchem Ärgernis bewahrt. Dafür danke ich ihm herzlich. Was an Fehlern verblieben ist, liegt in meiner Verantwortung.
Wie meine anderen größeren und kleineren Bemühungen widme ich auch diese Friederike. Und der Jugend: Maria, Jonathan und Marla-Elise, Kristina und Carlo.
Vielen Dank für alles.
Augsburg, im November 2024
Martin Kaufhold
Die Geschichte der mittelalterlichen Christenheit ist eine lebendige Geschichte. Es ist eine Geschichte voller Gegensätze: von der Bekehrung ganzer Volksstämme und von vergeblichen Missionsversuchen, von pragmatischem Abwägen und von erschütternden Gottesbegegnungen, vom selbstlosen Dienst an Kranken und Armen und von finsterer Verfolgung. Es ist eine Geschichte mit Licht und Schatten. Eine Geschichte voller Bewegung.
So wird sie allerdings nur noch selten erzählt. Die Geschichte der Christenheit im Mittelalter erscheint heute in hohem Maße von Päpsten bestimmt. Die Lehren und die Macht des Papsttums hätten das Leben einer religiösen Epoche geprägt und römische Vorschriften hätten weit in den Alltag der Menschen hineinregiert. Am Papsttum kommt beim Blick auf das christliche Mittelalter niemand vorbei. Das hat Gründe und es hat eine lange Tradition. Schon Novalis hatte diese Perspektive in seinem elegischen Rückblick auf „Die Christenheit oder Europa“ eröffnet: Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte. Die Einheit wurde dadurch gewahrt, dass die Fragen und Konflikte durch einen besonderen Mann weise beigelegt wurden: Fürsten legten ihre Streitigkeiten dem Vater der Christenheit vor, willig ihm ihre Krone und Herrlichkeit zu Füßen.2 Die Machtfülle des Papstes, mit Verantwortung und väterlicher Umsicht ausgeübt, war der Garant der Einheit.
Man sieht das heute differenzierter. Die Konflikte zwischen den mittelalterlichen Päpsten und den Herrschern ihrer Zeit füllen Bibliotheken. Aber das Bild der mittelalterlichen Christenheit ist meist das Bild einer strengen hierarchischen Ordnung mit dem Papst an der Spitze.
Die mittelalterlichen Päpste hätten über manches moderne Urteil die Stirn gerunzelt, aber sie hätten dieser Erzählung zugestimmt, die die Geschichte der Christenheit ihrer Epoche weitgehend auf das Wollen und Wirken entschlossener Päpste zurückführt. Modern gesprochen wird das Bild der mittelalterlichen Christenheit in hohem Maß durch ein Papstnarrativ geprägt.
Tatsächlich aber ist eine papstgeprägte Geschichte der Christenheit im Mittelalter eher eine Geschichte kirchlicher Institutionen und ihrer Ansprüche als eine Geschichte der Menschen und ihrer Erfahrungen mit dem christlichen Glauben. Es ist vor allem eine Geschichte der Texte. Die Fülle und die Qualität päpstlicher und auf das Papsttum ausgerichteter Texte kann keine historische Arbeit übersehen. Sie ist in der Tat beeindruckend.
Wie anders könnte sich die Geschichte der Kirche und der mittelalterlichen Christenheit heute darstellen, wenn die Landsknechte, die im Mai 1527 mordend, plündernd und brandschatzend durch Rom zogen, nicht durch die Launen des Zufalls von der vollständigen Zerstörung der päpstlichen Archive abgehalten worden wären:
Mit Beute beladen, verließen sie Rom […] Alle Register, Supplikenregister und Schriften der Apostolischen Kammer wurden geplündert, zerrissen und teilweise verbrannt, so dass kein Stück davon mehr zu finden ist. Wie viele Bullen [päpstliche Urkunden und päpstliche Bleisiegel] wurden verstümmelt, ihr Blei zu Kugeln der Arkebusiere gemacht. Die schöne geheime Bibliothek des Papstes, die in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat, wurde geplündert: aber Dentuulla [Schreibfehler] des Prinzen von Oranien, sagte, dass der Prinz von Oranien, der seine Garderobe dort hatte, sie vor einer großen Plünderung bewahrt hat: was wir sehr schwer zu glauben finden.3
Paläste und Bibliotheken brannten, es gab zahlreiche Opfer, aber viele historische Dokumente überstanden den Sacco di Roma zu Beginn der Neuzeit. Dadurch behielt das Mittelalter im historischen Rückblick eine päpstliche Prägung; Archive von Königen, von Adligen und von Städten in Europa wurden durch die kriegerische Geschichte der Neuzeit und durch politische Umbrüche stärker in Mitleidenschaft gezogen. So wissen wir über viele Vorgänge der mittelalterlichen Geschichte nur Bescheid, weil das päpstliche Archiv Abschriften einschlägiger Unterlagen in seinen Beständen verwahrt. Die Originale sind in den meisten Fällen verloren. Da, wo wir es vergleichen können, stellen wir fest, dass nur etwa ein Zehntel der Texte im päpstlichen Archiv noch im Original erhalten ist. Die Masse dieser Dokumente ist verloren. Ohne die Kopien im päpstlichen Register hätten wir über viele wichtige Vorgänge keine Informationen mehr. Aber das päpstliche Register überliefert besonders die päpstlichen Anteile am Geschehen.
Wer schreibt, der bleibt. Die frühe Entwicklung der päpstlichen Buchführung als Sicherung für die vielen Rechtsansprüche des Papsttums im christlichen Europa bewährte sich im Sacco di Roma wohl auch deshalb, weil die Abschriften für die marodierenden Soldaten keinen materiellen Wert besaßen. Die Originalurkunden, an denen noch herrschaftliche Siegel hingen, wurden von den Plünderern achtlos weggeworfen, nachdem sie die Siegel abgerissen hatten; sie gingen verloren. Schwere Bücher, die nur zäh brannten und keinerlei Schmuck aufwiesen, konnten in der Attraktivität nicht mit feierlichen Urkunden konkurrieren, deren Inhalt banal sein mochte, die aber ein kaiserliches Goldsiegel zierte. So blieben die konzentriert gesammelten Informationen über päpstliche Initiativen, päpstliche Weisungen und päpstliche Rechte erhalten und prägen das Bild der mittelalterlichen Kirche bis heute.
Aber in vielen Fällen wirken diese Schriftstücke stärker auf die Nachwelt, als sie auf ihre mittelalterliche Gegenwart gewirkt haben. Das päpstliche Archiv hat Brände, Hochwasser, Aufstände und Kriege überstanden, es wurde in den Jahren Napoleons für einige Zeit nach Paris verbracht und kehrte mit Verlusten zurück, aber es gibt bis heute Zeugnis von der Geschichte des selbstbewussten Hauptes der katholischen Christenheit. Die päpstlichen Dokumente sind durch sorgfältige Textausgaben erschlossen. Sie sind unverzichtbar für eine vollständige Geschichte des Mittelalters. Ihr Anteil an der Überlieferung entspricht indes nicht ihrer Wirkung im Mittelalter selbst.
Kaum eine Geschichte des Papsttums oder der mittelalterlichen Kirche verzichtet auf die Wiedergabe des berühmten Dictatus papae, jener 27 programmatischen Sätze, die Gregor VII. im März 1075 seinem Schreiber persönlich diktierte. Es sind kraftvolle Sätze, und die päpstliche Politik jener Jahre des Investiturstreits scheint sich in wichtigen Punkten danach gerichtet zu haben. Es sind Sätze, von denen Studierende der mittelalterlichen Geschichte mehrheitlich meinen, dass die Könige dieser Zeit sie kannten. So sollten die Herrscher wissen, was sie von diesem Papst erwarten konnten, er hatte es ja angekündigt. Tatsächlich aber kannten nur der Papst und sein Schreiber diese Sätze, die heute in jedem Geschichtsbuch zum Mittelalter und jedem Tutorial zum mittelalterlichen Papsttum zu finden sind. Die historische Forschung kennt diese Sätze seit der Erschließung des Briefregisters dieses Papstes, in das sie eingetragen waren – zu welchem Zweck, ist bis heute nicht klar. Dass nicht als katholisch angesehen werden kann, wer sich nicht in Übereinstimmung mit der römischen Kirche befindet.4 Dieser 26. Satz des päpstlichen Textes hat sich stark auf unser Bild der mittelalterlichen Christenheit ausgewirkt. Dabei wissen wir nicht, wie verbreitet er war.
In der Welt, in der Gregor VII. diesen Satz diktierte, stieß seine Autorität schon in Rom an enge Grenzen. Eines seiner wichtigsten Anliegen war die Durchsetzung des Zölibats für alle Priester. Aber Gregor konnte nicht verhindern, dass die Boten des Bischofs von Konstanz, die er nach Rom bestellt hatte, um sie auf die neue Linie zu verpflichten, die Stadt verließen, bevor er die Beschlüsse der Synode gegen die Priesterehe und den Ämterkauf verkünden konnte. Man musste dem Papst nicht laut widersprechen. Es reichte, ihn zu überhören. Damit gewann man Zeit. Und der Vorgang ließ sich wiederholen – mehr als einmal. Der Papst musste Briefe nach Konstanz schicken. Der Bischof musste sie nicht lesen. In Fragen des Glaubens forderten die römischen Päpste seit Gregor VII. Gefolgschaft. Gefordert hatte das schon mancher Papst in den Jahrhunderten zuvor, aber solche Vorstellungen waren vor der Wende zum 11. Jahrhundert nicht durchgedrungen. Mit der Wende zum 11. Jahrhundert änderte sich der römische Ton und die römische Entschlossenheit, aber es dauerte noch immer über hundert Jahre, bis ein Papst den Ehrentitel des Stellvertreters Christi allein für sein Amt beanspruchte. Lange hatten die Könige Europas als Stellvertreter Christi gegolten. Diese Rolle verloren sie an die römischen Päpste. Seit dem Beginn des hohen Mittelalters wurden die römischen Ansprüche markant formuliert.
Ihnen [den Römern] setze ich Grenzen weder in Raum noch in Zeit, eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen zugedacht.5 Die berühmten Worte, die Vergil in seiner „Aeneis“ Jupiter über die Aussichten seines Helden und seiner Nachkommen sprechen lässt, gelten als Ausdruck des römischen Selbstverständnisses zur Zeit des Augustus. Das war eine Zeit heidnischer Herrschaft. Über die räumlichen Folgen dieser Prophezeiung wurde viel nachgedacht, ihre zeitliche Erstreckung wird dagegen seltener beachtet. Mit der ausgehenden Antike traten die Bischöfe in den alten römischen Städten allmählich das Erbe des römischen Reichs an. Die römische Herrschaft nördlich der Alpen ging unter, aber ihre Aura lebte weiter. Vergil behielt Recht, was die Aussichten der Römer auf eine Herrschaft ohne zeitliche Grenzen anging. Nicht im Sinn der klassischen Herrschaft, die auf der Befehlsgewalt über Menschen basiert; diese römische Befehlsgewalt, die in den äußeren Provinzen des Reichs immer ihre Grenzen fand, verschwand mit den Legionen. Aber der Glanz der römischen Herrschaft überstrahlte ihr praktisches Ende. Bischöfe wie Caesarius im südfranzösischen Arles († 542) oder Gregor von Tours († 594) führten die jahrhundertealte Tradition römischer Kultur in Gallien fort, auch wenn die Herrschaft inzwischen durch merowingische Könige ausgeübt wurde. Das Koordinatensystem der frühmittelalterlichen Ordnung behielt eine römische Achse. Aber eine Änderung trat ein. Für das römische Reich der Antike markierten seine Städte, Straßen, Magistrate und Legionen einen Handlungshorizont. In seinen Grenzen konnte der Senat, der Prinzipat und später der Kaiser mit seinen Weisungen die Verhältnisse gestalten, zumindest auf sie einwirken. Der römische Staat übte Macht aus, das war in jedem Fall sein Anspruch. In der Welt des frühen Mittelalters lebten viele römische Bezüge fort. Die Verbindungen bestanden in gelegentlichen Korrespondenzen oder Besuchen, man sah sein Handeln und sein Leben in einem Verhältnis zu Rom. Aber der römische Arm konnte die Widerstrebenden nicht mehr zur Gefolgschaft zwingen. So wurde der römische Horizont in der frühmittelalterlichen Welt zu einem Horizont der Bildung, der Gedanken und der Phantasie.
Anfangs gab es noch Reisende und Migranten aus den südlichen Provinzen des alten römischen Reichs, die es bis nach Gallien verschlug. So trafen der irische Mönch Columbanus und seine Gefährten auf der Flucht vor einem wütenden König in Orléans auf ein syrisches Ehepaar.6 Doch diese Migrationen wurden seltener. Die Erfolge der arabischen Eroberer entlang der südlichen Mittelmeerküste änderten Reise- und Handelswege über das Mittelmeer. Jerusalem wurde zu einer muslimischen Stadt. Der Schwerpunkt der christlichen Welt verschob sich nach Norden. Der Kirchenvater Augustinus († 430) wurde im Mittelalter eine vielzitierte und unumstrittene geistliche Autorität. Er war Bischof im nordafrikanischen Hippo gewesen. Seine zahlreichen Anhänger im Mittelalter lasen seine Schriften, zumeist in Auszügen, und richteten kühne Gedankengebäude an ihnen aus, aber die nordafrikanische Welt, in der Augustinus gelebt, gewirkt und geschrieben hatte, blieb ihnen unerreichbar. Die Schauplätze der christlichen Geschichte, von denen die Texte des Neuen Testaments berichteten, die Orte, wo der neue Glaube seine ersten Anhänger gefunden hatte, waren für die Augen der Christen im frühen Mittelalter kaum noch sichtbar.
Dafür zog es die Christen aus dem Norden auch zu Beginn der Karolingerzeit noch nach Rom, wie die Korrespondenz des englischen Missionars Bonifatius († 754/755) zeigt, der mit päpstlichem Auftrag im östlichen Frankenreich missionierte und Kontakt zu seiner Heimat hielt. Er selbst reiste dreimal nach Rom und er war damit nicht allein. Die nicht mehr junge Äbtissin Eangyth schrieb ihm, wie sehr sie sich wünschte, wie so viele unserer Angehörigen, Verwandten und Fremden, die einstige Herrin der Welt, Rom aufzusuchen.7 Sie war offenkundig nicht allein, und es blieb auch für Frauen nicht bei dem Wunsch, denn Bonifatius klagte, dass so viele Frauen aus England nach Rom reisten und auf dem Weg in Schwierigkeiten gerieten.
Das Rom dieser Zeit war schon lange nicht mehr die Herrin der Welt. Der römische Papst stand seit dem Thronverzicht des letzten weströmischen Kaisers (476) unter dem Schutz und der Leitung des oströmischen Kaisers in Konstantinopel. Die Verwaltung des römischen Reichs war am Ende des 4. Jahrhunderts in einen Ostteil und einen Westteil aufgeteilt worden, um auf die Anforderungen einer neuen Zeit zu reagieren. Das Reich blieb erhalten, aber nun gab es zwei Hauptstädte und zwei Kaiser. Das alte Rom blieb die Hauptstadt des weströmischen Teils, der östliche Teil wurde von Konstantinopel aus regiert. Der östliche Reichsteil hatte noch eine längere Geschichte vor sich und erlebte unter Justinian (527–565) im 6. Jahrhundert ein begrenztes Aufflackern seiner Macht im Mittelmeerraum. Konstantinopel sah sich als eigentliche Erbin des großen Rom, das tatsächliche Rom war auf das Maß einer mittleren Stadt herabgesunken, und der Kaiser in Ostrom ließ seine Ansprüche durch einen Vertreter aufrechterhalten, der in Ravenna residierte. Dieser hohe Beamte trug den byzantinischen Titel eines Exarchen. Die Vertretung Ostroms in Ravenna wurde in den letzten Lebensjahren des Bonifatius durch die Langobarden beendet. Als letzter unruhiger Stamm der sogenannten Völkerwanderung eroberten die Langobarden 751 den Sitz des Exarchen in Ravenna. Damit trat eine Macht auf den Plan, die der Geschichte der Christenheit und der Geschichte des römischen Reichs einen ganz neuen Impuls verlieh.
Mit dem Niedergang der oströmischen Macht in Italien verlor der römische Papst seinen Schutzherren. Die Kaiser in Konstantinopel hatten seinen Status gesichert, und der Papst hatte Verwaltungsaufgaben für die oströmische Herrschaft übernommen. In dieser neuen Situation wandte sich der Papst an eine aufsteigende Macht jenseits der Alpen, von der er sich Hilfe erhoffte. Die Karolinger warteten schon lange auf eine Gelegenheit, das Königtum der Franken an sich zu ziehen, die von dem alten Gallien bis nach Thüringen hinein ihre Herrschaft errichtet hatten. Die Karolinger griffen mit der Unterstützung des Papstes in Rom erfolgreich nach der fränkischen Krone, und sie wurden in den kommenden Jahrzehnten zu einer neuen Schutzmacht für die römischen Päpste. Rom bot der erst langsam christianisierten Welt nördlich der Alpen eine direkte Verbindung zur Lebenswelt Jesu. Wer nach Rom reiste, reiste zu den Gräbern der Apostel. Hier hatten Petrus und Paulus ihr Martyrium erlitten, hier lagen diese Urväter der christlichen Religion der Tradition nach begraben. Karl der Große hielt Rom und die Kirche des hl. Petrus nach der Überlieferung seines Biographen Einhard in hohen Ehren. Einhard schildert, wie Karl auch die Christen jenseits des Meeres – und hiermit meinte er das Mittelmeer – in Syrien, in Ägypten, in Afrika und in Jerusalem mit Gaben unterstützte. Karls Horizont erscheint hier wie der Handlungshorizont eines römischen Kaisers. Und diesen Titel führte Karl dann ja auch nach der Kaiserkrönung in Rom: Imperator Romanum gubernans Imperium: Kaiser, der das römische Reich regiert.8 In der lateinischen Form klang es noch imperialer. Karls Anspruch, die Tradition der römischen Kaiser fortzusetzen, ist offenkundig. Hier trat eine neue Macht auf die historische Bühne. Sie berief sich auf die Tradition, aber sie gab dieser römischen Tradition eine neue Deutung. Denn Karl residierte in Aachen, er bezog keine Villa in Rom. Und wenn dieser Kaiser seine Hand nach Jerusalem oder Syrien ausstreckte, dann um Gaben zu verteilen, nicht um herrschaftlich einzugreifen. Er mochte den alten Horizont der Kaiser im Blick haben, aber an diesen alten Wirkungsorten waren seine Gesandten nur geduldete Gäste. Sosehr Karl Rom schätzte, die „römischen“ Vorgaben kamen nun von nördlich der Alpen. Rom wurde zu einer Chiffre. Rom wurde zu einem Namen, den man mit dem Anspruch aufrief, Hüter einer großen Tradition zu sein, einer Tradition, die die eigene Familie und auch das eigene Volk in dieser Form nicht vorweisen konnte. Man kleidete sich in diese Tradition, aber der römische Mantel ließ Bewegungsfreiheit nach fränkischem Ermessen.
Was hier geschah, war eine Kräfteverschiebung von historischem Ausmaß. Das Kraftzentrum Europas, das so viele Jahrhunderte am Mittelmeer gelegen hatte, verschob sich in die Regionen nördlich der Alpen. Das römische Reich war mit seinen Hauptstädten Rom und Konstantinopel ein Mittelmeerreich gewesen. In dieser Kultur des Mittelmeeres war die christliche Religion stark geworden. Das sehen wir beispielhaft an den christlichen Symbolen, den Elementen des christlichen Ritus, die für die Menschen im Norden nicht selbstverständlich waren. Das Geschehen im Neuen Testament war ohne die Kultur des Weins und der Weinstöcke nicht denkbar. Nun verlagerte sich das Kraftzentrum des Christentums allmählich in eine Welt, in der viele Menschen eher Bier als Wein tranken. Hier vollzog sich der Transfer einer religiösen Kultur in eine anders beschaffene Welt. Dieser Transfer veränderte das Christentum. Es ist möglich, dass dieser Transfer eine Voraussetzung für die nahezu weltweite Verbreitung des Christentums in der Neuzeit war. Es war ein Transfer in der Dimension der Übertragung des Buddhismus von Indien nach China und Japan.
Die Entscheidungen im römischen Reich des Mittelalters fielen künftig meist nördlich der Alpen. Jahrhunderte später, nach der Jahrtausendwende, verlangten die Päpste die Hoheit über die Gläubigen in diesem Reich zurück, und in einem gewissen Maß waren sie dabei erfolgreich. Aber die päpstliche Macht blieb eine geistliche Macht. Sie wirkte im Norden mit Worten, nicht mit Legionen. Es konnten starke Worte sein, aber Worte ließen sich auf unterschiedliche Weise verstehen. Tatsächlich wurde im Mittelalter nach der Jahrtausendwende häufiger um die Frage gerungen, was die wahre römische Lehre sei. Es wurde auch darum gerungen, wo das römische Reich seine Heimat habe. Die Könige im entstehenden Deutschland nannten sich zur Klarstellung ihres Anspruchs römische Könige, dann nannte man das Reich Heiliges Römisches Reich.9 Regiert wurde es von einem König nördlich der Alpen, um dessen Zuständigkeiten in Italien im weiteren Verlauf des Mittelalters zunehmend gestritten wurde. Es war im Grunde ein klassischer Streit um das richtige Verständnis einer Tradition, die als Garant historischer Größe und Bedeutung galt.
Diese konkurrierenden Ansprüche waren typisch für das Mittelalter. Die einfachen Strukturen der Kommunikation, die meist primitiven Straßen, die komplizierten Zuständigkeiten verhinderten die Durchsetzung eindeutiger Lösungen mit großer Reichweite. Es gab das Bedürfnis nach Eindeutigkeit, aber diese Eindeutigkeiten hatten einen begrenzten Horizont. Das römische Papsttum ist dafür ein Beispiel. Im frühen Mittelalter war der Papst Bischof von Rom. Er hatte einen Amtssitz mit besonderer Tradition, aber keine übergreifenden Befugnisse. Daraus ging seit dem 11. Jahrhundert eine Kraft hervor, die die Leitung der gesamten Kirche mit römischer Autorität beanspruchte. Eine Kraft, die beanspruchte, Bischöfe einsetzen und Kaiser absetzen zu können, die verlangte, dass alle Christen als Gläubige ihr untertan sein müssten. Es war ein Anspruch, der in dieser Form für die lateinische Christenheit nicht durchsetzbar war. Im 14. Jahrhundert geriet dieses Papsttum in eine schwere Krise, in der es im Großen Schisma (1378–1417) zunächst zwei, schließlich sogar drei Päpste gleichzeitig gab. Sie hielten ihren Führungsanspruch aufrecht, obwohl er jeweils die andere Hälfte der Christenheit ausschloss und nur für ihre eigene Gefolgschaft galt. Aus dieser Krise vermochte sich das Papsttum selbst nicht zu befreien, weil es für dieses übermächtige Amt keine funktionierenden Kontrollmechanismen gab. So lebte die lateinische Christenheit für Jahrzehnte in einer schweren Spaltung, die die Lagerbildung nach der Reformation auf ihre Art vorbereitete. Das Verlangen nach Eindeutigkeit wuchs, und damit verringerte sich die Reichweite religiöser Autorität. Die religiöse Disziplinierung der Untertanen bis in den Alltag hinein wurde erst in der beginnenden Neuzeit zu einem Bemühen der Herrscher. Sie wurde nur möglich, weil es sich in der Regel um regionale oder nationale Unternehmungen handelte. Hier waren Kontrollen durchführbar. Im Mittelalter ging der Anspruch religiöser Autoritäten häufig deutlich über ihre Reichweite hinaus. Das war vertretbar, weil die christlichen Könige, Bischöfe, aber auch die Päpste um die Grenzen ihrer Möglichkeiten wussten. Verantwortlich waren sie nach ihrem Weltbild vor allem für die vornehmeren Bevölkerungsschichten. Ernsthafte Bischöfe mochten die Könige daran erinnern, dass sie Gott gegenüber auch für den Glauben ihrer bäuerlichen Untertanen verantwortlich waren. In der wirklichen Welt dieser Zeit rief der Aberglaube der Dorfbewohner beim König aber noch wenig Sorgen hervor.
Die Grundlage des christlichen Glaubens ist die Bibel, die im Alten und im Neuen Testament vom Wirken Gottes und vom Wirken seines Sohnes in der Welt berichtet. Es gab hebräische, griechische, lateinische und schließlich auch volkssprachliche Versionen der biblischen Texte, je nach dem Publikum, für das das Wort bestimmt war. Bereits hier ist eine enorme Spannbreite festzustellen; nicht alle Übersetzungen ins Lateinische waren gleich gut. Solange man Latein beherrschte und solange eine Bibliothek in der Nähe war, konnte man den Bibeltext befragen. Schon hier wird klar, dass die vielen Menschen, die nicht Lesen konnten, aus diesem exklusiven Kreis ausgeschlossen waren. Bibliotheken waren das ganze Mittelalter hindurch Schatzkammern. Alle Bücher wurden mit der Hand geschrieben, in oft mühsamer Arbeit. Für die Abschrift einer Bibel brauchte ein geübter Schreiber drei Jahre. Solche Kostbarkeiten lagen nicht offen aus. Ohnehin gab es nicht viele bedeutende Klosterbibliotheken im Bereich der lateinischen Christenheit. Eine der bedeutenden Bibliotheken im England des frühen Mittelalters war die Bibliothek des nordenglischen Klosters Jarrow, das nahe dem heutigen Newcastle lag. Hier lebte im frühen 8. Jahrhundert der ehrwürdige Beda (Beda Venerabilis). Seine „Kirchengeschichte des englischen Volkes“ ist trotz ihrer vielen Phantasien und Legenden eine unverzichtbare Quelle der Christianisierung Englands. Beda war ein gebildeter Mann. Aber die Menschen, die das Christentum in seinem Umfeld verbreiteten, waren es nicht. Sie konnten kein Latein. Also übersetzte Beda ihnen das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in die angelsächsische Sprache. Sie sollten den Wortlaut häufig wiederholen, um ihn nicht zu vergessen,10 weil sie in vielen Fällen nicht lesen konnten.
Man stelle sich vor, welche Änderungen diese Texte durch Erinnerungslücken oder Missverständnisse bei der Vermittlung durch einen schüchternen Sprecher in einer unruhigen Gruppe bei rauem Wind ohne technische Unterstützung erfuhren. Bei der Überprüfung oder Auffrischung der Erinnerung half auch keine Textfassung, wenn die Katecheten, und gelegentlich auch die Priester, nicht lesen konnten. Mit Befremden berichtet Bonifatius zu etwa derselben Zeit aus dem Frankenreich, dass er Kindertaufen erlebt habe, bei denen die Kinder im Namen des Vaterlandes und der Tochter (patria et filia) getauft worden seien.11
Für die Übersetzungen des Vaterunsers und des Glaubensbekenntnisses, von denen Beda spricht, ohne diese übersetzten Texte seiner „Kirchengeschichte“ anzufügen, gibt es auch aus dem deutschsprachigen Raum einen Beleg aus dem 8. Jahrhundert. Die Sankt Galler Klosterbibliothek verwahrt ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch aus den Jahren um 790. Der Band (Codex Sangallensis 911) ist eines der ältesten Bücher in deutscher Sprache, und er enthält ein Fater unseer und ein Glaubensbekenntnis in Althochdeutsch. Der Beleg ist somit einige Jahrzehnte jünger als die Auskunft Bedas über seine Übersetzungstätigkeit, dafür erscheint der Text jedoch in seiner sprachlichen Form gesicherter. Diese Basistexte des christlichen Glaubens sollten den Gläubigen auch dann verständlich sein, wenn sie das Latein der Geistlichen nicht verstanden.
Für wen Wortlaut und Grammatik keine bekannten Größen waren, für den war eine schwerwiegende Abweichung nur ein kleiner Klangunterschied, und das galt für die meisten Menschen der mittelalterlichen Welt. Wir haben es hier mit einer Welt zu tun, in der lange Zeit die überwiegende Zahl der Menschen nicht lesen oder schreiben konnte, was keine Frage des sozialen Standes war. Auch hochrangige und mächtige Herren konnten bisweilen kaum lesen. Es tat ihrem Ansehen keinen Abbruch, solange sie gute Krieger waren. Wenn diese Menschen Fragen zum Glauben oder zu den auswendig gelernten Texten hatten, konnten sie selbständig nicht weiter nachforschen. Die Überlieferung war schriftlich und in lateinischer Sprache. Wenn die Fragen ernste Fragen waren, wenn sie die Menschen bedrängten, dann drängten sie selbst auf Antworten. Beda berichtet eindrucksvoll von Situationen, in denen die Menschen solche Fragen stellten. Die Antworten auf die drängenden Fragen fielen unterschiedlich aus. Auch dann, wenn die Fragen die gleichen waren und man eine gemeinsame christliche Grundlage besaß. Die Lebenserfahrungen waren sehr verschieden. Die verschiedenen Antworten konnten unterschiedliche Reichweiten haben. Manche betrafen ja nur eine Person, eine Familie oder ein Dorf – das hing von der Frage ab. Aber in manchen Fällen mussten die verschiedenen Antworten doch abgestimmt werden, etwa wenn es um die Feier bedeutender Feste ging, die von der ganzen Christenheit begangen wurden.
Um das Jahr 600 hatte der irische Mönch Columbanus keine Scheu, Papst Gregor den Großen, einen Mann von hohem Ansehen, in einer Frage energisch zu korrigieren, die für Christen eine besondere Bedeutung hatte: Ostern, das Fest der Auferstehung Jesu, war und ist das höchste Fest für alle Christen. Aber es gab unterschiedliche Traditionen bei der Berechnung des Ostertermins. Das Neue Testament nennt kein Datum, und bei der Herleitung des Termins gingen die Christen in Irland einen eigenen Weg, der sich von der römischen Datierung unterschied. Die Iren waren glaubensstark. Columbanus hatte keine Zweifel an der irischen Berechnung des Ostertermins. Die Feier der Auferstehung, der Sieg Jesu über den Tod, die christliche Nacht der Nächte sollte von den Gläubigen nicht an unterschiedlichen Terminen begangen werden. Das machte der irische Missionar dem Papst in Rom in deutlichen Worten klar. Aber die Iren konnten ihren Ostertermin nicht durchsetzen. Sie hatten starke Überzeugungen, aber im Vergleich mit den Anhängern der römischen Osterdatierung waren sie zu wenige. Die römische Datierung war weitverbreitet, und auch ihre Anhänger traten energisch auf. So setzte sich die römische Osterdatierung durch. Die Osterliturgie war kein geheimes Geschehen. Sie hatte einen hohen Stellenwert in der christlichen Gemeinschaft. Die gemeinsame Feier stärkte den Zusammenhalt. Eine terminliche Abweichung wäre eine Abgrenzung gewesen. So kam es mit wachsender Kommunikation unter den Christen zu einer Vereinheitlichung des Osterdatums nach römischem Muster. Die Vereinheitlichung war eine Folge des Drucks auf die Iren, nicht die Folge einer Überzeugung. Der Druck entstand, weil die Feier des Osterfests öffentlich war. Sie ließ sich überprüfen. Anders war es bei inhaltlichen Fragen des Glaubens. Die Gedanken waren frei – gerade im frühen Mittelalter, solange man sie nicht allzu laut aussprach. Die Vertreter unterschiedlicher Meinungen begegneten sich nicht so oft, wenn sie nicht der kirchlichen Hierarchie angehörten. Raum und Abstand gab es genug.
Die heute so problemlose Verfügbarkeit biblischer Texte und Auslegungen lässt die zeitlichen und räumlichen Distanzen vergessen, die damals den Austausch über inhaltliche Fragen erschwerten. Große Entfernungen erschwerten die Verbreitung von Ideen und Erfahrungen, aber sie schützten auch vor Übergriffen durch die Autoritäten und vor Einmischungen in das eigene Leben. Man konnte sich leicht aus der Welt zurückziehen, etwa in die Wüste, wie es die Mönche in der Spätantike getan hatten. Der Rückzug in die Abgeschiedenheit war der Weg der Mönche und Nonnen, ihre Lebensweise wurde zum Vorbild für die Gläubigen. Es war ein Weg für Wenige, aber die Menschen sahen in diesen Mönchen – Männern und Frauen – die Verwirklichung des christlichen Lebensideals. Bevor die ersten Klosterverbände zur Halbzeit des Mittelalters im 11. Jahrhundert begannen, einzelne Klöster mithilfe zentralerer Strukturen zu kontrollieren, waren viele Klöster weitgehend unabhängige Einheiten. Sie gaben der frühen Christianisierung Europas wichtige Impulse. Die Christianisierung während der ersten fünf bis sechs Jahrhunderte des Mittelalters mochte sich auf Rom ausrichten, weil Jerusalem sehr weit entfernt und schließlich nicht mehr erreichbar war. Das Verständnis der Glaubenslehre war indes von den Lebenserfahrungen der Gläubigen geprägt. Und diese Erfahrungen waren zwischen Sizilien und Trondheim, zwischen Sevilla und Magdeburg bisweilen sehr verschieden.
Das Leben war hart, und die Hilfe Gottes oder die Hilfe höherer und niederer Mächte wurde häufiger für Belange des Alltags erbeten. Immer drohte Hunger, die Ernteerträge reichten knapp, wenn es ein gutes Jahr war, und es gab viele schlechte Jahre, Jahre mit zu kalten Wintern oder zu nassen Sommern. Es galt, Schlachten zu gewinnen oder die Mittel für den Kirchenbau zusammenzubringen.
Im frühen Mittelalter (d. h. von etwa 500 bis um 1050) standen Könige an der Spitze ihrer Kirchen, und diese Kirchen waren die Kirchen ihrer Königreiche. Keineswegs ergänzten sie sich immer in Harmonie. Bei der Mission etwa konnte man in erbitterte Konkurrenz geraten, und Hamburger Missionare in Dänemark sahen die Gläubigen, die den englischen Missionaren folgten, als verloren für den christlichen Glauben an. Die Reichweiten waren begrenzt. Daraus gewannen die Akteure vor Ort ihre Autorität.
Die Vita des heiligen Benedikt († 547), der zum Begründer des europäischen Mönchtums wurde, berichtet von einer Vision Benedikts am Ende seines Lebens. Die ganze Schöpfung entfaltete sich in dieser Nacht vor seinem Auge in ihrem inneren Zusammenhang. Eine solche Erfahrung stiftete Autorität – auch ohne ein bedeutendes Amt. Wir werden darauf noch ausführlich zurückkommen. Die Armutsbewegung des hohen und späten Mittelalters, die in Franziskus ihren bekanntesten Protagonisten fand, drängte die Menschen, nach dem Vorbild der Apostel ein Leben in der praktischen Nachfolge Jesu zu wählen. Es war ein gelebtes Modell, keine theologische Theorie, und es war auch Menschen zugänglich, die keine Bücher besaßen. Manchem stieg die Vorstellung, wie ein Jünger Jesu zu leben, zu Kopf, aber vielen vermittelte diese Lebenspraxis eine Glaubenserfahrung, aus der sie einen eigenen Standpunkt gewannen. Darum soll es im Folgenden gehen: um die Möglichkeiten und die Milieus unterschiedlicher Ausformungen christlichen Lebens im Mittelalter.
Es mag manche Leserin und manchen Leser verwundern, dass in dieser Darstellung der Begriff der Christianitas keine prominente Rolle spielt. Diese Vorstellung von einer Christenheit als einer im Wesentlichen einheitlichen Glaubensgemeinschaft ist bei christlichen Autoren, die den Päpsten nahestanden, seit dem frühen Mittelalter zu finden; sie findet sich auch in den Schreiben mancher Päpste. Die Idee der Christianitas ist eine Vorstellung aus der Perspektive einer idealisierten Leitung der Kirche, ein in höherem Maße theoretisches Konzept. In den Quellen dieser Darstellung, in der es um die verschiedenen Erfahrungen der Menschen vom frühen bis in das späte Mittelalter mit dem christlichen Glauben geht, wird die Christianitas dagegen kaum genannt.
Verschiedene Interpretationen der christlichen Lehre, Lebensweisen, die kaum miteinander vereinbar waren, sich aber auf denselben biblischen Text beriefen, päpstliche und bischöfliche Weisungen, die trotz wiederholter Einschärfung kein Gehör fanden – all dies waren mittelalterliche Realitäten. Es konnte angesichts der Lebensumstände kaum anders sein. Mitunter waren die Spannungen nicht zu überbrücken, und nicht immer führten sie zu Lösungen, die neue Türen öffneten. Gewalt, die auch die christliche Geschichte des Mittelalters begleitet, Verfolgung Andersdenkender, Tötung Andersgläubiger im Namen Gottes, Abwertung von Frauen – die Geschichte der Christenheit hat viele dunkle Seiten. Auch sie kommen zur Sprache.
Unterschiedliche Lebenserfahrungen führten im Lauf des Mittelalters zu einer großen religiösen und spirituellen Vielfalt, die in ihrer Dynamik leicht unterschätzt wird. Die große Zusammenschau dieser mittelalterlichen Geschichte des ersten Jahrtausends ist dabei nur um den Preis vieler Auslassungen zu haben. Die mittelalterliche Geschichte der Christenheit unterscheidet sich von der Zeit nach der Reformation durch die Widerstände, die es zu überwinden oder auszuhalten galt. Bevor die Reformationen des 16. Jahrhunderts die Christen vor die Herausforderung stellten, ihren Glauben, der sich auf dieselben Grundlagen berief, in konfessioneller Abgrenzung zu rechtfertigen und zu praktizieren, hatten die Christen im Mittelalter nur selten Widersacher, die eine tatsächliche Herausforderung darstellten. Juden waren fast überall deutlich in der Minderheit. Muslimen begegneten die Christen nur in Sizilien und Spanien, wenn man von den Kreuzzügen absieht, die nur wenige ernsthafte theologische Begegnungen zur Folge hatten. In ihrer Welt bewegten sich die mittelalterlichen Christen im Abendland bis auf wenige Ausnahmen unter Gläubigen, die ihren Glauben grundsätzlich teilten. Es ist auch bei gründlicher Prüfung der Überlieferung heute kaum möglich, die Grundzüge des heidnischen Glaubens einigermaßen sicher zu benennen. Es waren im Vergleich zur Ausdehnung des Christentums kleinräumige Kulte von geringem Organisationsgrad, deren Rituale auch unter christlicher Herrschaft noch lange weiterleben konnten, deren Lehren aber keinen Gegenpol zu den christlichen Positionen bilden konnten.
Die mittelalterliche Christianisierung im lateinischen Europa vollzog sich in mehreren großen Wellenbewegungen bis mindestens in das 13. Jahrhundert hinein. In diesem Prozess vermochte der Glaube der lateinischen Christenheit auf ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen und -umstände zu reagieren und bei aller Flexibilität und inneren Spannung so viel Gemeinsamkeit zu bewahren, dass sich der Papst schließlich als Haupt all dieser Christen sehen konnte. Der Papst sah sich dabei als Haupt einer Christenheit, die die Theologen seit dem Apostel Paulus als einen Körper begreifen konnten (vgl. 1 Kor 12) – als den mystischen Leib Jesu Christi. Im normalen Leben, und so auch in der Geschichte, folgt der Körper vielen Impulsen – und nicht nur dem Kopf. Im Verfolgen der Spuren, Handlungen und Widersprüche der Christenheit im Verlauf des Mittelalters lässt sich so etwas wie ein Grundbestand ausmachen, eine Haltung im Umgang mit dem Leben, die die europäische Tradition tiefer geprägt hat, als es uns bewusst ist, und die in unserer Gegenwart noch immer nachwirkt. Es ist eine Haltung persönlicher Verantwortung, die auch ihre finsteren Seiten hat, weil sie diese Verantwortung oftmals als Schuld verstanden hat. Eine Schuld, die sie nicht auf sich genommen hat, sondern die sie anderen zuwies. Aber es gab auch immer wieder Menschen, Frauen und Männer, die sich zu einem persönlichen Beitrag herausgefordert fühlten. Das Bild der mittelalterlichen Christenheit ist widersprüchlich, bewegt und vielschichtig. Eindeutig ist es nicht. Dieses Bild von den Klischees eines einheitlichen Mittelalterbildes zu befreien, ist ein Anliegen dieses Buches. Es bietet Zugänge, keine systematische Gesamtdarstellung. Damit versucht es, einer Zeit gerecht zu werden, die stärker durch Vielfalt und Gegensätze als durch eine einheitliche Autorität geprägt war.
Das jahrhundertealte römische Reich endete im Westen Europas ohne Drama und Glockengeläut. Der letzte Kaiser, Romulus Augustulus, verließ im Jahr 476 die historische Bühne durch einen Hinterausgang. Eine Militärrevolte entließ ihn ins Exil nach Neapel. Nördlich der Alpen fiel sein Fehlen kaum auf. Etwa fünf Jahre nach dem Abgang des Kaisers trat der Franke Chlodwig in das Licht der Geschichte, als ihn Erzbischof Remigius von Reims als neuen Verwalter der Provinz Belgica Secunda begrüßte. Für den Erzbischof lebte die römische Ordnung weiter. Er empfahl dem neuen mächtigen Mann, sich mit guten Ratgebern zu umgeben und dem Rat der Priester (Bischöfe) zu folgen. So könne die Provinz besser bestehen bleiben.12
Das Ende des Kaisertums im Westen war noch nicht das Ende des römischen Reichs. Die oströmischen Kaiser in Konstantinopel erlebten im 6. Jahrhundert noch einmal eine Zeit der Stärke. Aber ihr Arm reichte nicht bis nach Gallien. Über ein halbes Jahrtausend war seit der Eroberung Galliens durch Julius Cäsar vergangen. Die römische Herrschaft, ihre Ordnung und die romanische Kultur hatten an den Orten, an denen die Legionen ihre Lager gebaut hatten, tiefe Spuren hinterlassen. Von der Straße von Gibraltar bis an den Rhein, an einigen Stellen darüber hinaus, in den Gebieten südlich der Donau, aber auch in Britannien hatten die Römer lange geherrscht. Sie hatten Kastelle und Heerlager errichtet, den Städtebau gefördert und Straßen für ihre Legionen angelegt. Wir haben keine genauen Zahlen, aber zur Zeit Chlodwigs lebten etwa 11 Millionen Menschen in diesen romanisierten Regionen. Dazu kamen noch etwa 2 Millionen Menschen auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands, wo die Römer nicht Fuß gefasst hatten. Die römische Herrschaft hatte sich auf die Städte konzentriert, und solange die Steuereinnahmen aus den Provinzen den Erwartungen entsprachen, konnten die Untertanen nach ihren regionalen Gewohnheiten leben. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts hatte Kaiser Caracalla alle Untertanen seines Reichs zu römischen Bürgern erhoben, um sie besteuern zu können, aber die Regionalisierung des römischen Weltreichs ließ sich nicht aufhalten. Die Provinzen und Standorte lebten immer mehr ihr eigenes Leben. Der römische Arm reichte kaum noch über die Alpen, und um das Jahr 400 wurden die letzten römischen Magistrate aus Britannien abgezogen. Die Kräfte wurden an den Grenzen im Süden gebraucht.
Es ist schwer zu sagen, in welchem Maß die römischen Bürger in Gallien am Ende der römischen Herrschaft christianisiert waren. Gallien, wo die Franken sich anschickten, die Römer in der Herrschaft abzulösen, nachdem sie über lange Zeit als römische Hilfstruppen den römischen Lebensstil angenommen hatten, spielte bei der Christianisierung Westeuropas eine wichtige Rolle. Denn bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts war die Verbreitung des Christentums eng mit den Königen verbunden, und im Frankenreich herrschte in dieser Hinsicht eine besondere Kontinuität: Chlodwig und seine Nachkommen, die Dynastie der Merowinger und die darauffolgende Familie der Karolinger, brachten nicht in jeder Generation starke Könige hervor. Aber beide Familien behielten den Königstitel jeweils für etwa 250 Jahre und stellten in dieser Zeit immer wieder regierungsfähige Kandidaten. In dieser Kontinuität entstand während einem halben Jahrtausend eine Tradition, die unter den Merowingern das Christentum förderte und unter den Karolingern die besondere Form des Königtums von Gottes Gnaden schuf, die die europäische Christenheit dieser Phase zutiefst prägte.
Dabei lässt uns der Blick auf zwei Akteure, die in dieser Zeit der schwindenden römischen Ordnung im Namen desselben Gottes und desselben Glaubens ihre Aufgabe versahen, die immense Spannung ermessen. Der Blick offenbart, dass die Christianisierung nach dem Ende des weströmischen Reichs nicht gleichmäßig voranging, sondern dass mit der römischen Kultur auch eine wichtige Voraussetzung für die Kenntnis der christlichen Lehre verblasste. Beide Akteure entstammen einem Milieu, das reich an Büchern war und das eine lange römische Geschichte erlebt hatte. Da war einmal, bald nach dem Abgang des letzten Kaisers, Caesarius von Arles († 542), ein typischer Bischof im romanisierten Gallien. Die römische Ordnung wankte bereits, aber sie zeigte sich noch reaktionsfähig. Caesarius setzte als ihr Vertreter Standards. Das geschah zu Beginn jener großen Transformation, die schließlich das Kraftzentrum Europas in den Norden jenseits der Alpen verschob und die so auch die christliche Lebenspraxis in vielen Fällen neu ausrichtete. Das werden wir sehen, wenn wir den Blick von Caesarius zu Beda Venerabilis († 735) im nordenglischen Kloster Jarrow wenden, der an der Peripherie der alten römischen Welt auf dem Höhepunkt dieser Transformation zwei Jahrhunderte später seine Stimme erhob. Der Kontrast ist enorm und lässt uns ermessen, wie groß die Unterschiede zwischen diesen Akteuren und diesen Standorten auf der Grundlage einer doch gemeinsamen römischen Tradition sein konnten.
Die Quellen werfen nur wenig Licht auf das Leben der Christen in der Wirkungszeit des Caesarius von Arles, als der Franke Chlodwig die Kontrolle in der römischen Provinz Belgica Secunda übernahm. Eine Zeit, die für Historiker dunkel ist, war für die Zeitgenossen nicht unbedingt eine finstere Zeit. Es war eine Zeit, in der wenig geschrieben wurde, deutlich weniger als zur Zeit der Römer, wobei die wenigen Schreiber, die die Ereignisse mit gespitzter Feder auf Pergament oder Papyrus festhielten, dafür noch lange die Sprache der Römer verwendeten. Denn die Kultur der Römer lebte noch Jahrhunderte fort, und die Männer der Kirche betrachteten sich als ihre Erben. Aber ohne die Aufgaben in der Verwaltung des Reichs wurden ihre Dienste seltener gebraucht.
Caesarius, der bald nach 500 Bischof von Arles wurde und das Amt trotz vieler Rückschläge 40 Jahre lang innehatte, lebte noch ganz in der römischen Tradition. Sie hatte den Süden Galliens tief geprägt, der im 5. Jahrhundert katholisch geworden war. Caesarius stammte ursprünglich aus Burgund und war einer Berufung zum Klosterleben gefolgt. Er trat in die Abtei Lérins ein, die auf einer kleinen Insel vor Cannes lag. Der junge Mann unterwarf sich einer so strengen Askese, dass seine Gesundheit Schaden nahm und ihn sein Abt nach Arles schickte, um sich zu kurieren. Als er dem dortigen Bischof vorgestellt wurde, erkannte der in Caesarius einen Landsmann und sah ihn schon bald für weitere Aufgaben vor. Schließlich verpflichtete der Bischof sein Umfeld, Caesarius nach seinem Tod zu seinem Nachfolger zu wählen, und bemühte sich um die Zustimmung des Westgotenkönigs Alarich II., in dessen Herrschaftsgebiet Arles damals lag. So wurde Caesarius Bischof von Arles, als die römische Herrschaft einer neuen Ordnung wich, die zunächst durch rivalisierende Stämme und ihre Könige gekennzeichnet war. Heute würden wir von einer Welt der Warlords sprechen. Es war eine unruhige Welt des Übergangs. Caesarius ruhte nicht. Sein Biograph hob sein leidenschaftliches Drängen auf die Verkündung des göttlichen Wortes in seinen Predigten und in der Liturgie seiner Basilika hervor.13
Caesarius brachte die Liturgie seines Klosters mit nach Arles. Er führte die tägliche Lesung und den Gesang der klösterlichen Stundengebete ein. Caesarius war der Überzeugung, so könne sich kein Laie, der die Kirche aufsuche, diesem Dienst der Anbetung entziehen. Er drängte Klerus und Laien, geeignete Hymnen und Psalmen zu singen.
Allerdings waren dies lateinische oder griechische Texte. Die Gläubigen, die Caesarius in Arles erreichte, entstammten dem gebildeten städtischen Milieu. Es waren wahrscheinlich vornehme Römer von ähnlicher Herkunft wie er selbst. Der Einsatz einzelner charismatischer Bischöfe konnte die urbane Kultur dieser traditionell römischen Städte noch einmal zu einem eindrucksvollen Leben bewegen. Aber die Ordnung, die diese pflichtbewusste Haltung, die der eigenen Stadtgemeinde zugewandt war, ursprünglich trug, löste sich allmählich auf. Und in den Kämpfen um ihr Erbe geriet auch der Bischof von Arles in Bedrängnis. Wiederholt verlor er für einige Zeit sein Amt, erlebte, wie seine Stadt in den Kämpfen zwischen Westgoten auf der einen und Franken und Burgundern auf der anderen Seite belagert wurde. Dabei äußerte sich die Bedrängnis nicht nur militärisch, sondern die Parteien trennte neben dem politischen Anspruch auf die Herrschaft auch ihr christliches Glaubensverständnis: Die Burgunder und die Franken waren „katholisch“ im Sinne des Glaubensbekenntnisses, das das Konzil von Nizäa (325) formuliert hatte, die Westgoten dagegen waren sogenannte „Arianer“. Der Arianismus bezweifelte die in Nizäa definierte Gleichrangigkeit des göttlichen Sohnes. Für die Arianer war Jesus kein Gott. Arianische Auffassungen waren in der Phase des Niedergangs der römischen Ordnung weit verbreitet. Fast alle germanischen Stämme, die im Lauf des 5. Jahrhunderts die Donaugrenze überquert und in das römische Reich eingedrungen waren, hingen arianischen Vorstellungen an: die Westgoten, die unter ihrem ersten König Alarich 410 Rom geplündert und damit eine Schockwelle ausgelöst hatten, die bis nach Nordafrika reichte, wo Augustinus Bischof von Hippo war und unter diesem Eindruck sein großes Werk über den Gottesstaat (De civitate Dei) in Angriff nahm; sodann die Ostgoten, deren Herrschaft sich unter ihrem König Theoderich dem Großen über ganz Italien und weit auf den Balkan hin erstreckte; und auch die Vandalen, die aus dem Donauraum über die Iberische Halbinsel zogen und schließlich nach Afrika übersetzten, wo sie so weit nach Osten vordrangen, dass sie schließlich die Stadt des Augustinus belagerten, der während dieser Belagerung starb (430).
Die Bezeichnung „Arianismus“ hat für manche Verwirrung gesorgt, da sich die Lehre von der wesensähnlichen Natur Jesu als Sohn Gottes, der selbst jedoch nicht wesensgleich mit dem Vater sei, in dieser Form tatsächlich nicht auf jenen Arius zurückführen ließ, der in den Jahrzehnten um 300 in Alexandria gewirkt hatte. Dessen Lehre von der göttlichen Natur Jesu wurde von seinen Anhängern und seinen Gegnern zu einem Streit um das in den griechischen Begriffen homoousios (wesensgleich) gegenüber homoiousios (wesensähnlich) ausgedrückte Verhältnis des Vaters zum Sohn zugespitzt.
Die Gegner des Arius vereinfachten seine komplexe Theologie und erreichten schließlich, dass Arius im Konzil von Nizäa 325 als Häretiker verdammt wurde. Dass die Arius zur Last gelegten Häresien tatsächlich von seinen Gegnern formuliert wurden, ist ein Schicksal, das er mit anderen teilt, deren Verfolger mächtig genug wurden, um sie verurteilen zu lassen. Der Arianismus bildete kein einheitliches System. Die Arianer verband keine ausformulierte häretische Lehre. Ihre Stigmatisierung folgte vielmehr einem bereits bekannten Muster: Die Vertreter der römischen Macht hatten in den Jahrhunderten ihrer Herrschaft die Stämme oder Völker in den Grenzregionen, die sie bekämpften oder die sie als Verbündete verpflichteten, mit eigenen Namen versehen. So entstanden die Germanen, die Franken, die Goten und die anderen Stämme. Sie hatten sich die Namen nicht selbst gegeben. Die Namen wurden ihnen von römischen Herren gegeben, und die römischen Stammesbezeichnungen hatten auch keine ethnischen Entsprechungen. Sie entsprachen vielmehr dem römischen Ordnungsdenken und orientierten sich zunächst an den Bedürfnissen der Römer, die ihren kleineren Nachbarn mit der Gleichgültigkeit, die den Umgang aller Großmächte mit Kleineren kennzeichnet, begegneten. Aber die so bezeichneten Stämme machten sich diese Namen schließlich zu eigen, als sie sich immer stärker an die Strukturen der römischen Welt anpassten.
Man sollte die Bereitschaft der Ostgoten, Westgoten oder Vandalen, die subtilen theologischen Differenzierungen eindeutig zu beurteilen, nicht zu hoch veranschlagen. Die Frage, wie göttlich der Mensch Jesus oder wie menschlich Christus als der Sohn Gottes gewesen sei, würden auch viele Christen heutzutage eher zögerlich beantworten, obwohl das Glaubensbekenntnis klare Formulierungen nahelegt. Die Frage wurde auch im 5. oder 6. Jahrhundert außerhalb der Konzilien kaum eindeutig gestellt. An den Konzilien nahmen die normalen Gläubigen nicht teil, und der griechische Wortlaut der Beschlüsse hatte wenig Bedeutung für den Glauben eines westgotischen Schusters in Saragossa. Es gab Phasen in der Geschichte, in denen komplizierte und subtile Unterscheidungen in zentralen Glaubensfragen, etwa nach der menschlichen bzw. göttlichen Natur Jesu oder, im 16. Jahrhundert, nach dem Opfercharakter der Messe, viele Menschen aufwühlen und umtreiben konnte. Manche versuchten auch, solche Fragen durch den Einsatz kriegerischer Gewalt zu beantworten. Aber diese Phasen waren selten und sie gingen vorüber. Im religiösen Alltag suggerierten die oft mühsam ausgehandelten Formeln der Bekenntnisse oder der Liturgie eine Eindeutigkeit, die sie für die meisten Gläubigen nur im Konfliktfall hatten. Im Alltag des Glaubens setzten die festen sprachlichen Formen der Liturgie Wegmarken für die vielen Menschen, die in den Feinheiten der theologischen Sprache nicht zuhause waren. Den Weg entlang dieser Markierungen mussten die Gläubigen mithilfe ihrer eigenen Vorstellung finden. Die historische Forschung verweist seit längerem darauf, dass die Unterschiede und Gräben zwischen katholischem und arianischem Bekenntnis in der Frühzeit des Mittelalters überschätzt wurden, und es spricht in der Tat viel dafür, dass ein Nebeneinander von Katholiken und Arianern möglich war, wenn nicht andere Spannungen hinzukamen.
Die arianischen Germanenstämme errichteten ihre eigenen kirchlichen Ordnungen, die weniger hierarchisch waren als die der Katholiken, und sie beließen die katholischen Bischöfe in ihren Ämtern. Diese Koexistenz zeigte sich ja auch um 500, als Caesarius mit der Duldung des Westgotenkönigs Alarich II. Bischof von Arles wurde. Er geriet damit in ein Kraftfeld, das von heftigen Spannungen durchzogen wurde. Diese Spannungen waren die Signatur der Übergangszeit, die sich auch dann nicht so schnell lösten, als sich die Franken schließlich unter den rivalisierenden Stämmen und Kräften in Gallien durchsetzten.
Caesarius hinterließ in dieser bewegten Welt einen sichtbaren Fußabdruck. In seiner Leidenschaft für sein Amt sah er seine pastorale Aufgabe in der geistlichen Betreuung der Gläubigen, aber auch in einer konkreten Verantwortung für die vielen Opfer der Kämpfe, die die Region heimsuchten. Caesarius mobilisierte alle Mittel, die ihm als Bischof zur Verfügung standen, um Gefangene auszulösen. Er verwendete liturgisches Gerät für ihren Freikauf oder ließ den Ornamentschmuck seiner Kirche dafür herausreißen. Die Kritik seiner Amtsbrüder wies er zurück, er ließ sie vielmehr fragen, welche Rettung sie sich wünschen würden, wenn sie in solche Bedrängnis gerieten. Als er bei einer Begegnung mit Theoderich dem Großen den König so sehr beeindruckte, dass dieser ihm ein kostbares Geldgeschenk übersenden ließ, nutzte Caesarius auch dieses Geld für den Freikauf von Gefangenen.14 Die Biographen des Bischofs halten fest, dass zwischenzeitlich große Mengen Freigekaufter auf den bischöflichen Gütern versorgt wurden. Nicht alle diese Menschen waren Christen, aber der Einsatz des Bischofs für ihre Freiheit und ihr Leben ließ das Christentum für sie in einem besonderen Licht erscheinen. Bei dem Blick auf seine Gläubigen setzte Caesarius hohe Standards und formulierte hohe Erwartungen an sein Umfeld. Seine Biographen berichten, wie sehr er die Diskussion über biblische Themen und die Erörterung unklarer Textstellen liebte. Ausdrücklich ermunterte er die Gläubigen, Fragen zu stellen, um ihren Geist zu schulen. Die überlieferten Predigten sind ein Spiegel der zivilisierten Romanitas.
Dies nämlich müssen wir besonders beachten, dass wir das, was wir zur Ehre Gottes tun, mit heiterem Geist tun, mit der Freude des Glaubens und mit der Empfindung eines guten und ergebenen Willens. Wir wissen, dass wir aus dem, was wir ungern und gezwungen tun, nicht nur keinen Vorteil haben, sondern großen Schaden.15
Caesarius soll darauf geachtet haben, dass die Diakone, die er weihte, mindestens 30 Jahre alt waren und dass sie die Bücher des Alten und des Neuen Testaments mindestens vier Mal gelesen hätten.16 Hier ist es Zeit für einen Vergleich. Denn die Welt des Caesarius war eine Welt, die langsam verging. Es war die Welt einer gallorömischen Elite, der viele Bischöfe jener Übergangszeit entstammten, auch Bischof Gregor von Tours, der wichtigste Geschichtsschreiber dieser Epoche. Er war ein Vertreter dieses Milieus in der Generation nach Caesarius.
Werfen wir nun den Blick auf den anderen Akteur, um die Spannweite des Christentums in diesem erlöschenden römischen Reich zu erfassen.
Am nördlichen Rand des ehemaligen römischen Reichs, im nordenglischen Kloster Jarrow, schrieb der Mönch Beda Venerabilis im Jahr 734 einen Brief an den Bischof von York.17 Es war ein Brief über notwendige Schritte für die Verbreitung des christlichen Glaubens. Beda empfahl dem Bischof, sich Helfer zu suchen, ohne dabei irgendwelche Anforderungen für deren Qualifikation oder Eignung zu nennen, die denen vergleichbar wären, die Caesarius erwartet hatte. Der Unterschied ist dramatisch. Während die Diakone im Arles des Caesarius in der Endphase der römischen Ordnung das Alte und das Neue Testament vor ihrer Weihe viermal lesen mussten – was bedeutet, dass sie zur Benutzung der Vulgata Latein lesen konnten –, drängte Beda den Bischof von York, dass seine Helfer das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser kennen sollten. Und weil sie vielfach kein Latein beherrschten, sollten sie diese Texte beherrschen und häufig wiederholen.
Deswegen habe ich diese beiden Dinge, also das Glaubensbekenntnis und das Vater Unser, vielen ungebildeten Klerikern häufig in die englische Sprache übersetzt gegeben.18
Zu diesem Zeitpunkt war die römische Herrschaftsordnung in England lange vorüber, angelsächsische Siedler und Krieger hatten rivalisierende Reiche gegründet und die Kenntnisse der Inhalte des Glaubens erschienen gegenüber den Anforderungen des Bischofs von Arles gut 200 Jahre zuvor rückläufig. Aus diesem Blickwinkel bot sich ein stimmiges Bild des Niedergangs und der Bildungsvergessenheit. Aber ein zweiter Blick zeigt, dass die mittelalterlichen Zustände aus einem einzelnen Blickwinkel nicht angemessen zu erfassen sind.
Beda Venerabilis lebte in einer Schatzkammer des Wissens. Die Bibliothek seines Klosters gehörte zu den bedeutendsten Bibliotheken des nördlichen Europas. Sie stammte zu Teilen aus den Beständen des Vivarium-Klosters, das Cassiodor einst auf den kalabrischen Gütern seiner Familie an der Südspitze Italiens gegründet hatte, wo er um 580 als fast Hundertjähriger starb. Cassiodors theologische und historische Bildung war ehrfurchtgebietend. Kenntnisreich verglich er die Qualität von Ausgaben und Übersetzungen der heiligen Schriften und ihrer Kommentatoren, die er in seiner Bibliothek zur Hand hatte oder die er eigens anfertigen ließ. Über die Bücher der Bibel schrieb er in seinen Institutiones divinarum et saecularium litterarum:
Wie viel Nützliches und Erbauliches findet man nicht in diesen Büchern, wenn man klaren und lauteren Geistes an sie herangeht, Wir sind daher aufgefordert, den Text nicht nur zu hören, sondern ihn auch durch Taten zu erfüllen.19
Cassiodor war ein Zeitgenosse des Caesarius von Arles. Er selbst hatte sich nach einem aktiven Leben in der Verwaltung des Ostgotenkönigs Theoderich in ein Leben der gelehrten Betrachtung zurückgezogen, und aus den Beständen seiner Bibliothek waren die Bücher in das Kloster Bedas gelangt. Der Gründer von Bedas Kloster hatte sie auf einer seiner sechs Reisen nach Rom erworben, um im Norden Englands einen Ort römischer Kultur zu schaffen. Dazu hatte er sogar Spezialisten für römischen Gesang und römischen Ziegelbau überzeugt, ihn zu begleiten.
Der zweite Blick auf Bedas Situation eröffnet so das ganze Feld der römischen Tradition. Beda selbst war vom Klostergründer – Benedikt Biscop – bald nach der Gründung in das Kloster aufgenommen worden, und er entfaltete in diesem seltenen Kosmos der Bücher und des Wissens eine rege Tätigkeit. Er verfasste Lebensbeschreibungen, naturkundliche und exegetische Schriften, eine Abhandlung über die Zeitrechnung und vor allem eine Geschichte der Bekehrung Englands zum Christentum, die bei aller Legendenhaftigkeit für unser Verständnis unverzichtbar ist. Beda stand ganz in der gebildeten Tradition des römisch geprägten Christentums. Und wenn wir sehen, dass der Gründer von Bedas Kloster im Norden Englands, Benedikt Biscop, seinen Namen aus Verehrung für den heiligen Benedikt gewählt hat, der zur Zeit von Bischof Caesarius gelebt hatte, dann vervollständigt sich das Bild einer fortlebenden römischen Tradition noch weiter. Denn Benedikt von Nursia, Zeitgenosse des Caesarius von Arles, des Cassiodor und Gründer des Klosters Montecassino, war der Verfasser jener Regel für das mönchische Leben, die bei der Christianisierung nördlich der Alpen eine besondere Wirkung entfaltete. Wir werden darauf in einem eigenen Kapitel zurückkommen.
Die römische Kultur blieb dort eindrucksvoll lebensfähig, wo die Menschen einer Schicht angehörten, die Zugang zu den wertvollen Bibliotheken und einer christlich gewordenen Tradition hatte. Diese Kultur lebte auch im Mittelalter fort, weil es für anspruchsvolle Zeitgenossen keine Alternative gab, die eine ähnliche Überzeugungskraft gehabt hätte. Ihre Stärke war auch eine Folge ihrer Anpassungsfähigkeit. Die römische Tradition, ursprünglich eine Ordnung, die dem – heidnischen – Brauch der Alten (mos maiorum) folgte, hatte sich mit der christlichen Lehre versöhnt und wurde zu ihrem Träger. Dabei blieb sie offen für weitere Wandlungen. Bei den drei genannten Akteuren dieser fortdauernden römischen Tradition, bei Cassiodor, bei Caesarius von Arles und bei Benedikt von Nursia, begegnen wir dem Ideal der Einheit von Wort und Tat. Cassiodor hatte bei dem Lob der Heiligen Schrift auf die Einlösung durch die Taten verwiesen, Caesarius hatte seine Mittel für die Menschen eingesetzt, für die er verantwortlich war, und über Benedikt schrieb sein Biograph, Papst Gregor der Große: Der heilige Mann konnte gar nicht anders lehren, als er lebte.20
Bei diesen genannten Akteuren befinden wir uns in einer Welt, die in besonderer Weise klösterlichen Idealen verpflichtet war. Wir werden darauf im nächsten Kapitel über die Wege der Bekehrung weiter eingehen. Für das Fortleben des römischen Ideals bildeten die Klöster ein eigenes Milieu. Die liturgischen Handschriften der im 8. Jahrhundert beginnenden Karolingerzeit verweisen in besonderer Weise auf römische Vorbilder. Diese Handschriften hatten einen hohen Wert, denn der Feier des Gottesdienstes galt eine besondere Aufmerksamkeit. Ein erstes Beispiel ist der sogenannte Würzburger Comes, eine kleine Pergamenthandschrift von 16 Blatt, die auf den ersten vier Seiten eine Aufstellung der sogenannten Stationskirchen der Stadt Rom mit ihren Gottesdiensten enthält.21