15,99 €
Ein überfälliger Beitrag zur Care-Debatte: Warum der schlechte Umgang mit Müttern den Wohlstand des Landes gefährdet. Kaum werden Frauen zu Müttern, verändert sich alles: Sie werden entmündigt und übergangen, gegebene Versprechen werden nicht gehalten. Vor allem aber sind sie die unbezahlte Arbeitskraft, auf die ein ganzes System sich verlässt. In Zeiten der Krisen und darüber hinaus. Warum unser antiquiertes Mutterbild wirtschaftlichen Schaden anrichtet Dabei ist ihr Einsatz – privat und beruflich – von zunehmender, ja essenzieller Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes. Trotzdem werden massenhaft gut ausgebildete Mütter vom Arbeitsmarkt ferngehalten, weil institutionelle Betreuungssysteme versagen, überkommene Mütterbilder Frauen unter Druck setzen und fragilere Familienstrukturen weniger verlässlich sind. Und so hat der schlechte Umgang mit Müttern gesamtwirtschaftliche Konsequenzen. »Alles an der Familienpolitik in unserem Land schreit nach Veränderung.« Anne Theiss Klug und pointiert skizziert Anne Theiss in diesem Buch die Missstände, an denen sich bis heute wenig geändert hat und zeigt, wie die Politik ihre Verantwortung gegenüber Müttern und Familien endlich ernst nehmen kann. Sie beleuchtet, warum ein »Weiter so« langfristig das Wirtschafts-Modell der Bundesrepublik gefährdet und warum wir es besser nicht so weit kommen lassen. Ein fundierter Beitrag zu einer sich verschärfenden Debatte von einer Mutter, die es leid ist zu schweigen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 264
Anne Theiss
Wie überholte Familienpolitik uns den Wohlstand kostet
Knaur eBooks
Kaum werden Frauen zu Müttern, gilt nichts mehr von dem, was ihnen einst versprochen wurde. Kurios, denn das schadet uns allen: Massenhaft gut ausgebildete Mütter werden vom Arbeitsmarkt ferngehalten, weil institutionelle Betreuungssysteme versagen, überkommene Rollenbilder sie unter Druck setzen und der Rückgriff auf die Familie heute nicht mehr selbstverständlich ist. Der schlechte Umgang mit Müttern hat fatale wirtschaftliche Folgen und wird unseren Wohlstand bedrohen, wenn wir in Zeiten des Fachkräftemangels und fehlender Kita-Plätze nicht endlich umdenken.
Anne Theiss beleuchtet in diesem wichtigen Beitrag zur Care-Debatte, was sich ändern muss, damit unser Land zukunftsfähig bleibt.
Widmung
Vorbemerkung
Vorwort
1 »Das sagt einem niemand!«
1. Vater Staat wacht nicht über die Mütter
2. Leistung ist nicht gleich Leistung
3. Ratschläge sind auch Schläge
4. »Hauptsache, geliebt!« ist wichtiger als »Hauptsache, gesund!«
5. Mentale Gesundheit ist das ganze Mutterleben
6. Was es wirklich mit dem berühmten »Dorf« auf sich hat
7. Alles kann bleiben
8. Such dir deine Blase!
9. Nur früher waren Ferien schön …
10. Liebe ist Kampf, bevor es wieder schön wird!
2 »Das hat die Natur so nicht vorgesehen«
3 »Und wo ist das Kind gerade?«
4 »Das Kind ist viel zu warm angezogen«
5 »Wir freuen uns aufs Babysitten«
6 »Toll, wie du das alles schaffst!«
7 »Das könnte ich nicht!«
8 »Aus der Nummer kommst du nicht raus!«
1. »Du bist nicht allein!«
2. »Das weiß ich jetzt gar nicht besser!«
3. »Komm, gib mal her …!«
4. »Wir sind nicht gekränkt, sondern solidarisch!«
5. »Lassen Sie uns reden – und wir hören auch zu!«
6. »Mütter in die Arbeit statt an den Herd!«
7. »Heul doch! Bitte nicht leise!«
8. »Danke!«
9 »Ihr müsst euch halt wehren!«
1. Ein neues Mütter-Image braucht das Land
2. Neue Vorbilder, neue Prägungen
3. Arbeit ist nichts Schlechtes, Populismus schon
4. Mehr Service, weniger »Outsourcing« von Verantwortung
5. Raus aus der »digitalen Pubertät«
6. Die Krisen sind für alle da!
7. Familie muss wieder für Chancen stehen
Danksagung
Für die Mütter der Zukunft
In diesem Buch wird außerhalb von Zitaten und Quellen, wenn allgemein von Berufen und gesellschaftlichen Gruppen die Rede ist, das generische Femininum verwendet. In vollem Bewusstsein, dass auch dieses ausschließt – nur in diesem Fall eben Männer. Aber solange Anlagemechanikerinnen, Rechtsanwältinnen, Schreinerinnen, Unternehmensberaterinnen, Kaminfegerinnen für zu viele nur noch »Mutter« sind, sobald sie Kinder auf die Welt bringen, solange Mädchen und Frauen laut Studien hauptsächlich Männer mit dem Beruf verbinden, wenn sie »Arzt« lesen, braucht es offenbar mehr Weiblichkeit in der Sprache.
Warum also nicht »spielerisch und mit Ironie« sprachliche Stolpersteine setzen, wie es Horst Simon erklärt und sich deswegen selbst getrost »Linguistin« nennt.1
Ebenso schreibe ich »Menschen mit Behinderungen«, weil es zuallererst Menschen sind und Behinderung ein Merkmal von ihnen. Diese Schreibweise gilt für mich, bis noch eine bessere auftaucht – oder keine spezifische mehr notwendig ist. Weil sie selbstverständlich zu unserer Gesellschaft gehören.
Ein Buch über Mütter ist erst einmal nichts Innovatives. Gibt es schon. Und überhaupt, was ist mit den Vätern? Dann noch dieser negative Begriff im Titel – »ABWERTUNG«. »Denkt doch mal positiver«, heißt es gegenüber Deutschen ja sowieso schon von vielen Seiten. Warum diese Negativität? Warum nicht mehr Bling-Bling? Mehr Rosa? Mehr Zuversicht? Wenn es um unser abnehmendes Vertrauen, unsere oft übertriebenen Sorgen bei allen möglichen Belangen oder unsere Haltung gegenüber neuen Technologien geht, ist das durchaus angebracht. Mehr Optimismus schadet nicht – und defizitorientiertes Denken bringt nichts voran.
Ich würde gerne auch positiv über die Lage von Müttern schreiben. Wenn es ansatzweise Anlass dazu gäbe. Ich würde ebenso gerne über Väter und Mütter schreiben.
Wenn sie in der gleichen Lage wären.
Doch wenn es um Mütter geht, passiert etwas untypisch Deutsches: Ihre Lage wird schöngeredet, obwohl sie desolat ist, uns wirtschaftlichen Wohlstand kostet. Es wird überstrichen, übertüncht, was negativ ist. Dabei müssen wir als Land in der Gegenwart ankommen, unser volles Potenzial ausschöpfen, den Lack abkratzen: Bei den Idealen und den Rollenbildern. Die gegenwärtige Lebensrealität der Mütter bedarf eines »Wummses«2 à la Bundeskanzler Olaf Scholz, der »Doppel-Wumms«-Auswirkungen auf uns alle hätte. Während nämlich immer noch alte Vorstellungen gepredigt werden, brauchen wir in Wahrheit mehr Mütter im neuen Gewand, Mütter, die frühzeitig wieder arbeiten, auch in Vollzeit. Und dies auch sein wollen, weil die Bedingungen gut sind.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Mütter einer bezahlten Arbeit nachgehen, steigt um 35 Prozent, wenn ihre Kinder verlässlich betreut werden.3 Larissa Zierow, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Reutlingen, erklärt in der Wochenzeitung »Die Zeit«: »Öffnet eine Kita ganztags statt halbtags, steigt das Einkommen der Mütter im Schnitt um 290 Euro pro Monat, bei Akademikerinnen sogar um 425 Euro.«Dadurch erhöhe sich ihr Lebenseinkommen, das Risiko für Altersarmut sinke, die Sozialausgaben eines Staates auch, die Steuereinnahmen durch zusätzlichen Verdienst füllten vielmehr die Sozialkassen auf, und»Produktivität und Wirtschaft wachsen«.4
Aber was passiert in Deutschland – trotz der bekannten Zahlen, trotz der immensen Vorteile, die es für die Gesellschaft mit sich bringen würde, wenn mehr Mütter mehr berufstätig wären? Das Gegenteil, es droht Rückschritt statt Fortschritt. Mit dieser Entwicklung hat auch, aber nicht nur, ein Virus zu tun, der das Leben aller beeinträchtigte, aber irgendwie doch das Leben der Mütter am meisten (und zwar um einiges mehr als das der Väter!). Betrachtet man Studien oder fragt nach der Einstellung von jungen Vätern, können auch Optimistinnen angesichts der aktuell herrschenden Bedingungen nicht auf die große Transformation hoffen. Denn selbst bei größtem Selbst-Engagement kommen viele Mütter immer noch viel zu oft nicht so weit, wie sie es unter besseren Bedingungen könnten. Und das ist nicht nur schade, das ist tragisch, das ist Vergeudung.
Schlimmer noch: Zu viele der heutigen berufstätigen Mütter mit Kleinkindern werden psychisch und physisch auf der Strecke bleiben, durch die andauernde Mehrfachbelastung bei schlechter Infrastruktur Folgekrankheiten entwickeln. Wenn Mütter heute nicht mehr können, sind ihre Krankheitsbilder diffiziler und damit aufwendiger zu behandeln als noch vor ein paar Jahren. Psychologinnen berichten von nie gesehenen Zuständen.5 Erschöpfte Mütter, Mütter, die zu krank sind, können nicht ihre Stimme erheben und auch nicht mehr leisten. Viele von uns werden das womöglich erst gar nicht merken oder verdrängen, manche werden Zusammenhänge verneinen. Die Idee, dass Frauen »Selbst schuld!« an ihrer Lage sind, ist weit verbreitet und wirft doch nur alle in einen Riesentopf.
Der Staat, die Politik, die Gesellschaft, die Männer – profitieren einmal wieder (kurzfristig) von der Selbstaufgabe von Müttern für die Familie. Sie lässt verdecken, dass Hausaufgaben nicht erledigt, Versprechen nicht eingehalten wurden. Und während den Müttern durch zu wenig verlässliche Rahmenbedingungen immer mehr Erschöpfung droht, unflexible Betreuungs- und Arbeitsmodelle ihre Berufstätigkeit erschweren, sogar – fast wie in früheren Zeiten – unmöglich machen, gehen dem Arbeitsmarkt vor unser aller Augen dringend benötigte Arbeitskräfte verloren.6
Es ist eben nicht wie beim Wechselkurs: Sinkt der Wert des Euros, steigt oft (im Verhältnis) der Wert des Dollars. Eine »Einheit« Mutter, deren »Wert« nur vermeintlich geringer ist, lässt den Wert der anderen Einheiten auch nur vermeintlich steigen. Früher konnte diese Art des Verlustes übertüncht werden. Das starke Wirtschaftswachstum und die Masse an Steuerzahlerinnen7 im Land ließen zu, dass die Berufstätigkeit von Frauen und insbesondere Müttern nicht gefördert wurde. Inzwischen ist das verheerend: Heute bedeutet der »sinkende Wert«, die Abwertung der Mütter, einen sinkenden Wohlstand. Und das betrifft auch die Männer beziehungsweise die gesamte alternde Gesellschaft – auf lange Sicht. Je länger wir brauchen, um das zu erkennen, desto mehr müssen wir wieder investieren, um das brachliegende Potenzial der Mütter abzurufen. Dabei wären Mechanismen aus anderen Ländern bekannt, die pragmatisch eingesetzt und angewandt innerhalb kürzester Zeit mehr Müttern mehr Berufstätigkeit ermöglichen könnten. Und ja, kurzer Spoiler, darunter gehören kluge, effiziente Investitionen und fällt auch der Slogan: »Männer an den Herd!« Aber nicht nur.
Die Geschichte deutscher Mütter hat mit gesamtgesellschaftlichem Schweigen, mit der Verneinung von (spät)modernen Entwicklungen8, mit zu wenig Einsatz aktueller, wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Betreuungsrealität, mit festgefahrenen Ansichten und Strukturen zu tun. Junge Mütter, die relativ schnell nach der Geburt ihres Kindes wieder arbeiten möchten, werden abgewertet, weil tradierte Rollen(vor)bilder, mit denen viele von uns (vor allem in Westdeutschland) sozialisiert wurden, noch zu viel Einfluss haben: Das »Kindeswohl« gilt auch im 21. Jahrhundert für die Mehrheit der Deutschen als Begründung, dass Frauen mindestens ein Jahr zu Hause bei den Kindern bleiben sollen, am besten noch länger. Politische Instrumente wie das Elterngeld, die eigentlich für den leichteren beruflichen Wiedereinstieg gedacht sind, befördern das sogar. Auch dass die Kita-Gebühren in Deutschland häufig noch um einiges höher sind als die für den Kindergarten. Währenddessen profitieren Männer weiterhin durch das »Gender Care Gap«. Also davon, dass Frauen im Durchschnitt eineinhalbmal so viel der unbezahlten Haushalts- und Sorgearbeit übernehmen.9 Und das »Gender Pay Gap«10 offenbart ihnen, dass Männer in der Wirtschaft immer noch größtenteils mehr verdienen als sie. Den Kindern versuchen sie vor diesem Hintergrund unermüdlich beizubringen, was Gleichberechtigung und Gerechtigkeit bedeutet.
Bei Müttern klaffen der Anspruch, der Schein (Podest) und die Wirklichkeit (Alltag) auseinander. Sie sind die Eier legenden Wollmilchsäue, kämpfen Tag für Tag, dass bei Mangel an Kita-Plätzen und Fachkräften sowie schlechter werdender Gesundheitsversorgung trotzdem alles funktionieren mag. Die Überschrift ihres Lebens ist: »Immer auf der Suche nach ausreichender Unterstützung und Alternativen!« – anstatt auf Entfaltung, auf sich selbst setzen zu können. Weil immer noch vorherrschende Mütter-Ideale nicht der spätmodernen Mütter-Realität entsprechen.
Völlig kurios, wenn man bedenkt, welchen Dienst die Mütter diesem Staat, dieser Gesellschaft, der Wirtschaft erweisen: Sie gebären trotz allem Bürgerinnen11, spätere Arbeitnehmerinnen und bei gleichzeitiger Berufstätigkeit helfen sie mit, dass dieses alternde Land eine Zukunft hat.12 Sie arbeiten mehrfach für den Wohlstand. Aber beklatscht werden vor allem die neuen, engagierten Väter. Obwohl jungen Frauen allerlei Versprechen gemacht werden, bevor sie Kinder bekommen, stehen zu viele von ihnen vor dem Scherbenhaufen ihrer eigentlichen Pläne, sobald der Nachwuchs da ist. Kurz gesagt: Würden werdende Mütter einen Vertrag mit Vater Staat schließen, wären sie gut beraten, das Kleingedruckte zuvor zu lesen.
In Deutschland leben circa 7,5 Millionen erwerbstätige Mütter mit mindestens einem minderjährigen Kind. Die meisten arbeiten in Teilzeit, da oft die Infrastruktur nur wenig andere Modelle möglich und attraktiv macht, am wenigsten Schichtdienste.13 Würden alle diese Mütter nur wenige Stunden in der Woche mehr arbeiten können, wenn sie woll(t)en, wäre das ein bedeutender Teil einer Lösung des Arbeitskräftemangels. Und wir würden den gigantischen Herausforderungen des demografischen Wandels begegnen: 2023 erreicht der Jahrgang 1958 das Rentenalter von 65 Jahren. Auf ihn würden Millionenjahrgänge folgen, alle größer als die bisherigen, sagt Soziologe Stefan Schulz und fügt hinzu: »So etwas kennen wir nicht, und es wird uns überfordern. Die Frage ist, ob wir es geschehen lassen oder ob wir es mitgestalten.« Und er hebt die Bedeutung der Familien hervor und damit der Mütter: »Es ist eine große politische Aufgabe, dass Familien funktionieren. Wir müssen langsam mal einsehen, dass der Nachwuchs die einzige Ressource für unsere Volkswirtschaft ist. Wir haben sonst nichts, und von dem, was wir haben, haben wir zu wenig. Das sind Dinge, die von der Politik nicht auf Augenhöhe mit der Notwendigkeit organisiert werden.«14
Vor diesem Hintergrund, angesichts dieser gewaltigen Aufgabe, gibt es für Frauen mit Kindern entgegen jeglicher Logik, entgegen jeglichen Anstands viel zu viele Rollen rückwärts – und die Frage bleibt: Wann kommt er, der »Wumms«, der »Doppel-Wumms«15, wann geht es endlich spürbar vorwärts für spätmoderne Mütter in Deutschland?
Bücher über Frauen, über Mütter sind immer noch – oder wieder – ein Balanceakt, man könnte auch sagen »Spießrutenlauf«. Für manche wird es ein Affront sein, dass ich mich überhaupt beschwere. Viele, auch nicht wenige Frauen, denken noch immer: Mütter haben zufrieden zu sein. Den möglichen Mini- oder Mega-Shitstorm vor Augen, wage ich zu behaupten: Nein, haben sie nicht! Sie sollten – über alle politischen Lager hinweg – mehr Einigkeit demonstrieren, für mehr Sichtbarkeit ihrer Probleme kämpfen. Sie haben verdient, sich zu wehren, sie sollten sich wehren, sich für ihren Wert einsetzen, der nichts mit der Anzahl ihrer Kinder zu tun hat, sondern mit ihrem Potenzial als Mensch, als Individuum. Am Ende wird genau dieses Wehren die Zukunft Deutschlands, die Wirtschaft stärken, die Gesellschaft modernisieren, nach gleichberechtigten Maßstäben formen und damit auch das künftige Leben der nachfolgenden Generationen auf ein besseres Fundament stellen. Das Abwenden der Abwertung von heutigen Müttern, ihrer Erschöpfung, der mangelnden Wertschätzung wird ebenso die spätere Entscheidung von heutigen Mädchen für oder gegen Kinder beeinflussen.
Aber zunächst gilt zu klären, warum Abwertung von Müttern in der Gegenwart überhaupt noch eine Rolle spielt. Warum geläufige Sprüche gegenüber ihnen einiges offenbaren. Über uns. Über unser Land. Über die darin lebende Gesellschaft. Und warum wir bei all den Worten, Ratschlägen und Ideen von Mütter-Idealen vor allem Antworten auf die folgenden Fragen benötigen: Wie bekommen wir mehr Aufwertung, mehr Verlässlichkeit für die so dringend gebrauchten jungen, berufstätigen Mütter hin – nach all den Jahrzehnten verheerender Familienpolitik und vor dem Hintergrund tradierter Rollenbilder, die gesellschaftlich immer noch zu stark akzeptiert sind?
Und das möglichst schnell?
Was ich gerne gewusst hätte, bevor ich Mutter wurde, was die Leistung, eine eigene Blase, Mentalität und Resilienz damit zu tun haben. Warum die Liebe nicht zu Ende gehen muss, weil alles bleiben kann – bis auf die Ratschläge von anderen.
»Kinder rangieren in Deutschland irgendwo zwischen Tempolimit, veganen Würstchen und Deutscher Bahn, und wer Kinder hat, der hat Probleme, mehr, als in jedes Lastenfahrrad passen.«
Carolin Kebekus16
Die Walze fährt langsam, als ob sie es gut meint – und drückt mich in einen weichen Untergrund. Erst die Ferse, dann den ganzen Fuß, meine Beine, den Oberkörper, den Hals, zuletzt, ganz langsam, versinkt mein Kopf. Anne, versenkt. Wie in diesem Spiel mit den Schiffen. Zack, weg. Ich jubele, obwohl ich im Spiel die Verliererin wäre. Im Morast zu liegen, fühlt sich gut an. Besser als darüber. Dieser Zustand bedeutet Halt. Und wie wichtig Halt ist, habe ich vergessen. Ich bin zu lange vor einer Einsicht geflüchtet: Ich bin erledigt, so richtig erledigt. Nicht nur im körperlichen Sinne.
Mein erstes Kind ist etwas über ein Jahr alt, da kommt mir mein Leben vor, als wäre es kontinuierlich im Schleudergang. Die Zentrifugalkräfte haben mich an die Wand gedrückt. Ich bin völlig unbeweglich in einem Leben, das ich aus freien Stücken gewählt habe. Ich bin nicht mehr »Anne«, sondern »Mutter«. Was sein sollte und was nun ist, diese Zustände passen nicht zu den Vorstellungen, die ich als Kinderlose vom Muttersein im 21. Jahrhundert hatte. Es passt rein gar nichts – wie bin ich bloß hier gelandet?
Bei jeder anderen Entscheidung informiere ich mich zuvor über ALLES, recherchiere bis ins kleinste Detail, wäge ab. Warum dachte ich beim Thema Kinder, ich wüsste schon viel, und bin derart reingefallen? Mutter in Deutschland zu werden – war ich irre? Definitiv war ich nicht risikoscheu. Und schließlich sehe ich es als ein Abenteuer an – à la Indiana Jones auf der Suche nach dem Stein der Weisen oder des verlorenen Schatzes, egal. Überleben wird meine Devise. Die Hindernisse mit Mut zu überwinden mein Lebensmotto. Ja, gut, auch weil ich erkenne: Aus der Nummer komme ich nicht raus. Ein Retour-Service für Kinder ist mir unbekannt.
Nach reiflicher Überlegung würde ich ihn aber auch nicht nutzen. »Regretting Motherhood«17, die Bewegung, bei der Frauen öffentlich ihre Mutterschaft bereuen, finde ich zwar wichtig. Wir Frauen müssen dringend mehr – entgegen gesellschaftlicher Konventionen – über das Nicht-Ideale des Mutterseins sprechen. Aber ich selbst bereue es nur, mir vorgestellt zu haben, dass ich genügend Unterstützung bekommen und nicht in alte, vergessen geglaubte Frauenrollen zurückfallen würde. Dass es kein Kampf werden würde. Aber meine Kinder bereue ich nicht. Und ehrlicherweise: Wenn ich es tun würde, wäre mir die psychologische Aufarbeitung zu zeitintensiv. Und die bräuchten sie, wenn sie mein Bedauern über sie irgendwann erfahren würden.
Aber warum hat Muttersein für immer mehr Frauen überhaupt mit »bedauern« und »bereuen« zu tun?
Ganz einfach: Weil ihnen etwas vorgemacht wird!
Als Studentin sitze ich in Vorträgen an der Universität, die an uns junge Frauen gerichtet sind und in denen es um unsere Zukunft gehen soll. Darin heißt es, kurz zusammengefasst: »Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist möglich!« – »Ihr müsst es nur wollen.« – »Female Leadership« – »Female Empowerment« – et cetera pp. Ich glaube, was ich dort höre, ich glaube, dass etwas vorangeht. Schließlich leben wir im 21. Jahrhundert, in einem der reichsten Länder der Welt. Falsch geglaubt. Ich mache zwar als junge Frau all meine »Hausaufgaben«, beende mein Studium, bevor ich Mutter werde, arbeite danach ein paar Jahre, sammle Berufserfahrung und Kontakte, suche mir einen engagierten Mann als Vater der späteren Kinder – und bekomme doch gefühlt eine »glatte 6«. Ich wurde veräppelt, um es nett auszudrücken.
Eigenschaften, die mir noch als Studentin Beifall eingebracht haben, sind nun Voraussetzung dafür, dass ich als junge, berufstätige Mutter nicht untergehe. Und sie reichen nicht aus. Ich brauche immer mehr davon. Irgendwann auch einen Ausgleich. Aber stattdessen ernte ich Blicke und Kommentare, die mir erklären wollen, wer ich bin und was ich tun soll – beschweren gehört offenbar nicht dazu, und für noch zu viele Leute ist klar: Frauen mit Kindern sollten größtenteils Mutter sein und nicht mehr. Zu meinem eigenen Gefühl passt der Buchtitel »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?«18. Wer ich mal war, wer ich sein wollte, was für individuelle Wünsche ich habe, ist zur völligen Nebensache geworden. Ich werde als Mutter definiert von anderen.
Als junge Frau habe ich an den Fortschritt geglaubt. Als Mutter erkenne ich: Wir erleiden, sobald wir Kinder haben, eine Regression. Und wir sind sogar noch schlechter dran als vor Jahrzehnten. Wir sollen die »Alleskönnerinnen« sein – und die Lebensumstände, die Gesellschaftszustände lassen uns neben dem Großziehen der Kinder einen Beruf ausüben, ohne auch nur annähernd gute, verlässliche Voraussetzungen dafür zu haben – wie zum Beispiel zeitlich flexible, auch individuelle Betreuungsmodelle. Warum es diese braucht? Weil das Leben flexibler geworden ist, die Arbeit vielfältiger, andere Arbeitszeiten möglich sind. Während das Wirtschaftsleben sich immer schneller weiterentwickelt, hinken die (meist staatlichen und noch viele kirchlichen) Betreuungsinstitutionen hinterher. In Deutschland, vor allem auf dem Land, gibt es immer noch Kindergärten, die um 14 Uhr schließen. Die Mütter, vor allem diejenigen, die lieber früher als später wieder berufstätig sein wollen, auch gerne in Vollzeit, bleiben dadurch erst recht auf der Strecke.
Seitdem ich Mutter bin, habe ich – in diesem Fall womöglich glücklicherweise – kaum noch Zeit, mir über die Angebote oder deren Mangel Gedanken zu machen. Ich nehme, was ich kriege. Früher als Kinderlose habe ich das Beste angestrebt. Mit Kind(ern) gewöhne ich mich von Woche zu Woche, Monat zu Monat, Jahr zu Jahr mehr daran, Kompromisse zu schließen. Mit dem Kinderkriegen stirbt für mich die rosarote Vorstellung des spätmodernen Familienglücks. Und die Illusion, dass man als Mutter in diesem Land für Nachwuchs belohnt und nicht bestraft wird.
Nebenbei ist das auch inkonsequent: Eine Berufsausbildung oder ein Studium kostet in Deutschland (auch ohne Studiengebühren) mehrere Zehntausend Euro – die Auszubildenden, die Studierenden, die Wirtschaft, den Staat. Bei Frauen lohnt es sich nach aktueller Lage aber offenbar, diese Investition nach nur wenigen Jahren in den Wind zu schießen – nämlich genau dann, wenn sie Kinder bekommen. Weil der Staat und in Teilen auch immer noch die Wirtschaft die Arbeit von Müttern zu oft erschweren, nicht selten unmöglich machen – und das mit gesellschaftlicher Akzeptanz. Das ist ungefähr so, als hätte jemand in ein Start-up investiert, und exakt dann, wenn es als das »neue OpenAI« oder Ähnliches propagiert, kurz bevor sein Wert ins Unermessliche steigen wird, verkauft er seine Anteile. Und der Großteil der Menschen, die das mitbekommen, sagt: »Alles richtig gemacht!«
Neben diesem Kuriosum hätte ich gerne noch folgende Dinge gewusst, bevor ich Kinder bekam:
Mit der Schwangerschaft beginnt das Schlangestehen. Meist ohne Erfolgsaussicht. Nicht mehr viel ist selbstverständlich für eine werdende Mutter in diesem Land. Zwar sind Kleidung, Schuhe, Nahrung für uns alle nur einen kurzen Klick entfernt, die essenziellen Mütter-Bedürfnisse, wie zum Beispiel Kreißsaal-Plätze für die Geburt, sind es nicht.
Als ich im fünften Monat schwanger bin, schaue ich mich nach nahen Krankenhäusern um. Da denke ich noch, das nächste wäre mir das liebste. Anfängerfehler. Alle Kliniken, bei denen ich mich melde, erklären mir, sie seien »belegt« und ich »zu spät« dran. Als könnte man eine Schwangerschaft und die Geburt von vorne bis hinten durchplanen. Ich habe mich ja gerade erst darüber gefreut, dass ich das Kind über den dritten Monat in meinem Bauch behalten konnte. Und nun soll ich »zu spät« sein. Mein Körper ist offenbar eine Maschine und die gewünschte Bedienungsanleitung lautet: »Bitte gebären zum richtigen Zeitpunkt und anmelden nicht vergessen«.
In der Klinik einer mittelgroßen Stadt vor den Toren der Großstadt, in der ich damals lebe, haben sie dann Platz für mich. Im Vorgespräch teilen mir die Hebammen mit, eine werdende Mutter wie ich, auf der dringenden Suche nach einem Platz im Kreißsaal – ich muss offenbar sehr verzweifelt und nach der »Zusage« überglücklich gewirkt haben, sei ihnen nicht fremd. Inzwischen würden mehr als 30 Prozent der Mütter, die bei ihnen gebären, nicht aus dem Landkreis kommen. Und das liegt nicht (vielleicht auch, aber nicht nur) an der guten Ausstattung. Sondern vor allem am Mangel an Plätzen auf den Geburtsstationen. Die Vorstellung, irgendwo auf einem Krankenhausflur zu gebären, schreckt ab und lässt Mütter kilometerweit fahren.
Eine rechtzeitige Anmeldung ist typisch deutsch, der Mangel aber bisher eigentlich nicht. Mütter könnten es daher für einen schlechten Witz halten, wenn ihnen gesagt wird, sie müssten aus dem Zentrum einer Weltstadt für eine Geburt in eine Kreisstadt fahren. Ist es aber nicht. Und vor allem ist es nicht die einzige Überraschung, die mich erwartet: Auch eine Hebamme zur Nachsorge finde ich in der Großstadt erst, als sich eine gute Freundin für mich einsetzt und ihre eigene Hebamme anfleht, mich ebenfalls zu nehmen. Ich habe nämlich riesigen Respekt (und ja, auch eine Heidenangst) vor der ersten Zeit mit meinem ersten Kind. Mein Leben bringt es mit sich, dass ich nicht mehr um die Ecke meiner Eltern wohne, Verwandte in der Nähe habe, die sich kümmern könnten. Nach Wochen der Ungewissheit, ob ich eine Hebamme bekomme, fühlt sich die Zusage wie Luxus an.
Zudem melde ich mich – als ich mein Kind erst wenige Monate unter meinem Herzen trage – in einem Online-Portal für die Verteilung von Kita-Plätzen an. Beim Drücken auf den Button »Abschicken« bin ich noch voll froher Erwartung. Aber die Wochen, Monate vergehen – und das Versprechen wird gebrochen: dass ich als Mutter, die relativ schnell wieder arbeiten möchte, arbeiten kann. »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« – nicht für mich. Ich bekomme keinen Betreuungsplatz für meine Tochter und bin nicht die Einzige: Bis heute gehen viele Mütter in dieser deutschen Großstadt (in einem der reichsten Bundesländer) bei der Kita-Platz-Vergabe leer aus. Manche Eltern zahlen über 1000 Euro für private Kindergarten- oder Kita-Plätze, noch mehr, wenn sie mehrere Kinder haben und bei der Verteilung günstiger, städtischer Plätze nicht »bedacht« werden.
Auf dem Land sieht es nicht besser aus: Im Februar 2017 ziehen wir in eine 10000-Seelen-Gemeinde. Ich glaube den Zeitschriften und Artikeln, in denen vom Landleben geschwärmt wird. Vieles wird sicher einfacher, wenn alles etwas übersichtlicher ist. Denke ich. Und liege wieder falsch: Für Kind 1 gibt es auch in der kleinen Vorstadt keinen Betreuungsplatz, sondern nur in einem Kindergarten hinter der Vorstadt. Immerhin. Bedeutet jedoch auch: Ich muss die ersten Wochen vor dem Umzug jeweils eine Stunde hin- und eine Stunde zurückfahren. Hauptsache, ein Platz. Jedoch nur für kurze Zeit, wie sich bald herausstellen wird. Aber dazu später.
Deutschland gilt als ein Staat, der sich kümmert – eine Art Helikopter-Staat. Wirtschaft, Gesellschaft, ja sogar Partnerschaft, kein Lebensbereich, in dem sich »Vater Staat« nicht kümmert. Oder etwa doch? Eine Menschengruppe scheint ihn weniger zu interessieren: die Mütter. Sie sollen sich offenbar vor allem um sich selbst kümmern. Und das nicht im Wellness-Sinne. Nur im Wahlkampf gibt es zahlreiche Slogans und Versprechungen für sie, die vollmundig von den verschiedenen Parteien verwendet werden. Hier einige Beispiele aus dem Jahr 2021:
Alle größeren Parteien erklären in ihren Wahlprogrammen vor der Bundestagswahl, den Kita-Ausbau vorantreiben und die Qualität der Betreuung steigern zu wollen – aber alle bleiben erstaunlich unkonkret.19
Die CDU/CSU kürt Deutschland zum »Familienland«20.
Die FDP will die Betreuungszeiten flexibel gestalten und Betreuungskosten steuerlich absetzbar machen.
Die Grünen wollen recht allgemein Investitionen in das Kita-System erhöhen. Etwas konkreter werden sie, was die Qualität angeht – sie soll mit dem »Bundesqualitätsgesetz« verbessert werden.
Die Mühlen in der Politik mahlen langsam. Ursula von der Leyen erklärt schon 2010 in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) – damals in ihrer Funktion als Bundesfamilienministerin: Die Öffnungszeiten der Kitas könnten »noch flexibler« und »die Ausbildung der Erzieherinnen weiter verbessert« werden.21 Zwölf Jahre später, im Oktober 2022, heißt es in einem Kommentar zur aktuellen Familienpolitik der Bundesregierung in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ): »Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie bringt Eltern (…) keine wesentlichen Fortschritte. (...) Schon im Sommer hätte Deutschland EU-Vorgaben zur familiären und beruflichen Vereinbarkeit umsetzen müssen. Da das noch nicht geschehen ist, hat die EU-Kommission mittlerweile ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.«22
Das Thema »Kinder und Familie« hat in Deutschland ganz offensichtlich die eigentümliche Eigenschaft, nur für die kurze Wahlkampfzeit Bedeutung zu haben – und dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Um in den folgenden Kampagnen aber natürlich stets wieder aufzutauchen, meist mit den gleichen Slogans. Denn es hat sich in der Zwischenzeit im Elternalltag nur wenig Spürbares getan. Klingt zynisch – ist es auch, aber vor allem vonseiten der Politik. Dass die Versprechen so vollmundig sind und bleiben, hat einen Grund, den die Journalistin Lea Utz in einem Artikel auf »Spiegel Online« wie folgt auf den Punkt bringt: »Wahlkampfzeit ist Familienzeit. Rund acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern leben in Deutschland, das sind Millionen potenzielle Stimmen für die Parteien im Jahr der Bundestagswahl.«23
Stimmen, die zu oft enttäuscht werden. Aber warum hinken wir Deutschen in Sachen Familien- und Frauenpolitik, Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern hinterher, während wir in anderen Bereichen durchaus noch führend sind – liegt es an der deutschen Geschichte? Den Frauenbildern? Den Frauen selbst, den Männern? Oder an allem ein bisschen? Aktuell entscheidender ist, was es bedeutet und welche Situation dieser Zustand verschärft. Laut Berechnung des Statistischen Bundesamtes wird die Bevölkerung im Erwerbsalter von 20 bis 66 Jahren bis 2050 kontinuierlich schrumpfen. »Insgesamt wird das hiesige Bruttoinlandsprodukt um 274 Milliarden Euro niedriger ausfallen als bei konstanter Bevölkerung, eine Lücke, die in den nachfolgenden Jahrzehnten noch deutlich größer wird«, schreibt der Autor und Unternehmensberater Daniel Stelter im »Handelsblatt«.24
Und als wäre das nicht genug an Herausforderung, weht ein klitzekleines Virus über mühsam erarbeitete und erkämpfte Errungenschaften der Mütter in diesem Land hinweg. Arbeitszeit muss wieder reduziert, Jobs aufgegeben werden, damit die Kinder betreut und gefördert werden können. Und was macht »Vater Staat«? Er schaut zu.
Wenn ich mich an die Info-Veranstaltungen und Präsentationen an meiner Universität zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie erinnere, schön farbig gestaltet und blumig umschrieben, komme ich mir während der letzten Jahre vor, als wäre ich in einer anderen Welt aufgewacht. Dass viel versprochen und so gut wie nichts gehalten wird. Dass Mütter, Familien als eine der ersten gesellschaftlichen Gruppen vergessen werden, wenn Krisen über das Land kommen. Das hätte ich gerne gewusst.
Seitdem ich Mutter bin, leiste ich, wie ich es nie gedacht hätte, leisten zu können. Nur erstaunlicherweise ist die Anerkennung eine andere. Hieß es zu mir als kinderlose Frau nach gewöhnlichen Erfolgen noch überschwänglich »Toll gemacht!«, so werden meine beruflichen Ambitionen als Mutter mit Worten wie »Echt?«, »Bist du sicher?« oder »Schon so früh?« kommentiert. Diese Kritik, die nach Sorge klingt, verunsichert mich – mehr als ich zunächst zugeben möchte. Mit etwas Abstand betrachtet, fällt mir auf, dass die verschiedenen Müttermodelle einfach noch unterschiedliche Anerkennung bekommen – ohne Logik. Im Folgenden meine »qualitative« Beobachtung:
Die Frühstarter-Mütter, die relativ kurz nach der Geburt ihrer Kinder wieder zu arbeiten anfangen, haben sich noch am meisten zu rechtfertigen. Und müssen »Multitasking deluxe« vorweisen: Sie hetzen in die Rückbildungskurse, die meist vormittags stattfinden, übermalen danach schnell ihre Augenringe mit einem Concealer für die Videokonferenz, die sie aber bald wieder stumm schalten, weil das Baby zu ihren Füßen weint. Die Betreuungseinrichtung hat mal wieder zu oder die Nanny gekündigt. Sie melden sich nur dann krank, wenn das Kind krank ist. Wenn sie es selbst sind, arbeiten sie weiter – wie soll das sonst auch gehen? Statt Anerkennung bekommen sie »on top« eher Vorwürfe oder mindestens ein schlechtes Gewissen serviert. Bestätigung gibt es für sie erst, wenn sie Arbeitszeit reduzieren oder wieder ganz aufhören zu arbeiten.
Mütter, die ihre Elternzeit ausschöpfen, haben es etwas einfacher, sie werden nicht per se verurteilt und sammeln ein paar Bonus-Punkte – vor allem unter Traditionalistinnen. Manche verreisen auch, wenn der Partner die vom Staat gesponserte Extra-Elternzeit nimmt, die eigentlich einen leichteren Einstieg der Mutter in den Beruf ermöglichen soll. Aber nicht wenige unter ihnen – auch diejenigen, die mit der Familie reisen – möchten lieber früher als später wieder arbeiten. Aber dann bekommen sie womöglich keine Kinderbetreuung. Oder das Arbeiten lohnt sich ihrer Ansicht nach und/oder tatsächlich finanziell nicht. Manche von ihnen gruppieren sich daher schließlich zur dritten Gruppe, viele dabei nicht ganz freiwillig und entgegen den ursprünglichen Zielen.
Die »Ich-bleib-erst-einmal-zu-Hause«-Mütter, die sich in den ersten Jahren ausschließlich um die Kinder kümmern, können sich in diesem Land immer noch der größten Zuneigung vor allem unter älteren Generationen sicher sein. Vor allem in Westdeutschland, in dem sozial- und familienpolitisch über Jahrzehnte dieses Modell favorisiert und unterstützt wurde. Aber auch sie werden bewertet und müssen sich nun vor anderen Müttern auf dem Spielplatz, in der Turn- oder Krabbelgruppe rechtfertigen. Ein Vorteil dieses Modells: Die Alltags-Termine und Öffnungszeiten sind immer noch dem Lebensmodell von Hausfrauen angepasst. Der Nachteil dieses Modells, vor allem für die Frauen: Die Politik sichert diese Mütter immer weniger ab. Reformen des Unterhaltsrechts sorgen dafür, dass Frauen, die sich vor allem um die Familie und nicht um ihre eigene Berufstätigkeit gekümmert haben, im Falle einer Trennung viel kürzer und damit weniger gut abgesichert sind als noch zu früheren Zeiten.25
Jede Frau sollte frei über ihr Modell entscheiden. Doch sie muss dies im vollen Bewusstsein tun, dass manch gesellschaftlich noch stark akzeptierten Rollenbildern inzwischen die Grundlagen fehlen. In der fragileren Gegenwart und Zukunft müssen sich Frauen noch mehr vor späteren, finanziellen Nachteilen schützen. In einer schneller werdenden (Wirtschafts-)Welt wird es zum Risiko, jahrelang auf die Berufstätigkeit zu verzichten. Die Steine, die Müttern dafür in den Weg gelegt werden, sind in diesem Land noch erstaunlich groß und schwer. Ihr Kampf um bezahlte Arbeit gleicht noch zu sehr einer Verzweiflungstat.
Auch deswegen sind sie schließlich dankbar, wenn sie ihren beruflichen Plänen nachgehen »dürfen«, akzeptieren einfach die Bedingungen der unflexiblen, unverlässlichen Kinderbetreuung und hangeln sich durch den Alltag. In Wahrheit haben sie oft keine Kraft mehr, um sich zu wehren, und springen vor Jubel in die Luft, wenn versprochene Selbstverständlichkeiten passieren. Dabei wäre es besser, nicht »dankbar«, sondern auch wütend zu sein. Denn: »Die Wut gibt den Impuls, eigene Bedürfnisse zu verteidigen. Und einen Platz in sozialen Kontexten zu sichern«, meint die Psychotherapeutin Gitta Jacob.26 Meinem Selbstwert als junge Mutter hätte Wut nicht geschadet.
Denn in den vergangenen Jahren mit kleinen Kindern muss ich mir den Beifall meist selbst spenden und fühle mich manchmal so, wie Bertolt Brecht es in »Der gute Mensch von Sezuan« schreibt:
»Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen //Den Vorhang zu und alle Fragen offen.«27