Die Akte Nr .113 - Emile Gaboriau - E-Book

Die Akte Nr .113 E-Book

Emile Gaboriau

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Beschreibung

Wie kann aus einem Pariser Bankhaus die unglaubliche Summe von 350.000 Franc verschwinden? Der einbruchsichere Schrank als auch die Kasse sind doch unversehrt! Die Polizei tappt im Dunkeln ...

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Die Akte Nr. 113

Émile Gaboriau

Inhalt:

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Die Akte Nr. 113, E. Gaboriau

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849615109

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

1. Kapitel

Seit drei Tagen sprach ganz Paris von nichts anderem als von dem Diebstahle, der in dem Bankhause André Fauvel verübt worden war. Dem Täter, der ungemein gewandt und schlau zu Werke gegangen sein mußte und den die Polizei bis zur Stunde nicht zu entdecken vermochte, war es gelungen, aus der versperrten Kasse 350 000 Frank zu entwenden. Die Kasse selbst erwies sich als völlig unversehrt und es war unerklärlich, auf welche Weise das Geld dem einbruch- und feuerfesten Schranke entnommen worden. Der Kassenraum war Fremden überhaupt nicht zugänglich und es waren außerdem solche Sicherheitsmaßnahmen getroffen, daß nur ein Eingeweihter die Kasse öffnen konnte.

Das durch einen vergitterten Schalter in zwei Hälften geteilte und mit dem Arbeitskabinett des Chefs durch eine geheime Wendeltreppe verbundene Kassenzimmer, war wie ein Kriegsschiff gepanzert. Die Kasse selbst, ein mächtiger, drei Meter hoher Eisenschrank, war in eine tiefe Nische eingelassen und mit Klammern befestigt.

Das Kassenschloß war ungemein kunstvoll gearbeitet; es wäre unmöglich gewesen, es mit dem Schlüssel ohne weiteres zu öffnen, man mußte das Stichwort kennen, auf das es gestellt war. Das Geheimnis bestand darin, daß sich der Schlüssel nur dann in das Schloß, an welchem bewegliche Stahlbuchstaben angebracht waren, einführen ließ, wenn die Buchstaben in derselben Reihenfolge wie beim Absperren standen.

Das Stichwort, das zum Überfluß noch von Zeit zu Zeit geändert wurde, war nur dem Chef des Hauses und dem Kassierer bekannt.

Die weitläufigen und geräumigen Bureaus des Bankhauses Fauvel umfaßten das ganze Erdgeschoß des palastartigen Gebäudes, dessen Besitzer der Bankier selber war.

Das letzte Zimmer in der langen Flucht der Bureaus war der Kassenraum, welcher durch eine gußeiserne Wendeltreppe mit den Arbeitszimmern des Chefs in Verbindung stand.

Am Morgen des Tages an welchem der Diebstahl entdeckt wurde, erschien in den Bureaus ein elegant gekleideter, hochmütig aussehender Herr, mit einem Trauerflor am Hute und begehrte den Kassierer zu sprechen.

Als man ihm bedeutete, daß der Kassierer noch nicht anwesend sei und die Kasse erst um zehn Uhr geöffnet werde, wurde er sichtlich ärgerlich.

»Ich bin der Marquis Louis von Clameran, Hüttenbesitzer in Oloran und habe Herrn Fauvel von meinem Kommen verständigt,« sagte er hochfahrenden Tones. »Das Geld, das ich zu beheben wünsche, ist hier in der Bank von meinem Bruder, dessen Erbe ich bin, erlegt worden und ich erwartete, die 300 000 Frank sofort zu meiner Verfügung zu finden.«

Die Beamten zuckten die Achsel.

»Der Kassierer ist noch nicht hier,« entgegneten sie, »wir können nichts machen.«

»Dann wünsche ich mit dem Chef zu sprechen,« sagte der Fremde, doch als er vernahm, daß auch dieser noch nicht anwesend sei, bemerkte er, daß er später wiederkommen wolle und entfernte sich, wie er gekommen, ohne Gruß.

»Nun, höflich ist der adelige Herr gerade nicht,« bemerkte ein junger Beamter, namens Cavaillon, der müßig am Fenster stand, »und Pech hat er auch, denn eben sehe ich unseren Herrn Kassierer über die Straße kommen.«

In der Tat trat Prosper Bertomy, der Kassierer des Hauses Fauvel, einen Augenblick später ein. Er war ein schöner, etwa dreißigjähriger hochgewachsener Mann mit blondem Haupt- und Barthaar und fröhlichen blauen Augen. Er wäre sehr sympathisch gewesen, wenn er sich nicht bemüht hätte, äußerst steif und kalt zu erscheinen, er hielt das für englisch, wie er sich denn auch nach streng englischer Mode kleidete und stets den »Gentleman« markierte. Dies machte ihn in den Augen vernünftiger Leute ein wenig lächerlich, während namentlich die jüngeren Kollegen sich bestrebten, ihm nachzuahmen.

»Sind Sie endlich da,« rief ihm Cavaillon entgegen, »man hat schon nach Ihnen gefragt.« »Ein Hüttenbesitzer, nicht? Der wird schon wiederkommen, übrigens liegt sein Geld bereit.«

Während Prosper sprach, hatte er die Tür zu seinem Bureau geöffnet und sich von da ins Kassenzimmer begeben.

»Den bringt auch nichts aus der Fassung,« bemerkte einer der jungen Beamten. »Und jeden Tag kommt er zu spät, der Chef kann sagen, was er will, Herr Bertomy kümmert sich wenig darum! Natürlich kann er morgens nicht rechtzeitig am Platze sein, wenn er die ganzen Nächte durchschwärmt. Habt ihr bemerkt, wie elend er heute wieder aussieht? Ganz grün!«

»Wahrscheinlich hat er wieder gespielt, ich habe mir sagen lassen, daß er vorigen Monat an einem einzigen Abend 1500 Frank verspielt hat.«

»Er ist nichtsdestoweniger ein guter Beamter,« sagte Cavaillon, »und an seiner Stelle würdet ihr vielleicht ...« Er konnte den Satz nicht vollenden, denn plötzlich wurde die Tür zur Kasse aufgemacht und Bertomy wankte herein.

Er zitterte am ganzen Körper und seine Züge waren angstverzerrt.

»Man hat mich bestohlen,« stieß er mit heiserer Stimme hervor.

Alle Beamten erschraken bei seinem Anblick, sie eilten auf ihn zu und fragten: »Was ist Ihnen geschehen? Was soll gestohlen worden sein?«

Aber Prosper Bertomy war außerstande, zu antworten, er rang vergebens nach Fassung und er zitterte so heftig, daß er sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Einer der Kollegen schob ihm einen Sessel hin, auf den er sich schwer fallen ließ.

»Und nun sagen Sie uns doch, was geschehen ist?«

Prosper konnte noch immer nicht reden. Endlich, als ihm Cavaillon ein Glas Wasser gereicht hatte, kam er soweit zu sich, daß er einige Worte hervorzubringen vermochte.

»Das Geld – – aus der Kasse – – weg.«

»Alles?«

»Ja, was ich vorbereitet hatte: drei Pakete zu je hunderttausend Frank und eines zu fünfzigtausend. Ich hatte alle vier Pakete in einen Umschlag zusammengebunden und jetzt – ist es weg.«

»Hat man die Kasse gesprengt?«

»Nein, sie ist unverletzt.«

»Aber, wie ist das möglich ...?«

»Das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich gestern abend 350 000 Frank in der Kasse hatte und daß sie jetzt leer ist.«

Alle schwiegen bestürzt, nur ein alter Beamter sagte besonnen: »Aber Bertomy, verlieren Sie doch den Kopf nicht, aus der versperrten Kasse kann ja das Geld nicht verschwinden, der Chef hat wahrscheinlich darüber verfügt.«

Der unglückliche Kassierer atmete erleichtert auf: »Ja, so wird es sein, der Chef – – –«

Aber plötzlich sank er wieder in sich zusammen, wie gerne er sich auch an die Hoffnung angeklammert hätte, er konnte es nicht.

»Nein,« sagte er niedergeschlagen, »nein, das ist nicht möglich, noch niemals, seit ich in der Kasse bin – und das sind nun über fünf Jahre – hat Herr Fauvel Geld, ohne mich zu verständigen, entnommen, ja er hat die Kasse überhaupt nur in meiner Gegenwart geöffnet ... Nein, es ist keine Hoffnung ...«

»Nun, zur Verzweiflung ist immer noch Zeit, darum ist's am besten, den Herrn doch zu befragen,« meinte Cavaillon.

Die Nachricht, daß die Kasse bestohlen worden sei, hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Bureaus des Bankhauses verbreitet und war auch bis zu Herrn Fauvel gedrungen. Er erschien eben in dem Augenblicke, als Cavaillon einen Diener beauftragte, ihn herabzubitten.

André Fauvel mochte etwa fünfzig Jahre zählen, er war von mittlerer Größe, hatte sympathische Züge, lebhafte Augen, aus denen Güte und Wohlwollen sprachen; sein Gesicht zeigte noch jugendliche Frische und sein dichtes Haar war nur an den Schläfen leicht ergraut.

»Was gibt es, was ist geschehen?« fragte er.

Die Beamten, die sich alle um den Kassierer gedrängt hatten, machten respektvoll Platz.

Als Bertomy des Chefs ansichtig wurde, erhob er sich sofort, trat ihm entgegen und sagte: »Herr Fauvel, da, wie Sie wissen, heute morgen eine größere Zahlung zu machen war, habe ich gestern zur Bank geschickt und 350 000 Frank holen lassen ...«

»Warum gestern?« unterbrach ihn der Chef. »Habe ich Ihnen nicht schon tausendmal gesagt, daß die Gelder immer erst am Bedarfstage selbst beschafft werden sollen? ...«

»Ja, ich weiß, daß ich unrecht hatte und so ist das Unglück geschehen. Gestern abend schloß ich das Geld in die Kasse und heute ist es verschwunden – der Schrank ist aber nicht erbrochen.«

»Sie sind nicht recht bei Troste,« rief Fauvel, »oder Sie träumen, wie kann denn das Geld verschwinden?«

Obgleich diese Worte des Chefs Bertomys Hoffnung vernichten mußte, zeigte er sich ziemlich gefaßt, er war nach der jähen Gemütsbewegung, die er eben überstanden hatte, beinahe stumpfsinnig geworden.

»Leider bin ich bei voller Vernunft und träume auch nicht,« entgegnete er, »es ist so, wie ich sagte.«

Die scheinbare Ruhe des Kassierers brachte Herrn Fauvel auf. Er faßte Bertomy am Arm, schüttelte ihn und rief: »Wer soll denn die Kasse geöffnet haben, Sie Unglücksmensch? ... So sprechen Sie doch!«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber nur Sie kennen außer mir das Stichwort, und niemand außer uns beiden hat einen Schlüssel!«

Bertomy blieb bei diesen Worten, die fast einer Beschuldigung gleichkamen, völlig kalt, er machte seinen Arm von Herrn Fauvels Umklammerung sachte los und sagte ruhig, indem er seinen Chef scharf ansah: »Allerdings, Herr Fauvel, kann niemand anderes das Geld genommen haben als ich – oder Sie!«

Der Bankier hob drohend den Arm und es war nicht vorauszusehen, was geschehen wäre, wenn man nicht plötzlich draußen einen lauten Wortwechsel vernommen hätte.

Einer der Diener bemühte sich, einem Herrn den Eintritt zu verwehren, dieser aber erzwang sich den Eingang und stieß mit zorniger Gebärde die Türe auf.

Alle Beamten, welche im Bureau anwesend waren, standen ernst und unbeweglich, das tiefe Schweigen hatte etwas Unheimliches. Aber der Ankömmling – es war der Marquis von Clameran – tat als merkte er nichts; wieder mit dem Hut auf dem Kopfe trat er ein und sagte kurz: »Es ist zehn Uhr vorüber.«

Da niemand antwortete, war der Hüttenbesitzer eben im Begriffe, seiner Meinung heftig Ausdruck zu geben, als er Herrn Fauvel erblickte.

»Ah gut, daß Sie da sind,« rief er. »Ich bin schon einmal hier gewesen, aber weder Sie noch der Kassierer waren anwesend.«

»Sie irren,« entgegnete der Bankier, »ich war in meinem Arbeitszimmer.«

»So? man hat mir gesagt, daß Sie nicht da wären – jener Mensch dort behauptete es,« und der Graf wies mit dem Finger nach Cavaillon – »übrigens ist das jetzt Nebensache. Sehr merkwürdig aber finde ich es, daß, wie ich jetzt zum zweitenmal komme, die Kasse noch immer gesperrt ist und man mir den Eintritt verweigerte. Natürlich lasse ich mir so etwas nicht bieten und bin trotzdem hereingedrungen, und nun frage ich Sie, kann ich mein Geld haben oder nicht?«

Fauvel, der bei der Eröffnung seines Kassierers aschfahl geworden war, wurde nun bei den Worten des Hüttenbesitzers dunkelrot, er bebte vor Zorn und mußte sich Gewalt antun, um nicht heftig zu werden und sich zu eitlem höflichen Ton zwingen.

»Es wäre mir angenehm, Herr Marquis,« sagte er, »wenn Sie mir noch eine kleine Frist einräumen wollten.«

»Ich dächte doch, Sie selbst sagten ausdrücklich ...«

»Allerdings, das Geld lag auch schon für Sie bereit, aber leider bin ich das Opfer eines Diebstahls geworden, es wurden 350 000 Frank ans der Kasse entwendet.«

»Ah,« sagte der Graf von Clameran und lächelte ironisch. »Und wie lange soll ich wohl warten?«

»Nur so lange, bis ich das Geld von der Bank habe holen lassen.«

Und Fauvel kehrte dem Hüttenbesitzer den Rücken und sagte zu seinem Kassierer: »Schreiben Sie rasch eine Anweisung aus und schicken Sie sofort in die Bank; der Diener soll einen Wagen nehmen und das Geld holen.«

Bertomy saß wie versteinert da und rührte sich nicht.

»Haben Sie nicht gehört?« herrschte ihn der Bankier an.

Der Kassierer zuckte zusammen, er war wie ein Schlafwandler, der jäh aufgeschreckt wird.

»Es würde nichts nützen, auf die Bank zu schicken,« sagte er, »die Forderung dieses Herrn beträgt 300 000 und wir haben nur noch 100 000 Frank dort stehen.«

Der Graf von Clameran stieß eine kurze Lache hervor.

»Natürlich ...« sagte er und seine höhnische Miene drückte deutlich seine Gedanken aus: Das ist natürlich eine abgekartete Komödie, aber ich lasse mich nicht täuschen.

Bei der überraschenden Mitteilung des Kassierers, daß nicht genügend Guthaben in der Bank vorhanden sei, drückten die Gesichter der Beamten Erstaunen und Bestürzung aus.

Allerdings war es allen bekannt, daß durch finanzielle Krisen selbst alte ehrenwerte Firmen ins Wanken gekommen, das Haus Fauvel aber hatten sie alle für fest gehalten. Und doch – konnte die Szene, die sich soeben zwischen dem Chef und dem Kassierer abgespielt hatte, nicht eine abgekartete Komödie sein, wie der unhöfliche Hüttenbesitzer andeutete ...?

Fauvel war ein viel zu erfahrener Mann, um nicht sofort den Eindruck, den Bertomys Worte hervorgerufen hatten, zu gewahren, stand doch der kränkende Verdacht auf allen Gesichtern deutlich zu lesen.

»Seien Sie außer Sorge, Herr Graf,« beeilte er sich zu sagen, »mein Haus hat noch andere Quellen, Ihr Geld ist Ihnen sicher, wollen Sie sich nur einen Augenblick gedulden, ich bin sofort zurück.«

Er ging in sein Arbeitskabinett und erschien nach wenigen Minuten wieder, in der Hand hielt er einen Brief und ein Päckchen, das Wertpapiere enthielt.

»Rasch Courtier,« sagte er zu einem der Beamten, »fahren Sie mit dem Herrn Grafen zu Rothschild, dort geben Sie diesen Brief und die Wertpapiere ab, Sie werden dafür 300 000 Frank erhalten, die Sie dem Herrn Grafen gegen Bestätigung ausfolgen.«

Der Graf von Clameran schien etwas verlegen und versuchte sein unartiges Benehmen gutzumachen.

»Seien Sie versichert, Herr Fauvel,« sagte er, »daß es mir fern lag, Sie beleidigen zu wollen; wir stehen ja schon seit Jahren in Verbindung und ...«

»Bitte, es bedarf keiner Entschuldigung,« entgegnete der Bankier kalt. »Bei Geschäften gelten keinerlei Beziehungen, weder Bekanntschaft noch Freundschaft. Sie fordern Ihr Geld und meine Pflicht ist es, Ihnen dasselbe auszuzahlen, begleiten Sie meinen Beamten und Sie werden es sofort erhalten.«

Dann drehte er sich um und sagte zu den Leuten, die noch immer neugierig herumstanden: »Nun, meine Herren, ich dächte, es wäre Zeit, daß Sie zu Ihrer Arbeit zurückkehren.«

Im Nu war der Kreis zerstoben und das Bureau leer, nur die Beamten, die in demselben zu arbeiten hatten, waren geblieben, sie saßen an ihren Schreibtischen und schrieben, daß die Federn flogen.

Fauvel schritt fieberhaft erregt auf und ab, indes Bertomy bleichen Antlitzes an der Wand lehnte und gedankenlos vor sich hinstarrte.

Endlich, nach langer Pause blieb der Bankier vor dem Kassierer stehen und sagte: »Wir müssen trachten, Licht in die Sache zu bringen, kommen Sie ins Kassenzimmer.«

Ohne ein Wort der Erwiderung, fast mechanisch gehorchte Bertomy und folgte dem Chef ins Kassenzimmer.

Hier verriet nicht das geringste Anzeichen, daß fremde Einbrecher eingedrungen waren. Kein Blatt Papier war von seiner Stelle gerückt, alles lag in gewohnter Ordnung. Im offenen Geldschrank – Prosper hatte im ersten Schrecken über seine Entdeckung vergessen, ihn wieder zu schließen – gewahrte man in einem oberen Fach eine Anzahl Geldrollen, die die Diebe übersehen oder verschmäht haben mochten.

Fauvel hatte seine Fassung wieder erlangt, und sein Gesicht verriet nichts von der gehabten Aufregung.

Er schloß die Tür sorgfältig ab, dann ohne die Kasse oder irgend etwas in Augenschein zu nehmen, setzte er sich, wies seinem Kassierer ebenfalls einen Stuhl an und sprach: »Jetzt sind wir allein, Prosper – haben Sie mir nichts anzuvertrauen?«

Der Kassierer schrak aus seiner Geistesabwesenheit auf.

»Nichts, Herr Fauvel, was ich Ihnen nicht schon gesagt hätte.«

»Wirklich, Prosper, nichts? Sie werden doch diese sinnlose, lächerliche Geschichte, an die niemand glaubt, nicht weiter aufrecht erhalten wollen? Das wäre Wahnsinn. Haben Sie Vertrauen zu mir, Prosper, ich bin nicht nur Ihr Vorgesetzter, ich bin auch Ihr bester Freund. Haben Sie vergessen, daß Sie seit fünfzehn Jahren bei mir sind und ich Ihnen in dieser Zeit nur stets väterliches Wohlwollen bewiesen? Und ich, Prosper, ich will nur daran denken, daß ich diese ganze lange Zeit nur Ursache hatte, mit Ihnen zufrieden zu sein.«

Noch niemals hatte Bertomy seinen Chef mit so weichem väterlichen Ton sprechen hören; in seinem Gesichte malte sich höchstes Erstaunen.

»Sagen Sie selbst, habe ich Sie nicht wie ein Vater behandelt, stand Ihnen nicht mein Haus offen? Die Meinen nahmen Sie wie einen lieben Anverwandten auf. Sie haben die ganze Zeit mit meinen Söhnen und meiner Nichte Magda wie mit Geschwistern verkehrt. Aber plötzlich gefiel Ihnen dieses häusliche Leben nicht mehr. Seit einem Jahre ungefähr meiden Sie unser Haus und seitdem ...«

Die Erinnerungen, die durch des Bankiers Worte in Bertomy wachgerufen worden, rührten und überwältigten ihn derart, daß er sich der Tränen nicht erwehren konnte, er schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

»Einem Vater kann man alles anvertrauen,« nahm Fauvel, ebenfalls von Rührung ergriffen, wieder das Wort, »und ein Vater, Prosper, kann verzeihen, vergessen sogar. Ich weiß sehr wohl, daß ein junger Mann in einer Großstadt wie Paris Versuchungen aller Art ausgesetzt ist, er kann straucheln – – und es gibt Stunden der Verirrung, wo man etwas begeht, was man später selbst nicht begreifen kann ... Sprechen Sie, Prosper, gestehen Sie mir alles.«

»Aber was um Gottes willen soll ich Ihnen sagen?«

»Die Wahrheit! Man kann fehlen, Prosper, aber ein rechtschaffener Mensch gesteht seinen Fehler. Sagen Sie mir:

Ja, ich habe mich hinreißen lassen, ich bin jung, ich habe Leidenschaften, in einem Augenblick der Verwirrung habe ich mich an dem Gelde vergriffen ...«

»Ich! ...« stöhnte Prosper, »ich!«

»Armer Junge,« sagte Fauvel traurig. »Glauben Sie denn, daß ich Ihr Leben seit dem Tage, da Sie sich uns entfremdet haben, nicht kenne? Ihre Kollegen waren offenbar neidisch und mochten es Ihnen nicht verzeihen, daß Sie, trotz Ihrer Jugend, einen Gehalt von 12 000 Frank haben. Es verging kaum eine Woche, in der nicht ein anonymer Brief mir über Ihr Privatleben Aufschlüsse gebracht hätte. Von allen Nächten, die Sie im Spiel verbrachten, von allen Summen, die Sie verloren, hatte ich genau Kenntnis. Und wenn ich auch auf anonyme Angebereien keinen Wert lege und sie verachte, so war ich doch schließlich gezwungen, mich zu erkundigen – denn es ist nur recht und billig, daß ich darüber unterrichtet bin, wie der Mann lebt, in dessen Hände ich mein Vermögen und meine Ehre vertrauensvoll gelegt habe. Ja, meine Ehre,« wiederholte der Bankier mit erregter Stimme, in deren Klang noch die erlittene Demütigung nachzitterte, »meinen Kredit, der heute durch Sie hätte bloßgestellt werden können? Wie, wenn ich die Wertpapiere, die ich hingegeben habe, um den Marquis von Clameran zu befriedigen, nicht besessen hätte?«

Der Bankier hielt inne, er erwartete eine Antwort, da aber Bertomy wie vernichtet dasaß, ohne, sich zu regen, fuhr er fort: »Fassen Sie Mut, Prosper, folgen Sie Ihrer guten Regung. Ich lasse Sie jetzt allein und komme erst am Abend wieder, unterdessen suchen Sie noch einmal recht gründlich in der Kasse nach. Ich bin überzeugt, das Geld wird sich im Laufe des Tages finden, wenn auch nicht alles, so sicherlich der größte Teil und damit wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen und nicht weiter darüber reden. Abgemacht?«

Fauvel hatte sich während dieser Worte erhoben und war auf die Tür zugeschritten, aber Prosper hielt ihn zurück.

»Ihr Edelmut ist überflüssig,« sagte er bitter, »ich kann nichts zurückgeben, aus dem einfachen Grunde, weil ich nichts genommen habe. Ich habe mich nicht geirrt, die Kasse ist leer, das Geld ist gestohlen worden.«

»Aber von wem, um Himmels willen, von wem?«

»Von mir nicht, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!«

Die Zornesröte stieg Fauvel ins Gesicht.

»Elender,« rief er, »wollen Sie etwa damit sagen, daß ich es genommen habe?«

Bertomy senkte den Kopf und gab keine Antwort.

»Ah, steht es so,« rief der Bankier außer sich. »Sie wagen es ...! Nun wohl, so soll das Gericht zwischen mir und Ihnen entscheiden! ... Ich habe alles, was menschenmöglich war, getan, um Sie zu retten, Sie stoßen die Hand zurück – nun wohl, schreiben Sie sich die Folgen selbst zu ... Ich habe den Polizeikommissar herbitten lassen – er wartet gewiß schon in meinem Zimmer – soll ich ihn rufen?«

Prospers Gesicht und Haltung drückten vollständige Hoffnungslosigkeit aus.

»Tun Sie es,« sagte er tonlos.

Fauvel, der schon an der Tür stand, öffnete sie, er warf einen letzten Blick auf seinen Kassierer – dann wandte er sich hinaus und rief einem Diener zu: »Anselm, bitten Sie den Herrn Kommissar herabzukommen.«

2. Kapitel

Wenn es auf der Welt einen Menschen gibt, den keinerlei Ereignisse in Erstaunen setzen oder aufregen, der sich nicht durch den Schein trügen läßt und dem nichts unglaublich oder unmöglich erscheint, so ist es sicher ein Polizeikommissar von Paris.

Der Kommissar, den der Bankier hatte rufen lassen, erschien mit ruhiger, gleichgültiger Miene, ihm folgte ein kleines schwarzgekleidetes, äußerst bewegliches Männchen.

»Ein peinlicher Umstand zwingt mich, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, Herr Kommissar,« sagte Fauvel.

»Ich weiß,« entgegnete jener, »es handelt sich um einen Diebstahl.«

»Allerdings, um einen unerhörten, niederträchtigen Diebstahl, der an der Kasse, die Sie hier offen sehen, begangen worden und nur mein Kassierer – der Bankier deutete bei diesen Worten auf Bertomy – hatte den Schlüssel und das Stichwort.«

Diese Worte, die einer direkten Beschuldigung gleichkamen, rüttelten den unglücklichen Kassierer aus seinem dumpfen Hinbrüten auf.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar,« sagte er mit erloschener Stimme, »auch der Chef besitzt einen Schlüssel und kennt das Stichwort.«

Aus diesen beiden Aussagen ward es dem Kommissar sofort klar, daß die beiden Männer einander gegenseitig anklagten, und daß in der Tat nur einer von ihnen der Schuldige sein konnte. Sein Gesicht verriet seine Gedanken nicht, aber er betrachtete abwechselnd den Chef und den Kassierer mit der größten Aufmerksamkeit, als wollte er aus ihrer Haltung Beweise für die Schuld des einen oder des anderen herauslesen.

Prosper war auf seinen Stuhl niedergesunken, seine Arme hingen schlaff herab, er war totenblaß und er sah äußerst niedergeschlagen aus. Der Bankier hingegen war stehengeblieben. Sein Gesicht war zornesrot und seine Augen funkelten. Er sprach mit größter Heftigkeit.

»Es handelt sich um keine Kleinigkeit, 350 000 Frank sind spurlos verschwunden. Der Diebstahl hätte für mich unabsehbare Folgen haben, meinen Kredit schädigen können.«

»Das begreife ich,« versetzte der Kommissar, »an einem Verfallstage zum Beispiel ...«

»Jawohl, ich hatte gerade heute eine größere Zahlung.«

»In der Tat, ah?«

In dem Kommissar war ein Verdacht aufgestiegen und die Art, wie er diese Worte betonte, ließen Fauvel seine Gedanken erraten, er zuckte zusammen, entgegnete aber schnell: »Ich bin trotzdem meinen Verpflichtungen nachgekommen. – Aber ich muß noch erwähnen, daß sich die 350 000 Frank nicht in der Kasse befunden hätten, wenn meine Befehle befolgt worden wären.«

»Wieso?«

»Ich behalte nie gern größere Summen über Nacht im Hause. Mein Kassierer war angewiesen, stets bis zur letzten Stunde zu warten, ehe er das Nötige von der Bank von Frankreich, wo ich meine Gelder liegen habe, holen ließ.«

»Verhält es sich so?« wandte sich der Polizeikommissar an Bertomy.

»Ja, Herr Kommissar,« versetzte dieser.

»Kann der Dieb nicht von außen gekommen sein?« fragte der Kommissar aufs neue.

Fauvel zögerte mit der Antwort.

»Kaum,« entgegnete er endlich.

»Und ich bin sicher, daß er nicht von außen kam,« sagte Prosper bestimmten Tones.

»Trotzdem dürfen wir nichts unberücksichtigt lassen,« sagte der Kommissar, und sich an seinen unscheinbaren Begleiter wendend, setzte er hinzu: »Sehen Sie doch nach, Fanferlot. ob Sie nicht irgendwelche Spuren finden, die den Herren entgangen sind.«

Fanferlot war Beamter der Sicherheitspolizei und wurde von seinen Kollegen wegen seiner ungemeinen Behendigkeit »das Eichhörnchen« genannt. Er war von einem ungeheuern Ehrgeiz beseelt und brannte darauf, sich auszuzeichnen; seit Jahren suchte er nach einem außerordentlichen Fall, der ihn ans ersehnte Ziel führen könnte – bis zur Stunde aber war es ihm noch nicht gelungen.

Noch ehe der Kommissar ihm den Auftrag gegeben, hatte er schon überall herumgespürt, Wände und Türen untersucht, sogar in der Asche im Kamin herumgestöbert.

»Ein Fremder dürfte hier schwerlich eingedrungen sein,« sagte er endlich. »Wird die Tür abends geschlossen?«

»Ja, gewiß.«

»Und wer hat den Schlüssel?«

»Ich übergebe ihn jeden Abend dem Bureaudiener,« entgegnete Bertomy.

Und Fauvel fügte hinzu: »Dieser Diener schläft im Vorzimmer auf einem Feldbette.«

»Ist er hier?« fragte der Kommissar.

»Ja,« antwortete der Bankier, öffnete die Tür und rief: »Anselm.«

Der Diener erschien; er war schon zehn Jahre im Hause und genoß das volle Vertrauen seines Herrn; er wußte, daß kein Verdacht gegen ihn vorliegen konnte und doch entsetzte ihn. der Gedanke an den Diebstahl so, daß er wie Espenlaub bebte.

»Haben Sie heute nacht im Nebenzimmer geschlafen?« fragte der Kommissar.

»Ja, Herr Kommissar, wie gewöhnlich.«

»Um wie viel Uhr sind Sie schlafen gegangen?«

»Es mochte halb elf sein, ich habe den Abend mit dem Kammerdiener im Kaffeehause nebenan zugebracht.«

»Haben Sie nachts kein Geräusch gehört?«

»Nicht das geringste, ich habe einen sehr leichten Schlaf und erwache sofort, wenn zum Beispiel der Herr in das Kassenzimmer kommt.«

»Pflegt der Herr öfters nachts in das Kassenzimmer zu kommen?«

»Nein, Herr Kommissar, im Gegenteil, sehr selten.«

»War er heute nacht da?«

»Nein, bestimmt nicht, ich konnte lange nicht einschlafen, weil der schwarze Kaffee, den ich getrunken, sehr stark war, ich müßte jedes Geräusch gehört haben.«

»Es ist gut,« sagte der Polizeikommissar, »Sie können gehen.«

Fanferlot hatte unterdessen seine Nachforschungen fortgesetzt und die Türe, durch die man zur Wendeltreppe gelangte, geöffnet.

»Wohin führt diese Treppe?« fragte er.

»In mein Arbeitszimmer,« erwiderte der Bankier.

»Kann ich es besichtigen? Ich möchte den Eingang untersuchen.«

»Gewiß, kommen Sie, meine Herren und auch Sie, Prosper.«

Das Privatbureau Fauvels bestand aus zwei Räumen, einem vornehm ausgestatteten Empfangssalon und dem Arbeitszimmer, das außer einem riesigen Eichenschreibtisch nur wenig Möbel enthielt.

In das Arbeitszimmer mündete die geheime Wendeltreppe, eine zweite Türe führte in das Schlafzimmer, während der Empfangssalon einen Ausgang nach dem Hausflur und der Haupttreppe hatte.

Mit einem einzigen Blick hatte Fanferlot das Arbeitszimmer überschaut und sich sofort überzeugt, daß hier nichts zu entdecken war. Er begab sich in den Empfangssalon, wohin ihm der Kommissar und Fauvel folgten. Prosper blieb allein zurück.

Er war noch immer keines klaren Gedankens fähig, aber er fühlte, daß sich seine Lage verschlimmert hatte. Er war sich dessen bewußt, daß es einen Kampf galt zwischen ihm und seinem Chef, und daß der Unterliegende die Niederlage mit seiner Ehre bezahlen würde. Und er wußte auch, daß die Aussichten für ihn weit ungünstiger standen, das drückte ihn völlig nieder.

Nein, niemals hätte er's gedacht, daß Herr Fauvel seine Drohungen erfüllen würde und es auf einen Prozeß ankommen ließe, stand doch für ihn ebensoviel, ja noch mehr auf dem Spiele wie für seinen Untergebenen.

Prosper war auf einen Sessel gesunken und die trostlosesten Gedanken stürmten ans ihn ein. Da öffnete sich plötzlich die Seitentür, die in das Schlafzimmer führte, und ein wunderschönes junges Mädchen erschien auf der Schwelle. Sie war schlank und hochgewachsen und das enganliegende Morgenkleid ließ ihre jugendlich-schwellenden Formen voll zur Geltung kommen. Ihre großen schönen Augen blickten ans einem wahren Blumengesichtchen und ihre dunklen Flechten hingen lang auf ihr weißes Gewand herab.

Es war Magda, die Nichte Fauvels.

Als sie statt des Oheims, den sie suchte, Prosper erblickte, konnte sie einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken.

Prosper war emporgesprungen, in seinen erloschenen Augen leuchtete es auf, ihm war als wäre ihm ein Engel des Trostes, der Hoffnung erschienen.

»Magda,« stammelte er, »Magda!«

Das junge Mädchen war wie eine Rose rot geworden. Sie wich einen Schritt zurück, als wollte sie sich entfernen, aber da Prosper sich ihr genähert hatte, siegte in ihr das Gefühl, das stärker als ihr Wille war und sie streckte ihm die Hand entgegen, die er respektvoll an die Lippen führte. Dann standen sie schweigend und befangen einander gegenüber und wagten nicht, sich anzublicken; sie hatten sich so viel zu sagen und konnten keine Worte finden.

Endlich sagte sie leise: »Sie, Prosper, Sie?«

Diese Worte brachen den Zauber, der junge Mann ließ die kleine Hand los, die er noch in der seinen gehalten, trat einen Schritt zurück und sagte bitteren Tones: »Jawohl, Prosper ist es, der Spielgefährte Ihrer Kinderzeit, der nun des schmählichsten Diebstahls verdächtig und angeklagt ist, den Ihr Oheim den Gerichten ausliefert, der, ehe der Tag sich neigt, im Gefängnis schmachten wird!«

Magda erschrak auf das heftigste.

»Mein Gott, was wollen Sie damit sagen?«

»Wie, Fräulein Magda, Sie sollten noch nichts davon wissen, hat Ihnen die Tante nichts gesagt?«

»Die Tante ist so unwohl, daß ich eben deshalb herübergekommen bin, um den Onkel zu holen. – Ich weiß von nichts, sagen Sie mir um Himmels willen, was Ihnen widerfahren ist?«

Prosper zögerte. Einen Augenblick lang war's ihm, als sollte er ihr sein Herz erschließen, aber dann kam die Erinnerung an das, was einst zwischen ihnen vorgefallen war und erstickte die Stimme seines Inneren. Traurig schüttelte er das Haupt und sagte: »Es ist sehr edel von Ihnen, Fräulein Magda, daß Sie mir Ihre Teilnahme bezeigen, aber – es ist besser, ich schweige – was ich zu sagen habe, würde Sie nur unnötig betrüben – wir werden uns ja wahrscheinlich nie wiedersehen – erlassen Sie mir den Schmerz, vor Ihnen erröten zu müssen.«

»Ich will alles wissen, sprechen Sie!«

»Mein Unglück und meine Schande werden Ihnen kein Geheimnis bleiben, man wird dafür sorgen, daß Sie alles erfahren und dann werden Sie froh sein über das, was Sie getan haben.«

Magda drang in ihn, sich deutlicher zu erklären, sie bat, sie beschwor ihn, ihr alles zu sagen, allein er beharrte bei seinem Entschlusse.

»Ihr Oheim ist mit den Polizeiorganen hier nebenan,« sagte er, »sie können jeden Augenblick zurückkommen, bitte, gehen Sie, damit man Sie hier nicht findet. Bitte, gehen Sie,« wiederholte er und drängte die Zögernde sanft über die Schwelle. Er hatte eben noch Zeit, die Türe hinter ihr zuzuziehen, als der Kommissar und der Bankier wieder eintraten.

Die beiden hatten das Empfangszimmer und die Haupttreppe besichtigt, aber von dem, was im Arbeitskabinett vorgegangen, nichts gehört, aber Fanferlot war auf der Lauer gewesen. Er hatte sich gesagt, »wenn der Kassierer sich allein glaubt, wird manches auf seinem Gesichte zu lesen sein,« und ihn deshalb belauscht. Auf diese Weise war er Zeuge des Gespräches zwischen Magda und Prosper geworden.

Zwar war daraus nicht viel zu entnehmen, nur soviel erriet er, daß zwischen den beiden ehemals etwas vorgefallen sein mußte, das sie jetzt nicht berühren wollten.

Es galt Fanferlot als ausgemacht, daß der Kassierer das schöne Mädchen liebte, auch sie mochte seine Neigung erwidern, und nun spann der phantasievolle Sicherheitsagent sofort einen Roman daraus, der ihm den Schlüssel zu dem rätselhaften Verbrechen geben sollte: Der Bankier sah das Liebesverhältnis der beiden mit scheelen Augen an, und um sich des jungen Mannes zu entledigen, hatte er den Diebstahl fingiert.

Fanferlot war klug genug, seine Vermutung für sich zu behalten, er war von der Unschuld des Kassierers zwar überzeugt, aber er wußte, daß er sie auch beweisen mußte, um andere davon zu überzeugen, und da er den Ruhm, diese verwickelte Geschichte zu entwirren, ganz allein haben wollte, beschloß er, die Untersuchung auf eigene Faust zu führen. Er war ganz vergnügt bei dem Gedanken und schwelgte schon im Vorgeschmack seines künftigen Triumphes.

Unterdessen war die Besichtigung im ersten Stocke beendet und alle begaben sich wieder ins Kassenzimmer hinab. Der Polizeikommissar sah sorgenvoll aus. Der Augenblick war gekommen, wo er einen Entschluß fassen mußte und die Entscheidung fiel ihm schwer.

»Wir haben also,« sagte er, »unsere erste Meinung bestätigt gefunden, von außen ist niemand eingedrungen. Sie sind doch auch der Meinung, Fanferlot?«

Der Angeredete gab keine Antwort, er war damit beschäftigt, das Schloß der Kasse mit der Lupe zu untersuchen und sein Gesicht drückte so unverhohlenes Erstaunen aus, daß es allen auffiel. Der Kommissar, Fandet und Prosper traten hinzu und ersterer fragte: »Haben Sie etwas entdeckt?«

»O, nichts von Bedeutung,« antwortete Fanferlot leichthin, innerlich höchlich verstimmt, daß er sein Erstaunen nicht besser verborgen hatte.

»Wir möchten aber doch gern wissen, was es ist,« sagte Prosper.

»Nun, ich habe einfach den Beweis gefunden, daß der Geldschrank vor kurzem mit einer gewissen Heftigkeit geöffnet oder geschlossen worden ist.«

»Woraus schließen Sie das?« fragte der Kommissar mit sichtlichem Interesse.

»Hier, Herr Kommissar, bitte, besehen Sie den Strich an der Türe, der am Schlüsselloch anfängt.«

Mit diesen Worten überreichte der Sicherheitsagent seinem Vorgesetzten das Vergrößerungsglas und dieser besichtigte lange und aufmerksam die bezeichnete Stelle. Es war deutlich, selbst mit freiem Auge zu erkennen, daß sich ein etwa zwölf bis fünfzehn Zentimeter langer Strich von oben nach unten durch den Firnis zog.

»Den Strich sehe ich wohl,« sagte der Kommissar, »allein was soll er beweisen?«

»O nichts, ich sagte es ja eben,« erwiderte Fanferlot; in Wirklichkeit aber war er überzeugt, daß der offenbar frische Strich eine Bedeutung hatte, ja er war um die Auslegung nicht verlegen und er sah darin die Bestätigung seiner Vermutung, daß nicht der Kassierer, sondern der Bankier selbst der Dieb war. Der Strich verriet Eile, nun, der Kassierer, der zu jederzeit in die Kasse gehen kann, braucht sich nicht zu beeilen, wohl aber der Chef, der nachts heimlich auf den Fußspitzen herabschleicht, um den Diener nebenan nicht zu wecken – wie leicht konnte da der Schlüssel seinen zitternden Händen ausgleiten und den Firnis ritzen.

Da aber Fanferlot entschlossen war, die Angelegenheit allein zu entwirren, so behielt er seine Meinung für sich und war sogar bemüht, des Kommissars Aufmerksamkeit wieder von dem Strich abzulenken.

»Meiner Meinung nach,« sagte er zu seinem Vorgesetzten, »kann kein Fremder hier eingedrungen sein, derjenige, der die Kasse öffnete, besaß den richtigen Schlüssel und kannte das Stichwort.«

Diese Worte machten der Unentschlossenheit des Kommissars ein Ende.

»Darf ich Sie um eine Unterredung bitten, Herr Fauvel?« sagte er.

»Ich stehe zur Verfügung,« entgegnete dieser. Prosper begriff, er verließ das Zimmer und ging in das Bureau nebenan, ehe er sich aber entfernte, stellte er seinen Hut absichtlich auf den Tisch, damit man nicht glauben solle, er wolle durchgehen.

Der Kommissar gab Fanferlot unauffällig ein Zeichen, er wußte, was es heißen sollte, nämlich: laß den Mann nicht aus den Augen – es hätte dieser Mahnung nicht bedurft.

Der Sicherheitsagent folgte dem Kassierer in das Bureau und dort setzte er sich auf ein Bänkchen, das im Hintergrunde stand. Er machte sich's recht bequem, gähnte herzhaft, verschränkte die Arme, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen.

Prosper hatte sich unterdessen an ein Schreibpult, das unbenutzt war, gesetzt.

Die übrigen Beamten waren alle neugierig und hätten gerne das Ergebnis der Voruntersuchung erfahren, aber sie getrauten sich nicht, Bertomy zu befragen. Nur sein Freund, der junge Cavaillon, trat an ihn heran und fragte: »Nun?«

Prosper zuckte die Achseln.

»Man weiß nichts,« versetzte er.

Er war wieder vollkommen Herr über sich selbst geworden und niemand hätte zu erraten vermocht, welcher Aufruhr erst vor kurzem in seinem Inneren getobt hatte. Er trug wieder seine gleichgültig, hochmütig kalte Miene zur Schau, die ihm unter seinen Kollegen soviel Feinde gemacht hatte. Fanferlot, der ihn trotz seiner scheinbar geschlossenen Augen scharf beobachtete, sah, wie er nachlässig mit einem Bleistift spielte, plötzlich aber ein Blatt Papier nahm und hastig einige Worte darauf schrieb.

»Zum Henker,« dachte der Sicherheitsagent, »was der für starke Nerven hat ...«

Und nun beobachtete er, wie der junge Mann das beschriebene Blatt zusammenfaltete, sich dann sorgfältig umsah, auch ihn, Fanferlot, der regungslos auf der Bank lehnte, mit einem Blick streifte und dann das Briefchen Cavaillon zuwarf und dabei leise das einzige Wort: »Gypsy« aussprach.

Unterdessen setzte der Polizeikommissar den Bankier von der unabwendbaren Folge der Voruntersuchung in Kenntnis.

»Es ist kein Zweifel mehr möglich,« sagte er, »Ihr Kassierer hat den Diebstahl begangen und ich bin gezwungen, ihn zu verhaften.«

»Schrecklich!« sagte Fauvel traurig. »Armer Prosper!« Und als ihn der Kommissar verwundert anblickte, fügte er hinzu: »Ja, ich bedauere den Unglücklichen; ich habe ihn herzlich lieb gehabt und mein Vertrauen war unerschütterlich ... Was hätte ich nicht darum gegeben, das Schreckliche von ihm abzuwenden. Ich habe ihn gebeten, beschworen, zu gestehen – es war umsonst! – – Und was für Unannehmlichkeiten und Demütigungen mir noch bevorstehen ...«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, werden die Richter nicht Einsicht in meine Geschäftsgebarung begehren? Und wie, wenn ich nicht beweisen könnte, daß meine Aktiven meine Passiven übersteigen? Wie nahe läge die Gefahr, selbst verdächtig zu erscheinen!«

Der Bankier war bei diesen Gedanken ganz aufgeregt.

»Beruhigen Sie sich, Herr Fauvel,« sagte der Polizeikommissar begütigend, »noch ehe acht Tage vergangen sind, hat das Gericht vollgültige Beweise, die die Schuld Ihres Kassierers auf das untrüglichste dartun. – Jetzt bitte, lassen Sie ihn wieder hereinkommen.«

Ruhig und gefaßt hörte Prosper die Ankündigung, daß er verhaftet sei, an, er antwortete nur einfach: »Ich bin unschuldig, Herr Kommissar.«

Herr Fauvel war nicht so ruhig. »Ich bitte Sie, Prosper,« sagte er eindringlich, »noch ist es Zeit, um Himmels willen, lassen Sie es nicht zum Äußersten kommen.«

Aber der junge Mann schien ihn nicht zu hören. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, legte ihn auf das Kaminsims und sagte: »Hier ist der Kassenschlüssel, Herr Fauvel, ich hoffe um meinetwillen, Sie werden eines Tages erkennen, daß ich unschuldig bin und um Ihretwillen hoffe ich, daß es alsdann nicht zu spät sein wird!«

Er schwieg, und erst nach einer Pause fuhr er fort: »Hier auf meinem Schreibtische sind alle Papiere, Bücher und Verzeichnisse, mein Nachfolger wird alles in Ordnung finden. Nur muß ich, ehe ich gehe, Sie aufmerksam machen, Herr Fauvel, daß ich, abgesehen von den 350 000 Frank, noch ein Defizit in der Kasse zurücklasse.«

Ein Defizit! dachte der Polizeikommissar, wie könnte man da noch an seiner Schuld zweifeln, ehe er die Kasse im Großen bestahl, plünderte er sie mit kleinen Beträgen!

Ein Defizit! dachte sich Fanferlot, der gerade in dem Augenblick aufgestanden war, als Bertomy vor den Kommissar gerufen wurde und ihm daher gefolgt war, ein Defizit? Jetzt ist doch an der Unschuld des armen Teufels nicht zu zweifeln, denn, wenn er die große Summe gestohlen hätte, würde er doch sicher den Fehlbetrag gedeckt haben!

»Ein Defizit?« fragte der Bankier verwundert.

»Ja,« entgegnete Prosper, »es fehlen 3500 Frank und zwar habe ich das Geld als Vorschuß genommen. Zweitausend für mich und fünfzehnhundert habe ich einigen Kollegen vorgestreckt, da morgen der Erste ist, wo die Gehalte ausgezahlt werden, so ...«

Der Kommissar unterbrach ihn.

»Waren Sie ermächtigt, aus der Kasse beliebig Geld zu nehmen und Vorschüsse zu gewähren?«

»Eigentlich nicht, aber Herr Fauvel hätte mir sicher erlaubt, den Kollegen gefällig zu sein und übrigens ist das überall gebräuchlich ...«

Der Bankier bestätigte dies durch Kopfnicken.

»Was das Geld anbelangt, das ich für mich entnommen,« fuhr Bertomy fort, »so hatte ich gewissermaßen ein Anrecht darauf, weil ich mein persönliches Eigentum – etwa 15 000 Frank in der Bank stehen habe ...«

»Das ist richtig,« bestätigte Fauvel ebenfalls.

Nun war alles erledigt, der Polizeikommissar hatte nichts mehr zu tun, er erhob sich daher und verabschiedete sich von Herrn Fauvel, dann sagte er zu Bertomy die inhaltsschweren Worte: »Folgen Sie mir.«

Mit größter Ruhe, die dem Kommissar fast als Frechheit erschien, griff Prosper nach seinem Hut und den Handschuhen und sagte: »Ich bin bereit, Herr Kommissar.«

Sie gingen und Fauvel sah ihnen tränenden Auges nach.

»Ach Gott,« murmelte er, »es wäre mir lieber, man hätte mir das Doppelte gestohlen, wenn nur nicht Prosper in die Sache verwickelt wäre und ich noch an ihn glauben könnte.«

Fanferlot hatte sich von seinem Vorgesetzten die Erlaubnis erbeten, Nachforschungen ans eigene Faust anstellen zu können. Das Briefchen, das Bertomy dem jungen Beamten zugeworfen, gab ihm zu denken. Er vermutete, da er das Wort Gypsy vernommen, daß es für eine dritte Person bestimmt war, und legte sich auf die Lauer.

Gegenüber dem Bankhause in einem Torweg nahm er Aufstellung. Von seinem Platze aus konnte er den Eingang genau überwachen und richtig, es dauerte nicht lange, sah er Cavaillon heraustreten. Der junge Mann blieb einen Augenblick zögernd ans der Schwelle stehen, blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um und begann dann so rasch auszuschreiten, daß der Sicherheitsagent Mühe hatte, ihm zu folgen. Endlich, in der Chaptalstraße, auf dem Montmartre, trat er in ein Haus. – Aber kaum hatte er zwei Schritte in dem ziemlich engen und dunklen Flur gemacht, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er wandte sich um und erkannte zu seinem Schrecken den Polizisten, der bei Prospers Verhaftung gegenwärtig gewesen war.

Cavaillon erblaßte und blickte sich suchend nach einem Ausweg um, aber an eine Flucht war nicht zu denken: Fanferlot hatte ihm zu gut den Weg vertreten.

»Was wollen Sie von mir?« fragte er mit angstbebender Stimme.

Fanferlot war ein äußerst höflicher Mensch, wenn er jemand verhaftete, entschuldigte er sich immer vorher, daß er sich die Freiheit nehme, er begegnete daher auch jetzt Cavaillon mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Verzeihen Sie mir, wenn ich so frei bin, Sie um eine kleine Gefälligkeit zu bitten,« sagte er zuvorkommenden Tones.

»Mich? Ich kenne Sie ja gar nicht.«

»Aber ich weiß, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen, Sie sind Herr Eugen Cavaillon, übrigens halte ich Sie nicht für so gedächtnisschwach, daß Sie sich meiner nicht entsinnen sollten. Sie haben mich heute schon ganz genau gesehen. Doch bitte, erweisen Sie mir jetzt das Vergnügen, mich einige Schritte zu begleiten; ich wünsche nur eine kleine unbedeutende Auskunft.«

Und ohne Cavaillons Antwort abzuwarten, nahm Fanferlot des jungen Mannes Arm und führte ihn hinaus.

Die Straße war abgelegen und wenig belebt, es ließ sich daher ganz gut auf und ab wandeln und plaudern.

»Mein lieber Herr Cavaillon,« begann der Agent freundlich, »ich habe heute Ihre und Bertomys Geschicklichkeit bewundert, er warf Ihnen ein Briefchen zu und Sie fingen es auf – wirklich geschickt!«

In Cavaillon war längst eine unbestimmte Ahnung aufgedämmert, daß es sich um Prospers Billetchen handelte, und er war entschlossen, zu leugnen.

»Sie irren sich,« sagte er, wurde aber dabei bis über die Ohren rot.

»Es tut mir unendlich leid, Ihnen widersprechen zu müssen, aber ich weiß, was ich sage.«

»Nein, gewiß, Prosper hat mir nichts gegeben.«

»Allerdings, gegeben hat er Ihnen nichts, aber zugeworfen, wozu leugnen, es war ein ganz klein zusammengefaltetes, mit Bleistift geschriebenes Blatt –«

Da Cavaillon einsah, daß es töricht wäre, auf seiner Aussage zu beharren, gab er den Empfang des Zettels zu.

»Nun ja,« sagte er leichthin, »mein Freund hat mir allerdings geschrieben, da aber die Mitteilung nur für mich bestimmt war, habe ich das Blatt, nachdem ich es gelesen, zerrissen und ins Feuer geworfen.«

Fanferlot war schon einen Augenblick geneigt, ihm Glauben zu schenken, aber da fiel ihm rechtzeitig das geheimnisvolle Wort, das Prosper ausgesprochen hatte, ein. Auf jeden Fall wollte er mit List die Wahrheit entdecken.

»Ich bin betrübt, Ihnen nochmals widersprechen zu müssen, aber das Briefchen war gar nicht für Sie, sondern für Gypsy bestimmt.«

An dem verzweifelten Ausdruck in des jungen Mannes Gesicht, erkannte Fanferlot, daß seine List gelungen und er auf der richtigen Fährte war.

»Aber ich schwöre Ihnen ...« versuchte Cavaillon zu sagen.

»Verschwören Sie nichts, mein lieber Herr, es nützt nichts. Sie haben den Brief in der Tasche und waren im Begriff, ihn jener Person zu überbringen.«

Cavaillon beteuerte, daß dies nicht der Fall sei, aber der Sicherheitsagent beachtete seine Worte nicht und sagte noch immer höflich, aber äußerst eindringlich: »Sie werden gewiß die Liebenswürdigkeit haben, mir den Inhalt des Briefes mitzuteilen.«

»Niemals,« versetzte Cavaillon heftig und versuchte sich von Fanferlots Arm loszumachen, der Polizist hielt ihn aber wie in einem Schraubstock fest.

»Geben Sie acht,« sagte er, »es täte mir leid, wenn ich Ihnen weh tun müßte. Machen Sie übrigens keine Umstände und zwingen Sie mich nicht, zu unangenehmen Maßregeln zu greifen. Wenn ich einen Stadtsergeanten rufe, so führt er Sie aufs nächste Polizeikommissariat und durchsucht Ihre Taschen – das wäre Ihnen doch gewiß weit peinlicher. Sie sehen also, Ihrem Freund nützen Sie durch Ihre Weigerung nicht und Sie selbst machen sich nur unnötigerweise verdächtig ...«

Cavaillon sah ein, daß der Polizist recht hatte, er war wütend über seine Machtlosigkeit, denn er konnte nicht einmal das Billet vernichten, es blieb ihm also nichts übrig, als sich zu fügen.

»Ich muß gehorchen, da Sie der Stärkere sind,« sagte er betrübt, entnahm das unselige Blatt seiner Brieftasche und überreichte es dem Polizisten.

Dieser ergriff es hastig, dann aber sagte er in gewohnter Höflichkeit: »Mit Ihrer gütigen Erlaubnis,« verneigte sich und las:

»Liebe Nina!

Wenn du mich liebst, tue was ich dir sage sofort, ohne eine Minute zu verlieren. Packe also gleich deine ganzen Habseligkeiten – alles, alles, hörst du? – zusammen und nimm dir eine möblierte Wohnung möglichst am entgegengesetzten Ende von Paris. Zeige dich nicht, halte dich verborgen, als ob du verschwunden wärst. Im Schreibtisch müssen noch 500 Frank sein, nimm sie. Deine neue Adresse teile Cavaillon mit. Ich bin eines bedeutenden Diebstahls angeklagt und werde sogleich verhaftet werden, C. wird dir Näheres darüber sagen. Verliere den Mut nicht und sei gegrüßt, auf Wiedersehen.

Prosper.«

Fanferlot war über den Inhalt dieses Briefes höchlich enttäuscht. Er hatte gehofft, darin den vollgültigen Beweis von Bertomys Schuld oder Unschuld zu finden, indes war es eine Art Liebesbrief, und entschieden war der Schreiber mehr um das Schicksal des Fräuleins besorgt, als um sein eigenes.

Der Brief war weder ein Beweis für noch gegen ihn. Zwar, die Worte alles, alles, hörst du? die unterstrichen waren, gaben zu denken und darum beschloß der Polizeiagent, die Sache weiter zu verfolgen.

»Fräulein Nina Gypsy ist wohl die gute Freundin Prosper Bertomys und wohnt in jenem Hause, in das Sie hineingegangen sind?« fragte Fanferlot.

Cavaillon bejahte.

»In welchem Stockwerke?«

»Im ersten, es ist Prospers Wohnung.«

»Schön, mein lieber Herr Cavaillon, ich danke Ihnen bestens für Ihre gütige Auskunft, ich werde Ihnen dafür den Weg ersparen und dem Fräulein selbst den Brief überbringen.«