Die Amsel und andere Erzählungen - Bernhard Fellner - E-Book

Die Amsel und andere Erzählungen E-Book

Bernhard Fellner

4,9

Beschreibung

Der Hirte kauert am Feuer und schläft. Er träumt von Geschichten und Gedichten, Erinnerungen und Erlebnissen, vergangenen Tagen und Nächten. Auch sein Hund schläft und träumt eine Hundegeschichte. Das Buch entführt in eine ganz spezielle Welt, erlebt und erfunden, gesehen und fantasiert - die (Traum)welt des Autors. Seine Erzählungen reichen von der Kriminal-/Liebesgeschichte DIE AMSEL bis zur Fantasieanekdote DIE BANK AM UFER.

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Seitenzahl: 103

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Inhaltsverzeichnis

Was die Liebe kann

Die Amsel

Der treue Hund Hachiko

Die Brücke

Das Klappern deiner Stricknadeln

Der Wächter

Reiseerinnerungen

Der Taxifahrer

Der kleine Buddha von der Toshima-ku

Die Pizza-Schachtel

San Bernardo

Neuseeland

Norden

Historisches

Das Bild auf der Zeitung

Das schönste Geschenk

Schattenpoesie

Alles wird kleiner

Was es ist

Der Strom

Zwischen den Zeilen

Angst

Die Wüste

Höhenflug

Der Clown

Jung und Alt

Der kleine Bub an der Moldau

Silvester

Der Sepp-Onkel

Als ich dich das erste Mal lächeln sah

Märchenhaftes

Der Schneemann

Der kleine Kirschbaum

Die Bank am Ufer

Epilog

Das Licht

Erstes Kapitel

Was die Liebe kann

Die Amsel

I.

Paul Weber ging eine lange, grüne Allee entlang. In der Ferne sah er das gelbgrüne Schloss Schönbrunn schimmern. Er erblickte es nur undeutlich, da er kurzsichtig war. Verschwommen. Verschwommener als sonst, kam ihm vor.

Ein schwüler Sommertag ging zu Ende und er hatte im Schlossgarten fotografiert. Paul Weber war Fotograf. Freischaffend. Leidenschaftlich. Das Licht war heute gut gewesen. Blau der Himmel, grün die Natur, gelb das Schloss und rot die Lippen der japanischen Touristinnen. Die hatten auch fleißig zurück - fotografiert.

Er hatte am großen Brunnen Neptun, den Meeresgott und seine Nixen mit den unnatürlich gleichmäßigen Rundungen abgebildet. Die Wasserstrahlen gegen das Sonnenlicht und die weißen Eisbären im schwarzen Schatten ihres Geheges.

Paul hatte Kopfweh bekommen und eine Tablette geschluckt. Eine ältere Dame hatte ihn dabei angelächelt. Er hatte zurückgelächelt, war er doch im Grunde ein freundlicher Typ. Dann setzte er sich auf eine Bank und schaute den Zebras zu. Paul gewann den Eindruck, dass diese ständig stritten.

Jetzt war er auf dem Weg nachhause. Vielleicht sollte er doch mehr gegen seinen hohen Blutdruck tun. Plötzlich fröstelte ihn mitten an diesem warmen, sanften Sommerabend. Er holte die Kamera heraus und machte ein Bild von einem Spatz, der frech auf dem Kopf eines punischen Kriegers saß. Eine Amsel begann zu singen. Paul liebte das. Sein Herz schlug schneller und immer schneller. Es wurde ihm schwindlig, und er versuchte, sich irgendwo festzuhalten, aber da war nichts. Er drehte sich und warf einen hilfesuchenden Blick in die Baumwipfel.

Die Amsel verstummte und flog davon. Dann brach er zusammen. Obwohl er nicht mehr ganz bei Bewusstsein war, verfolgte er seinen eigenen Fall wie von außerhalb mit. Langsam, ganz langsam fiel er zu Boden. Sein massiger Körper wühlte den Staub auf, der in einer kleinen Wolke aufstieg und ihn beim Niedersinken wieder zudeckte. Seine wertvolle und filigrane Kamera flog davon und splitterte mit einem hässlichen Geräusch am Boden entlang.

Schließlich verlor er das Bewusstsein.

Aber seine Zeit war noch nicht gekommen. Ein zufällig anwesendes Ehepaar erkannte, dass er noch lebte, drehte ihn auf den Rücken und legte eine Weste unter seinen Nacken, bevor es im Schloss die Rettung alarmierte.

Wie aus unendlich weiter Ferne vernahm Paul Weber die herannahenden Sirenen. Auf der rasenden Fahrt ins Spital kamen sie ihm viel näher, durchdringend und bösartig vor. Er wollte sich wegdrehen, konnte aber seinen Körper kaum bewegen. Er nahm alles wie durch einen Nebel wahr: Die Ankunft beim Spital. Die weißen, hellen Lichter. Stimmen, die ihn etwas fragten, das er nicht verstand. Umbettung in ein Spitalsbett. Schockraum, Apparate. Ärzte und Krankenschwestern in Hellgrün. Tränen quollen aus seinen Augen. Ein Arzt gab ihm eine Spritze und es wurde dunkel.

Sie führten ihn in ein Zimmer der Intensivstation, schlossen seinen Körper an diverse Schläuche an und deckten ihn vorsichtig zu. Dann löschten sie das Licht und er war allein. Paul schlief tief und fest. So tief, dass er nicht träumte. Es war gedämpftes Licht in seinem Zimmer und fast geräuschlos. Leise surrten Maschinen und man hörte auch Pauls Herzschlag aus einem Monitor. Er ging regelmäßig und ruhig: tok – tok – tok.

Ab und zu schaute eine Krankenschwester vorbei und sah nach dem Rechten.

Um sechs in der Früh wachte Paul auf. Helles Licht flutete durch die Fenster herein. Es würde wieder ein schöner und warmer Tag werden. Paul drehte sich etwas auf die Seite, was ihm auch recht ordentlich gelang. Bis auf einen argen Brummschädel schien es ihm ganz gut zu gehen. „Sie haben Glück gehabt!“, sagte der Arzt bei der Morgenvisite. „Wenn sie sich gut halten, können wir sie Ende der Woche entlassen!“

Paul lächelte dankbar. Er war ja ein freundlicher Typ. Zum Essen gab es noch nichts. Das erledigten derzeit die Schläuche. Am zweiten Tag bekam er schon eine Semmel und etwas Früchtetee. Am zweiten Tag besuchte ihn auch seine Frau Cai. Sie war eine Chinesin und sie hatten sich vor sechs Jahren in New York kennengelernt. Heute brachte Cai ihm Blumen mit, einen Strauß weißer Iris. Paul liebte seine Frau sehr. Jetzt, da sie da war, fühlte er sich sicher und geborgen.

Cai war sehr besorgt und redete schnell auf Paul ein. Sie unterhielten sich auf Englisch. Seine Frau war noch etwas blasser als sonst und sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem Knoten gebunden, den sie mit einer roten Spange zusammenhielt. Sie schaute müde aus. Dann streichelte sie leise und zärtlich Pauls Hand.

Als sie ging, küsste sie ihn auf die Stirn und strich ihm mit ihren schlanken, weißen Händen über sein verschwitztes Haar. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und lächelte: „You’ll soon be out of here!“ Er lächelte zurück und hob den schweren Arm zum Gruß, um ihr seine Beweglichkeit zu demonstrieren.

In dieser Nacht träumte er. Er träumte, dass die großen Figuren des Neptunbrunnens von ihren Sockeln stiegen und ihn durch den Park jagten. Sie warfen mit ihren Keulen und Morgensternen nach ihm. Als sich Paul in einer Höhle des Tierparks verstecken wollte, stöberte er einen riesigen schwarzen Bären mit glühenden Augen auf, der sich aber nicht bewegte. Schließlich entkamen im Terrarium-Haus sämtliche Schlangen durch die Scheiben und wickelten sich in abscheulicher Weise um Pauls Körper.

Er erwachte schweißgebadet und konnte erst wieder einschlafen, nachdem ihm die Nachtschwester ein Medikament gegeben hatte.

Tags darauf regnete es. Ruhig klopften die Tropfen auf die großen Scheiben des Spitals. Er fühlte sich besser. Der Kopf tat nicht mehr weh. Es gab schon eine Marmeladesemmel und dazu etwas leichten Schwarztee. Cai besuchte ihn wieder. Sie machten Pläne für die Rekonvaleszenz und Cai gab den Iris frisches Wasser.

Die Ärzte meinten, es verliefe alles nach Plan, er müsse sich aber unbedingt schonen und dürfe auch seinem Beruf einige Wochen nicht nachgehen. Am darauffolgenden Mittwoch wurde Paul entlassen.

Cai hängte sich bei ihm ein, als sie die breite Treppe des Hauptaufgangs hinuntergingen. Dann standen sie vor dem Spital. Der Tag war sehr ähnlich wie jener des Zusammenbruchs und Pauls Stirn runzelte sich leicht. Er horchte an sich hinunter und hinauf und nach innen.

Er war nicht mehr derselbe.

Dann fuhren die beiden nach Triest. Paul war schon oft hier gewesen und er liebte die kleine altösterreichische Hafenstadt in der obersten Ecke der Adria.

Sie machten lange, ruhige Spaziergänge und am Abend saßen sie am Corso Italia im Cafée Tommaseo. Es war Ende August und in der Luft lag schon so etwas wie Herbstgeruch. Lange schauten sie den Lichtern der ein- und ausfahrenden Schiffe und Boote im Hafen nach. Cai war so schön wie nie zuvor. Sie freute sich sehr, dass Paul alles so gut überstanden hatte. Ihre schwarzen Haare schimmerten im Sonnen- und im Mondlicht. Ihre blasse Haut war weich wie Samt und ihre Lippen rot wie die einer japanischen Schönbrunn-Besucherin.

Eines schönen Tages in Triest trennten sich die beiden für kurze Zeit: Cai wollte die Kirche Santa Maria Maggiore besichtigen und Paul ging auf die Bank, um Geld für die Rückreise zu besorgen. Sie waren mit dem Wagen gefahren und wollten auf dem Weg nach Wien noch ein- oder zweimal übernachten.

Als Paul nach den Bankgeschäften zur Kirche ging, begann er plötzlich zu schwitzen. Ein ungutes Gefühl befiel ihn, von dem er nicht wusste, woher es kam. Er ging schneller. Als er Santa Maria Maggiore erreichte, stolperte er über einen Stein und wäre fast hingefallen. Er blickte nach oben und hatte den Eindruck, die beiden Heiligen links und rechts vom Eingang lachten ihn aus. Er rappelte sich auf und eilte in die Kirche.

Cai war nicht da. Er durchstöberte den ganzen Raum, aber er fand sie nicht. Er befragte mehrere Anwesende, ob sie seine Frau gesehen hätten, aber alle verneinten. Wie vom Blitz getroffen setzte sich Paul auf die Kirchenstufen und wartete. Cai kam nicht. Um 18 Uhr, nachdem er drei Stunden gewartet hatte, begab er sich auf die Suche im Hafen und in der Innenstadt. Man hatte zwar mehrere Chinesinnen gesehen, aber die Beschreibung passte nicht zu Cai, denn sie hatte an jenem Tag ein leuchtendrotes Kleid getragen. Sie blieb wie vom Erdboden verschluckt. Nachdem Paul mitten in der Nacht bei der italienischen Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, fiel er um 2 Uhr vollkommen erschöpft und ratlos in sein Bett in dem kleinen Hotel an der Via Torino, wo die Beiden Quartier bezogen hatten.

II.

Als sich Cai von Paul getrennt hatte und die Kirche Santa Maria Maggiore in Triest betrat, ahnte sie nicht, was auf sie zukommen würde. Der Kirchenraum war ziemlich groß und kühl und von einer Kuppel gekrönt. Das schwarze, hölzerne Gestühl sah einigermaßen mitgenommen aus und auch der Verputz an den Wänden war stellenweise sehr schadhaft. Die riesigen Luster aus Messing machten einen ungepflegten, schmutzigen Eindruck. Aber all das wurde durch das den Hochaltar schmückende Madonnenbild mehr als wettgemacht. Es strahlte inmitten dieser Düsternis Wärme und Wohlwollen aus.

Zwei Männer waren Cai gefolgt. Einer trug einen grauen Nadelstreifanzug und der andere ein braunes Blouson und Jeans. Beide waren dunkelhaarig und schauten finster drein. Jedenfalls passten sie perfekt zum Kirchen-Interieur, während Cais rotes Kleid hier etwas Anachronistisches hatte. Als Cai das Gnadenbild betrachtete, näherten sich die Männer von der Seite und der Größere begann leise auf Cai einzureden. Entsetzt blickte sie ihn an. Sie wusste, dass Gegenwehr sinnlos war, drehte sich am Absatz um und ging mit den Männern mit. Der Kleinere schien eine religiöse Ader zu haben, er bekreuzigte sich beim Verlassen der Kirche.

Die Drei gingen nur kurz zu Fuß. An der Via San Micele wartete ein uralter, dottergelber Mercedes, in dem noch so ein Mafioso saß. Die beiden anderen nahmen Cai im Fond in die Mitte und der Chauffeur fuhr los. Ein junger, schwarz gelockter Kerl mit weißer Schürze, der vis-à-vis ein Gemüsegeschäft betrieb, hatte das ganze - ihm etwas seltsam erscheinende - Szenario beobachtet und blickte dem blaue Rauchschwaden von sich gebenden Mercedes verwundert nach.

Über Monfalcone und Portogruaro fuhr die „Gesellschaft“ nach Venedig, wo sie an einer kleinen Schiffsanlegestelle Halt machten. Dann stiegen sie aus und blickten erwartungsvoll auf das Meer. Nach einigen Minuten tuckerte ein Boot heran, das zwar auch alt, aber sehr gepflegt war mit seinen Mahagoni-Planken und Messing-Armaturen. Am Steuer stand ein ziemlich betagter Mann, der einen blauen Rollkragenpullover anhatte und in dessen Mundwinkel eine Zigarre baumelte. Die Männer riefen sich auf Italienisch etwas zu und dann vertäute der Alte das Boot an der Kaimauer. Als er alle an Bord hatte, wickelte er die Seile wieder ab und nahm Kurs auf das historische Zentrum.

Bei der Ponte ruga bella war Endstation. Cai und ihre beiden Entführer stiegen aus und der Alte fuhr mit dem Chauffeur weiter. Wenn die Situation nicht so gefährlich gewesen wäre, hätte sich Cai sicher gefreut, Venedig wiederzusehen. Sie liebte „jeden Ziegel“ dieser Stadt. Es war inzwischen die „Blaue Stunde“ angebrochen und ein wunderbares, sanftes Abendlicht lag in den engen Gassenschluchten und spiegelte den blaugrauen Himmel im Wasser der Kanäle.

Dann waren sie angekommen. Cai kannte dieses Haus. Es war ein sehr alter, nicht besonders gut erhaltener Palazzo, der an einer kleinen Piazza in der Nähe des ministero d’istruzione lag. Auf dem eisernen Eingangstor prangten zwei große Löwenköpfe, mit deren soliden Beißringen man sich bemerkbar machen konnte.

Der Große klopfte, doch es tat sich nichts. Erst nach wiederholten Versuchen öffnete ein dürres Männlein und orderte die drei, rasch herein zu kommen. Er wusste, dass Cai kein Italienisch sprach und so sagte er in gebrochenem Englisch: „Come on in, Madam. Mister Hu is waiting for you!“