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Seitenlange Briefe, ein Stein in Herzform, Bilder meiner Lieblingsbands und darunter - ein gelber Briefumschlag, den ich sofort wiedererkenne. Mein Roman! Die Geschichte von Alexa und Ian, geschrieben und mit einem Happy End versehen von meinem fünfzehnjährigen Ich. Heute bin ich vierzig. Und meine Romanfiguren? Hat ihre Liebe die Zeit überdauert? Was haben sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren erlebt? Wie geht es ihnen heute? Mein Blick verliert sich im Raum, und ich sehe Alexa vor mir. Ihre haselnussbraunen Augen schauen mitten in mein Herz, als sie fragt: «Willst du es wirklich wissen?» Ich zögere keinen Moment. Alexa strafft die Schultern und beginnt zu erzählen ... Ein Roman über die Kraft der Liebe und den Mut, hinter dem SCHWARZ nach dem Glück zu suchen.
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Seitenzahl: 369
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Hier sollte ein Songtext stehen, der wunderbar zu diesem Buch passt. Leider habe ich keine Bewilligung, ihn abzudrucken, aber vielleicht hört ihr mich einmal gedankenverloren inbrünstig singen und wisst: Dieser Song muss es sein!
Prolog
Abschied
Erste Liebe
Aufbruch
Verbindungen
Grenzen
Liebe am Abgrund
Freiheit
Tiefe Wunden
Dunkelheit
Ein neuer Morgen
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Fachstellen
Alles beginnt mit einem Koffer, den ich auf dem Dachboden finde. Ich lasse die Schlösser aufschnappen und hebe gespannt den Deckel.
Da liegen sie: die Schätze aus meiner Teenagerzeit. Seitenlange Briefe, selbstverfasste Gedichte, ein Stein in Herzform, ein Fläschchen mit eingetrocknetem Nagellack, Konzerttickets, Bilder meiner Lieblingsbands und darunter – ein gelber Briefumschlag, den ich sofort wiedererkenne.
Mit klopfendem Herzen entnehme ich ihm neunundzwanzig Blätter karierten Umweltschutzpapiers, vorne und hinten mit Kugelschreiber dicht beschrieben. Mein Roman!
Die Geschichte von Alexa und Ian, geschrieben und mit einem Happy End versehen von meinem fünfzehnjährigen Ich. Heute bin ich vierzig.
Und meine Romanfiguren? Hat ihre Liebe die Zeit überdauert? Was haben sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren erlebt? Wie geht es ihnen heute?
Mein Blick verliert sich im Raum, und ich sehe Alexa vor mir. Ihre haselnussbraunen Augen schauen mitten in mein Herz, als sie fragt: «Willst du es wirklich wissen?»
Ich zögere keinen Moment. Alexa strafft die Schultern und beginnt zu erzählen.
Es regnet am Tag, an dem Grossmama sterben wird. Alexa schüttelt den Regenschirm aus, bevor sie ihn ans Geländer der Veranda stellt und die Haustür öffnet. «Hei!», ruft sie ihren typisch norwegischen Gruss durchs Häuschen und horcht, ob Ians Stimme ihr antworten wird.
Er kommt aus dem Wohnzimmer in den Flur, und als sie ihn ansieht, sinkt ihr Herz. Seine blauen Augen sind dunkel, und er hebt mit einer hilflosen Geste die Arme.
Durch Alexas Kopf rasen tausend Gedanken. Ist es schon wieder so weit? Ist die schwarze Welle dabei, ihn einmal mehr zu erfassen und in den Abgrund zu ziehen? Nicht schon wieder, ruft ihr Herz und wappnet sich gegen seine Zurückweisung.
Doch Ian kommt auf sie zu und nimmt sie in den Arm. «Es ist nicht das, was du denkst. Es geht mir gut. Nein, natürlich tut es das nicht, aber … Ach, Alexa, das Seniorenzentrum hat angerufen: Ida – sie liegt im Sterben.»
Erst atmet Alexa auf. Es geht ihm gut! Dann realisiert sie, was er gesagt hat. Grossmama. Sie wird sterben. Leise beginnt Alexa zu weinen. Sie schmiegt den Kopf an Ians Brust, während die Schluchzer sie schütteln.
Sanft streicht er ihr über die Haare.
«Wir müssen zu ihr!» Alexa schaut auf. «Wir lassen sie doch nicht einfach gehen!»
Bereits vor drei Jahren musste sie Grossmama gehen lassen. Nachdem sie mehr als zwanzig Jahre lang gemeinsam im Häuschen gelebt hatten, beschloss Grossmama völlig überraschend, ins Seniorenzentrum des Nachbardorfs zu ziehen. Und jetzt will sie für immer gehen?
«Nein», sagt Ian, und seine Stimmt klingt noch rauer als sonst, «wir lassen sie nicht gehen, ohne uns von ihr zu verabschieden!»
Am nächsten Morgen erwacht Alexa mit pochenden Kopfschmerzen und weiss augenblicklich, dass Grossmama gestorben ist. Sie dreht sich um und vergräbt den Kopf im Kissen. Nur noch einen Augenblick lang so tun, als sei alles in Ordnung. Von unten hört sie die Kaffeemaschine, wenig später geht die Tür zum Schlafzimmer auf, und Ian kommt herein. Seine Anwesenheit und der Duft des Kaffees machen es Alexa möglich, sich umzudrehen und die Realität langsam an sich herankommen zu lassen.
«Valbona hat angerufen», sagt Ian leise.
Alexa nickt. «Ich weiss», sagt sie mit matter Stimme. Sie weiss nur zu genau, weshalb die Leiterin des Seniorenzentrums angerufen hat.
Ian drückt ihr die Tasse in die Hand, und für einen Moment verliert sie sich in seinem Blick. Sie trinkt ein paar Schlucke, bevor sie die Tasse auf den Nachttisch stellt und sich an die Schulter von Ian lehnt, der sich vorsichtig neben sie gesetzt hat.
«Wir haben es gewusst», sagt sie leise.
Er antwortet erst nach einer Weile: «Na und? Das macht es nicht leichter.»
Diese Wahrheit nimmt ihr für ein paar Augenblicke den Atem. Dann kommen die Tränen. Sie kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Ian hat recht. Sie konnten sich nicht darauf vorbereiten, ohne Grossmama zu leben. Nun werden sie es einfach müssen.
«Wie geht es dir?», fragt sie vorsichtig.
Er antwortet mit leichtem Ärger in der Stimme: «Fang nicht so an, Alexa. Natürlich geht es mir nicht gut, ich bin traurig. Wie sollte es mir denn sonst gehen?» Er drückt sie an sich.
Alexa spürt, wie angespannt er ist. «Danke für den Kaffee», sagt sie.
«Rufst du deine Mutter an?», fragt Ian nach einer Weile.
Alexa runzelt die Stirn. «Macht das nicht Valbona?»
Er zuckt die Schultern. «Sie hat immer uns informiert, wenn etwas mit Ida war», erinnert er sie.
Weil ich mehr ihre Tochter war als Mama, fährt es Alexa durch den Kopf. Genauso wie sie mir die bessere Mutter war als meine Mutter. O Gott, was soll nun bloss werden?
Ian spürt die Verzweiflung, die Alexa zu überwältigen droht. Rasch steht er auf und reicht ihr die Hand: «Lass uns frühstücken!»
Es ist ein Grundsatz, den Ian von Grossmama übernommen hat: Zuerst essen wir etwas, dann sehen wir weiter. Gegen ihren Willen stiehlt sich ein Lächeln auf Alexas Gesicht, als sie sich von Ian an der Hand nehmen und die Treppe hinunter in die Küche führen lässt.
Rund eine Stunde später betreten Ian und Alexa das Seniorenzentrum. Beinahe schüchtern gehen sie die Treppe hoch in den zweiten Stock, in dem Grossmamas Zimmer liegt. In den letzten Jahren sind sie selbstverständlich hier ein- und ausgegangen, aber heute ist es anders. Krampfhaft hält Alexa Ians Hand fest und spürt, dass diese leicht zittert. Sie haben beide Angst vor dem, was sie antreffen werden. Ich fürchte mich davor, Grossmama tot zu sehen, denkt Alexa bang. Und ich fürchte mich vor unserer Reaktion. Was, wenn zur Abwechslung ich zusammenbreche? Was passiert, wenn wir beide keine Kraft mehr haben?
Bevor sie sich weitere Gedanken machen kann, kommt ihnen Valbona entgegen. «Mein herzliches Beileid!» Nacheinander umarmt sie erst Alexa, dann Ian und fragt: «Seid ihr bereit?»
«Kann man das denn sein?», fragt Alexa zurück. Sie nimmt von neuem Ians Hand, während Valbona die Tür zu Grossmamas Zimmer öffnet und vor ihnen hergeht. Grossmama liegt in ihrem Sonntagskleid auf dem Bett. Auf dem Tisch stehen eine brennende Kerze und eine Schale mit frischen Äpfeln. Gravensteiner, Grossmamas Lieblingssorte, stellt Alexa gerührt fest. Die Vorhänge sind aufgezogen, sodass die fahle Novembersonne ins Zimmer scheinen kann. Leise läuft Grossmamas Lieblings-CD mit Kirchenliedern. Alles wirkt friedlich und irgendwie richtig.
«Oh, Valbona, das habt ihr so schön gemacht!», sagt Alexa und spürt, wie die Tränen wieder zu fliessen beginnen.
Valbona legt ihr einen Arm um die Schultern und drückt sie sanft. «Wir geben immer unser Bestes, aber bei Frau Kohler war es mir besonders wichtig. Ich werde deine Grossmutter so vermissen!»
Die beiden Frauen stehen eine Weile in stiller Umarmung da, dann seufzt Alexa: «Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es sein wird ohne sie. Und doch – wenn ich sie so anschaue … Ich glaube, für sie ist es gut so.»
Valbona drückt sie noch einmal an sich, dann löst sie sich von ihr. Mit einem besorgten Blick deutet sie auf Ian, der am Fenster steht und dessen Schultern beben. «Du rufst mich, wenn du Hilfe brauchst», flüstert sie Alexa zu.
Diese nickt nur.
Nachdem Valbona sich zurückgezogen hat, setzt sich Alexa auf den Stuhl neben dem Bett. Sie schaut Grossmama an und erwartet beinahe, dass diese die Augen öffnet und mit ihr zu sprechen beginnt. So wie gestern Abend, als sie plötzlich mit klarem Blick zwischen Alexa und Ian hin und her schaute und mit brüchiger, aber deutlicher Stimme sagte: «Ihr beide. Wie schön.» Und nach einer Pause: «Ich freue mich, dass das Leben in meinem Häuschen weitergeht. Sagt dem Kleinen einen Gruss von mir. Ich werde gut zu ihm schauen.»
Nach diesen Worten schloss Grossmama wieder die Augen, wahrscheinlich zum letzten Mal.
«Nie mehr.» Auch Alexas Stimme ist jetzt brüchig. «Nie mehr wirst du mir einen Ratschlag geben und mir Mut machen. Nie mehr wirst du mir mit einem Blick zu verstehen geben, was du von meinen Ideen hältst. Nie mehr wirst du mir versprechen, dass du für mich beten wirst, und nie mehr wirst du mit mir schimpfen. Grossmama, werde ich dich wirklich nie mehr besuchen oder schnell anrufen können?»
Ian, der immer noch am Fenster steht, schluchzt bei diesen Worten auf.
Alexa fährt fort: «Du hättest nicht gehen sollen, weisst du. Du hättest für immer bei mir bleiben sollen. Bei uns. Wie sollen wir es denn ohne dich schaffen, Grossmama? Wir waren noch nie erwachsen ohne dich. Ich habe überhaupt noch nie ohne dich gelebt! Ich kann das doch gar nicht!» Die Tränen laufen ungehindert über Alexas Wangen. Sie spürt, dass es nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch Tränen der Wut sind, und spricht weiter: «Grossmama, wie stellst du dir das vor? Was soll ich denn machen, wenn die schwarze Welle kommt? Wer ist für mich da, wohin kann ich gehen?»
«Sei still …», sagt Ian hinter ihr, doch sie kann nicht still sein.
«Es war schwer genug mit deiner Hilfe, wie soll es gehen ohne dich? Ich habe doch niemanden …»
«Du hast mich, Alexa, du hast doch mich!» Ian hat sich neben sie gekauert, nimmt ihre Hand und schaut sie eindringlich an. Seine Augen halten ihren Blick fest, während er sagt: «Du hast mich. Ich bin für dich da. Ich werde dir Mut machen, ich werde dir Ratschläge geben, und wenn nötig, werde ich auch mit dir schimpfen. Wir können es ohne Ida, wir sind beide lange genug erwachsen. Und wenn es mir schlecht geht, dann hast du Doris. Dann rufst du sie an, und sie ist für dich da. Glaub mir, Ida hat genau gewusst, wann sie gehen kann. Sie wusste, dass wir bereit sind dazu. Ich bin es, und ich weiss, dass du es auch bist. Vertrau mir, Alexa, vertrau mir einfach, okay?»
Alexa lässt sich fallen. Sie kippt vom Stuhl in Ians starke Arme.
Er fängt sie auf und hält sie fest.
Betroffen schaue ich Alexa an. «Es tut mir leid.» Mehr fällt mir nicht ein. Es tut mir leid, dass ihre Grossmama gestorben ist. Es tut mir leid, dass sie offenbar ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hat. Doch am meisten tut mir leid, was ich über Ian erfahren habe. Habe ich es richtig verstanden? Ian – der hübsche Junge mit den schönen blauen Augen, in den Alexa und ich uns gleichermassen verliebt haben – er soll unter Depressionen leiden?
«Was ist passiert?», frage ich. «Was wurde aus dem jungen, glücklich verliebten Paar, das ich kannte?»
Ein Lächeln umspielt Alexas Lippen. «Ein junges, glücklich verliebtes Paar. Ja, so hat es angefangen.»
«Im Sommer 1991», weiss ich und schiele auf den gelben Umschlag in meinen Händen.
Sie nickt. «Ich wohnte bei Grossmama, weil Mama und Papa wegen ihrer Tierforschungen für mehrere Monate in Kenia waren.»
«Grossmama hatte noch ein anderes Pflegekind», ergänze ich.
Wieder nickt Alexa. «Ja, Cindy. Wir verstanden uns nicht besonders gut. Grossmama und ich hingegen waren ein Herz und eine Seele – wenn ich nicht gerade meine Musik zu laut durchs Häuschen dröhnen liess! Sie kaufte mir dann einen Walkman.»
Wir schmunzeln beide.
«Deine beste Freundin zu der Zeit war Doris», krame ich weiter in den Erinnerungen.
«Und stell dir vor, sie ist es immer noch. Dank ihr fand ich damals problemlos Anschluss in unserer Klasse und fühlte mich wohl im Dorf. Und dann begegnete ich – ihm!»
Alexas Augen leuchten auf. Gemeinsam gehen wir zurück in einen Sommer, der so verheissungsvoll begann.
Liebes Tagebuch
Heute habe ich nach der Schule Doris nach Hause gebracht, weil wir spät dran waren. Sie muss immer mit dem Velo in die Schule kommen, weil ihre Mutter ihr nicht erlaubt, die Mofaprüfung zu machen. Dafür schimpft sie dann, wenn Doris zu spät nach Hause kommt. Sie hat sich also bei mir angehängt, und ich habe sie nach Hause gezogen. Nachher fuhr ich auf direktem Weg zum Häuschen. Und dieser führt – über die Brücke.
Du weisst ja, dass Grossmama es nicht gern sieht, wenn wir über die Brücke fahren, weil da jetzt immer diese Typen rumhängen. Seit Cindy es letzte Woche trotzdem gemacht hat und von einem Betrunkenen blöd angemacht wurde, hat sie es uns ganz verboten. Aber ich hatte echt keine Lust, einen Umweg zu fahren, und es war ja auch überhaupt nicht sicher, ob jemand bei der Brücke sein würde.
Meine Zuversicht schwand etwas, als ich Gelächter und Musik hörte, doch ich gab weiter Vollgas, auch als ich die Typen sah. Es waren zwei Mädchen und vier Jungs. Ich stellte erleichtert fest, dass sie kaum älter waren als ich. Eines der Mädchen kenne ich sogar: Lena, sie wohnt in der Nähe von Doris, und wir haben früher manchmal mit ihr gespielt. Allerdings hat sie sich sehr verändert. Wie die anderen war sie schwarz angezogen, und auf ihrem T-Shirt prangte ein grosser Totenkopf. Nun wurde mir doch wieder etwas mulmig zumute, doch sie traten extra zur Seite, um mich vorbeizulassen. Aber noch bevor ich das Ende des Brückleins erreicht hatte, rief einer: «Hey, wart mal kurz!»
Sofort bremste ich, und erst als der Junge auf mich zukam, fragte ich mich, ob das wohl eine gute Idee gewesen war. Ich dachte an Cindy und wie erschreckt sie ausgesehen hatte, als sie letzte Woche nach Hause gekommen war.
Der Junge blieb vor mir stehen und drehte einfach den Zündschlüssel meines Mofas! «Man versteht sich so besser», sagte er.
Vorsichtshalber bemühte ich mich um ein Grinsen. Er ist etwas älter als ich, gross und schlank, und hat dunkelblonde Haare, die ihm immer über die Augen fallen. Er fragte, ob ich in dem grünen Haus dort hinten wohne, und ich nickte, obwohl ich das helle Mint von Grossmamas Häuschen nie als grün bezeichnen würde.
«Und wohnt dort noch ein anderes Mädchen? Eine dünne Blonde mit so grossen Augen?» Er formte mit der Hand einen tennisballgrossen Kreis.
Ich musste über seine Beschreibung von Cindy grinsen und nickte wieder.
Er sah ziemlich verlegen aus, als er sagte: «Ich fürchte, die habe ich kürzlich ziemlich erschreckt. Hat sie etwas gesagt?»
Ich kann nichts dafür, aber mehr als ein Nicken brachte ich wieder nicht zustande.
«Kannst du ihr sagen, dass es nicht so gemeint war? Ich wollte ihr keine Angst machen, aber … tja, offenbar war ich ziemlich zu an dem Abend.» Nun sah er definitiv verlegen aus, es schien ihm echt unangenehm zu sein! Das nahm mir meine Scheu, und ich sagte ganz locker:
«Mach ich. Sonst noch etwas?»
«Nein, sonst habe ich ihr nichts zu sagen!» Er grinste und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Liebes Tagebuch, ich weiss jetzt, was der Ausdruck «seine Augen funkeln» bedeutet! Sie funkelten wirklich! Und sie sind blau!
Zu Hause schaute mich Cindy mit grossen Augen an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, blinzelte. Sie sah so komisch aus, dass ich das Lachen einfach nicht zurückhalten konnte. Auch Grossmama lächelte amüsiert. Endlich sagte Cindy: «Und das hat er wirklich gesagt?»
Ich nickte. «Hat er. Und ich kann dir sagen: Dem war gar nicht wohl dabei!»
Da mischte sich Grossmama ein: «Eigentlich müsste ich dir böse sein, Lexi, aber vielleicht war es ja gut so. Es bleibt aber dabei: Ihr fahrt nicht über die Brücke!»
Cindy nickte sofort. Grossmamas Blick ruhte scharf auf mir, bis ich auch nickte. Ich finde das blöd! Die Jungs und Mädchen bei der Brücke sind überhaupt nicht gefährlich, es gibt keinen Grund, nicht dort vorbeizufahren, und schliesslich ist es kürzer.
Ach, liebes Tagebuch, darum geht es gar nicht. Ich würde auch weite Umwege fahren – für ein Funkeln aus diesen abenteuerlich blauen Augen!
Liebes Tagebuch
Gestern Abend habe ich den Jungen mit den blauen Augen gesehen! Ich war mit Doris im Kino, und als wir nach dem Film aus dem Kinosaal in die Halle traten, sah ich dort IHN mit ein paar anderen Jungs. Ich war total überrascht von seiner Reaktion! Er liess die anderen stehen, kam zu mir und lachte mich an.
«Was machst du denn hier?», fragte er mit seiner ein wenig heiseren Stimme, die mir fast so gut gefällt wie die Farbe seiner Augen.
«Na, was wohl, mir einen Weg nach draussen zum Parkplatz bahnen!», lachte ich zurück, denn Doris’ Mutter chauffierte uns.
«Schade», meinte er, zwinkerte mir zu und ging zu seinen Freunden zurück.
Doris meinte nur «Soso!» und grinste mich frech an.
Und nun sitze ich hier, höre «Europe» aus meinem Walkman und versuche, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass der Typ mir besser gefällt, als mir lieb ist. Denn das tut er! Es hat mich gestern die grösste Mühe gekostet, ihm eine solch belanglose Antwort zu geben, und im Auto hatte ich plötzlich ganz weiche Knie.
Liebes Tagebuch
Lena hat mich angerufen! Sie macht am ersten Samstag in den Sommerferien eine Party bei sich zu Hause und hat Doris eingeladen. Nun hat sie sich überlegt, dass ich doch auch kommen könnte. Sie fände es cool! Ich habe noch nicht zugesagt, weil ich doch zuerst Grossmama fragen muss. Lena sagte, ich könne auch spontan kommen.
Natürlich würde ich wahnsinnig gern hingehen. Hey, ich werde von einem Mädchen wie Lena an eine Party eingeladen! Und ich glaube, sie hätte ehrlich Freude, wenn ich dabei wäre. Nur, was wird Grossmama dazu sagen? Vor allem, wenn sie erfährt, dass Lena zu der Clique bei der Brücke gehört?
Ach, liebes Tagebuch, natürlich muss ich an diese Party gehen, das ist gar keine Frage, denn weisst du, was ich glaube? Bestimmt hat Lena meinen Blauäugigen auch eingeladen! Ich muss Grossmama dazu bringen, dass sie es mir erlaubt!!!
Liebes Tagebuch
Grossmama hat mir tatsächlich erlaubt, an Lenas Party zu gehen!
«Freundschaften soll man pflegen», meinte sie. «Und ausserdem glaube ich, deine Mutter würde es dir auch erlauben, nachdem du das ganze Schuljahr hindurch so viel gearbeitet hast. Sag ruhig zu!»
Ich bin ihr jubelnd um den Hals gefallen und habe daraufhin freiwillig abgewaschen UND das Badezimmer geputzt. Das will was heissen bei mir! Dass ich zur Brücke gehen will, um mich bei Lena für die Party anzumelden, habe ich Grossmama nicht gesagt, was vielleicht nicht ganz fair, aber bestimmt vorsichtiger ist. Sie hält Lena nun einfach für eine frühere Spielkameradin von Doris und mir.
Liebes Tagebuch
Heute nach der Schule sind Doris und ich zur Brücke gefahren, um Lena zu sagen, dass wir an ihre Party kommen. Zugegeben, mein Herz klopfte ganz schön, und in meinem Magen war irgendeine Unruhe losgegangen … Wir waren beide mit dem Fahrrad unterwegs, und schon im Wäldchen hörten wir von der Brücke her Gelächter. Mein Herz machte einen kleinen Hopser, als ich glaubte, SEINE Stimme zu hören.
Und tatsächlich – er war da!
Es war aber ein anderer Junge, der sich uns in den Weg stellte und sagte: «Hallo Mädels, schon was vor heute Abend?»
Ich brachte kein Wort heraus, aber Doris sagte nur: «Mehr als du denkst!»
Lena schubste den Kerl zur Seite und stellte sich neben uns. «Hau ab, Marco!», sagte sie. «Sorry, der spinnt manchmal.»
Doris nickte. «Egal. Wir sind ja wegen dir hier. Wir kommen gern an deine Party!»
Wie aus dem Nichts stand plötzlich ER neben mir. «Du auch?», fragt er leise.
Ich nickte. «Und du?»
Er zuckte mit den Schultern. «Ich denke schon.»
«Okay», sagte Doris. «Bis dann!»
Lena meinte, wir könnten gern noch bleiben, aber Doris winkte ab. «Ein bisschen zu viel Alkohol im Spiel für meinen Geschmack», meinte sie und deutete mit dem Kopf auf den Kerl vom Anfang.
Sie hatte recht. Aber ich wollte so gern noch weiter mit dem Blauäugigen sprechen! Doris grinste mir zu und machte unser Geheimzeichen für «verliebt». Bevor ich reagieren konnte, stieg sie auf ihr Fahrrad, verabschiedete sich und fuhr zurück Richtung Dorf. Ich zögerte einen kleinen Moment, bevor ich mich auf mein Fahrrad setzte.
Und dann vergass ich für kurze Zeit zu atmen!
Der Junge neben mir sagte nämlich: «Ich bringe dich nach Hause.»
Während er zu seinem Mofa ging und es startete, sah ich, wie Lena grinste, und hörte den betrunkenen Jungen grölen: «Uh, Ian, und was hast du noch vor heute Abend?»
Ian? Er heisst tatsächlich wie der Schlagzeuger von «Europe»! Ich kenne keinen anderen Jungen, der so heisst. Und ich kenne keinen anderen Jungen, der so gut aussieht und mein Herz so zum Rasen bringt wie er!
Ian reagierte gar nicht auf das, was der andere sagte, sondern deutete mir mit einer Kopfbewegung, ich solle kommen. Ich liess mich von ihm den kurzen Weg nach Hause ziehen und hoffte, Grossmama würde uns nicht kommen sehen! Mein Herz klopfte wie verrückt, als wir anhielten, doch er wendete sein Mofa gleich wieder.
Bevor er losfuhr, sagte er: «Cool, dass du an Lenas Party kommst!»
Da wagte ich es: «Und du kommst sicher auch?»
«Sicher!» Endlich lächelte er. Dann gab er plötzlich Vollgas, dass der Motor nur so aufheulte, und fuhr davon. Nicht zurück zur Brücke, sondern auf die Strasse Richtung Dorf.
Ian heisst er, hat ein silbergraues Mofa und funkelnde blaue Augen. Und ich fürchte, ich bin total verliebt in ihn!
Liebes Tagebuch
Heute ist ein Brief von Mama gekommen. Sie schreibt, wie schön es in Kenia ist, wie sie mich vermisst und dass ich brav sein und Grossmama gehorchen soll, weil sie doch nicht mehr die Jüngste ist. Sonst habe sie ein schlechtes Gewissen, weil sie und Papa mich so lange bei Grossmama lassen.
Schon beim Lesen des Briefes brannten Tränen in meinen Augen, und als ich fertig war, liess ich mich aufs Bett fallen und weinte hemmungslos. Zum ersten Mal seit Langem überkam mich schreckliche Sehnsucht nach Mama und Papa. Und gleichzeitig hatte ich so ein schlechtes Gewissen! Ich gehorche Grossmama doch nicht, wenn ich an Lenas Party gehe, ohne ihr zu sagen, woher ich sie kenne! Aber wenn ich es ihr sage, darf ich nicht gehen, und ich muss dahin! Ich muss Ian sehen!
Vor lauter Weinen merkte ich gar nicht, dass Grossmama ins Zimmer gekommen war. Erst als sie ganz erschrocken fragte, ob meinen Eltern etwas passiert sei, nahm ich sie wahr und lehnte mich aufschluchzend an ihre Schulter.
«Nein, Mama und Papa geht es gut. Ich habe nur plötzlich so furchtbare Sehnsucht bekommen!»
Grossmama hielt mich fest und tröstete mich. Ich dachte, dass ich ihr doch lieber die Wahrheit sagen will. Aber nun weiss ich es wieder nicht …
Liebes Tagebuch
Jetzt ist alles klar: Ich gehe an Lenas Party! Es ist nämlich so: Ich musste heute auf dem Heimweg von der Schule noch für Grossmama auf die Post, und nachher bin ich durchs Villenviertel gefahren. So nennt man das Quartier, in dem die richtig grossen Häuser stehen, mit riesigen Gärten und zum Teil sogar mit Mauern drum herum. Ich kenne niemanden, der dort wohnt, und Doris hat einmal gesagt, dass die meisten Kinder aus diesem Quartier in Privatschulen gehen. Plötzlich bin ich fast vom Mofa gefallen, denn vor einer der grössten Einfahrten stand, an sein Mofa gelehnt – Ian! Ohne nachzudenken bremste ich ab.
«Hey, wie geht’s?», fragte er, als hätten wir uns hier verabredet.
Ich schaute ihn an und sagte erst einmal gar nichts. Schliesslich fragte ich völlig sinnlos: «Was machst du hier?»
«Ich wohne hier!» Er deutete mit dem Kopf auf die Villa hinter sich und strich sich dabei die Haare aus dem Gesicht. Zum ersten Mal sah ich, dass er einen Goldring im Ohr hat.
«Das hast du nicht erwartet, oder?», fragte er amüsiert.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, niemals hätte ich gedacht, dass er hier wohnen würde!
Er schaute mich aufmerksam an. «Du hast doch nicht vergessen, dass am Samstag Lenas Party ist?»
Ich zögerte.
Er machte einen Schritt auf mich zu, und zu meiner Verblüffung hob er mit dem Zeigefinger leicht mein Kinn an.
Mein ganzer Körper fühlte sich bei dieser Berührung wie elektrisiert an.
«Du kommst doch?» Forschend schaute er mich an. Diese Augen!
Ich senkte den Blick, schluckte und sagte dann: «Nein, vergessen habe ich es nicht. Aber …»
«Aber was?», fragte er und liess mich los. «Hast du deine Meinung geändert?»
«Nein!»
«Ach – erlauben es deine Eltern nicht?» Seine Frage klang spöttisch, und ich antwortete ziemlich heftig:
«Ich wohne bei meiner Grossmutter, und doch – sie erlaubt es mir!»
«Wo liegt denn dein Problem?», fragte er ungeduldig. «Du darfst kommen, du willst kommen, also – was ist los?»
Ja, was war los? Ich konnte ihm doch nicht sagen, dass Grossmama nicht wollte, dass ich Kontakt hatte zu seiner Clique! Dass sie Angst hat vor ihnen. Ich biss mir auf die Lippen und hätte fast angefangen zu heulen.
«Alexa …», sagte er leise und eindringlich.
Wer hat ihm gesagt, wie ich heisse?
Ich schaute auf und fühlte mich wie hypnotisiert von seinem Blick.
«Ich möchte dich am Samstag sehen. Versprichst du mir, dass du kommst?»
Versprechen? Meine Gedanken rasten. Wenn ich es ihm verspreche, dann muss ich mir keine Gedanken mehr machen. Dann muss ich hingehen, weil ich sonst mein Versprechen brechen würde. Ich schaute ihm fest in die Augen und sagte:
«Ja, ich verspreche es. Ich werde an Lenas Party kommen.»
Er lächelte, und dann war in seinen Augen wieder dieses Funkeln, von dem ich ganz weiche Knie bekomme. Ich lächelte zurück und fuhr schnell davon.
Ich kann es nicht glauben! Dieser unglaubliche Typ will ausgerechnet mit mir an eine Party gehen! Der Gedanke macht mich ganz schwindlig. Was wird am Samstag passieren?
Ian
Liebes Tagebuch
Ich bin ja so verliebt!
Als ich mich gestern Nachmittag von Grossmama verabschiedete, lachte sie mich an und sagte: «Ach, Lexi, ich mag dir diese Party so gönnen! Du hattest es wirklich streng in der Schule, und dein Zeugnis ist sehr gut. Nun hast du etwas verdient, das dir Freude macht. Viel Spass, geniess den Abend!»
Ich umarmte Grossmama. «O ja, ich werde es geniessen, da kannst du sicher sein!» Als ich mich aufs Mofa setzte, sah ich im Garten Cindy mit ihrem Freund Roman sitzen. Sie sahen total happy aus. Ich grinste. Die zwei waren ja herzig, aber wenn ich daran dachte, wen ich heute treffen würde … Auf dem Weg zu Doris dachte ich, wie froh ich bin, dass Grossmama mir einfach eine schöne Party gewünscht und mich kein bisschen ermahnt hat!
Weil Doris nahe bei Lena wohnt, hatten wir abgemacht, dass ich nach der Party bei ihr schlafen würde. Wir trafen uns also bei ihr zu Hause, und bevor wir uns auf den Weg zu Lena machten, schminkten wir uns noch ein wenig. Doris trug einen weiten, schwarz-roten Jupe, ein dunkelrotes Top und ein farbiges Tuch um die Schultern. Wie immer sah sie ein bisschen verrückt, aber trotzdem super aus. Ich hatte Jeansshorts und ein weites T-Shirt an.
Nach einem kurzen Blick in Lenas Garten stellte ich fest, dass Ian nicht da war und tröstete mich damit, dass er sicher bald kommen würde.
Ich hatte damit gerechnet, dass Doris und ich eher Aussenseiterinnen sein würden an dieser Party, doch ich hatte mich getäuscht. Lena rief uns sofort zu sich, und wir sassen bei ihr und ihren besten Freunden. Plötzlich machte ich eine Entdeckung: An den Gartenzaun gelehnt stand Ians Mofa! Aber er war wirklich nicht hier. Was sollte das? Neben mir sass ein dünnes, blondes Mädchen, das den kürzesten Minirock trug, den ich je gesehen habe. Sie heisst Susi und gehört zur Brücken-Clique.
Offenbar bemerkte sie meine Verwirrung, denn sie sagte mit einer ganz rauchigen Stimme, die gar nicht zu ihr passt: «Suchst du Ian? Er ist hinter dem Haus, mit Saskia.»
«Saskia?», fragte ich zurück, und sie nickte
Ich hatte keine Ahnung, wer Saskia war! Was machte sie hinter dem Haus mit Ian?
Einem plötzlichen Entschluss folgend stand ich auf, schüttelte auf Doris’ fragenden Blick hin den Kopf und machte mich auf den Weg hinters Haus. Lenas Eltern haben einen sehr grossen Garten, auch hier hinten hatte es Bäume und Sträucher.
An einen dieser Bäume gelehnt stand Ian.
Neben ihm stand ein etwas älteres Mädchen, und sie war so hübsch! Lange, dunkelblonde Haare, eine Figur wie ein Model und ein so schönes Gesicht. Und sie stand da mit Ian, und er schaute sie aufmerksam an!
Ich hatte das Gefühl, der Boden wird mir unter den Füssen weggezogen. Warum war Ian ganz allein mit dieser Saskia hier hinten?! Ja, warum wohl! Weil sie hundertmal hübscher ist als ich!
Ich drehte mich um und ging schnell zu den anderen zurück. Dabei wunderte ich mich, dass mir nicht die Tränen übers Gesicht liefen. Ich setzte mich wieder zu der Gruppe und gab den spöttischen Blick von Susi überlegen zurück. Als sich nachher Marco neben mich setzte, flirtete ich richtig mit ihm. Es half kein bisschen gegen den brennenden Schmerz in meinem Herzen. Dann rief Lena zum Grillieren auf. Marco schlug vor, auch meinen Cervelat mit zum Grill zu nehmen, und ich nahm sein Angebot an. Jetzt, da ich allein war, dachte ich wieder nur an Ian und Saskia und musste heftig blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Ich fühlte mich so elend!
Da spürte ich eine Bewegung hinter mir, und bevor ich den Kopf drehen konnte, fühlte ich eine Hand an meinem Kinn, und jemand drehte meinen Kopf sanft nach hinten.
«Hey, Alexa. Schön, dass du da bist!» Natürlich war es Ian!
Ich drehte mich ganz zu ihm um, schaute in die Augen, von denen ich seit drei Wochen träume, und wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte.
Bevor er noch etwas sagen konnte, rief jemand seinen Namen. Es war einer seiner Freunde von der Brücke, und er klang recht verärgert.
«Geh nicht weg!», sagte Ian, bevor er sich die Haare aus dem Gesicht strich und zu dem anderen ging.
Ich sass da und verstand gar nichts mehr. Was ging hier ab?
Ian stand etwas entfernt von mir und diskutierte mit dem Typen, der ihn gerufen hatte. Ab und zu schaute er zu mir, und jedes Mal, wenn sich unsere Blicke trafen, leuchteten seine Augen auf.
Und die schöne Saskia? Die sass etwas abseits und beobachtete uns, so schien es mir, belustigt. Plötzlich stand sie auf und kam direkt auf mich zu! Sie trug einen langen Hippie-Rock und war barfuss. Irgendwie passte sie nicht hierher.
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Was würde jetzt kommen?
Saskia setzte sich im Schneidersitz vor mich hin und sagte: «Hey, Alexa!»
«Hallo», stammelte ich.
«Ich glaube, ich muss dir etwas erklären», sagte sie mit einem amüsierten Lächeln. «Ich habe dich und deinen bestürzten Blick vorhin gesehen. Hinter dem Haus.»
«Und?», fragte ich und wagte fast nicht, sie anzusehen.
Sie lachte. «Und? Ich habe Ian gefragt, ob er eine Freundin habe, und da schien er nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte.» Sie zwinkerte mir zu.
Ich spürte, dass ich rot wurde, und senkte den Blick.
«Für dich hat es so ausgesehen, als wolle ich ihn dir wegnehmen, oder? Aber da brauchst du keine Angst zu haben.» Sie machte eine kleine Pause. «Ich bin seine grosse Schwester!»
Ich war baff. Seine Schwester? Sofort schaute ich auf und sah sie genauer an. Natürlich! Die blauen Augen, die dunkelblonden Haare, das hübsche Gesicht – dass mir das nicht sofort aufgefallen war! «Du siehst ihm ähnlich», stellte ich fest.
Sie schüttelte grinsend den Kopf. «Nein, er mir!»
Dann erzählte sie mir, dass sie während eines ganzen Jahres auf Weltreise gewesen und erst letzte Woche zurückgekommen war. «Jetzt ist mir langweilig, und als Ian von der Party hier erzählte, habe ich mich miteingeladen. Sind allerdings nicht ganz meine Leute, und so habe ich die Gelegenheit benutzt, ein wenig mit meinem Bruder zu quatschen. Da du noch nicht da warst, war es für ihn auch okay. Er ist sowieso nur wegen dir hier.» Sie redete weiter und erzählte mir von ihrer Reise, aber ich glaube, sie wusste genau, dass ich ihr nur mit halbem Ohr zuhörte. Ich dachte die ganze Zeit nur: Sie hat gesagt, Ian sei wegen mir hier!
Später gab es Streit auf der Party, weil Lenas Eltern verboten hatten, Alkohol zu trinken. Lena wollte keine Schwierigkeiten und bestand darauf, dass man sich an das Verbot hält, und einige fanden das doof. Ian setzte sich für Lena ein, und ich sah, dass seine Augen auch böse funkeln können, wenn er will. Schliesslich gingen ein paar, aber die meisten blieben. Wir assen und tranken und hörten Musik.
Ian sass die ganze Zeit neben mir. Irgendwann legte er mir einfach den Arm um die Hüfte, und ich lehnte mich an ihn. Ich sah, wie Saskia schmunzelte und Doris von einem Ohr zum anderen grinste, doch ich nahm alles nur verschwommen wahr. Das Einzige, was ich klar und deutlich wahrnahm, war Ian, der mich zu «Wind of Change» in den Arm nahm und küsste.
Er hat mich geküsst!
Ich bin tatsächlich Ians Freundin!
Alexas Augen leuchten, und auch ich lächle breit. Verträumt sagt sie: «Ich war mir von Beginn weg so sicher: Das war Liebe! Mit diesem Jungen wollte ich zusammen sein, zu ihm gehörte ich. Dabei wusste ich ja eigentlich gar nichts über ihn. Es hätte ein kurzer Sommerflirt werden können oder eine riesige Enttäuschung.»
Ich nicke. Auch ich zweifelte nicht daran, dass die beiden zusammengehörten.
«Es folgten herrliche Wochen!», fährt sie fort. «Wir hatten Ferien, und mir tat sich eine ganz neue
Welt auf. Doris war ans Meer gefahren, und ich traf mich fast täglich mit Ian, meistens bei der Brücke, wobei ich sorgfältig darauf achtete, dass man mich vom Häuschen aus nicht sehen konnte. Manchmal gingen wir ins Freibad, abends oft ins Pub im Dorf. Anfangs lieh ich mir von Lena passende Klamotten, später gab ich mein Erspartes für ein Jeans-Gilet und schwarze Doc Martens aus.»
Wir schmunzeln beide.
«Was hast du eigentlich Grossmama erzählt?», will ich wissen.
«Oh.» Alexa lächelt verlegen. «Offiziell war ich mit Lena unterwegs. Zuerst freute sich Grossmama, dass ich eine neue Freundin gefunden hatte.» Ihr Blick verdüstert sich. «Mit der Zeit wurde sie misstrauisch, und ich erfand immer neue Ausreden. Es ist nicht schön, wenn man wochenlang lügen muss.»
«Es ging auch nicht lange gut», erinnere ich mich.
«Doch, eigentlich ging es erstaunlich lange gut. Aber dann kam dieses letzte Wochenende, bevor die Schule wieder anfing.»
Ich nicke. Natürlich erinnere ich mich, was dann passierte.
Liebes Tagebuch
Ich sitze bei der Brücke und weiss nicht, was ich tun soll. Die anderen sind alle weg, Ian an irgendeinem Essen mit seiner Familie, der Rest der Clique im Pub. Ich fühle mich so mies!
«Alexandra, komm mal zu mir!», sagte Grossmama heute Nachmittag, als ich gerade dabei war, aus dem Haus zu gehen.
Sie sagt sonst immer Lexi, und ich wusste, wenn sie Alexandra sagt, gilt es ernst.
«Sorry, Grossmama, ich habe keine Zeit, ich muss los. Heute Abend, ja?», sagte ich, doch da tat Grossmama etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie stellte sich mir in den Weg!
Energisch stand sie unter der Haustür und hinderte mich am Hinausgehen.
Verblüfft schaute ich sie an, doch dann fasste ich mich. «Grossmama, lass mich gehen, ich habe mit – mit Lena abgemacht!»
«Ich habe gesagt, du sollst kommen, ich muss mit dir reden!», wiederholte sie hartnäckig.
«Ehrlich, ich muss jetzt los. Sie wartet auf mich.»
«Dann soll sie halt warten, das ist mir egal! Du kommst jetzt ins Wohnzimmer und …»
Ihre ruhige Bestimmtheit machte mich rasend. «Grossmama!» Ich schrie fast. «Ich will sie nicht warten lassen, ich muss jetzt gehen!»
«Ruf sie halt an und sag ihr, dass du später kommst. Dann muss sie nicht warten.»
«Anrufen? Ja, denkst du, an der Brücke hängt ein Telefon?»
«Brücke? Also doch …» Plötzlich wirkte Grossmama keine Spur mehr ruhig. Zitternd nahm sie meine Hand. «Lexi, Liebes, bitte! Ich muss mit dir reden, sonst … Du triffst dich wirklich mit den Jugendlichen von der Brücke? O Gott, wie sage ich das Regina?»
Der Name meiner Mutter war zu viel für mich. Plötzlich merkte ich, was ich überhaupt tat. Seit Wochen log ich Grossmama an! Tränenblind rannte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Und da liess ich meinen Tränen freien Lauf.
Ich weiss nicht, ob es fünf oder zwanzig Minuten später war, als Grossmama leise in mein Zimmer kam.
Als ich mich aufsetzte und sie anschaute, erschrak ich. Sie sah plötzlich viel älter aus als sonst. Doch ihre Stimme war so fest wie immer, als sie sagte:
«Meinst du nicht, es ist Zeit, mir nicht länger etwas vorzumachen? Du bist so anders geworden, Mädchen. Du sprichst kaum noch mit mir, erzählst mir nicht, was du gemacht hast. Lexi, wann haben wir das letzte Mal zusammen etwas unternommen?»
Ich schluckte, sagte aber nichts.
Grossmama seufzte. «Ich weiss, dass solche Veränderungen zu deinem Alter gehören, aber es ist nicht nur das. Es ist wegen deinen neuen Freunden. Sie haben einen schlechten Einfluss auf dich.»
Ich wollte protestieren, ihr sagen, wie glücklich ich mit Ian bin, aber sie schüttelte den Kopf und redete weiter:
«Zuerst wollte ich nichts sagen. Es gefällt mir nicht, wie du dich anziehst und wie oft du weg bist, aber ich hätte es geduldet. Doch gestern – gestern hat es in diesem Zimmer nach Rauch gerochen, und du hattest keinen Besuch. Alexandra, du hast angefangen zu rauchen! Das kann ich nicht verantworten vor Regina und Bruno!»
Ach, liebes Tagebuch, ich weiss nicht, was für ein Teufel mich geritten hat, dass ich nicht einfach genickt und geschwiegen habe. Aber ich bin aufgestanden und habe schnippisch gesagt: «Na und? Weisst du, wer alles raucht? Doch wohl das halbe Dorf!»
«Und das ist für dich ein Grund, es auch zu tun? So denkst du doch nicht, Alexandra!»
«Vielleicht eben doch. Kümmere dich einfach nicht darum, ich weiss schon, was ich tue!» Als sie nichts erwiderte, bin ich aufgestanden, habe mein Jeans-Gilet genommen und bin aus dem Zimmer gestürmt. Grossmama hat geweint, ich habe es genau gehört, aber ich lief, so schnell ich konnte, die Treppe hinunter, bevor meine Nerven wieder rissen. Mein Herz tat so weh!
«Endlich, Alexa! Noch zwei Minuten, und ich wäre gekommen, um dich aus den Klauen deiner Grossmutter zu befreien!» Ian kam auf mich zu und stutzte. «Weinst du? Was ist denn los?»
Ich sass auf meinem Mofa, und die Tränen liefen nur so über mein Gesicht.
Ohne etwas zu sagen, nahm Ian mich in den Arm und drückte mich fest an sich.
Zum Glück waren wir allein bei der Brücke. Die anderen hatten wohl die Geduld verloren und waren irgendwohin verschwunden. Doch Ian hatte auf mich gewartet! Plötzlich war dieses schöne Gefühl stärker als der Schmerz in mir. Ich schaute auf.
Er strich mir die Haare hinter die Ohren, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mir die Tränen von den Wangen.
Ich konnte nicht anders, als ihn anzulächeln.
Da liess er mich los, setzte sich aufs Brückengeländer und schaute mich erwartungsvoll an. «Und? Was ist passiert?»
Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Oder etwas abschwächen? Nein, ich war schon zu Grossmama unehrlich gewesen, mit Ian wollte ich ehrlich sein! «Ich habe Krach mit Grossmama.»
Er hob die Augenbrauen. «Ich denke, das hast du, seit wir zusammen sind?»
Ich schaute zu Boden. Wie oft habe ich hier bei der Brücke über Grossmama geschimpft, über ihre veralteten Ansichten, ihre sturen Regeln! «Ach, weisst du, das war mehr indirekt. Aber heute – heute hat sie mich knallhart darauf angesprochen. Dass ich mich verändert habe, dass ich rauche …»
«Und du?»
«Ich? Ich war stinkfrech und …» Ich brach ab, weil ich nicht schon wieder heulen wollte.
Ian schaute mich mit einem schwer zu deutendem Gesichtsausdruck an. «Alexa, liebst du deine Grossmutter?»
Ich war ganz erstaunt. «Ob ich Grossmama liebe? Natürlich, so fest, wie man eine Grossmutter nur lieben kann!»
«Ach ja? Davon habe ich noch nicht viel gemerkt.»
Ich schaute in seine Augen und wusste, dass ich ihm die Wahrheit sagen konnte. «Ach, Ian, ich glaube, ich habe mich verstellt. Ich …» Ich bin gar nicht so cool, wie ich tue, wollte ich sagen, aber in diesem Moment kamen die anderen zurück.
«Hey, Alexa, da bist du ja!», rief Lena. «Hat Omi dich zum Abwaschen gezwungen? Hier, wir haben Essen geholt!»
Ich schaute von Lena zu Ian. «Wir reden später weiter», sagte er leise, und seine Augen waren bei diesen Worten noch schöner als sonst.
Doch dann musste er früher gehen, eben an dieses Familienessen. «Wenn ich dich wäre, würde ich heute Nacht woanders pennen», sagte er, bevor er ging. «Dann sorgt sich deine Grossmutter so, dass morgen alles wieder gut ist.»
Lena bot mir sofort an, dass ich bei ihr schlafen könne, aber ich habe noch nicht zugesagt. Sie sind dann alle losgezogen, ins Pub. Ich habe mich ins Häuschen geschlichen und das Tagebuch geholt. Und jetzt sitze ich hier und weiss nicht, was ich machen soll. Zu Grossmama gehen und mich entschuldigen? Oder ins Pub gehen und Lenas Angebot annehmen?
Anne Skogstad schaute aus den grossen Fenstern des Luxusrestaurants hoch über dem Zürichsee, in dem ihr Mann Magnus und sein Bruder ihr Firmenjubiläum feierten. Versonnen betrachtete sie ihre drei Kinder, die nebeneinander auf der Terrasse standen. Sie repräsentierten die junge Generation Skogstad und erfüllten diese Rolle auf nahezu perfekte Weise. Marit, die Älteste, hatte gerade die ersten Prüfungen ihres Wirtschaftsstudiums mit Bravour bestanden. Saskia, die Mittlere, war nach einem Zwischenjahr, das sie mit ihrem Freund um die halbe Welt geführt hatte, wieder zu Hause und würde in wenigen Wochen mit dem Studium von Grafikdesign beginnen. Und Ian … «Er stösst sich wohl gerade die Hörner ab», hatte Magnus’ Finanzchef früher am Abend mit einem Augenzwinkern gesagt. Als seine Frau Annes gequältes Lächeln bemerkt hatte, hatte sie tröstend hinzugefügt: «Rebellion gehört zu diesem Alter, Anne!» Anne war dankbar, dass sie einfach den rebellierenden Jugendlichen in Ian sahen und seine abweisende Haltung nicht weiter hinterfragten. Überhaupt schauten Magnus’ Geschäftspartner und ihre Frauen mit viel Wohlwollen auf die drei grossgewachsenen, attraktiven Skogstad-Kinder, und Anne hatte den ganzen Abend nichts als Komplimente gehört. Sie zwang sich zu einem weiteren Lächeln, bevor sie sich wieder ihren Gästen zuwandte.
«Ich haue ab», sagte Ian und drückte seine Zigarette am Geländer aus.
«Das tust du nicht!» Marit sah ihn streng an. Seine älteste Schwester mimte die Business-Lady, trug einen Nadelstreifenanzug und hatte ihre langen, blonden Haare zu einem Knoten aufgesteckt.
Ian fand, dass sie lächerlich aussah, und dennoch konnte er sich der Autorität, die sie ausstrahlte, nicht ganz entziehen.
«Ach, komm.» Saskia lehnte sich an ihn und drückte ihm ein Glas Weisswein in die Hand. «Lass uns doch einfach das Beste daraus machen.»
«Und was könnte das sein?», fragte er gereizt.
«Freier Zugang zu Alkohol zum Beispiel», grinste sie. «Wir schädigen Magnus und Erik, so gut wir können.» Sie schaute ihn auffordernd an.
Er zuckte die Schultern und leerte das Glas in einem Zug. Es fühlte sich tatsächlich gut an.
«Du bist so kindisch», tadelte Marit ihre Schwester und wandte sich dann an Ian: «Es ist wichtig, dass unsere Gäste heute Abend den Eindruck einer geeinten Firmenleitung bekommen, und da gehören wir dazu!»
Ian schaute sie verständnislos an. Marit war es doch, die den Onkel aus Norwegen am wenigsten leiden konnte! Seinetwegen hatten sie damals in die Schweiz ziehen müssen, so erzählte sie, die sich als einzige der Geschwister daran erinnern konnte. Die beiden Brüder hatten sich gestritten, Magnus war mit seiner Familie weggezogen und hatte in der Schweiz eine erfolgreiche Niederlassung aufgebaut. Im Namen der Firma tat man so, als wäre alles in Ordnung, aber Ian, Saskia und Marit gingen ihren norwegischen Verwandten, wenn immer möglich, aus dem Weg.
«Es ist so lächerlich!», brauste Saskia auf. «Warum führt Pappa diesen Scheiss-Eiertanz auf, statt Erik einfach in Norwegen sitzen zu lassen?»
«Weil die Firma beiden gehört, das weisst du genau. Und bei ganz wenigen Anlässen müssen sie eben gemeinsam auftreten», antwortete Marit ungeduldig.
«Und du bald mit ihnen», stichelte Saskia.