Die Angst des Psychiaters vor der Nähe - Hans Welsch - E-Book

Die Angst des Psychiaters vor der Nähe E-Book

Hans Welsch

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Beschreibung

Die Angst des Psychiaters vor der Nähe ist eine Sammlung literarischer Miniaturen, in denen der Autor seine langjährigen Erfahrungen als psychiatrischer Sachverständiger verarbeitet hat. An die Stelle der distanzierten Betrachtung tritt die zuweilen schwer auszuhaltende Nähe der unmittelbaren Begegnung mit der Welt des Kranken und seinem Eigensinn und damit nicht nur seinem Leid, sondern auch der schöpferischen Kraft, die berührt und bewegt. Das Buch wendet sich nicht nur an ein literarisch interessiertes Fachpublikum, sondern an alle, die sich ihre Neugier für das scheinbar Fremde bewahrt haben.

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INHALT

ENDMORÄNE

YOU SHALL NOT PASS!

SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN

ERSCHÖPFUNGSGESCHICHTE

DIE GEOMETRIE DER ANGST

ICH BIN NICHT DIESE FRAU

FAMILIE MACHT FREI

TODFREUND

CORONA IST EIN BÖSER MANN

EIN HAUCH VON SICHERHEIT

IRIS IST THAI

9–11

OSTMEER

Leichter ist es Menschen zu finden, die freiwillig in den Tod gehen, als solche, die mit Geduld Schmerzen ertragen.

Gaius Julius Caesar

Der Diener, ein bisschen dumm: Er schippt auch den Schnee Des Nachbarn.

Kobayashi Issa

ENDMORÄNE

Als es in der Wohnung regnete und die Fremden kamen, wich die Gletscherzunge zurück und legte die Angst frei.

Selbst ihre Drohung, sich aus der sechsten Etage zu stürzen, vermochte die alte Ordnung nicht wiederherzustellen. Auch wenn die dem in die Jahre gekommenen Ehepaar allzu viel abverlangt hatte, klammerten sich Herr und Frau B. daran, jeder auf seine Weise.

Er, der die Sprache und die Lyrik liebte, sich aber doch als Beamter der Kontrolle nachgeordneter Bereiche verschrieben hatte, begann einst, in jedem Stück Papier einen Schatz zu sehen. Sein Hort, erst im Ministerialbüro, wuchs beständig und man scherzte, nur noch sein Kopf rage heraus. Mit dem Dienst endete seine Pflicht nicht. In der ehelichen Wohnung, stets ohne Kinderzimmer geblieben, war Expansion naheliegend. Stapel aus alten Dokumenten, Zeitungen, Büchern und anderen Sammlerstücken eroberten allmählich den Raum. Wo der gemeine Messie übelriechenden Unrat produziert, platzierte Herr B. sogar nach einem geheimen Muster Umschläge mit Geldscheinen zwischen all dem Papier und unterstrich so auch noch für Begriffsstutzige den Wert seiner Sammlung.

Sie, die die Flucht aus Ostpreußen am eigenen Leibe erlebt hat und für die Eiszeiten vielleicht deshalb so vertraut sind, will erst nicht gesehen haben, was da auf sie zukommt. Sie berichtet, eine Augen–Operation habe ihr dieselben erst geöffnet. Weniger die alternde Linse als vielmehr die Angst dürfte ihr den Blick getrübt haben. Als er vor Jahren nach einem harmlosen Routine–Eingriff wieder ins Leben zurückgeholt werden musste und für einen qualvoll langen Augenblick wie »aufgebahrt« dalag, hatte ihr schon der Hörsinn für eine Weile den Dienst versagt.

»Hauptsache, er ist noch da«, sagt sie heute und meint die Demenz, die sie mittlerweile bei ihm entdeckt haben will. Sie beißt wieder die Zähne zusammen und erträgt, wie er seine Versprechen immer wieder zu vergessen scheint und die Gletscher weiter vorrücken lässt, Blatt um Blatt.

Erst der Zufall in Gestalt eines Wasserschadens in der darüberliegenden Wohnung verstört nach Jahren die eingespielten Rituale, mit denen sich das Paar immer wieder auf die Zukunft vertröstet hat, die jetzt, wo beide Mitte 80 sind, allmählich rar wird. Da das Wasser der Schwerkraft folgt, die sich nicht besänftigen lässt, rücken bald die ersten Störer an, wollen Trocknungsgeräte aufstellen, für die sich kein Platz findet. Praktische Fragen weichen grundsätzlichen, als die Statik des Hauses nicht mehr sicher scheint. Dabei ging es doch immer nur um die Tragfähigkeit der Beziehung. Die wirkt überfordert, hilflos, zur Anpassung nicht bereit. Zweifel an den geistigen Fähigkeiten werden laut und so kommt es zum unerwünschten Besuch des Psychiaters. Der findet nur noch wenig Spielräume. Ernst wird es schon bei der Suche nach einem Ort für ein Gespräch mit Herrn B., der nun vom Wächter zum Patienten degradiert wurde. Das Bad bietet den Toilettendeckel für den Gast und den Badewannenrand für den gelenkigen Betagten. Der wirkt in sich versunken, oft wie abwesend, zieht Fäden vom Putzlumpen, wenn die Spannung zu hoch wird. Erwacht aber zum Leben, wenn der Gutachter alleine mit seiner Frau sprechen will.

Vorher geht es aber noch ins eheliche Schlafzimmer, wo eine bibliophile Spielart der Berliner Mauer die Lager teilt. Immerhin kann man überhaupt noch liegen. Schließlich führen schmale Pfade am Grund der tief eingeschnittenen Täler vorbei am Wohnzimmer, das längst kein Ort der Begegnung mehr ist, zur Küche, dem letzten Refugium der Frau. Die Gletscherzunge reicht allerdings schon bis in deren Herz. Der Besucher stellt sich vor, welche Dramen sich an der Grenzlinie schon abgespielt haben mögen.

Sie wirkt aktiver als ihr Mann, schämt sich fürchterlich und klagt über ihn. Aber lieber will sie springen, als irgendetwas zwischen sich und ihren Mann kommen zu lassen.

Er lauscht derweil an der Tür, was sein »Mädchen« sagt. Sie hat seine Demenz als Entschuldigung entdeckt – auch für seinen »Kinderkram«.

So nennt sie seine »Collagen«, die dort auftauchen, wo das Eis auffasert und das über sie gekommene Tauwetter dem alten Wachstumstrieb entgegensteht.

Hier erscheinen die Gesichter. Er hat begonnen, wie im Akkord aus Zeitschriften Gesichter auszuschneiden. Jedes nicht viel größer als der Nagel eines Daumens. Hier liegt reich neben arm und Wiederholung ist Trumpf. Es müssen mittlerweile hunderte sein.

Die Kopfarmeen wurden ausgeschickt, alle freien Flächen der Küche zu besetzen.

Einige marschieren schon im strengen Raster, andere wirken eher wie zusammengewürfelte Söldnerhaufen.

Eines ist aber allen gemein: Sie starren unentwegt Frau B. an. So ist sie nie allein.

YOU SHALL NOT PASS!

Gandalfs beschwörende Worte gegenüber dem riesigen Dämonen, kurz bevor er mit ihm in die endlose Tiefe stürzt. Heute kann ich mir einen kultivierten Vergleich leisten. Damals habe ich nur noch Angst.

Ich stehe vor der kettenbewehrten Tür, kann aber nicht passieren, weil Herr W. mich nicht hinaus lässt. Mir schon wieder droht. Und ein Rätsel aufgibt. Er zeigt mir das Foto eines Jungen, den ich nicht kenne. Wer das sei? Meine Antwort genügt ihm nicht. Neben das erste legt er ein zweites Bild. Noch ein Junge. Derselbe? Ich sehe viel Ähnlichkeit und sage das auch. Noch mehr Ärger bei W. Ich darf nicht passieren.

Wie bin ich in diese Situation geraten? Ich habe die Grenze überschritten. Mein Pflichtbewusstsein muss mich taub und blind gemacht haben. Ich hätte die Wohnung dieses Mannes erst gar nicht betreten dürfen. Jetzt bekomme ich die Quittung dafür. Ich bin eingeschlossen in der Wohnung eines Verrückten, der vor einigen Minuten noch in einem Nebensatz platziert hat, dass er mich am liebsten umbringen würde. Dass er noch nachgeschoben hat, das dürfe er ja aber nicht, hat mich nicht wirklich beruhigt. Wer würde schon auf den kühlen Kopf eines Mannes vertrauen, der es liebt, wenn seine Nase verklebt ist. Der durch eine Stifthülse ein weißes Pulver von seinem Tisch inhaliert, dass sich als Milchzucker statt Kokain entpuppt.

Ich stelle mir vor, wie meine Leiche mit dem ganzen Unrat eins wird, den zu umgehen schon kaum mehr möglich ist. Heraus ragen die zahllosen Milchtüten, leer und achtlos auf den Boden geworfen. Der Kerl hat echt einen Milch–Tick. Vornehme Deutungen haben aber jetzt keinen Raum mehr. Sie würden wohl in Richtung der Mutter weisen. Die tritt aber persönlich nicht in Erscheinung. Vielleicht sehe ich deshalb auch nichts, als mir W. sogar eine Taschenlampe reicht, damit ich endlich »sein Problem sehen« kann, welches er ganz konkret in der Zimmerecke verortet, wo ich – abgesehen von mehr übelriechenden Milchtüten – aber nichts ausmachen kann. Wieder falsch. Dieser Gedanke schwingt sich zum Alleinherrscher auf. Weil ich in den Augen von W. eben alles falsch mache, wohl auch falsch machen muss. Weil ich es nicht richtig machen kann. Ich erst angeblafft werde, weil ich mir