Die Arroganz der Macht - J. William Fulbright - E-Book

Die Arroganz der Macht E-Book

J. William Fulbright

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Beschreibung

Nach den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Vierteln von Newark, Detroit und anderen Städten der USA faßte Fulbright Anfang August 1967 in einer Rede vor der amerikanischen Anwaltsvereinigung in Honolulu seine Kritik an der Innen- und Außenpolitik der USA zusammen in dem Urteil, die Vereinigten Staaten «übten Macht um der Macht willen» aus und sie seien auf dem Wege, «eine imperialistische Nation zu werden». Der Illusion, Amerika könne in Vietnam Krieg führen und zugleich Armut und Rechtsungleichheit im eigenen Lande wirksam bekämpfen, hielt der Senator die Diagnose entgegen, die USA seien im Begriff, den Krieg an beiden Fronten zu verlieren, denn: «Der Vietnamkrieg zehrt nicht nur an den menschlichen und materiellen Grundlagen unserer schwelenden Städte, er nährt nicht nur in den Slums die Überzeugung, daß das Land ihrer Lage gleichgültig gegenüberstehe. Der Krieg bestärkt immer mehr die Vorstellung, daß die Gewalt ein Weg zur Lösung von Problemen sei.»

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J. William Fulbright

Die Arroganz der Macht

Aus dem Englischen von Reinhold Neumann-Hoditz

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nach den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Vierteln von Newark, Detroit und anderen Städten der USA faßte Fulbright Anfang August 1967 in einer Rede vor der amerikanischen Anwaltsvereinigung in Honolulu seine Kritik an der Innen- und Außenpolitik der USA zusammen in dem Urteil, die Vereinigten Staaten «übten Macht um der Macht willen» aus und sie seien auf dem Wege, «eine imperialistische Nation zu werden». Der Illusion, Amerika könne in Vietnam Krieg führen und zugleich Armut und Rechtsungleichheit im eigenen Lande wirksam bekämpfen, hielt der Senator die Diagnose entgegen, die USA seien im Begriff, den Krieg an beiden Fronten zu verlieren, denn: «Der Vietnamkrieg zehrt nicht nur an den menschlichen und materiellen Grundlagen unserer schwelenden Städte, er nährt nicht nur in den Slums die Überzeugung, daß das Land ihrer Lage gleichgültig gegenüberstehe. Der Krieg bestärkt immer mehr die Vorstellung, daß die Gewalt ein Weg zur Lösung von Problemen sei.»

Über J. William Fulbright

James William Fulbright (1905–1995) war ein US-amerikanischer Politiker der Demokratischen Partei.

Inhaltsübersicht

DanksagungEinleitungDas Machtstreben der NationenDie Harmlosen im AuslandDer verhängnisvolle ZusammenprallAmerikanisches Empire oder amerikanisches Vorbild?Teil I Der bessere Patriotismus1 Bürger und Universität2 Senat und SenatorTeil II Revolution außerhalb der Grenzen3 Amerika und die Revolution4 Revolution in Lateinamerika5 Die vietnamesische Revolution6 Die «Schaden-Streuung» des Vietnamkrieges7 Die chinesische RevolutionTeil III Aussöhnung feindlicher Welten8 Die menschliche Natur und die internationalen Beziehungen9 Der Weg zum Frieden in Asien10 Neuer Brückenschlag11 Ein neues Konzept für die AuslandshilfeFazitDie beiden AmerikasHumanismus und PuritanismusEine Idee, an die sich die Menschheit halten kann

Danksagung

Vielen meiner Senatskollegen und vielen Mitgliedern des Außenpolitischen Ausschusses des Senats bin ich zu Dank verpflichtet für ihre Geduld und ihr Verständnis bei zahllosen Diskussionen über die Gedanken und Pläne, die in diesem Buch dargelegt werden. Sehr viel verdanke ich auch den Publizisten und Journalisten, die über die hier erörterten Probleme und Ereignisse detailliert und objektiv berichtet haben. Außerdem habe ich eine Menge profitiert von den Ausführungen der Experten, der Regierungsmitglieder, der Wissenschaftler, der ehemals führenden Militärs und Diplomaten, die vor dem Außenpolitischen Ausschuß des Senats ausgesagt haben. Sie alle haben mir Tatsachen und Meinungen vermittelt, für die ich dankbar bin, obgleich ich natürlich keinen von ihnen für meine eigenen hier vorgelegten Schlußfolgerungen verantwortlich mache.

Dem Institut für Fortgeschrittene Internationale Studien der John Hopkins University und seinem hervorragenden Dekan Dr. Francis Wilcox danke ich dafür, daß ich die Christian A. Herter Lectures halten konnte, die einen Bestandteil dieses Buches ausmachen.

Insbesondere bin ich Dr. Seth Tillman für seine Freundschaft, seinen klugen Rat und seine Unterstützung verbunden.

Zum Schluß bin ich Peggy Brown ein Wort der Anerkennung schuldig, denn sie hat das Manuskript geschrieben und umgeschrieben und die Vorträge und Notizen redigiert, die in diesem Buch verarbeitet sind.

Einleitung

Die Vereinigten Staaten sind die glücklichste aller Nationen – glücklich, weil sie ein reiches Land sind und weil sie ein Jahrhundert lang in relativem Frieden gelebt haben, in dem sie ihr Land entwickeln konnten, glücklich auch wegen der so verschiedenartigen und begabten Bevölkerung, wegen der von den «Vätern» begründeten demokratischen Einrichtungen und wegen der Einsicht derer, die diese Einrichtungen einer sich ändernden Welt angepaßt haben.

Zum größten Teil hat Amerika seine Gaben gut genutzt. Das gilt besonders für seine innere Verfassung, aber auch für seine Beziehungen zu den anderen Nationen. Die USA haben viel geleistet und viel erreicht. Nun sind sie an dem Punkt angelangt, wo eine große Nation Gefahr läuft, den Überblick zu verlieren, was noch im Bereich ihrer Macht und was jenseits dieses Bereiches liegt. Andere große Nationen, die an diesem kritischen Punkt zuviel angestrebt haben, sind an ihrer Überanstrengung gescheitert und untergegangen.

Die Ursachen des Übels sind nicht eindeutig, aber sein wiederholtes Auftreten gehört zu den gleichförmigen Erscheinungen der Geschichte: Macht neigt dazu, sich mit Tugend zu verwechseln, und eine große Nation ist besonders empfänglich für die Vorstellung, daß ihre Macht ein Beweis für die Gunst Gottes sei, die ihr eine besondere Verantwortung für andere Nationen auferlegt – die Aufgabe, andere reicher, glücklicher und vernünftiger zu machen und sie nach dem eigenen strahlenden Vorbild umzugestalten. Macht verwechselt sich mit Tugend und neigt auch dazu, sich für allmächtig zu halten. Erfüllt von ihrer Mission, glaubt eine große Nation leicht, sie habe nicht nur die Pflicht, sondern auch die Möglichkeiten, den Willen Gottes zu tun. Gott werde doch gewiß nicht seinem auserwählten Bevollmächtigten das Schwert verweigern. Die deutschen Soldaten trugen im Ersten Weltkrieg Koppelschlösser mit der Aufschrift «Gott mit uns». Eine ähnliche Form der Anmaßung – ein übersteigertes Machtgefühl und ein imaginäres Missionsbewußtsein – ließ die Athener Syrakus angreifen und Napoleon und später Hitler Rußland überfällen. Mit anderen Worten: Sie verloren das Maß und kamen zu Fall.

Ich glaube nicht einen Augenblick, daß sich die USA mit ihren tief verwurzelten demokratischen Traditionen ähnlich wie Hitler und Napoleon auf einen Feldzug einlassen könnten mit dem Ziel, die Welt zu beherrschen. Ich befürchte aber, daß wir uns Verpflichtungen aufladen könnten, die, so großzügig und gut sie gemeint sind, doch so weit führen, daß sie selbst die großen Möglichkeiten der USA übersteigen. Gleichzeitig hoffe ich – und ich betone dies, weil diese Hoffnung meinen kritischen Anmerkungen und Vorschlägen in diesem Buch zugrunde liegt –, daß die Vereinigten Staaten niemals der verhängnisvollen Versuchung der Macht erliegen, die andere große Nationen zugrunde gerichtet hat, und daß sie sich statt dessen darauf beschränken werden, nur Gutes zu tun, wo sie wirklich dazu imstande sind, und zwar sowohl durch direkte Bemühung als auch durch die Kraft des eigenen Beispiels.

Der Einsatz ist in der Tat hoch: er schließt nicht nur die fortdauernde Größe Amerikas ein, sondern darüber hinaus das Fortbestehen des menschlichen Lebens in einem Zeitalter, das zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit einer Generation die Macht gibt, über den Bestand der folgenden zu entscheiden.

Das Machtstreben der Nationen

Wenn die Abstraktionen und Subtilitäten der politischen Wissenschaft erschöpft sind, bleiben die unbeantworteten Grundfragen nach Krieg und Frieden: warum Nationen gerade um die Dinge streiten, um die sie streiten, und warum sie sich mit diesen Dingen überhaupt beschäftigen. Aldous Huxley hat gesagt:

«Es kann Argumente dafür oder dagegen geben, auf welche Weise Weizen im kalten Klima am besten gedeiht oder wie ein von Erosion kahlgefressener Berg aufgeforstet werden kann. Aber solche Argumente führen niemals zu einer organisierten Schlächterei. Eine organisierte Schlächterei ist jedoch das Ergebnis von Argumenten zu solchen Fragen wie den folgenden: Welches ist die beste Nation? Die beste Religion? Die beste politische Theorie? Die beste Regierungsform? Warum sind andere Völker so dumm und so böse? Warum können sie nicht erkennen, wie gut und intelligent wir sind? Warum widersetzen sie sich unseren gutgemeinten Anstrengungen, sie unter unsere Kontrolle zu bringen und sie so zu machen, wie wir selbst sind?»[1][*]

Viele der Kriege, die Menschen geführt haben – und ich bin versucht zu sagen: die meisten –, sind um solcher Abstraktionen willen geführt worden. Je länger ich über die großen Kriege der Geschichte nachdenke, desto mehr neige ich zu der Ansicht, daß die ihnen zugeschriebenen Ursachen – Gebietsansprüche, Märkte, Hilfsquellen jeder Art, die Verteidigung oder die Verewigung großer Prinzipien – keineswegs die eigentlichen Ursachen, sondern eher Erklärungen oder Entschuldigungen für gewisse unergründliche Triebkräfte der menschlichen Natur gewesen sind. Weil nicht klar und präzise definierbar ist, was diese Motive sind, nenne ich sie die «Arroganz der Macht» – ein psychisches Bedürfnis, das die Nationen offenbar haben, um zu beweisen, daß sie größer, besser oder stärker als andere sind. Zu diesem Streben gehört auch bei normalerweise friedlichen Nationen die Annahme, daß Gewalt der letzte Beweis der Überlegenheit ist, daß eine Nation, die zeigt, daß sie über die stärkere Armee verfügt, damit auch beweist, daß sie das bessere Volk, die besseren Einrichtungen, die besseren Grundsätze und, allgemein, die bessere Zivilisation hat.

Der Beweis für meine These liegt in der bemerkenswerten Diskrepanz zwischen den offenkundigen und den verborgenen Ursachen einiger moderner Kriege und der Diskrepanz zwischen ihren Ursachen und den letzten Konsequenzen.

Der äußere Anlaß für den französisch-preußischen Krieg von 1870 zum Beispiel war der Streit um die spanische Thronfolge und die scheinbar «tieferliegende» Ursache der Widerstand der Franzosen gegen die Einigung Deutschlands. Durch den Krieg wurde die deutsche Einigung vollendet – die wahrscheinlich auch ohne Krieg hätte erreicht werden können –, aber der Krieg brachte für Frankreich den Verlust von Elsaß-Lothringen und die Demütigung, für Deutschland den Aufstieg zur größten Macht in Europa, der ohne Krieg nicht denkbar gewesen wäre. Von der spanischen Thronfolge war, nebenbei gesagt, im Friedensvertrag keine Rede mehr, jedermann hatte sie vergessen. Man fragt sich, inwieweit die Deutschen ganz einfach von dem Wunsch geleitet wurden, diese hochmütigen Franzosen zur Räson zu bringen und eine gute Entschuldigung dafür suchten, in Berlin ein neues Denkmal zu errichten.

Die Vereinigten Staaten traten 1898 in den Krieg ein mit der Begründung, daß sie Kuba von der spanischen Tyrannei befreien wollten. Aber nachdem sie den Krieg gewonnen hatten – einen Krieg, den Spanien um einen hohen Preis vermeiden wollte –, unterstellten die USA die befreiten Kubaner ihrem Protektorat und annektierten nebenbei die Philippinen, weil, wie Präsident McKinley es ausdrückte, der Herr ihm mitgeteilt hatte, es sei die Pflicht der USA, «die Filipinos zu erziehen, emporzuheben, zu zivilisieren und zu christianisieren und durch Gottes Gnade mit ihnen als unseren Nächsten, für die Christus auch gestorben ist, das Beste zu tun, das wir können»[2].

Ist es nicht interessant, daß diese Stimme diejenige Gottes war, daß die Worte aber die von Theodore Roosevelt, Henry Cabot Lodge und Admiral Mahan waren, jenen «Imperialisten von 1898», die wollten, daß die Vereinigten Staaten ein Empire haben, nur weil ein großes und mächtiges Land wie die USA eben ein Empire haben müßte? Albert Beveridge, der bald danach in den US-Senat gewählt wurde, hat dem Geist jener Zeit Ausdruck gegeben und proklamiert, die Amerikaner seien eine «erobernde Rasse». «Wir müssen unserem Blut gehorchen und neue Märkte und wenn nötig neue Gebiete in Besitz nehmen», sagte er, denn: «Nach dem unendlichen Plan des Allmächtigen» müssen «niedergegangene Zivilisationen und verfaulende Rassen zugunsten der höheren Zivilisation des edleren und männlicheren Menschentyps» verschwinden.[3]

1914 trat ganz Europa in den Krieg ein – scheinbar, weil der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet worden war, aber in Wirklichkeit, weil dieser Mord nur der Brennpunkt für die unglaublich heiklen Empfindlichkeiten der europäischen Großmächte geworden war. Die Ereignisse vom Sommer 1914 waren das Trauerspiel einer anomalen Gemütsverfassung: Österreich mußte Serbien demütigen, damit es selbst nicht gedemütigt würde, aber durch die Bemühungen Österreichs, seine Selbstachtung wiederzuerlangen, wurde Rußland zutiefst gedemütigt. Rußland war mit Frankreich verbündet, das sich seit 1871 überhaupt gedemütigt fühlte. Österreich seinerseits war der Bundesgenosse Deutschlands, dessen Stolz verlangte, Österreich zu unterstützen – wie wahnwitzig sich Wien auch benahm. Jedenfalls mag Deutschland es spaßig gefunden haben, seine Armee einmal mehr in die Champs-Élysées einschwenken zu lassen. Aus diesen edlen Gründen wurde die Welt in einen Krieg gestürzt, der viele Millionen Menschenleben kostete, die russische Revolution von 1917 heraufbeschwor und jene Ereignisse in Gang setzte, die zu einem neuen Weltkrieg führten, zu einem Krieg, der wieder einige Dutzend Millionen Menschenleben forderte und die weltweiten Revolutionen unserer Zeit auslöste, Revolutionen, deren Folgen wir alle, die wir heute leben, nicht vorhersehen können.

Die Ursachen und Folgen eines Krieges haben sicher mehr mit Pathologie als mit Politik und mehr mit dem irrationalen Drang von Stolz und Schmerz als mit der rationalen Erwägung von Vorteil und Profit zu tun. In Washington erzählt man sich die nicht verbürgte Geschichte, daß die militärischen Sachverständigen des Pentagon einen Versuch anstellten: Sie fütterten einen Computer mit Daten der Ereignisse des Sommers 1914. Nachdem die Maschine das Beweismaterial sortiert und verarbeitet hatte, versicherte sie ihren Auftraggebern, daß keine Kriegsgefahr bestand. Wenn damit überhaupt etwas «bewiesen» wurde, dann, daß Computer rationaler als Menschen sind; aber es geht daraus auch hervor, daß – wenn überhaupt – die eigentliche Ursache für menschliche Konflikte und für das Streben der Nationen nach Macht nicht in wirtschaftlichen Bestrebungen, historischen Kräften oder im Wirken des Gleichgewichts der Kräfte, sondern in den gewöhnlichen Hoffnungen und Befürchtungen des menschlichen Geistes liegt.

Man hat gesagt, daß im Seelengrund jeder Frau ein Tambourmajor verborgen ist; man kann auch sagen, daß in unserer aller Seelen ein Stückchen Missionar verborgen ist. Wir alle sagen den Leuten gern, was sie tun sollen. Daran ist gar nichts auszusetzen, nur haben es die meisten Menschen nicht gern, wenn man ihnen sagt, was sie tun sollen. Ich habe meiner Frau schon eine ganze Reihe glänzender Vorschläge für die Haushaltsführung unterbreitet, aber sie hat sich für meine Ratschläge so anhaltend undankbar erwiesen, daß ich es aufgegeben habe, ihr weitere zu erteilen. Der kanadische Psychiater und ehemalige Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Brock Chisholm, hat dieses Phänomen so erklärt:

«… Wollten sie mit Schwierigkeiten fertig werden, so war es in der Vergangenheit stets die Methode der Menschen, allen anderen zu sagen, wie sie sich benehmen sollten. So haben wir alle es jahrhundertelang gehalten.

Es sollte aber bis heute klargeworden sein, daß uns dies nicht länger weiterhilft. Bis zum heutigen Tag hat jeder jedem gesagt, wie er sich verhalten soll … Diese Kritik ist nicht wirkungsvoll, sie ist es nie gewesen und sie wird es niemals sein …»[4]

Obwohl sie fruchtlos gewesen sind, waren alle diese unerbetenen Ratschläge – und ihre Befolgung – doch wenigstens bis vor kurzem mit dem Überleben der menschlichen Rasse zu vereinen. Heute ist der Mensch jedoch zum erstenmal in einer Situation, in der das Überleben seiner Gattung in Gefahr ist. Andere Formen des Lebens sind gefährdet gewesen und viele wurden durch Veränderungen ihrer natürlichen Umwelt zerstört. Der Mensch ist bedroht von einer Veränderung seiner Umwelt, die er selbst mit der Erfindung der Kernwaffen und der Fernlenkgeschosse eingeleitet hat Unsere Macht, zu töten, ist universell geworden und sie schafft eine völlig neue Situation. Sie verlangt von uns um des Überlebens willen eine vollkommen neue Haltung, wenn es darum geht, Ratschläge zu geben und zu befolgen, und ganz allgemein ein völlig anderes Verhalten in den menschlichen und internationalen Beziehungen. Je häufiger man auf die Größe der Gefahr hinweist, daß unsere Gattung ausgelöscht wird, desto weniger wird sie als bedrohlich empfunden – so als ob die gewohnte Drohung einer Katastrophe überhaupt keine Drohung sei. Weil uns die Wasserstoffbombe bisher nicht getötet hat, sind wir anscheinend der Meinung, daß sie uns niemals töten wird. Dies ist eine gefährliche Annahme, denn sie fördert die Neigung, daß die traditionelle Haltung in der Weltpolitik beibehalten wird, während doch unsere Verantwortung nach den Worten Dr. Chisholms gerade darin besteht, «das gesamte Verhalten unserer Vorfahren zu überprüfen und das auszuwählen, das wir unter diesen gegenwärtigen Umständen nach unserem eigenen Empfinden und nach unserem Wissen in dieser neuen Welt weiterhin als gültig anerkennen …»[5]

Eine Haltung aber, das halte ich für gewiß, ist heute vor allem nicht mehr vertretbar – nämlich die Arroganz der Macht, die Neigung großer Nationen, Macht mit Tugend und große Verantwortung mit einer universalen Mission gleichzusetzen. Das daraus entstandene Dilemma ist vor allem ein amerikanisches, nicht weil Amerika Schwächen hat, die andere Nationen nicht haben, sondern weil die Vereinigten Staaten so mächtig sind wie keine Nation je zuvor und weil sich der Abstand zwischen ihrer Macht und der anderen Staaten offensichtlich vergrößert. Man mag hoffen, daß Amerika mit seinen unermeßlichen Möglichkeiten und demokratischen Traditionen, mit seiner verschiedenartigen und schöpferischen Bevölkerung zu der Einsicht finden wird, die seiner Macht entspricht. Man kann allerdings in diesem Punkt nicht allzu zuversichtlich sein, denn die erforderliche Einsicht ist größer, als sie irgendeine große Nation bisher bewiesen hat. Ihre Wurzeln müssen, wie Dr. Chisholm sagt, in der Überprüfung des «gesamten Verhaltens unserer Vorfahren» liegen.

Dies ist eine hochgespannte Forderung. Vielleicht kann man mit dem Versuch beginnen, die Haltung der Amerikaner gegenüber anderen Völkern kritisch zu beurteilen und einige Auswirkungen der amerikanischen Macht auf kleine Länder, denen die USA zu helfen versuchten, unter die Lupe zu nehmen.

Die Harmlosen im Ausland

Anzeichen für die Arroganz der Macht sind am Benehmen der Amerikaner abzulesen, wenn sie im Ausland sind. Ausländer sprechen oft über den Gegensatz zwischen dem Benehmen der Amerikaner im eigenen Land und im Ausland. Hier, in den Vereinigten Staaten, so sagen diese Beobachter, seien wir Amerikaner gastfrei und rücksichtsvoll, aber sobald wir außerhalb unserer Grenzen anlangten, scheine irgend etwas über uns zu kommen und, wo wir auch seien, würden wir geräuschvoll und anspruchsvoll und wir stolzierten herum, als ob uns der Ort gehöre. Die Engländer pflegten während des letzten Krieges zu sagen, der Ärger mit den Yankees sei, daß sie «überbezahlt, überpotent und über uns gekommen» sind. Während eines kürzlichen Urlaubs in Mexiko habe ich in einem Flughafen einer kleinen Stadt zwei Gruppen von Studenten beobachtet, die auf einer Ferienreise waren. Die eine Gruppe waren Japaner, die andere Amerikaner. Die Japaner waren ordentlich angezogen, und sie sprachen und lachten so, daß es niemand ärgern konnte, auch keine besondere Aufmerksamkeit erregt. Die Amerikaner dagegen führten sich auffallend und anstößig auf; sie stampften liederlich gekleidet im Warteraum herum, tranken Bier und schrien aufeinander ein, als seien sie völlig unter sich.

Solche Szenen sind unglücklicherweise in vielen Teilen der Welt zu einem gewohnten Anblick geworden. Ich möchte ihre Bedeutung nicht übertreiben, aber ich habe das Gefühl, daß so, wie es einst etwas Besonderes war, ein Römer, ein Spanier oder ein Engländer zu sein, heute etwas Besonderes an dem Bewußtsein ist, ein Amerikaner im Ausland zu sein und daß dies Bewußtsein, zu dem größten und reichsten Land der Erde zu gehören, Menschen, die sich zu Hause völlig korrekt benehmen, dazu bringt, sich im Ausland flegelhaft aufzuführen und die dort heimischen Bürger so zu behandeln, als wären sie gar nicht vorhanden.

Ein Grund dafür, daß Amerikaner im Ausland so auftreten, als «gehöre ihnen der Ort», ist die Tatsache, daß dies an vielen Orten beinahe zutrifft: Amerikanische Gesellschaften beherrschen vielleicht große Teile der Wirtschaft des Landes; amerikanische Produkte werden auf Plakaten angepriesen und in Schaufenstern ausgestellt; amerikanische Hotels und Snackbars sind da und schützen amerikanische Touristen vor fremdem Einfluß; vielleicht sind amerikanische Soldaten in dem betreffenden Land stationiert; und selbst wenn dies nicht der Fall ist, weiß die Bevölkerung wahrscheinlich sehr gut, daß ihr Überleben von der Vernunft abhängt, mit der die USA ihre gewaltige militärische Macht gebrauchen.

Ich glaube, jeder Amerikaner hat unreflektiert das Bewußtsein all dieser Macht, wenn er ins Ausland geht; und das beeinflußt sein Verhalten, genau so, wie es einst das Benehmen der Griechen und Römer, der Spanier, Deutschen und der Engländer in den kurzen Hochzeiten ihrer jeweiligen Überlegenheit beeinflußt hat. Es war die Arroganz der Macht, die die Engländer des 19. Jahrhunderts zu der Annahme verleitete, wenn sie einen Ausländer nur laut genug in Englisch anschrien, so müsse er sie verstehen. Heute bringt sie die Amerikaner dazu, sich wie Mark Twains «Harmlose im Ausland» zu benehmen, die von ihren Reisen in Europa berichteten:

«Die Völker dieser fremden Länder sind sehr, sehr unwissend. Sie schauten neugierig auf die Kleidung, die wir aus dem wilden Amerika mitgebracht hatten. Sie beobachteten, daß wir laut bei Tische sprachen … In Paris machten sie nur große Augen und starrten uns an, wenn wir sie auf Französisch ansprachen! Es gelang uns nie, diesen Schwachköpfen ihre eigene Sprache verständlich zu machen.»[1]

Der verhängnisvolle Zusammenprall

Über seine Reisen nach Polynesien im späten 18. Jahrhundert schrieb Kapitän Cook: «Es wäre für jene Völker besser gewesen, wenn sie uns niemals kennengelernt hätten.» In einem Buch über die europäische Erforschung des Südpazifiks berichtet Alan Moorehead, wie die Tahitianer und die australischen Ureinwohner durch Krankheiten, Alkohol, Feuerwaffen, Gesetze und Moralbegriffe des weißen Mannes korrumpiert wurden, durch das, was Moorehead das «langwierige Herunterschlittern in die westliche Zivilisation» nannte. Die ersten Missionare auf Tahiti, so schreibt Moorehead, waren «entschlossen, die Insel nach dem Leitbild der unteren Mittelklasse des protestantischen Englands umzuwandeln … Sie schlugen so lange auf die Lebensweise der Tahitianer los, bis sie vor ihnen zerbröckelte, und im Laufe von zwanzig Jahren hatten sie genau das erreicht, was sie sich vorgenommen hatten.»[1] Man erzählt, daß die ersten Missionare auf Hawaii den Polynesiern klar zu machen versuchten, es sei Sünde, sonntags zu arbeiten, bis sie entdeckten, daß auf jenen mit Überfluß gesegneten Inseln ohnehin niemand an irgendeinem Tag arbeitete.

Selbst bei den besten Absichten hatten die Amerikaner wie andere westliche Völker, die ihre Zivilisationen auswärts verbreiteten, etwas von dem gleichen «verhängnisvollen Zusammenprall» mit kleineren Nationen zu verzeichnen, den die europäischen Entdecker mit den Tahitianern und den australischen Eingeborenen hatten. Wir haben diesen Völkern nicht absichtlich geschadet; im Gegenteil, viel häufiger haben wir diesen Völkern helfen wollen, und in mancher sehr wichtigen Hinsicht ist uns dies auch gelungen. Amerikaner haben an viele Orte der Erde Medikamente und Erziehung, Fabrikerzeugnisse und moderne Technik gebracht; aber sie haben auch sich selbst dorthin gebracht und die herablassende Haltung eines Volkes, das seiner Erfolge wegen andere Kulturen geringschätzt. Da sie Macht ohne Einsicht mitbrachten, lösten Amerikaner wie Europäer in weniger fortgeschrittenen Gebieten der Erde eine verheerende Wirkung aus; ohne zu wissen, was sie taten, haben sie traditionelle Gesellschaftsordnungen erschüttert, zerbrechliche Wirtschaftssysteme zerstört und durch das beneidenswerte Beispiel ihrer eigenen Macht und Tüchtigkeit das Selbstvertrauen der Völker unterhöhlt. Sie haben dies in vielen Fällen einfach dadurch zuwege gebracht, weil sie groß und stark waren, gute Ratschläge gaben und sich Menschen aufdrängten, die das nicht wünschten, aber keinen Widerstand leisten konnten.

Der missionarische Trieb scheint in der menschlichen Natur verankert zu sein. Und je größer, stärker und reicher wir sind, desto mehr fühlen wir uns für die Aufgabe eines Missionars geeignet, desto mehr halten wir sie sogar für unsere Pflicht. Dr. Chisholm berichtet von einem hervorragenden Geistlichen, der die Eskimos bekehrte, und sagte: «Wissen Sie, jahrelang konnten wir mit diesen Eskimos überhaupt nichts anfangen. Es gab bei ihnen keinerlei Sünde. Jahrelang mußten wir sie die Sünde lehren, ehe wir mit ihnen etwas ausrichten konnten!»[2] Das erinnert mich an die drei Pfadfinder, die ihrem Führer als ihre gute Tat für den Tag meldeten, sie hätten einer alten Dame über die Straße geholfen.

«Das ist schön», sagte der Führer, «aber warum waren drei von euch nötig?»

«Ja», erklärten sie, «eigentlich wollte sie gar nicht über die Straße.»

Die gute Tat, für die sich die Amerikaner vor allem prädestiniert fühlen, ist, Demokratie zu lehren. Also wollen wir uns die Ergebnisse einiger guter Taten der Amerikaner in verschiedenen Teilen der Welt einmal ansehen.

In den Jahren, seit Präsident Monroe seine Doktrin verkündete, hatten die Lateinamerikaner den Vorteil, daß die Vereinigten Staaten sie im Finanzwesen, in der kollektiven Sicherheit und in den Verfahrensweisen der Demokratie bevormundeten. Wenn sie also auf irgendeinem dieser Gebiete das Ziel nicht erreichten, so konnte der Fehler ebenso sehr bei dem Lehrer wie bei dem Schüler liegen.

Als Präsident Theodore Roosevelt im Jahre 1905 seine «Ergänzung» der Monroe-Doktrin verkündete, erklärte er feierlich, daß für ihn somit künftige Interventionen als eine «Bürde», eine «Verantwortung» und als eine Verpflichtung zur «internationalen Billigkeit» geheiligt seien. Nicht ein einziges Mal, soviel ich weiß, sind die Vereinigten Staaten der Ansicht gewesen, daß sie in einem lateinamerikanischen Land aus selbstsüchtigen oder unwürdigen Zielen intervenierten – eine Meinung, die jedoch von den Betroffenen nicht notwendigerweise geteilt wurde. Was es auch gibt, um die Lauterkeit unserer Ziele zu beteuern: es muß doch ein wenig durch den Gedanken erschüttert werden, daß sich wahrscheinlich in der Geschichte der Menschheit niemals ein Land bei einem anderen eingemischt hat, wenn es seine Ziele nicht für wirklich unantastbar gehalten hätte.

Ungeachtet unserer edlen Absichten sind die Länder, die von US-Marinetruppen die größte Bevormundung in der Demokratie erhalten haben, nicht gerade besonders demokratisch gewesen. Dazu gehört Haiti, das unter einer brutalen und abergläubischen Diktatur steht, die Dominikanische Republik, die dreißig Jahre lang unter der rücksichtslosen Diktatur Trujillos schmachtete, und deren zweite seit dem Sturz Trujillos gewählte Regierung so wie die erste von der Macht einer Militäroligarchie bedroht ist; und natürlich Kuba, das, woran man niemanden erinnern muß, seine traditionelle Diktatur von rechts durch eine kommunistische ersetzt hat.

Vielleicht ist es im Lichte dieser außergewöhnlichen Liste von Errungenschaften nun an der Zeit, daß wir unsere Lehrmethoden überprüfen. Vielleicht haben wir wirklich noch nicht das Zeug für die Aufgabe, das Evangelium der Demokratie zu verbreiten. Vielleicht wäre es für uns nützlich, wenn wir uns auf unsere eigene Demokratie konzentrierten und nicht versuchten, unsere besondere Version der Demokratie auf alle jene undankbaren Lateinamerikaner zu übertragen, die sich ihren nordamerikanischen Wohltätern so hartnäckig widersetzen, anstatt den «wahren» Feinden Widerstand zu leisten, die wir gnädig für sie ausgesucht haben. Und vielleicht – aber eben nur vielleicht – werden unsere Nachbarn dann anfangen, die ihnen größtenteils entgangene Demokratie und Würde zu finden, wenn wir sie ihr eigenes Urteil fällen und ihre eigenen Fehler begehen lassen und unsere Unterstützung auf Wirtschaft und Technologie an Stelle von Philosophien beschränken. Vielleicht könnten wir dann andererseits die Liebe und Dankbarkeit finden, nach der wir uns anscheinend so sehr sehnen.

Korea ist ein anderes Beispiel. Wir sind 1950 in den Krieg eingetreten, um Südkorea gegen die von den Russen unterstützte Aggression Nordkoreas zu verteidigen. Ich glaube, daß diese Intervention der USA gerechtfertigt und notwendig gewesen ist: Wir haben ein Land verteidigt, das ganz klar verteidigt werden wollte, dessen Armee bereit war zu kämpfen und gut kämpfte und dessen Regierung, wenn sie auch diktatorisch war, doch patriotisch gewesen ist und die Unterstützung des Volkes besaß. Während des ganzen Krieges haben die Vereinigten Staaten jedoch betont, daß eines ihrer Kriegsziele die Rettung der Republik Korea als einer «freien Gesellschaft» sei – was sie damals nicht gewesen war und auch heute nicht ist. Die USA haben in diesem Krieg 33629 Menschen verloren und haben seither 5,61 Milliarden Dollar für direkte militärische und wirtschaftliche Hilfe und noch viel mehr für eine indirekte Unterstützung Südkoreas ausgegeben. Trotz alldem blieb Südkorea noch bis vor kurzem ein wirtschaftlich stagnierendes und politisch unsicheres Land. Erst jetzt ist ein wirtschaftlicher Fortschritt im Gange, aber die wirklich überraschende Tatsache ist, daß die meisten Amerikaner schnell das Interesse am Zustand ihres Schützlings verloren, für den sie so viele Opfer gebracht haben, und obwohl sie drei Jahre lang einen Krieg geführt haben, um die Freiheit Südkoreas zu verteidigen. Es ist zweifelhaft, ob mehr als eine Handvoll Amerikaner heute weiß oder sich darum kümmert, ob Südkorea eine «freie Gesellschaft» ist.

Wir sind gegenwärtig an einem Krieg beteiligt, um in Südvietnam «die Freiheit zu verteidigen». Anders als die Republik Korea besitzt Südvietnam eine Armee, die ohne besonderen Erfolg kämpft, und eine diktatorische Regierung, die nicht auf die Loyalität des südvietnamesischen Volkes rechnen kann. Die offiziellen Kriegsziele der US-Regierung sind, so wie ich sie verstehe: niederzukämpfen, was als Aggression Nordvietnams aufgefaßt wird, die Vergeblichkeit dessen zu demonstrieren, was die Kommunisten «nationale Befreiungskriege» nennen, und Bedingungen zu schaffen, unter denen das südvietnamesische Volk in der Lage sein wird, frei seine Zukunft zu bestimmen.

Ich zweifle nicht im geringsten an der Aufrichtigkeit des Präsidenten, des Vizepräsidenten, des Außenministers und des Verteidigungsministers, wenn sie diese Ziele darlegen. Was ich jedoch anzweifle, und zwar sehr, ist die Befähigung der Vereinigten Staaten, diese Ziele mit den angewandten Mitteln auch zu erreichen. Ich stelle nicht die Macht unserer Waffen oder die Wirksamkeit unseres Nachschubwesens in Frage; ich kann allerdings nicht sagen, daß mich diese Dinge so erfreuen, wie es anscheinend bei einigen unserer Regierungsbeamten der Fall ist, aber sie sind gewiß eindrucksvoll. Ich halte es jedoch für zweifelhaft, ob die Vereinigten Staaten oder irgendeine andere westliche Nation die Fähigkeit besitzen, in einem kleinen, fremdartigen und unterentwickelten asiatischen Land einzugreifen und Stabilität zu schaffen, wo Chaos herrscht, den Willen zum Kampf, wo Defaitismus ist, Demokratie, wo es keine demokratischen Traditionen gibt, und eine ehrenhafte Regierung, wo die Korruption fast zum Lebensstil gehört.

Im Frühjahr 1966 zündeten in Saigon Demonstranten amerikanische Jeeps an, versuchten amerikanische Soldaten anzugreifen und zogen mit den Rufen «nieder mit den amerikanischen Imperialisten» durch die Straßen, während ein buddhistischer Führer eine Rede hielt und darin die Vereinigten Staaten als Bedrohung für die Unabhängigkeit Südvietnams mit den Kommunisten auf die gleiche Stufe stellte. Die meisten Amerikaner sind verständlicherweise schockiert und verärgert, wenn ihnen Äußerungen von Feindseligkeit aus einem Volk entgegentreten, das schon lange unter der Herrschaft der Vietkong stehen würde, wenn Amerika nicht Menschenleben und Geldmittel geopfert hätte. Warum, so könnten wir Amerikaner fragen, sind diese Leute so empörend undankbar? Sie müssen doch wissen, daß allein schon das Recht, auf die Straße zu gehen, zu protestieren und zu demonstrieren, von den Amerikanern abhängt, die sie verteidigen.

Die Antwort ist meines Erachtens jener «verhängnisvolle Zusammenprall» der Reichen und Starken mit den Armen und Schwachen. Abhängig von der Stärke Amerikas, wie die Vietnamesen nun einmal sind, ist diese Stärke gleichzeitig ein Vorwurf für ihre Schwäche, ist der Wohlstand Amerikas ein Hohn auf ihre Armut und der Erfolg Amerikas eine Erinnerung an ihre Mißerfolge. Was sie übelnehmen, ist die zerstörende Wirkung unserer starken Kultur auf ihre zerbrechliche; aber das ist eine Reaktion, die wir genauso wenig vermeiden können, wie ein Erwachsener es ändern kann, daß er größer ist als ein Kind. Sie befürchten – und ich meine: zu Recht –, daß die traditionelle vietnamesische Gesellschaft den Zusammenprall mit der Wirtschaft und Kultur Amerikas nicht überleben kann.

Beweise für diesen «verhängnisvollen Zusammenprall» findet man im täglichen Leben Saigons. Ein Korrespondent der New York Times berichtete – und seine Informationen stimmten mit denen anderer an Ort und Stelle überein –, daß viele Vietnamesen gezwungen sind, ihre Frauen und Mädchen als Barmädchen arbeiten zu lassen oder sie amerikanischen Soldaten als Freundinnen zuzuführen; daß man häufig hört, ein vietnamesischer Soldat habe vor Scham Selbstmord begangen, weil seine Frau als Barmädchen arbeitete; daß Vietnamesen nur mit Schwierigkeiten Taxis bekommen, weil die Fahrer für sie nicht anhalten, sondern es vorziehen, amerikanische Soldaten mitzunehmen, die ohne Protest den geforderten überhöhten Fahrpreis zahlen werden; daß infolge des Zustroms der Amerikaner Barmädchen, Prostituierte, Kuppler, Barbesitzer und Taxifahrer in die höheren Stufen der wirtschaftlichen Pyramide aufgestiegen sind; daß vietnamesische Familien der Mittelklasse Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu mieten, weil die Amerikaner die Mietpreise ins Unerreichbare hochgetrieben haben, und daß einige vietnamesische Familien tatsächlich aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben wurden, weil es die Eigentümer vorzogen, sie an die im Überfluß lebenden Amerikaner zu vermieten; daß vietnamesische Beamte, niedrige Offiziere oder einfache Soldaten ihre Familien nicht länger unterstützen können, weil die Ausgaben der Amerikaner und die Kaufkraft der GI eine Inflation zu Folge hatten. Ein Vietnamese erklärte dies dem Reporter der New York Times so: «Immer wenn Legionen wohlhabender weißer Männer über eine asiatische Gesellschaftsform hereinbrechen, dann gibt es Ärger!» Ein anderer meinte: «Wir Vietnamesen sind fremdenfeindlich. Wir mögen die Ausländer nicht, keine Sorte von Ausländern, deshalb dürft ihr nicht überrascht sein, daß wir euch nicht mögen.»[3]

Obgleich sie aufrichtig gemeint sind, haben die Anstrengungen der Amerikaner, in Südvietnam die Grundlagen der Freiheit zu schaffen, also eine ganz andere Wirkung als beabsichtigt. «Dies ganze Mühen und Plagen, die Welt zu verbessern, ist ein großer Fehler», sagte George Bernard Shaw. «Nicht weil es nicht anerkennenswert wäre, die Welt zu verbessern, wenn man sich darauf versteht, sondern weil das Mühen und Plagen die verkehrteste Methode ist, mit der man ein Ding anpacken kann.»[4]

Man fragt sich, wieweit das amerikanische Engagement für die Freiheit Vietnams auch ein Engagement für den Stolz Amerikas ist – beide scheinen Teil derselben Sache geworden zu sein. Wenn wir von der Freiheit Südvietnams sprechen, dann denken wir vielleicht daran, wie unangenehm es wäre, einer anderen Lösung als dem Sieg zuzustimmen; wir denken vielleicht auch daran, wie sehr unser Stolz verletzt würde, wenn wir uns mit weniger begnügen, als wir ursprünglich erreichen wollten; vielleicht denken wir auch an unseren Ruf als eine Großmacht und fürchten, daß eine Kompromißlösung uns vor der Welt bloßstellen und als ein zweitklassiges Volk mit ermattendem Mut und Entschlosssenheit kennzeichnen würde.

Solche Befürchtungen sind ebenso unsinnig wie ihr Gegenteil, d.h. die anmaßende Überzeugung, daß wir eine weltumspannende Mission zu erfüllen hätten. Sie sind dem reichsten, mächtigsten, produktivsten Volk der Erde, dem am besten ausgebildeten Volk einfach nicht angemessen. Man kann eine kompromißlose Haltung solcher Länder wie China oder Frankreich verstehen: beide haben in diesem Jahrhundert Tiefschläge hinnehmen müssen, und ein gewisses Maß an Arroganz könnte ihnen helfen, ihren Stolz wiederzugewinnen. Sie ist im Hinblick auf die USA weit weniger verständlich – eine Nation, deren moderne Geschichte eine fast ununterbrochene Chronik des Erfolges gewesen ist, eine Nation, die sich heute ihrer Macht so sicher sein sollte, daß sie zum Großmut imstande ist, eine Nation, die heute in der Lage sein sollte, nach der These zu handeln, die George Kennan so ausdrückte: «In der Weltmeinung ist mehr Ansehen zu gewinnen, wenn man unhaltbare Positionen energisch und mutig aufgibt, als wenn man überspannte und nicht vielversprechende Ziele auf das Hartnäckigste weiterverfolgt.»[5]

Die Ursache unserer Schwierigkeiten in Südostasien ist nicht ein Mangel an Macht, sondern ein Übermaß an falscher Machtausübung. Ihr Ergebnis ist ein Gefühl der Unfähigkeit, wenn mit dieser Macht das gewünschte Ziel nicht erreicht werden kann. Wir verhalten uns immer noch so wie die Pfadfinder, die widerstrebende alte Damen über die Straße zerren, die sie nicht überqueren wollen. Wir versuchen die vietnamesische Gesellschaft zu erneuern, eine Aufgabe, die gewiß nicht mit Gewalt und die wahrscheinlich mit solchen Mitteln erfüllt werden kann, wie sie Außenseitern zur Verfügung stehen. Das Ziel mag wünschenswert sein, aber es ist nicht erreichbar. Shaw hat gesagt: «Die Religion ist eine große Kraft – die einzige wahre Bewegkraft in der Welt; aber ihr Leute versteht das eine nicht: daß ihr einen Menschen mit seiner eigenen Religion und nicht mit eurer gewinnen müßt.»[6]

Mit den besten Absichten der Welt haben sich die Vereinigten Staaten tief in die Angelegenheiten der Entwicklungsländer in Asien und Lateinamerika verwickelt und sie haben das praktiziert, was man eine Art «Wohlfahrts-Imperialismus» genannt hat. Unser ehrliches Ziel ist die Weiterentwicklung und der Fortschritt der Demokratie. Dazu hat man es für notwendig gehalten, veraltete und unproduktive Lebensformen zu zerstören. In dieser Funktion sind wir erfolgreich gewesen, vielleicht erfolgreicher, als wir wissen. Weil die Amerikaner den traditionellen Gesellschaften in einem bisher unbekannten Ausmaß technische Fertigkeiten und Wissen, Geld und verschiedenartige Hilfsmittel zuführten, haben sie einheimische Ordnungen und Interessen überwunden und sind in vielen Ländern zur beherrschenden Kraft geworden. Weit davon entfernt, aufgeblasen, verschwenderisch und unfähig zu sein, wie unsere Kritiker behauptet haben, waren amerikanische Regierungsbeamte, Techniker und Wirtschaftler außerordentlich erfolgreich, wenn es darum ging, Barrieren niederzureißen, damit alte, aber anfällige Kulturen geändert würden.

Hier jedoch endet unser Erfolg. Der verhängnisvolle Zusammenprall mit dem Reichtum und der Macht Amerikas hat die traditionellen Herrscher, Einrichtungen und Lebensformen gestürzt, aber sie wurden weder durch neue Einrichtungen und neue Lebensformen ersetzt noch leitete ihr Zusammenbruch eine Ära der Demokratie und der Fortentwicklung ein. Er hat eher in eine Epoche der Unordnung und der Demoralisierung hineingeführt, denn während wir die alten Verfahrensformen zerstörten, haben wir auch das Selbstvertrauen beseitigt, ohne das keine Gesellschaft die ihr eigenen Institutionen aufbauen kann. Während wir also eine so große Ehrfurcht vor unserer Tüchtigkeit und unserem Wohlstand erzeugten, haben wir einige der vorgesehenen Nutznießer unserer Großzügigkeit in einen Zustand der Abhängigkeit und der Selbstmißachtung herabgesetzt. Das haben wir zumeist ohne Absicht getan: Mit allen guten Absichten haben wir uns in anfällige Gesellschaften hineingedrängt, und bei unserem Eindringen gelang es uns, zwar traditionelle Lebensarten zu entwurzeln, aber es mißlang uns völlig, die Demokratie einzupflanzen und die Entwicklung zu fördern – die ehrbarsten Ziele unseres «Wohlfahrts-Imperialismus».

Amerikanisches Empire oder amerikanisches Vorbild?

Trotz ihrer gefährlichen und unproduktiven Folgen scheint die Vorstellung, daß sie für die ganze Welt verantwortlich sind, den Amerikanern zu schmeicheln, und ich fürchte, sie verwirrt unsere Köpfe so, wie das Gefühl für eine universale Verantwortung den alten Römern oder den Briten des 19. Jahrhunderts die Köpfe verdreht hat.

1965 schrieb Henry Fairlie, britischer politischer Kommentator des Spectator und des Daily Telegraph etwas, das er einen «Hochruf auf den amerikanischen Imperialismus»[1] nannte. Ein Empire, so meinte Fairlie, «hat keine Rechtfertigung als die eigene Existenz». Es darf niemals zusammenschrumpfen; es «vergeudet Schätze und Leben»; seine Verpflichtungen sind «ungereimt und ohne Vernunft». Dessenungeachtet ist das «amerikanische Empire» nach Fairlie unvergleichlich wohltätig, denn es ist der Freiheit des Individuums und der Herrschaft des Gesetzes gewidmet und es hat Leistungen vollbracht wie die, daß es den Verfasser des Artikels aus einem jugoslawischen Gefängnis befreite, ganz einfach weil er drohte, den amerikanischen Konsul einzuschalten – eine Leistung, die er als «erhaben» bezeichnete.

Was für ein romantischer Unsinn ist das. Und was für ein gefährlicher Unsinn im Zeitalter der Atomwaffen. Die Vorstellung von einem «amerikanischen Empire» könnte als reine Einbildung eines britischen Gunga Din abgetan werden, dennoch bringt sie gewiß eine Saite in wenigstens einer Ecke des gewöhnlich vernünftigen und humanen amerikanischen Gemüts zum Klingen. Sie ruft die Schlagworte der Vergangenheit in Erinnerung, sie erinnert daran, daß der Schuß von Concord «in der ganzen Welt» vernommen wird, an die «offenkundige Auserwähltheit», an die Losung, «Sicherheit für die Demokratie in der Welt zu schaffen» und an die Forderung nach «bedingungsloser Kapitulation» im Zweiten Weltkrieg. Sie erinnert daran, daß Präsident McKinley für seine Pflichten gegenüber den umnachteten Filipinos vom höchsten Wesen Rat eingeholt hatte.

Der «Segnungen-der-Zivilisation-Trust», wie ihn Mark Twain genannt hat, könnte seinerzeit eine durchaus liebenswerte Einrichtung gewesen sein, die die Seelen erhebt und daneben auch noch gut für die Geschäfte ist; aber seine Zeit ist vorbei. Sie ist deshalb vorbei, weil die überwiegende Mehrheit der Menschheit Würde und Unabhängigkeit fordert und nicht die Ehre einer Zuschauerrolle im amerikanischen Empire.

Sie ist vorbei, weil jedem Anspruch der USA, ihre Ideen und Wertvorstellungen über die ganze Welt zu verbreiten, ein kommunistischer Gegenanspruch die Waage hält, der wie der unsere mit Kernwaffen ausgerüstet ist. Sie ist vor allem deshalb vorbei, weil sie niemals hätte beginnen sollen, weil wir nicht die von Gott erwählten Retter der Menschheit sind, sondern nur einer der erfolgreicheren und glücklicheren Teile der Menschheit, der von unserem Schöpfer mit etwa der gleichen Fähigkeit für Gut und Böse ausgestattet worden ist – mit nicht mehr und nicht weniger – wie die übrige Menschheit.

Wenn man sich über eine lange Zeitspanne hinweg im Übermaß mit den auswärtigen Beziehungen beschäftigt, so ist das mehr als eine Manifestation von Arroganz; es zehrt auch an der Macht, die ihr erst Auftrieb gegeben hat, denn es entfernt die Nation von den Quellen ihrer Stärke, die im Inneren ihres staatlichen Lebens liegen. Eine Nation, die zu sehr in die Außenpolitik verstrickt ist, verausgabt ihr Kapital, das menschliche wie das materielle; früher oder später muß dieses Kapital erneuert werden, indem schöpferische Energien wieder von außen nach innen umgeleitet werden. Ich bezweifle, daß irgendeine Nation dadurch dauerhafte Größe erlangt hat, daß sie eine «starke» Außenpolitik trieb. Aber viele sind zerbrochen, weil sie ihre Energien in auswärtigen Abenteuern verausgabten und zuließen, daß sich die inneren Grundlagen verschlechterten. Die USA sind im 20. Jahrhundert nicht wegen ihrer Unternehmungen in der Außenpolitik zu einer Weltmacht geworden, sondern deshalb, weil sie das 19. Jahrhundert dazu genutzt haben, den nordamerikanischen Kontinent zu entwickeln. Im Gegensatz dazu sind das österreichische und das türkische Imperium im 20. Jahrhundert hauptsächlich deshalb zusammengebrochen, weil sie für lange Zeit ihre innere Entwicklung und Organisation vernachlässigt hatten.

Wenn Amerika, wie ich glaube, eine Aufgabe in der Welt zu erfüllen hat, so ist es vor allem, ein Beispiel zu geben. Bei unseren übermäßigen Engagement in die Angelegenheiten anderer Länder zehren wir nicht nur von unserem Reichtum, sondern wir hindern auch unser eigenes Volk am angemessenen Genuß seiner Reichtümer, und wir versagen der Welt auch das Vorbild einer freien Gesellschaft, die ihre Freiheit bis zum Äußersten auskostet. Dies ist in der Tat bedauerlich für eine Nation, die beansprucht, die Demokratie zu lehren; denn, wie Edmund Burke es ausdrückte, «das Vorbild ist die Schule der Menschheit, und sie wird in keiner anderen lernen»[2].[*]

Der missionarische Trieb könnte auf außenpolitischem Gebiet seltsamerweise eher einen Mangel als ein Übermaß an nationalem Selbstvertrauen widerspiegeln. Im Falle der USA wird ein Mangel an Selbstvertrauen darin evident, daß wir offenkundig dauernd Bewährung und Bestätigung brauchen, ein quälendes Verlangen nach Popularität empfinden, und daß wir verbittert und verwirrt sind, wenn Ausländer unsere Großzügigkeit und unsere guten Absichten nicht zu würdigen wissen. Da wir das Ausmaß unserer Macht nicht richtig einschätzen, ermessen auch nicht unsere gewaltige und zerrüttende Einwirkung auf die Welt. Wir verstehen nicht, daß, wie gut unsere Absichten auch sein mögen – und sie sind es in den meisten Fällen –, andere Nationen alarmiert sind durch die bloße Existenz einer so großen Macht, die trotz ihres Wohlwollens sie nur an ihre eigene Hilflosigkeit erinnern muß.

Die zuwenig Selbstsicherheit besitzen, haben wahrscheinlich auch zuwenig Großmut, denn das eine bedingt das andere. Nur eine Nation, die in Frieden mit sich selbst, mit ihren Verfehlungen und ihren Errungenschaften lebt, kann andere auf großherzige Art verstehen. Nur wenn wir Amerikaner unser eigenes aggressives Verhalten in der Vergangenheit – wie zum Beispiel in den Feldzügen gegen die Indianer, in den Kriegen gegen Mexiko und Spanien – eingestehen, werden wir auch die aggressive Einstellung anderer etwas richtig einschätzen können. Nur wenn wir die menschlichen Verwicklungen begreifen, die durch die Kluft zwischen dem Überfluß der USA und der Armut des größten Teils der übrigen Menschheit entstehen, werden wir verstehen können, warum der American way of life, der uns so teuer ist, der von Armut geschlagenen Mehrheit der menschlichen Rasse wenig bedeutet und für sie nur einen begrenzten Anreiz besitzt.

Es ist eine sonderbare Eigenart der menschlichen Natur, daß der Mangel an Selbstsicherheit eine Überschätzung von Macht und Mission hervorzubringen scheint. Wenn eine Nation sehr mächtig ist, aber zuwenig Selbstsicherheit besitzt, dann wird sie sich wahrscheinlich so verhalten, daß sie sich selbst und andere gefährdet. Wenn sie glaubt, beweisen zu müssen, was für alle ganz offenkundig ist, dann beginnt sie große Macht mit unbegrenzter Macht und große Verantwortung mit totaler Verantwortung zu verwechseln; sie kann keinen Irrtum zugeben; und sie muß mit jedem Argument recht behalten, so trivial es auch sein mag. Wenn eine Nation nicht richtig einschätzen kann, wie mächtig sie in Wirklichkeit ist, dann beginnt sie Einsicht und Überblick zu verlieren und damit Stärke und Verständnis, die sie braucht, um kleineren und schwächeren Nationen gegenüber Großmut zeigen zu können.

Allmählich, aber unmißverständlich zeigen die USA Anzeichen jener Arroganz der Macht, die in der Vergangenheit große Nationen befallen, geschwächt und in einigen Fällen zerstört haben. Wenn wir uns so verhalten, leben wir nicht nach unseren Möglichkeiten und unseren Versprechungen als ein zivilisiertes Beispiel für die Welt. In dem Maße, wie wir zurückbleiben, ist es die Pflicht des Patrioten, eine andere Meinung zu äußern.

Teil I Der bessere Patriotismus

Was verstehen wir in unserer Zeit unter Patriotismus? … Einen Patriotismus, der das Vaterland dem Ich-Interesse voranstellt, einen Patriotismus, der nicht ein kurzlebiger wahnwitziger Gefühlsausbruch ist, sondern die ruhige und beständige Hingabe eines ganzen Lebens. Es gibt Worte, die leicht auszusprechen sind, aber dies bezeichnet eine gewaltige Aufgabe. Denn es ist oft leichter, für Grundsätze zu kämpfen, als danach zu leben.

ADLAI STEVENSON

am 27. August 1952 in New York

1 Bürger und Universität

Wenn man sein Land kritisiert, so erweist man ihm einen Dienst und macht ihm ein Kompliment. Man erweist ihm einen Dienst, weil die Kritik das Land anspornen könnte, besseres zu leisten als bisher; man macht ihm ein Kompliment, weil in der Kritik der Glaube zum Ausdruck kommt, daß das Land besseres leisten kann als es der Fall ist. «Darin unterscheiden wir uns von euch», schrieb Albert Camus in einem seiner ‹Briefe an einen deutschen Freund›, «wir waren anspruchsvoll. Ihr aber begnügtet euch damit, der Macht eurer Nation zu dienen, und wir träumten davon, der unseren ihre Wahrheit zu schenken …»[1]

In einer Demokratie ist eine abweichende Meinung ein Akt des Vertrauens. Wie bei einer Medizin ist der Maßstab für ihren Wert nicht ihr Geschmack, sondern ihre Wirkung, ist es nicht ausschlaggebend, welches Gefühl sie dem Patienten im Augenblick vermittelt, sondern welche menschliche Wirkung sie auf lange Sicht hat. Für kurze Zeit kann Kritik den Führern eines Landes ungelegen kommen, aber auf die Dauer kann sie sie in ihrer Handlungsweise bestärken. Kritik kann die allseitige Zustimmung für eine Politik zerstören, während sie zugleich eine allgemeine Übereinstimmung in den Wertmaßstäben ausdrückt. Woodrow Wilson hat einmal gesagt, es sei möglich, «zu stolz zum Kämpfen» zu sein; es ist aber auch möglich oder sollte es wenigstens sein, daß man zu überzeugt ist, um sich anzupassen, und daß man zu stark ist, um angesichts eines offenkundigen Irrtums zu schweigen. Kritik, kurz gesagt, ist mehr als ein Recht, sie ist ein Akt des Patriotismus, sie ist, wie ich glaube, ein Patriotismus höherer Art, höher als die bekannten Rituale nationaler Schmeichelei. Wird der Kritiker dennoch eines Mangels an Patriotismus beschuldigt, so kann er mit Camus antworten: «Nein, ich liebte mein Land nicht, wenn Liebe darin besteht, nicht zu tadeln, was am geliebten Wesen ungerecht ist, wenn Liebe darin besteht, nicht zu fordern, daß das geliebte Wesen dem schönen Bild entspreche, das wir von ihm hegen.»[2]

Welches ist das schönste Bild von Amerika? Für mich ist es das Bild einer Komposition oder besser einer Synthese, das Bild verschiedenartiger Völker und Kulturen, die in Harmonie zusammenfinden, dabei aber nicht ihre Eigenart verlieren, und eine offene, aufnahmefähige, großmütige und schöpferische Gesellschaft bilden. Vor fast zweihundert Jahren hat ein Franzose, der nach Amerika gekommen war, um hier zu leben, die Frage gestellt: «Was ist ein Amerikaner?» Er hat, auszugsweise, die folgende Antwort gegeben:

«Hier sind Individuen aller Nationen zu einer neuen Menschenrasse verschmolzen, deren Anstrengungen und Nachkommen eines Tages große Veränderungen in der Welt auslösen werden. Amerikaner sind die Pilger des Westens, die jene große Zusammenballung der Künste, der Wissenschaften, der Energie und des Fleißes mit sich bringen, die vor langer Zeit im Osten ihren Ausgang genommen hat. Sie werden den großen Kreislauf vollenden. Die Amerikaner waren einst über ganz Europa verstreut; hier in Amerika sind sie zu einem der besten Bevölkerungssysteme, das es je gegeben hat, zusammengeschlossen. Es wird künftig durch die Kraft der verschiedenen Klimazonen, in denen sie leben, bestimmt werden … Der Amerikaner ist ein neuer Mensch, der nach neuen Grundsätzen handelt. Er muß deshalb neue Ideen entwickeln und sich neue Meinungen bilden. Von unfreiwilligem Müßiggang, serviler Abhängigkeit, Armut und nutzloser Mühe ist er zu ganz anderen Belastungen gelangt, und er wurde mit einem reichlichen Lebensunterhalt belohnt. – Das ist ein Amerikaner …»[3]

Bei gebührender Nachsicht mit der Überschwenglichkeit des Verfassers glaube ich doch, daß sein Optimismus nicht allzu übertrieben war. Wir sind eine außergewöhnliche Nation, ausgestattet mit einem reichen und produktiven Land, einer humanen und anständigen politischen Tradition und einer talentierten und energiegeladenen Bevölkerung. Gewiß ist eine so begünstigte Nation fähig, Außerordentliches zu leisten; nicht nur, indem sie Wohlstand hervorbringt und genießt – auf diesem Gebiet haben wir tatsächlich Außergewöhnliches erreicht –, sondern auch, indem sie die menschlichen und die internationalen Beziehungen pflegt, wobei mir allerdings scheint, daß hier unsere Leistungen hinter unseren Möglichkeiten und unserer Erwartung zurückgeblieben sind.

Ich frage mich, ob die USA die Kluft zwischen ihren Möglichkeiten und dem wirklich Erreichten schließen können. Ich hoffe und ich glaube, daß sie es können und daß sie die Menschen haben, die Amerikas Sache mit einer Reife vertreten können, die wenige große Nationen, wenn überhaupt, je erreicht haben. Das heißt: diese Menschen sollten selbstsicher, aber auch tolerant, reich, aber auch großzügig, lehr-, aber auch lernwillig, mächtig, aber auch einsichtig sein.

Ich glaube, daß Amerika zu alldem fähig ist. Ich glaube aber auch, daß in dieser Hinsicht noch viel zu tun ist. Wenn man wirklich der Ansicht ist, daß die USA im eigenen Land und im Ausland das Bestmögliche tun, dann gäbe es keinen Grund zur Kritik. Wenn man aber das sichere Gefühl hat, daß die USA die Möglichkeit haben, sehr viel mehr zu leisten, und daß sie aus Gründen, die überwunden werden können und sollten, hinter dem zurückbleiben, was sie sich vorgenommen haben, dann ist Zustimmung ein schlechter Dienst und widersprechende Meinung der bessere Patriotismus.

Die Furcht vor der anderen Meinung

Die schädliche Neigung, sich vor ernsthafter Kritik an der Regierung zu fürchten, hindert viele Amerikaner daran, eine abweichende Meinung zu vertreten, wie es ihre Pflicht ist. Abstrakt zelebrieren wir die Meinungsfreiheit als einen Teil unserer patriotischen Liturgie; nur, wenn einige Amerikaner sie wirklich ausüben, sind andere schockiert. Niemand kritisiert natürlich das Recht der freien Meinungsäußerung; es ist immer nur der besondere Fall oder ihre Ausübung unter den besonderen Umständen oder der besondere Zeitpunkt, was den Menschen eine Mordsangst einjagt. Das erinnert mich an Samuel Butlers Beobachtung: «Die Leute sind im allgemeinen gleichermaßen erschreckt, wenn sie hören, daß die christliche Religion in Zweifel gezogen wird, und wenn sie sehen, daß sie praktiziert wird.»[1]

Die Intolerenz gegen Andersdenkende ist ein bekannter Zug des amerikanischen Nationalcharakters. Louis Hartz schreibt ihn dem Erbe einer Gesellschaft zu, die «frei geboren» wurde, einer Gesellschaft, die durch ernsthafte Kritik entnervt wird, weil sie so wenig Kritik erfahren hat.[2] Alexis de Tocqueville beobachtete diese Tendenz schon vor mehr als hundert Jahren: «Ich kenne kein Land, in dem allgemein weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als Amerika.» Tiefgreifende Wandlungen haben sich vollzogen, seit ‹Über die Demokratie in Amerika›