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Die Originalausgabe
THE EYES OF THE DRAGON
erschien bei Viking, New York
Copyright © 1987 by Stephen King
Copyright © 1987, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Neubearbeitung: Christina BrombachRedaktion: Momo Evers
Umschlaggestaltung und Konzeption: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Illustration von (c) Anja Filler
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-05387-1
V003
www.heyne.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Kapitel 115
Kapitel 116
Kapitel 117
Kapitel 118
Kapitel 119
Kapitel 120
Kapitel 121
Kapitel 122
Kapitel 123
Kapitel 124
Kapitel 125
Kapitel 126
Kapitel 127
Kapitel 128
Kapitel 129
Kapitel 130
Kapitel 131
Kapitel 132
Kapitel 133
Kapitel 134
Kapitel 135
Kapitel 136
Kapitel 137
Kapitel 138
Kapitel 139
Kapitel 140
Kapitel 141
Kapitel 142
Copyright
Das Buch
In jungen Jahren hatte der König von Delain noch Drachen gejagt – jetzt ist Roland alt und krank. Bald wird sein ältester Sohn Peter die Herrschaft übernehmen. Doch Flagg, der Hofmagier, hat ein dichtes Netz aus Verrat und Intrigen gesponnen, um die Macht im Königreich an sich zu reißen: Roland fällt einem hinterhältigen Giftmord zum Opfer. Drachensand, ein geheimes Zauberelixier, lässt ihn innerlich verbrennen. Der Verdacht fällt auf Peter, der schließlich von Flagg in den Kerker geworfen wird. Somit folgt Thomas, der jüngste Sohn des Königs, auf den Thron von Delain – ein willenloses Werkzeug des bösen Zauberers. Fortan ziehen dunkle Schatten des Terrors über das alte Königreich, das Volk stöhnt unter der Last der Steuern. Wem es nicht gelingt, in die weiten Wälder im Norden zu fliehen, landet in den Kerkern oder vor dem Scharfrichter. Wer vermag dem blinden Wüten des Magiers noch Einhalt zu gebieten? Aussichtslos erscheint Peters Situation, gefangen in einer luftigen Zelle an der Spitze des höchsten turms in Delain, bis ihm eines Tages die Flucht gelingt und er einen unverhofften Verbündeten findet. Der entscheidende Kampf um die Herrschaft über das Königreich kann beginnen
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Die großen Werke des Autors erscheinen im Heyne Verlag.
Diese Geschichte ist für meinen guten FreundBEN STRAUBund für meine Tochter NAOMI KING.
1
In einem Königreich namens Delain lebte einst ein König, der hatte zwei Söhne. Delain war ein sehr altes Königreich, und es hatten dort Hunderte von Königen regiert, vielleicht sogar Tausende; wenn genügend Zeit verstrichen ist, können nicht einmal Historiker sich an alles erinnern. Roland der Gütige war weder der beste noch der schlechteste König, der das Land bisher regiert hatte. Er gab sich große Mühe, keinem Unrecht zu tun, was ihm meistens auch gelang. Er versuchte außerdem, große Taten zu vollbringen, aber unglücklicherweise gelang ihm das nicht ganz so gut. Das Ergebnis war ein recht mittelmäßiger König, und er bezweifelte, dass man seiner nach seinem Tode noch lange gedenken würde. Und der Tod konnte ihn in jedem Augenblick holen, denn er war alt geworden, und sein Herz war schwach. Er hatte vielleicht noch ein Jahr zu leben, vielleicht drei. Jeder, der ihn kannte, und alle, die sein graues Gesicht und die zitternden Hände gesehen hatten, wenn er Hof hielt, waren sich darin einig, dass in allerhöchstens fünf Jahren ein neuer König auf dem großen Platz am Fuße der Nadel gekrönt werden würde … und nur wenn Gott gnädig war, waren Roland noch fünf Jahre vergönnt. Daher sprach jeder im Königreich, vom reichsten Baron und prunkvoll gekleideten Höfling bis hin zum ärmsten Leibeigenen und seiner zerlumpten Frau, vom künftigen König, Rolands ältestem Sohn Peter.
Nur ein Mann überlegte und plante und dachte über etwas anderes nach: Wie er es bewerkstelligen könnte, dass Rolands jüngerer Sohn, Thomas, statt Peter zum König gekrönt wurde. Dieser Mann war Flagg, der Hofzauberer des Königs.
2
Wenngleich Roland, der König, alt war – er selbst sprach von siebzig Jahren, aber er war ganz bestimmt älter -, so waren doch seine beiden Söhne noch jung. Er hatte erst spät geheiratet, weil er keine Frau gefunden hatte, die seinen Ansprüchen genügte, und weil seine Mutter, die große Königinwitwe von Delain, für Roland und alle anderen – einschließlich ihrer selbst – schier unsterblich zu sein schien. Sie hatte fast fünfzig Jahre lang über das Königreich geherrscht, als sie sich eines Tages ein Stück Zitrone in den Mund steckte, um einen lästigen Husten zu lindern, welcher sie schon seit mehr als einer Woche peinigte. Zu eben diesem Zeitpunkt führte ein Jongleur zur Erbauung der Königinwitwe und ihres Hofes seine Kunststücke vor. Er jonglierte mit fünf kunstvoll gefertigten Kristallkugeln. In dem Augenblick, als sich die Königin die Zitronenscheibe in den Mund schob, ließ der Jongleur eine der Glaskugeln fallen. Sie zerschellte mit lautem Geklirr auf dem Fliesenboden des großen östlichen Thronsaals. Die Königinwitwe erschrak über das laute Geräusch und sog Luft ein. Und dabei verschluckte sie sich an der Zitronenscheibe und erstickte im Handumdrehen. Vier Tage später fand Rolands Krönung auf dem Platz der Nadel statt. Der Jongleur konnte sie nicht mehr miterleben; er war drei Tage zuvor an der Hinrichtungsstätte hinter der Nadel geköpft worden.
Ein König ohne Erben macht alle nervös, ganz besonders, wenn dieser König schon fünfzig und bereits kahlköpfig ist. Daher lag es in Rolands Interesse, schnellstmöglich zu heiraten und schnellstmöglich einen Sohn zu zeugen. Sein engster Ratgeber Flagg führte ihm dies immer wieder vor Augen. Er wies ihn auch darauf hin, dass er mit fünfzig nur noch auf wenige Jahre hoffen durfte, in denen er ein Kind im Leibe einer Frau erschaffen konnte. Flagg riet ihm, bald eine Frau zu ehelichen und besser nicht auf eine Dame von edlem Geblüt zu warten, welche seinen Ansprüchen genügte. Wenn eine solche Dame nicht aufgetaucht war, bis ein Mann die fünfzig erreicht hatte, so würde sie wahrscheinlich niemals kommen, führte Flagg aus.
Roland sah die Weisheit dessen ein und stimmte zu, ohne zu ahnen, dass Flagg mit seinem strähnigen Haar und dem weißen Gesicht, das fast immer unter einer Kapuze verborgen war, sein innerstes Geheimnis kannte: dass er nur deswegen nie eine Frau kennengelernt hatte, die seinen Ansprüchen genügte, weil er sich eigentlich aus keiner Frau etwas machte. Frauen machten ihm Angst. Und er hatte auch den Vorgang nie gemocht, der Babys in die Leiber von Frauen bringt. Auch dieser Akt machte ihm Angst.
Aber er sah ein, wie klug der Rat des Hofzauberers war, und sechs Monate nach dem Begräbnis der Königinwitwe gab es im Königreich ein ungleich fröhlicheres Ereignis zu feiern – die Vermählung von König Roland mit Sasha, die die Mutter von Peter und Thomas werden sollte.
Roland wurde in Delain weder geliebt noch gehasst. Sasha hingegen wurde von allen geliebt. Als sie bei der Geburt ihres zweiten Sohnes starb, legte sich auf das Königreich tiefste Trauer, die ein Jahr und einen Tag dauerte. Sie war eine von sechs Frauen, die Flagg als mögliche Bräute des Königs vorgeschlagen hatte. Roland kannte keine dieser Frauen, die alle von ähnlicher Geburt und Stellung waren. Sie waren alle von adliger, aber keine von königlichem Geblüt; alle waren schüchtern und freundlich und still. Flagg schlug wohlweislich keine vor, die ihm seine Stellung als engster Vertrauter des Königs streitig machen konnte. Roland entschied sich für Sasha, weil sie die stillste und schüchternste des halben Dutzends zu sein schien und ihm wahrscheinlich am wenigsten Angst machen würde. Also heirateten sie. Sasha aus der Westlichen Baronie (wirklich einer sehr kleinen Baronie) war damals siebzehn Jahre alt, dreiunddreißig Jahre jünger als ihr Gemahl. Vor ihrer Hochzeitsnacht hatte sie noch niemals einen Mann ohne Hosen gesehen. Als sie in eben dieser Nacht seinen schlaffen Penis erblickte, fragte sie mit großem Interesse: »Was ist denn das, mein Gemahl?« Hätte sie etwas anderes gesagt, oder hätte sie es in einem etwas anderen Tonfall gesagt, so hätte die Nacht – und somit die ganze Geschichte – einen völlig anderen Verlauf nehmen können; trotz des speziellen Trunks, welchen Flagg ihm vor einer Stunde gegeben hatte, als das Hochzeitsfest sich dem Ende näherte, hätte Roland sich einfach davongemacht. Aber so sah er genau das in ihr, was sie war – ein sehr junges Mädchen, das ebenso wenig vom Akt des Kinderzeugens wusste wie er; er merkte, dass ihre Worte freundlich gemeint waren, und er begann, sie zu lieben, wie bald alle in Delain sie lieben sollten.
»Das ist Königseisen«, sagte er.
»Sieht nicht wie Eisen aus«, meinte Sasha zweifelnd.
»Das ist, bevor es in der Schmiede war«, sagte er.
»Aha!«, sagte sie. »Und wo ist die Schmiede?«
»Wenn du mir vertraust«, sagte er und stieg zu ihr ins Bett, »dann werde ich es dir zeigen, denn du selbst hast sie aus der Westlichen Baronie mitgebracht, ohne es zu wissen.«
3
Das Volk von Delain liebte sie, weil sie freundlich und gütig war. Es war Königin Sasha, die das Große Hospital gründete, Königin Sasha, die so bitterlich über die Grausamkeit der Bärenhatz auf dem großen Platz weinte, dass Roland schließlich den Brauch verbot; es war Königin Sasha, die den König um eine Senkung der Steuern anflehte, als die große Dürre hereinbrach und selbst die Blätter des Großen Alten Baums grau wurden. Man könnte sich fragen, ob Flagg gegen sie intrigierte. Anfangs nicht. In seinen Augen waren dies vergleichsweise unbedeutende Dinge, denn er war ein echter Magier und lebte schon seit Hunderten und Aberhunderten Jahren.
Sogar die Steuersenkung ließ er durchgehen, weil im Jahr zuvor die Flotte von Delain die Piraten von Anduan besiegt hatte, welche die Südküste des Königreichs mehr als hundert Jahre lang unsicher gemacht hatten. Der Schädel des Piratenkönigs von Anduan grinste von einem Pfahl vor den Palastmauern herab, und die Schatzkammern von Delain barsten schier von der wiedergewonnenen Beute. In bedeutenderen Fragen, Fragen der Staatsführung, hörte der König immer noch auf Flagg allein, und daher war Flagg vorerst zufrieden.
4
Wenngleich Roland begann, seine Frau zu lieben, lernte er doch nie, jene Tätigkeit zu lieben, welche die meisten Männer als überaus angenehm empfinden, den Akt, der sowohl den niedersten Küchenjungen wie auch den Erben des höchsten Throns hervorbringt. Er und Sasha schliefen in getrennten Gemächern, und er besuchte sie nicht oft. Diese Besuche erfolgten nicht häufiger als fünf- bis sechsmal pro Jahr, und manchmal konnte kein Königseisen geschmiedet werden, obschon Flagg immer stärkere Mixturen herstellte und Sasha stets liebevoll und zärtlich war.
Dennoch wurde vier Jahre nach ihrer Hochzeit Peter in ihrem Bett gezeugt. Und in dieser Nacht brauchte Roland Flaggs Trunk nicht, der grün war und schäumte und stets ein seltsames Gefühl in seinem Kopf hervorrief, als wäre sein Verstand benebelt. An diesem Tag hatte er mit zwölf seiner Männer in den Reservaten gejagt. Die Jagd hatte Roland stets am meisten geliebt – den Geruch des Waldes, die kühle, feuchte Luft, der Klang des Horns und das Gefühl des Bogens, wenn ein Pfeil losschnellte, um sein Ziel zu treffen. Schießpulver war zwar bekannt in Delain, aber selten, und die Jagd auf Wild mit einer Eisenröhre wurde zudem als unwürdig und verachtenswert betrachtet.
Sasha lag im Bett und las, als er zu ihr kam, sein gerötetes bärtiges Gesicht strahlte, und sie legte ihr Buch auf die Brust und lauschte aufmerksam seiner Geschichte, die er heftig gestikulierend erzählte. Am Ende beugte er sich zurück und zeigte ihr, wie er den Bogen gespannt hatte und Feind-Hammer, den großen Pfeil seines Vaters, über die schmale Klamm hinwegfliegen ließ. Als er das tat, da lachte sie und klatschte und gewann dadurch sein Herz.
Die Reservate des Königs waren beinahe leer gejagt. Es war schwer geworden, einen großen Hirsch darin zu finden, und einen Drachen hatte seit urdenklichen Zeiten niemand mehr gesehen. Die meisten Menschen hätten gelacht, hätte man angedeutet, dass in dem sorgsam gehegten Wald noch ein solches mythisches Wesen hausen sollte. Doch an eben diesem Tag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, als Roland und seine Mannen gerade umkehren wollten, da fanden sie genau das – oder besser, es fand sie.
Der Drache kam trampelnd und krachend aus dem Unterholz hervor, seine Schuppen schimmerten wie Grünspan auf Kupfer, aus den rußverkrusteten Nasenlöchern stieg Rauch auf. Es war kein kleiner Drache, sondern ein Männchen kurz vor der ersten Häutung. Die meisten der Gruppe waren wie vom Donner gerührt, niemand konnte einen Pfeil anlegen oder sich nur bewegen.
Er starrte die Jagdgesellschaft an, seine gewöhnlich grünen Augen wurden gelb, und er flatterte mit den Flügeln. Es bestand keine Gefahr, dass er ihnen davonfliegen würde – die Flügel würden erst in etwa fünfzig Jahren, nach zwei weiteren Häutungen, so weit entwickelt sein, dass sie den Leib durch die Lüfte tragen konnten -, aber der Kokon, welcher die Flügel des Drachen bis zum zehnten oder zwölften Lebensjahr am Körper hält, war bereits abgefallen, und ein einziger Flügelschlag erzeugte genug Wind, um den Anführer der Jagdgesellschaft aus dem Sattel zu werfen, so dass das Horn seinen Händen entglitt.
Roland war der Einzige, den das Auftauchen der Bestie nicht starr vor Schrecken hatte werden lassen, und seine nun folgende Tat zeugte von wahrem Heldenmut – auch wenn er zu bescheiden war, dies Sasha gegenüber zu erwähnen – und ebenso von der Begeisterung des Jägers. Der Drache hätte durchaus den größten Teil der Gesellschaft bei lebendigem Leibe rösten können, hätte Roland nicht so besonnen gehandelt. Er trieb das Pferd fünf Schritte näher heran und legte den großen Pfeil an. Er spannte den Bogen und schoss. Der Pfeil bohrte sich direkt in das Mal – die einzige weiche Stelle an der Kehle des Drachen, wo er Luft einsaugt, um Feuer zu erzeugen. Der Wurm fiel mit einem letzten Flammenspeien, welches alle Büsche in seiner Umgebung entzündete, tot zu Boden. Dies löschten die Edelmänner rasch, einige mit Wasser, einige mit Bier, und nicht wenige mit Pisse – da ich gerade darüber nachdenke, eigentlich bestand der größte Teil der Pisse auch aus Bier, denn wenn Roland auf die Jagd ging, dann nahm er stets einen großen Vorrat Bier mit, und er geizte nicht damit.
Das Feuer war binnen fünf Minuten gelöscht, der Drache binnen fünfzehn ausgeweidet. Über seinen rauchenden Nasenlöchern hätte man immer noch einen Kessel zum Kochen bringen können, als man die Kaldaunen herausnahm. Das bluttropfende Herz mit seinen neun Kammern wurde feierlich zu Roland gebracht. Er aß es roh, wie es Brauch war, und stellte fest, dass es köstlich war. Es stimmte ihn lediglich traurig, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit zeit seines Lebens kein zweites mehr bekommen würde.
Vielleicht war es das Herz des Drachen, welches ihn in dieser Nacht so stark machte. Vielleicht lag es nur an seiner Freude an der Jagd und dem Wissen, dass er nüchtern und überlegt gehandelt hatte, als alle anderen fassungslos in den Sätteln saßen (natürlich abgesehen vom Anführer der Jagdgesellschaft – der lag fassungslos auf dem Rücken). Aus welchen Gründen auch immer, als Sasha in die Hände klatschte und ausrief: »Gut gemacht, mein tapferer Gemahl!«, sprang er förmlich in ihr Bett. Sasha empfing ihn mit strahlenden Augen und einem Lächeln, welches seinen eigenen Triumph widerspiegelte. In dieser Nacht genoss Roland zum ersten und einzigen Mal ohne Hilfsmittel die Umarmung seiner Frau. Neun Monate später – ein Monat für jede Kammer des Drachenherzens – wurde Peter in demselben Bett geboren, und das Königreich jubelte – es hatte einen Thronerben.
5
Wahrscheinlich denkt ihr – wenn ihr euch überhaupt die Mühe gemacht habt, darüber nachzudenken -, dass Roland nach Peters Geburt aufgehört hat, Flaggs grünes Gebräu zu trinken. Keineswegs. Gelegentlich nahm er es immer noch ein. Und zwar deshalb, weil er Sasha liebte und sie glücklich machen wollte. Mancherorts glauben die Menschen, dass nur Männer Spaß am Sex haben und die Frauen lieber in Ruhe gelassen werden wollen. Aber das Volk von Delain kannte solche sonderbaren Vorstellungen nicht – man ging davon aus, dass auch eine Frau Vergnügen an dem Akt empfand, welcher die erfreulichsten Geschöpfe der Welt hervorbrachte. Roland wusste, dass er sich diesbezüglich nicht hinreichend um seine Frau kümmerte, aber er nahm sich vor, so aufmerksam wie möglich zu sein, auch wenn das bedeutete, dass er Flaggs Trunk einnehmen musste. Nur Flagg wusste, wie selten der König das Bett der Königin besuchte.
Ungefähr vier Jahre nach Peters Geburt suchte am Neujahrstag ein gewaltiger Schneesturm Delain heim. Abgesehen von einem einzigen anderen, von dem ich euch später noch berichten werde, war dies der schlimmste Sturm seit Menschengedenken.
Einem Impuls folgend, den er nicht einmal sich selbst erklären konnte, mischte Flagg dem König einen Trunk von doppelter Stärke – vielleicht trieb etwas im Wind ihn dazu, es zu tun. Normalerweise hätte Roland ob des ekligen Geschmacks das Gesicht verzogen und den Kelch wahrscheinlich beiseitegestellt, aber durch die Aufregung des Sturms war das Neujahrsfest besonders ausgelassen gewesen, und Roland war sehr betrunken. Das lodernde Feuer im Kamin gemahnte ihn an den letzten glühenden Atemzug des Drachen, und er hatte dem Kopf, welcher an der Wand befestigt war, häufig zugeprostet. Daher trank er die grüne Flüssigkeit in einem Zuge leer, und eine böse Wollust überkam ihn. Er verließ auf der Stelle das Esszimmer und besuchte Sasha. Beim Versuch, sie zu lieben, verletzte er sie.
»Bitte, mein Gemahl«, schrie sie schluchzend.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Hmmmpf …« Er verfiel neben ihr in einen tiefen Schlaf und war die nächsten zwanzig Stunden nicht wach zu kriegen. Sie vergaß niemals den üblen Atem, den er in dieser Nacht gehabt hatte. Ein Geruch wie verdorbenes Fleisch, wie der Tod. Was nur, fragte sie sich, hatte er gegessen … oder getrunken?
Roland rührte Flaggs Trank nie wieder an, aber Flagg war dennoch zufrieden. Neun Monate später gebar Sasha Thomas, ihren zweiten Sohn. Sie selbst starb bei der Geburt. So etwas kann natürlich vorkommen, und so trauerte zwar jeder, aber niemand war überrascht. Sie glaubten zu wissen, was vorgefallen war. Aber die beiden einzigen Menschen im ganzen Königreich, die die wahren Umstände von Sashas Tod kannten, waren Anna Crookbrows, die Hebamme, und Flagg, der Hofzauberer des Königs. Flagg hatte endgültig die Geduld mit Sashas Einmischungen verloren.
6
Peter war erst fünf, als seine Mutter starb, aber er erinnerte sich ihrer voll Liebe. Für ihn war sie gütig, zärtlich, liebevoll und sanft gewesen. Aber fünf Jahre ist ein sehr junges Alter, und die meisten seiner Erinnerungen an sie waren nicht sehr genau. Eine deutliche Erinnerung jedoch besaß er, die er niemals vergaß – das war eine Rüge, die sie ihm einmal erteilt hatte. Viel, viel später wurde diese Erinnerung noch sehr wichtig für ihn. Sie hatte etwas mit seiner Serviette zu tun.
An jedem Ersten des Fünfmonats wurde bei Hofe ein Fest gefeiert, um das Pflanzen im Frühling zu feiern. Mit fünf Jahren durfte Peter zum ersten Mal dabei sein. Der Brauch schrieb vor, dass Roland am Kopf der Tafel saß, rechter Hand sein Thronerbe, die Königin aber am anderen Ende der Tafel. Die Folge dessen war, dass sie beim Essen nicht auf Peter aufpassen konnte, und daher erteilte sie ihm vorher genaue Anweisungen, wie er sich verhalten sollte. Sie wollte, dass er sich anständig benahm und gute Manieren an den Tag legte. Und sie wusste natürlich, dass er während des Essens ganz auf sich allein gestellt sein würde, denn sein Vater hatte überhaupt keine Ahnung von Manieren.
Ein paar von euch mögen sich vielleicht wundern, weshalb die Aufgabe, Peter Unterricht in Manieren zu geben, Sasha zufiel. Hatte der Junge denn keine Gouvernante? (Doch, eigentlich hatte er sogar zwei.) Gab es keine Diener, deren Aufmerksamkeit einzig und allein dem kleinen Prinzen zu gelten hatte? (Ganze Heerscharen.) Der Trick bestand darin, all diese Leute nicht dazu zu bringen, sich um Peter zu kümmern, sondern sie fernzuhalten. Sasha wollte ihn selbst erziehen, wenigstens soweit ihr das möglich war. Sie hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie ihr Sohn großgezogen werden sollte. Sie liebte ihn von ganzem Herzen und wollte aus eigenen egoistischen Gründen bei ihm sein. Aber sie wusste auch, dass sie eine große und ernste Verantwortung für Peters Entwicklung trug. Dieser kleine Junge würde eines Tages König werden, und Sasha wollte vor allem, dass er gut sei. Ein guter Junge, dachte sie, würde auch ein guter König sein.
Große Bankette im Thronsaal waren keine besonders vornehmen Ereignisse, und die meisten Kindermädchen hätten sich sicher keine Gedanken über die Tischsitten des Jungen gemacht. Aber er wird doch der König sein!, hätten sie gesagt und wären wohl auch ein wenig schockiert gewesen, dass sie ihn in derlei nebensächlichen Fragen verbessern sollten. Wen kümmert es, wenn er die Sauciere umschüttet? Wen kümmert es, wenn er sich auf die Halskrause tropft oder sich gar die Hände daran abwischt? Hatte König Alan in alten Zeiten sich nicht manchmal auf seinen Teller übergeben und dann seinem Hofnarren befohlen, herbeizukommen und »diese köstliche warme Suppe zu schlürfen«? Biss nicht König John oft Forellen bei lebendigem Leibe die Köpfe ab und steckte die zuckenden Fischleiber dann den Dienerinnen in ihr Dekolleté? Wird dieses Bankett nicht wie die meisten Bankette damit enden, dass die Teilnehmer am Ende einander über die Tische hinweg mit Essen bewerfen?
Zweifellos würde es so kommen, aber wenn das Essenwerfen begann, würden sie und Peter sich schon längst zurückgezogen haben. Was Sasha störte, das war eben genau die Frage: »Wen kümmert es?« Ihrer Meinung nach war dies eine der schlimmsten Einstellungen, die man einem kleinen Jungen beibringen konnte, der König werden sollte.
Daher erzog Sasha Peter sehr sorgfältig, und sie beobachtete ihn in der Nacht des Banketts genau. Und später, als er schläfrig in seinem Bettchen lag, redete sie mit ihm.
Weil sie eine gute Mutter war, lobte sie ihn zuerst liebevoll wegen seines guten Benehmens und seiner Manieren – und das zu Recht, denn sie waren größtenteils tadellos gewesen. Aber sie wusste, niemand würde ihn verbessern, wenn er etwas falsch machte, wenn nicht sie selbst es tat, und sie wusste, sie musste es jetzt tun, in den wenigen Jahren, in denen er sie anbetete. Daher sagte sie, nachdem sie ihn gelobt hatte:
»Aber etwas hast du falsch gemacht, Peter, und ich möchte nicht, dass du es noch einmal tust.«
Peter lag in seinem Bett, und seine dunkelblauen Augen sahen sie ernst an. »Was war das, Mutter?«
»Du hast deine Serviette nicht benutzt«, sagte sie. »Du hast sie zusammengelegt neben deinem Teller liegen lassen, und es stimmte mich traurig, das zu sehen. Das Brathähnchen hast du mit den Fingern gegessen, und das war richtig, denn das ist die Art, wie Männer es essen. Aber als du das Hähnchen wieder weggelegt hast, hast du dir die Hände an deinem Hemd abgewischt, und das ist nicht richtig.«
»Aber Vater … und Mr. Flagg … und die anderen edlen Herren...«
»Zum Teufel mit Flagg und den anderen edlen Herren von Delain«, sagte sie mit solcher Heftigkeit, dass Peter in seinem Bettchen ein wenig zusammenzuckte. Er hatte Angst und schämte sich, weil er die Rosen in ihren Wangen zum Erblühen gebracht hatte. »Was dein Vater tut, das ist richtig, denn er ist der König, und auch was du als König tust, wird immer richtig sein. Aber Flagg ist nicht König, wie sehr er es sich auch wünschen mag, und die Edelmänner sind nicht Könige, und du bist auch noch nicht König, sondern lediglich ein kleiner Junge, der seine Manieren vergessen hat.«
Sie sah, dass er Angst hatte, und sie lächelte und legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Sei ruhig, Peter«, sagte sie. »Es ist nur eine Kleinigkeit, aber dennoch ist sie wichtig – denn dereinst wirst du König sein. Und nun geh und hole deine Tafel.«
»Aber es ist Schlafenszeit…«
»Vergiss die Schlafenszeit. Der Schlaf kann warten. Bring die Tafel.«
Peter lief, um seine Schiefertafel zu holen.
Sasha nahm die mit einem Faden daran befestigte Kreide und schrieb sorgfältig drei Buchstaben darauf. »Kannst du dieses Wort lesen, Peter?«
Peter nickte. Er konnte nur wenige Worte lesen, wenngleich er fast alle Großbuchstaben kannte. Dies war eines der Wörter, die er kannte. »Da steht GOD.«1
»Ja, das ist richtig. Und nun schreib das rückwärts und sieh, was dabei herauskommt.«
»Rückwärts?«, sagte Peter zweifelnd.
»Ganz recht.«
Peter gehorchte und malte kindlich verwackelte Buchstaben unter die gestochene Schrift seiner Mutter. Er stellte verblüfft fest, dass er wieder eines der Worte vor sich hatte, die er lesen konnte.
»DOG! Mama! Hier steht DOG!«2
»Ja, Es heißt DOG.« Der traurige Klang ihrer Stimme ließ Peters Aufregung sofort verfliegen. Seine Mutter deutete von GOD zu DOG. »Dies sind die beiden Naturen des Menschen«, sagte sie. »Vergiss sie niemals, denn eines Tages wirst du König sein, und Könige werden groß und stark – so groß und stark wie Drachen nach ihrer neunten Häutung.«
»Vater ist nicht groß und stark«, hielt Peter dem entgegen. Roland war tatsächlich klein und hatte krumme Beine. Und zudem schob er eine gewaltige Wampe vor sich her, die von dem vielen Bier und Met herrührte, die er zu sich nahm.
Sasha lächelte.
»Doch, er ist es. Könige wachsen unsichtbar, Peter, und das in einem einzigen Augenblick, wenn sie nämlich das Zepter nehmen und ihnen auf dem Platz der Nadel die Krone auf den Kopf gesetzt wird!«
»Wirklich?« Peters Augen wurden groß und rund. Er überlegte, dass sie weit von seinem Fehler, beim Bankett die Serviette nicht benutzt zu haben, abgeschweift waren, aber es tat ihm nicht leid, dass dieses peinliche Thema zu Gunsten eines ungleich interessanteren fallen gelassen worden war. Außerdem hatte er sich bereits vorgenommen, dass er nie wieder vergessen würde, seine Serviette zu benutzen – wenn dies für seine Mutter wichtig war, dann war es auch für ihn wichtig.
»O ja, das tun sie. Könige werden ganz furchtbar groß, und deshalb müssen sie ganz besonders vorsichtig sein, denn ein sehr großer Mensch kann kleinere unter seinen Füßen zertreten, wenn er nur einen Spaziergang macht, sich umdreht oder sich zu hastig an der falschen Stelle hinsetzt. Schlechte Könige tun das oft. Ich glaube, selbst gute Könige können es manchmal nicht vermeiden.«
»Ich verstehe leider nicht …«
»Dann hör mir noch einen Augenblick zu.« Sie pochte auf die Schiefertafel. »Unsere Priester sagen, dass unsere Natur teils von Gott und teils vom Alten Pferdefuß stammt. Weißt du, wer der Alte Pferdefuß ist, Peter?«
»Der Teufel.«
»Ja. Aber außerhalb von erfundenen Geschichten gibt es nur wenige Teufel, Pete – die meisten schlechten Menschen sind Hunden ähnlicher als Teufeln. Hunde sind freundlich, aber dumm, und so sind die meisten Männer und Frauen auch, wenn sie betrunken sind. Wenn Hunde aufgeregt und verwirrt sind, dann beißen sie manchmal; wenn Männer aufgeregt und verwirrt sind, dann streiten sie. Hunde sind wunderbare Haustiere, weil sie treu sind. Aber wenn ein Mann nur ein Haustier ist, dann ist er ein schlechter Mann, finde ich. Hunde können tapfer sein, aber sie können auch Feiglinge sein, die in der Dunkelheit heulen oder mit eingeklemmtem Schwanz vor Gefahren weglaufen. Ein Hund leckt ebenso eifrig die Hand eines schlechten Herrn wie die eines guten, weil Hunde den Unterschied zwischen gut und böse nicht kennen. Ein Hund frisst verdorbene Nahrung, würgt den Teil aus, den sein Magen nicht vertragen kann, und frisst dann weiter.«
Sie verstummte einen Augenblick und dachte vielleicht darüber nach, was gerade im Festsaal vor sich gehen mochte – Männer und Frauen, die trunken lachten und sich mit Speisen bewarfen, und manchmal wandten sie sich beiläufig ab, um sich auf den Boden neben ihrem Stuhl zu übergeben. Roland war genauso, und irgendwie machte sie das manchmal traurig, aber sie hielt es ihm nicht vor und behandelte ihn deswegen nicht schlechter. Es war seine Art. Er würde ihr vielleicht versprechen sich zu bessern, und vielleicht würde er es sogar tun, um ihr eine Freude zu machen, aber hinterher würde er nicht mehr derselbe Mann sein.
»Verstehst du das alles, Peter?«
Peter nickte.
»Fein! Und nun sage mir eines.« Sie beugte sich zu ihm hinab. »Benutzt ein Hund eine Serviette?«
Zerknirscht und beschämt senkte Peter den Blick und schüttelte den Kopf. Offensichtlich war die Unterhaltung doch nicht so weit abgeschweift, wie er gedacht hatte. Vielleicht weil der Abend sehr anstrengend gewesen war und er jetzt sehr müde war, stiegen ihm Tränen in die Augen und liefen über seine Wangen. Er wehrte sich gegen das Schluchzen, das herauswollte. Er sperrte es in seiner Brust ein. Sasha sah das und bewunderte ihn.
»Weine nicht wegen einer unbenutzten Serviette, Liebes«, sagte Sasha, »denn das habe ich nicht gewollt.« Sie stand auf, ihr Bauch wölbte sich vor. Die Geburt von Thomas stand kurz bevor. »Ansonsten war dein Benehmen vorbildlich. Jede Mutter im Königreich wäre stolz auf einen Sohn gewesen, der sich nur halb so anständig benommen hätte, und ich bewundere dich von ganzem Herzen. Ich sage dir dies alles nur, weil ich die Mutter eines Prinzen bin. Das ist manchmal schwer, aber es lässt sich nicht ändern, und ich würde es auch nicht ändern, selbst wenn ich könnte. Aber bedenke stets, dass eines Tages Menschenleben von jeder deiner Bewegungen abhängen können; sogar von den Träumen, die deinen Schlaf heimsuchen, können Menschenleben abhängen. Es werden vielleicht keine Menschenleben davon abhängen, ob du nach dem Brathähnchen deine Serviette benützen wirst … vielleicht aber doch. Vielleicht. Es haben schon geringere Dinge Menschenleben gekostet. Ich verlange von dir, dass du bei allem, was du tust, stets die zivilisierte Seite deiner Natur bedenkst. Die gute Seite – Gottes Seite. Versprichst du mir das, Peter?«
»Ich verspreche es.«
»Dann ist alles gut.« Sie küsste ihn sanft. »Glücklicherweise bin ich jung, und du bist jung. Wir werden noch oft über solche Dinge sprechen, wenn du sie besser verstehen kannst.«
Dazu kamen sie nicht mehr, aber Peter vergaß diese Lektion nie und benutzte immer seine Serviette, auch wenn die anderen es nicht taten.
7
Sasha starb also.
Sie spielt keine große Rolle mehr in unserer Geschichte, doch eines solltet ihr noch über sie wissen: Sie besaß ein Puppenhaus. Dieses Puppenhaus war sehr groß und sehr kostbar, beinahe ein Miniaturschloss. Als der Zeitpunkt ihrer Hochzeit näher rückte, bemühte Sasha sich, so fröhlich wie möglich zu sein, aber es stimmte sie traurig, alles und jeden in dem großen Haus in der Westlichen Baronie zurückzulassen, wo sie aufgewachsen war – und sie war ein wenig nervös. Sie sagte zu ihrer Mutter: »Ich war noch niemals verheiratet, und ich weiß nicht, ob es mir gefallen wird.«
Von allen Spielsachen, die sie zurückließ, tat es ihr um das Puppenhaus, welches sie seit ihren Mädchenjahren besaß, am meisten leid.
Roland, der ein gütiger Mann war, fand das irgendwie heraus, und wenngleich er ebenfalls nervös war, was sein zukünftiges Leben anbetraf (schließlich war er auch noch niemals verheiratet gewesen), fand er dennoch die Zeit, Quentin Ellender, den begabtesten Künstler des Landes, damit zu beauftragen, seiner neuen Frau ein neues Puppenhaus zu bauen. »Es soll das schönste Puppenhaus sein, das jemals einer jungen Dame gehört hat«, sagte er zu Ellender. »Sie soll es einmal ansehen und ihr altes Puppenhaus für immer vergessen.«
Euch allen ist sicher klar, dass dies eine alberne Bemerkung war, die Roland da von sich gegeben hatte, falls er sie wirklich ernst meinte. Niemand vergisst jemals ein Spielzeug, das ihn als Kind glücklich gemacht hat, selbst wenn dieses Spielzeug durch ein anderes ersetzt wird, welches viel schöner ist. Sasha vergaß ihr altes Puppenhaus nie, wenngleich das neue sie sehr beeindruckte. Jeder, der kein Narr war, wäre beeindruckt gewesen. Diejenigen, die es sahen, erklärten, dass es Quentin Ellenders beste Arbeit war, und damit hatten sie gewiss recht.
Es war ein Landhaus im Miniaturstil, dem nicht unähnlich, in dem Sasha mit ihren Eltern in der hügeligen Westlichen Baronie gewohnt hatte. Alles darin war winzig, aber so erstaunlich lebensecht gefertigt, dass man hätte schwören können, alles würde funktionieren … was es größtenteils auch tat.
Der Herd, zum Beispiel, wurde wirklich heiß, und man konnte sogar winzige Essensportionen darauf kochen. Wenn man ein Stückchen Kohle hineintat, nicht größer als eine Streichholzschachtel, dann brannte er den ganzen Tag lang … und wenn man mit seinen ungeschickten großen Menschenfingern in die winzige Küche griff und dabei den heißen Herd berührte, dann konnte es vorkommen, dass man sich schmerzlich verbrannte. Es gab keine Wasserhähne und keine Toilettenspülung, denn die waren im Königreich Delain unbekannt – und sind es heute noch -, aber wenn man behutsam war, dann konnte man Wasser aus einer Pumpe herauspumpen, die kaum größer als ein kleiner Finger war. Es gab ein Nähzimmer mit einem Spinnrad, das sich wirklich drehte, und einem Webstuhl, der wirklich webte. Das Spinett im Salon spielte tatsächlich, wenn man die Tasten mit einem Zahnstocher niederdrückte, und die Töne stimmten. Alle, die es sahen, waren sich einig, dass es ein Wunder war und dass Flagg irgendetwas damit zu tun haben musste. Wenn Flagg solche Worte hörte, dann lächelte er nur und sagte nichts. Er hatte überhaupt nichts mit dem Puppenhaus zu tun gehabt – in Wahrheit hielt er es für eine alberne Sache -, aber er wusste auch, dass es nicht immer notwendig ist, Behauptungen von sich zu geben und den Menschen zu sagen, wie wunderbar man ist, um Größe zu erreichen. Manchmal genügte es, nur klug dreinzuschauen und den Mund zu halten.
In Sashas Puppenhaus gab es echte Kashaminteppiche, echte Samtvorhänge, echtes Porzellangeschirr; im Vorratsraum konnte man tatsächlich Lebensmittel frisch halten. Die Wandtäfelung im Empfangszimmer und in der Diele war aus wertvollem Eisenbaumholz. Alle Fenster waren verglast, und über der breiten Eingangstür befand sich ein Oberlicht aus Buntglas.
Alles in allem war es das hübscheste Puppenhaus, das sich ein Kind nur erträumen konnte. Als es während der Hochzeitsfeier enthüllt wurde, klatschte Sasha vor Begeisterung in die Hände und dankte ihrem Mann von Herzen dafür. Später begab sie sich in Ellenders Werkstatt und dankte ihm nicht nur, sondern machte auch noch einen tiefen Knicks vor ihm, was etwas Unerhörtes war – in jenen Tagen knicksten Königinnen nicht vor gewöhnlichen Künstlern. Roland war zufrieden, und Ellender, dessen Augenlicht bei der Arbeit stark gelitten hatte, war zutiefst gerührt.
Aber ihr liebes altes Puppenhaus daheim vergaß sie deswegen nicht, so schmucklos es verglichen mit dem neuen auch wirkte, und sie verbrachte nicht so viele regnerische Nachmittage damit, mit ihm zu spielen – die Möbel umzustellen und den Ofen anzuzünden, den rauchenden Schornsteinen zuzusehen oder so zu tun, als würde eine Teegesellschaft abgehalten oder ein Bankett zu Ehren der Königin – wie früher, selbst mit fünfzehn oder sechzehn Jahren noch. Einer der Gründe dafür war sehr einfach. Es machte keinen Spaß, so zu tun, als bereite man einen Empfang für die Königin vor, wenn man selbst die Königin war. Dieser eine Grund reichte vielleicht schon aus. Sie war jetzt erwachsen, und sie musste feststellen, dass das Erwachsensein nicht ganz genau so war, wie sie es sich als Kind vorgestellt hatte. Damals hatte sie geglaubt, sie würde eines Tages eine bewusste Entscheidung treffen und ihre Spielsachen, Spiele und kleinen Träumereien einfach beiseiteräumen. Nun stellte sie fest, dass es überhaupt nicht so war. Vielmehr merkte sie, dass das Interesse einfach allmählich nachließ. Es wurde immer weniger und weniger und weniger, bis sich der Staub der Jahre über die bunten Freuden der Kindheit legte und sie vergessen waren.
8
Peter, ein kleiner Junge, der eines Tages König sein würde, hatte Dutzende Spielsachen – nein, um die Wahrheit zu sagen, er hatte Tausende Spielsachen. Er hatte Hunderte Zinnsoldaten, mit denen er große Schlachten schlug, und Dutzende Spielpferde. Er besaß Spiele und Bälle und Wurfkugeln und Murmeln. Er hatte Stelzen, die ihn einen Meter fünfzig groß machten. Er hatte einen magischen Springstab, auf dem er hüpfen konnte, und so viel Malpapier, wie er sich nur wünschte – und das in einer Zeit, da Papier nur schwer herzustellen war und nur die reichsten Leute es sich leisten konnten.
Von allen Spielsachen im Schloss aber liebte er das Puppenhaus seiner Mutter am meisten. Dasjenige in der Westlichen Baronie hatte er nie gesehen, und daher war dieses für ihn das prächtigste aller Puppenhäuser. Wenn es draußen regnete, konnte er stundenlang davorsitzen, und wenn draußen der Winterwind aus seiner blauen schneegefüllten Kehle heulte. Als er die Kindertätowierung bekam (eine Krankheit, die wir Windpocken nennen), ließ er es sich von einem Diener auf einem speziellen Tisch, der über sein Krankenbett reichte, bringen und spielte fast ohne Unterlass damit, bis er wieder gesund war.
Es gefiel ihm, sich die winzigen Menschen vorzustellen, welche das Haus bevölkerten; manchmal schienen sie ihm so wirklich, dass er sie beinahe sehen konnte. Er erfand sie alle und sprach mit verschiedenen Stimmen für sie. Es war die Familie King. Da war Roger King, der war tapfer und mächtig (wenn auch nicht besonders groß und etwas o-beinig), und er hatte einst einen Drachen getötet. Da war die liebliche Sarah King, seine Frau. Und dann war da der kleine Junge, Petie, der sie liebte und von ihnen geliebt wurde. Ganz zu schweigen natürlich von all den Dienern, die er erfand, um die Betten zu machen, den Herd zu heizen, Wasser zu holen, Mahlzeiten zu kochen und die Wäsche zu waschen.
Weil er ein Junge war, waren ein paar der Geschichten, die er sich ausdachte, blutrünstiger als die von Sasha in ihren Mädchenjahren. In einer davon belagerten die Piraten von Anduan das Haus und wollten hinein, um die Familie niederzumetzeln. Es kam zu einem gewaltigen Kampf. Dutzende Piraten wurden getötet, aber es waren zu viele. Sie rüsteten zum letzten Angriff. Doch kurz bevor es dazu kam, rückte die Leibgarde des Königs an – diesen Part spielten Peters Zinnsoldaten – und tötete jeden einzelnen dieser verkommenen anduanischen Seeteufel. In einer anderen Geschichte brach eine Drachenhorde aus dem nahe gelegenen Wald hervor (normalerweise war der nahe gelegene Wald unter Sashas Sofa beim Fenster), die mit ihrem feurigen Odem das Haus niederbrennen wollte. Aber Roger und Petie eilten mit ihren Bogen hinaus und erlegten jeden Einzelnen. »Bis der Boden schwarz war von ihrem ekligen alten Blut«, berichtete Peter seinem Vater an diesem Abend beim Essen, und Roland brüllte zustimmend.
Nachdem Sasha gestorben war, sagte Flagg zu Roland, er fände es nicht richtig, dass ein Junge mit einem Puppenhaus spielte. Vielleicht machte es ihn nicht zu einer Memme, sagte Flagg, vielleicht aber doch. Auf jeden Fall aber würde es keinen guten Eindruck machen, wenn das gewöhnliche Volk davon erfuhr. Und derlei Geschichten wurden immer bekannt. Im Schloss wimmelte es von Dienern. Diener sahen alles, und ihre Zungen waren lose.
»Er ist doch erst sechs«, erwiderte Roland unbehaglich. Flagg, mit seinem weißen, hungrigen Gesicht, welches stets tief unter der Kapuze verborgen war, und mit seinen Zaubersprüchen, erfüllte ihn stets mit Unbehagen.
»Sechs ist alt genug, einen Jungen darin zu unterweisen, was er werden soll, Sire«, sagte Flagg. »Denkt gut darüber nach. Eure Entscheidung wird richtig sein, wie alle Eure Entscheidungen.«
Denkt gut darüber nach, hatte Flagg gesagt, und genau das tat König Roland. Man könnte sogar sagen, dass er in seiner über zwanzigjährigen Regentschaft über Delain niemals so gut über etwas nachgedacht hatte.
Das mag euch vielleicht seltsam erscheinen, wenn ihr an all die Pflichten denkt, die ein König hat – gewichtige Probleme, etwa auf etwas Steuern zu erheben oder sie von etwas anderem zu nehmen, Krieg zu erklären oder nicht, zu vergeben oder zu verurteilen. Was, werdet ihr euch fragen, bedeutete daneben eine Entscheidung darüber, ob ein kleiner Junge mit einem Puppenhaus spielen durfte oder nicht?
Vielleicht gar nichts, vielleicht alles. Ich möchte, dass ihr euch selbst eine Meinung darüber bildet. Ich möchte euch aber verraten, dass Roland nicht der klügste König war, der jemals über Delain geherrscht hatte. Das Denken war stets eine Anstrengung für ihn gewesen. Er fühlte sich dabei, als würden Wackersteine in seinem Kopf herumrollen. Seine Augen tränten, und seine Schläfen pochten. Wenn er angestrengt nachdachte, wurde seine Nase ganz verstopft.
Als er ein Junge gewesen war, hatte sein Unterricht in Schreiben und Mathematik und Geschichte ihm solche Kopfschmerzen bereitet, dass ihm gestattet worden war, sie aufzugeben und stattdessen das zu tun, was er am besten konnte, nämlich jagen. Er gab sich große Mühe, ein guter König zu sein, aber er hatte das Gefühl, dass er niemals gut genug sein konnte, oder klug genug, die Probleme des Königreichs zu lösen oder die richtigen Entscheidungen zu treffen, und er wusste, wenn er die falschen traf, dann mussten Menschen deswegen leiden. Wenn er gehört hätte, was Sasha nach dem Bankett zu Peter gesagt hatte, so hätte er dem voll und ganz zugestimmt. Könige waren tatsächlich größer als andere Menschen, doch manchmal – eigentlich oft – wünschte er sich, er wäre kleiner. Wenn ihr euch jemals in eurem Leben Gedanken darüber gemacht habt, ob ihr einer bestimmten Aufgabe gewachsen seid, dann werdet ihr verstehen, wie ihm zumute war. Ihr wisst vielleicht nicht, dass solche Sorgen sich mitunter selbständig machen. Auch wenn das Gefühl, man sei nicht gut genug für eine Aufgabe, anfangs vielleicht gar nicht stimmt, kann es mit der Zeit wahr werden. Dies war Roland widerfahren, und im Laufe der Jahre hatte er sich mehr und mehr auf Flagg verlassen. Manchmal beunruhigte ihn der Gedanke, dass Flagg in jeder Beziehung, abgesehen vom Titel, der eigentliche König war – aber dieser Gedanke kam ihm immer nur spät in der Nacht. Am Tage war er nur dankbar für Flaggs Unterstützung.
Wäre Sasha nicht gewesen, so wäre Roland wahrscheinlich ein viel schlechterer König geworden, und das lag daran, dass die leise Stimme, die er manchmal nachts hörte, wenn er nicht einschlafen konnte, mehr Wahrheit ausdrückte als seine Dankbarkeit bei Tage. Flagg beherrschte das Königreich wirklich so gut wie allein, und Flagg war ein sehr böser Mensch. Später werden wir unglücklicherweise noch mehr von ihm hören, aber vorläufig wollen wir uns von ihm verabschieden; auf bald.
Sasha hatte Flaggs Macht über Roland ein wenig gebrochen. Die Ratschläge, die sie gab, waren gut und praktisch und viel gütiger und gerechter als die des Magiers. Sie konnte Flagg nie richtig leiden – die wenigsten in Delain konnten das, und viele schauderten, wenn sie nur seinen Namen hörten -, aber ihr Missfallen war mild. Sie hätte vielleicht anders gedacht, wenn sie gewusst hätte, wie genau Flagg sie beobachtete, mit welch wachsendem giftigem Hass.
9
Einmal fasste Flagg tatsächlich den Entschluss, Sasha zu vergiften. Das war, nachdem sie Roland gebeten hatte, zwei Deserteure zu begnadigen, die Flagg auf dem Platz der Nadel köpfen lassen wollte. Deserteure, argumentierte er, geben ein schlechtes Beispiel. Wenn einer oder zwei davonkamen, ohne die Höchststrafe zu erhalten, dann könnten andere es auch versuchen. Man konnte sie nur auf eine einzige Art entmutigen, sagte er, indem man ihnen nämlich die Köpfe derjenigen zeigte, die es versucht hatten. Andere potenzielle Deserteure konnten die fliegenumschwärmten Köpfe mit den weit aufgerissenen Augen ansehen und noch einmal darüber nachdenken, wie ernst der Treueeid war, den sie dem König geschworen hatten.
Sasha aber hatte Informationen von einer ihrer Zofen erhalten, von denen Roland nichts wusste. Die Mutter des älteren Jungen war schwer krank geworden. Zu der Familie gehörten drei jüngere Brüder und zwei Schwestern. Alle hätten in der bitteren Kälte des Winters in Delain sterben können, wäre der Junge nicht aus der Kaserne geschlichen und nach Hause gegangen, um für seine Mutter Holz zu hacken. Der andere Junge war mitgegangen, weil er sein bester Freund war und sein verschworener Blutsbruder obendrein. Ohne seine Hilfe hätte es zwei Wochen dauern können, genügend Holz zu hacken, um die Familie für den Winter zu versorgen.
Da sie beide emsig gearbeitet hatten, hatten sie nur sechs Tage gebraucht.
Damit erschien der Vorfall in einem anderen Licht. Roland hatte seine eigene Mutter sehr geliebt, und er wäre mit Freuden für sie gestorben. Er stellte Nachforschungen an und fand heraus, dass Sasha recht hatte. Er fand auch heraus, dass die beiden Soldaten erst geflohen waren, nachdem ein sadistischer Feldwebel sich wiederholt geweigert hatte, ihre Bitte um Dienstbefreiung an seinen Vorgesetzten weiterzuleiten, und dass sie, kaum waren vier Klafter Holz gehackt, zurückgekehrt waren, obwohl sie gewusst hatten, dass das Kriegsgericht und das Beil des Scharfrichters auf sie warteten.
Roland begnadigte sie. Flagg nickte, lächelte und sagte lediglich: »Euer Wille ist Delains Wille, Sire.« Nicht um alles Gold in den Vier Königreichen hätte er Roland die kalte Wut sehen lassen, die in ihm aufstieg, als er nicht seinen Willen bekam. Rolands Entscheidung fand breite Zustimmung in Delain, denn viele kannten die wahren Hintergründe, und diejenigen, die sie nicht kannten, wurden von den anderen rasch aufgeklärt. An Rolands weise und mitfühlende Begnadigung erinnerte man sich noch, als andere, weniger humane Dekrete (die für gewöhnlich ebenfalls vom Hofzauberer ausgingen) verkündet und durchgesetzt wurden. Das alles war Flagg einerlei. Er hatte sie hinrichten lassen wollen, und Sasha hatte sich eingemischt. Warum hatte Roland keine andere heiraten können? Er hatte keine Einzige gekannt, und ihm lag nichts an Frauen. Warum keine andere? Nun, es war egal. Flagg lächelte zu der Begnadigung, aber er schwor sich tief in seinem Herzen, dass er noch Sashas Beerdigung beiwohnen würde.
In der Nacht, nachdem Roland das Gnadengesuch unterschrieben hatte, begab sich Flagg in sein finsteres Laboratorium im Keller. Dort zog er einen schweren Handschuh über und holte eine Totenwachenspinne aus dem Käfig, in dem er sie zwanzig Jahre lang gehalten und sie mit neugeborenen Mäusen gefüttert hatte. Jede Maus, die er der Spinne verfüttert hatte, war vergiftet und wäre ohnehin gestorben; Flagg tat das, um das Gift der Spinne noch stärker zu machen, das sowieso schon unglaublich stark war. Die Spinne war blutrot und so groß wie eine Ratte. Ihr aufgeblähter Leib war prallvoll von Gift; Gift troff in klaren Tropfen von ihrem Stachel und ätzte Löcher in die Platte von Flaggs Arbeitstisch.
»Nun stirb, mein Liebchen, und töte eine Königin«, flüsterte Flagg und zerdrückte die Spinne mit dem Handschuh, der aus einem verzauberten Stahlgeflecht bestand, welches dem Gift standhielt – dennoch war seine Hand, als er an diesem Abend zu Bett ging, geschwollen und rot und schmerzte pochend.
Gift aus dem zerquetschten Leib der Spinne troff in einen Kelch. Flagg goss Branntwein über die Substanz, dann vermischte er beides. Als er den Löffel aus dem Glas nahm, war dieser verbogen und unbrauchbar. Wenn die Königin einen einzigen Schluck trank, würde sie tot umfallen. Ihr Tod würde schnell sein, aber außerordentlich schmerzhaft, dachte Flagg zufrieden.
Sasha hatte die Angewohnheit, jeden Abend ein Glas Branntwein zu trinken, weil sie oft Schwierigkeiten mit dem Einschlafen hatte. Flagg läutete, damit der Diener kam, der ihr den Schlummertrunk bringen sollte.
Sasha erfuhr nie, wie nahe sie an diesem Abend dem Tode gewesen war.
Kurz nachdem er den tödlichen Trunk gebraut hatte, noch bevor der Diener klopfte, schüttete Flagg ihn in den Ausguss im Zentrum des Fußbodens und lauschte, wie er zischend und gurgelnd im Abflussrohr verschwand. Sein Gesicht war vom Hass verzerrt. Als das Zischen aufgehört hatte, schleuderte er den Kristallkelch mit aller Wucht in die Ecke. Er zerschellte wie eine Bombe.
Der Diener klopfte und wurde eingelassen.
Flagg deutete auf die glitzernden Scherben. »Ich habe einen Kelch zerbrochen«, sagte er. »Mach sauber. Und nimm einen Besen, Idiot. Wenn du die Scherben berührst, wird es dir leidtun.«
10
Er hatte das Gift im letzten Augenblick in den Abfluss geschüttet, weil ihm klar geworden war, dass man ihm auf die Schliche kommen könnte. Hätte Roland die junge Königin nicht so sehr geliebt, wäre Flagg das Risiko eingegangen. Aber er fürchtete, dass Roland wütend und mit gebrochenem Herzen nach dem Täter suchen lassen und nicht ruhen würde, bis man den Mörder gefasst hatte, und dann würde sein abgeschlagener Kopf die Spitze der Nadel zieren. Es wäre das eine Verbrechen, das der König auf jeden Fall rächen würde, einerlei, wer es begangen hatte. Könnte er den Mörder finden?
Flagg hielt es für möglich.
Immerhin war Jagen dasjenige, was Roland am besten konnte.
Und so kam Sasha – dieses Mal – davon, beschützt von Flaggs Furcht und der Liebe ihres Mannes. Und Flagg gab dem König auch weiterhin in fast allen Fragen seinen Rat.
Was jedoch das Puppenhaus anbelangt – man könnte sagen, dass Sasha in dieser Frage siegreich blieb, wenngleich es Flagg mittlerweile tatsächlich gelungen war, sie sich vom Hals zu schaffen.
11
Nicht lange, nachdem Flagg seine geringschätzigen Bemerkungen über Puppenhäuser und königliche Memmen gemacht hatte, schlich Roland unerkannt ins Morgenzimmer der toten Königin und sah seinem Sohn beim Spielen zu. Der König stand direkt hinter der Tür und runzelte die Stirn. Er dachte viel angestrengter nach als gewöhnlich, und das bedeutete, es rollten Wackersteine in seinem Kopf herum und seine Nase war verstopft.
Er sah, dass Peter das Puppenhaus benutzte, um sich Geschichten auszudenken, um »so zu tun, als ob«, und die Geschichten, die er sich ausdachte, waren keineswegs Memmengeschichten. Es waren Geschichten von Blut und Donner und Armeen und Drachen. Es waren, mit anderen Worten, Geschichten ganz nach des Königs Herzen. Er verspürte plötzlich in sich das sehnsüchtige Verlangen, sich zu seinem Sohn zu gesellen und ihm dabei zu helfen, sich noch bessere Geschichten auszudenken, in welchen das Puppenhaus, seine faszinierende Einrichtung und die imaginären Bewohner ihre Rolle spielen konnten. Am deutlichsten aber sah er, dass Peter das Puppenhaus dazu benutzte, um die Erinnerung an Sasha in seinem Herzen lebendig zu halten, und das schätzte Roland am meisten, denn seine Frau fehlte ihm sehr. Manchmal fühlte er sich so einsam, dass er beinahe weinte. Selbstverständlich weinten Könige nicht … und wenn er ein- oder zweimal nach Sashas Tod dennoch erwachte und feststellte, dass der Kissenbezug feucht war, na und?
Der König verließ das Zimmer so leise, wie er es betreten hatte. Peter sah ihn nicht. In dieser Nacht lag Roland lange wach und dachte über das nach, was er gesehen hatte, und wenngleich es ihm schwerfiel, Flaggs Missbilligung zu ertragen, bat er ihn gleich am nächsten Morgen zu einer Privataudienz, bevor seine Entschlossenheit ins Wanken kommen konnte, und sagte ihm, dass er über das Thema gründlich nachgedacht habe und zu dem Schluss gekommen sei, man sollte Peter mit dem Puppenhaus spielen lassen, so lange er wollte. Er sagte, er glaube, es würde dem Jungen nicht schaden.
Nachdem das heraus war, lehnte er sich unbehaglich zurück und erwartete Flaggs Erwiderung. Aber es kam keine. Flagg zog die Augenbrauen hoch – das sah Roland im tiefen Schatten der Kapuze, die Flagg stets trug, kaum – und sagte: »Euer Wille, Sire, ist der Wille des Königreichs.«
An seinem Tonfall konnte Roland merken, dass Flagg das für eine schlechte Entscheidung hielt, aber derselbe Tonfall verriet ihm auch, dass Flagg keine weiteren Einwände mehr erheben würde. Er war sehr erleichtert, dass er so glimpflich davongekommen war. Als Flagg an diesem Tag vorschlug, die Bauern der Östlichen Baronie könnten höhere Steuern ertragen, wenngleich dort eine Dürre im Vorjahr den größten Teil der Ernte vernichtet hatte, stimmte Roland eifrig zu.
In Wahrheit erschien es dem Magier eine wirklich unbedeutende Sache zu sein, wenn der alte Narr (so nannte er Roland insgeheim) in der Frage des Puppenhauses sich nicht seinen Wünschen beugte. Wichtig war gewesen, die Steuern in der Östlichen Baronie zu erhöhen. Zudem hatte Flagg ein finsteres Geheimnis, welches ihn mit viel Freude erfüllte. Immerhin war es ihm doch noch gelungen, Königin Sasha zu ermorden.
12
Wenn in jener Zeit eine Königin – oder eine andere Frau von königlicher Geburt – ein Kind gebar, wurde eine Hebamme hinzugezogen. Alle Ärzte waren Männer, und es war keinem Mann gestattet, bei einer Frau zu sein, wenn sie ein Kind zur Welt brachte. Die Hebamme, die bei Peters Geburt zugegen gewesen war, hieß Anna Crookbrows und wohnte in der Third South’ard Alley. Sie wurde wieder gerufen, als die Zeit von Sashas Niederkunft mit Thomas näher rückte. Als Sashas zweite Geburt bevorstand, war Anna schon über fünfzig und Witwe. Sie hatte selbst einen Sohn, welcher im zwanzigsten Lebensjahr die Schüttelkrankheit bekam, die ihre Opfer immer nach jahrelangem Leiden unter großen Schmerzen tötete.
Sie liebte ihren Jungen über alles, und nachdem sich alles andere als vergebens erwiesen hatte, ging sie schließlich zu Flagg. Das war schon vor zehn Jahren gewesen, als die Prinzen noch nicht geboren waren und Roland selbst noch königlicher Junggeselle gewesen war. Flagg empfing sie in seinen finsteren Kellerräumen, die sich in der Nähe der Verliese befanden – während der Unterhaltung konnte die nervöse Frau manchmal die verzweifelten Schreie all jener hören, die man seit vielen Jahren fern vom Licht der Sonne eingesperrt hatte. Wenn die Kerker so nahe waren, dachte sie mit einem Schaudern, dann mussten die Folterkammern auch nahe sein. Und auch in Flaggs Gemächern selbst fühlte sie sich nicht gerade behaglich. Viele seltsame Zeichen waren mit bunter Kreide auf den Boden gezeichnet. Wenn sie blinzelte, schienen sich diese Zeichen zu verändern. In einem Käfig, welcher an einer langen schwarzen Kette hing, krächzte ein zweiköpfiger Papagei und redete manchmal mit sich selbst, wobei ein Kopf sprach und der andere antwortete. Staubige Bücher sahen finster auf sie herab. Spinnen webten in dunklen Ecken ihre Netze. Aus dem Labor drang ein Schwall seltsamer Chemikaliengerüche. Dennoch gelang es ihr irgendwie, ihre Geschichte hervorzustammeln, und dann wartete sie in schmerzlicher Neugier.
»Ich kann deinen Sohn heilen«, erklärte er schließlich.
Die Freude verwandelte Anna Crookbrows hässliches Gesicht beinahe in etwas Schönes. »Mein Lord!«, sagte sie, und weil ihr sonst nichts einfiel, wiederholte sie noch einmal: »O mein Lord!«
Aber Flaggs weißes Gesicht im Schatten der Kapuze blieb düster und unbeteiligt, und sie empfand wieder Angst.
»Was würdest du für ein solches Wunder bezahlen?«, fragte er.
»Alles«, keuchte sie, und es war ihr ernst damit. »O mein Lord Flagg, alles!«
»Ich bitte dich nur um einen Gefallen«, sagte er. »Wirst du ihn mir erfüllen?«
»Mit Freuden«, antwortete sie.
»Ich weiß noch nicht, worum es sich handelt, aber wenn der Zeitpunkt gekommen ist, werde ich es wissen.«
Sie war vor ihm auf die Knie gesunken, und nun beugte er sich zu ihr hinab. Die Kapuze fiel zurück; sein Gesicht war wirklich schrecklich anzusehen. Es war das weiße Gesicht eines Kadavers, mit schwarzen Löchern anstelle der Augen.
»Solltest du nicht tun, was ich verlange, Weib…«
»Ich werde es tun! O mein Lord, ich werde es tun! Ich werde es tun! Ich schwöre es beim Namen meines lieben Mannes!«
»Dann ist es gut. Bring deinen Sohn morgen Abend, wenn es dunkel geworden ist, zu mir.«
Sie führte den armen Jungen am nächsten Abend zu ihm. Er zitterte und wurde geschüttelt, sein Kopf nickte albern und die Augen rollten. Speichel troff ihm am Kinn hinab. Flagg gab ihr eine dunkle, pflaumenfarbene Medizin in einem Becher. »Gib ihm dies zu trinken«, sagte er. »Seine Lippen werden Blasen bekommen, aber er muss es trotzdem bis auf den letzten Tropfen austrinken. Und dann schaff mir den Narren aus den Augen.«
Sie murmelte ihm etwas zu. Der torkelnde Kopf des Jungen wippte einen Augenblick noch heftiger, als er zu nicken versuchte. Er trank die ganze Medizin, und dann brach er schreiend zusammen.
»Schaff ihn raus«, sagte Flagg.
»Ja, schaff ihn raus!«, kreischte einer der Köpfe des Papageis.
»Schaff ihn raus, schreien ist hier nicht erlaubt!«, schrie der andere Kopf.
Sie brachte ihn heim und war sich sicher, dass Flagg ihn ermordet hatte. Aber am nächsten Tag war die Schüttelkrankheit ganz aus ihrem Sohn verschwunden, und er war gesund.
Jahre vergingen. Als Sashas Niederkunft mit Thomas begann, rief Flagg nach Anna und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie waren allein in seinem unterirdischen Gemach, dennoch war es besser, dass ein so grässlicher Befehl geflüstert wurde.
Anna Crookbrows Gesicht wurde aschfahl, aber sie erinnerte sich an Flaggs Worte: Solltest du nicht tun, was ich verlange …
Und bekam nicht der König schon ein zweites Kind? Sie selbst hatte nur eines. Und wenn der König wieder heiraten und noch mehr zeugen wollte, dann sollte er doch. In Delain gab es Frauen in Hülle und Fülle.
Also ging sie zu Sasha und sprach ermutigende Worte, und im kritischen Augenblick glitzerte ein Messer in ihrer Hand. Niemand sah den winzigen Schnitt, den sie der Königin zufügte. Einen Augenblick später rief Anna: »Presst, meine Königin! Presst, denn das Baby kommt!«
Sasha presste. Thomas kam so mühelos aus ihr heraus wie ein Knabe, der eine Rutschbahn hinunterfährt. Aber Sashas Blut ergoss sich auf das Laken. Zehn Minuten nachdem Thomas das Licht der Welt erblickt hatte, war seine Mutter tot.
Daher machte Flagg sich keinerlei Gedanken über das unbedeutende Thema Puppenhaus. Einzig Folgendes zählte: Roland wurde alt, keine Königin konnte sich in seine Belange einmischen, und nun hatte er nicht einen Sohn, sondern deren zwei, von denen er sich für einen entscheiden konnte. Natürlich war Peter der Erstgeborene, aber eigentlich war das einerlei. Peter konnte aus dem Weg geschafft werden, sollte sich im Laufe der Zeit erweisen, dass er für Flaggs Zwecke nicht geeignet war. Er war nur ein Kind und konnte sich nicht verteidigen.
Ich habe euch erzählt, dass Roland, solange er herrschte, niemals so lange oder eingehend über etwas nachdachte wie die eine Frage, ob Peter erlaubt sein sollte, mit Sashas Puppenhaus zu spielen, welches Ellender so künstlerisch gestaltet hatte, oder nicht. Ich habe euch erzählt, dass er als Folge dieses Nachdenkens zu einem Schluss kam, der Flaggs Wünschen zuwiderlief. Ich habe euch auch erzählt, dass dies nach Flaggs Überzeugung unbedeutend war.
War es das? Das müsst ihr alle selbst entscheiden, nachdem ihr meine Geschichte zu Ende gehört habt.
13
Nun lassen wir viele Jahre innerhalb eines Augenzwinkerns verstreichen – eines der schönen Dinge an Geschichten ist, wie schnell man die Zeit verstreichen lassen kann, wenn nichts wirklich Wichtiges passiert. Im wirklichen Leben ist das nicht so, und das ist wahrscheinlich gut so. Nur in Geschichtsbüchern verstreicht die Zeit schneller, und was ist die Geschichte schon, wenn nicht eine Art weitgespanntes Märchen, in dem an die Stelle von verstreichenden Jahren verstreichende Jahrhunderte treten?
In all den Jahren beobachtete Flagg die beiden Jungen genau – er verfolgte ihr Wachstum über die Schultern des alternden Königs hinweg und überlegte genau, welcher König werden sollte, wenn Roland einmal nicht mehr war. Er brauchte nicht lange, um zu der Überzeugung zu kommen, dass es Thomas sein musste, der Jüngere. Als Peter sieben Jahre alt war, da wusste er, dass er den Jungen nicht mochte. Als Peter neun war, machte er die bestürzende Feststellung, dass er ihn darüber hinaus sogar fürchtete.
Der Junge war mittlerweile herangewachsen und groß, stark und stattlich geworden. Sein Haar war dunkel, die Augen von einem dunklen Blau, wie es in der Westlichen Baronie nicht ungewöhnlich ist. Manchmal, wenn Peter rasch aufsah und auf bestimmte Weise den Kopf neigte, ähnelte er seinem Vater. Ansonsten war er