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Dreck macht fett, sagte meine Oma gern, wenn die Bemme runtergefallen oder der Apfel nicht gewaschen war und hatte damit so unrecht nicht. Wir waren Draußen-Kinder. Unsere angeborene Abneigung gegen Wasser und Seife verhalf uns zu einer robusten und widerstandsfähigen Konstitution. Wir waren gesund, hatten immer Hunger und bettelten trotzdem nicht. Im Gegensatz zu einer klinisch reinen, antibakteriellen Umgebung, die manche junge Mutter nicht müde wird, täglich neu zu erzeugen, wuchs ich innerhalb einer natürlichen Umwelt auf und verhalf mir so, in Zusammenarbeit mit etlichen Kinderkrankheiten, zu einem intakten Immunsystem, das mir noch immer die Treue hält. Als meine Schwester die Masern bekam, wurde ich zu ihr ins Bett gesteckt, um alles in einem Abwasch zu erledigen. Es gab keinen Gameboy, keinen Computer und keine Playstation. Wir hatten weder Handy, noch Mp3player, und die Haushalte mit Fernsehgerät konnten namentlich benannt werden. Fantasie war gefragt, wenn wir unsere Nachmittage mit abwechslungsreichem Spiel verbringen wollten, und es gelang uns immer wieder aufs Neue, mehr als Gummihopse und Fußballspiel auf die Beine zu stellen. Mehr noch als in der ersten Auflage geht der Autor ins Detail und lässt, genüsslich in Erinnerungen schwelgend, nicht allein Bilder einer unbeschwerten Kindheit entstehen, sondern holt auch gleichzeitig den Alltag der fünfziger und sechziger Jahre in der damaligen DDR ans Tageslicht, schmunzelnd und nachdenklich zugleich. Ein Buch für früher und später Geborene, für Hiergebliebene und Eingewanderte. Ein Buch voller Lebensfreude und einem Hauch Wehmut.
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Seitenzahl: 197
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Bei allen Freunden, Bekannten, Verwandten und allen anderen Lesern, die mir ihre Meinung zur ersten Ausgabe des vorliegenden Buches mitgeteilt haben, bedanke ich mich recht herzlich.
In Gesprächen, Briefen, Postkarten und eMails bekam ich so viele Anregungen, dass ich mich entschloss, die „Eiskellerbergbande“ zu überarbeiten und neu zu gestalten.
Kaum erschienen, war die zweite, überarbeitete Auflage 2013 schon änderungsbedürftig. Ein paar Fehler hatten sich trotz sorgfältigster Korrekturlesung eingeschlichen (was für die vorliegende Ausgabe auch nicht völlig ausgeschlossen werden kann), die Farbe des Umschlages war eine andere als beim Entwurf und gefiel mir so nicht, und die in diesem Jahr auf Grund weiterer Anregungen neu entstandenen Texte sind zu umfangreich, als dass ich sie ignorieren kann. Nun ist es aber, denke ich, genug.
Neben Korrekturen, Ergänzungen und neuen Textpassagen enthält die vorliegende Fassung Reproduktionen alter Fotos und sonstiger Dokumente, die sich in meinem Besitz befinden.
Lesermeinungen zur Ausgabe von 2010 finden ihren Platz am Schluss des Buches. Sie nehmen nicht allein Bezug auf den Inhalt, sondern sind voller persönlicher Erlebnisse, Gedanken und Gefühle.
Ich wünsche viel Freude beim Lesen.
Wolfgang Walther
„Mensch UHU, du lebst ja auch noch!“
„Märkische Allgemeine Zeitung“, 02.10.2010, Brandenburger Kurier
„Freie Presse“, 10.02.2011, Zwickauer Lokalteil
„Freie Presse“, 26.04.2011, Zwickauer Lokalteil
„Freie Presse“, 02.05.2011, Zwickauer Lokalteil
„Freie Presse“, 22.10.2014, Zwickauer Lokalteil
350 er JAWA
Eines Tages fand ich eine Mail in meinem elektronischen Briefkasten. Absender war ein ehemaliger Schulfreund, der mit diesen aufmunternden Worten sein Erstaunen und seine Freude über den Fund, den er auf einer Internetplattform für „Schulfreunde suchen und finden“ gemacht hatte, zum Ausdruck brachte. Der Fund war UHUs Name und Adresse, und die Freude war beidseitig, denn UHU war ich.
Aus dem ehemaligen war inzwischen ein alter Schulfreund geworden, und gemeinsam schwelgten wir in Erinnerungen.
Jeder zweite Satz unserer Unterhaltung begann mit:
„Weißt du noch …?“
„Kennst du noch …?“
„Wie hieß noch mal …?“
„Lebt eigentlich…noch?“
„Wer war das noch gleich …?“
„Was ist eigentlich aus… geworden?“
Während solcher Unterhaltungen stellte ich erstens mit Erschrecken fest, wie wenig von Kindheit und Schulzeit an Bildern sich noch in meinem Gedächtnis befand und war zweitens glücklich darüber, dass ich mit Hilfe des „Pastor“, denn er war der Absender, einige Erinnerungslücken schließen konnte. Kurz entschlossen begann ich aufzuschreiben, woran ich mich erinnerte, damit nicht noch mehr im Ozean der Zeit unwiederbringlich verloren geht. Und siehe da, mit fast jedem Ereignis aus meiner Kinder- und Jugendzeit, das ich zu Papier brachte, fielen mir weitere Erlebnisse ein, tauchten mehr und mehr Puzzleteile auf aus den Tiefen meiner grauen Zellen, und trieben auf der Oberfläche des Meeres der Gegenwart.
Nachdem ich nun alles, was die Erinnerung an das Ufer des Jetzt gespült hatte, aufgesammelt, geordnet, geschönt, frisiert und neu interpretiert hatte, brachte ich dieses Sammelsurium in eine einigermaßen nachvollziehbare Reihenfolge und entschloss mich, das so Entstandene der Öffentlichkeit nicht länger vorzuenthalten, denn das literaturinteressierte und sonstige Publikum hat unbestritten das Recht, die frühen Lebensumstände des Wolfgang Herbert Walther zu erfahren.
Obwohl hier von Zwickau in Sachsen die Rede ist, kann es keine ortstypische Geschichte genannt werden. Ich hätte meine Kindheit ebensogut in Leipzig, Dresden oder Karl-Marx-Stadt (die Stadt mit den drei „O“, Gorl-Morx-Stodt, die jetzt wieder Chemnitz heißt und von ihren Bewohnern nie anders genannt wurde) verbringen können, und die Geschichte wäre, abgesehen von einigen Feinheiten, genauso geschrieben worden.
Vielleicht erkennt sich der eine oder andere Leser wieder, denn nicht nur der Ort ist austauschbar. Irgendwie gleichen sich Erlebnisse und Abenteuer der Kinder eines gewissen Zeitraumes immer ein bisschen.
Unbeschwertes Erzählen - Autor Wolfgang Walther beschreibt seine Kindheit und Jugend, von Heiko Hesse
DAMSDORF: Nun also sächsisch. Wolfgang Walther hat nie verhehlt, dass er aus dieser schönen Ecke Europas stammt. Kann er auch nicht, der Akzent bleibt. In seinem jüngsten Werk taucht dieser Akzent hier und da auf. Walther erzählt aus seiner Kindheit und Jugend. Er ist in Zwickau groß geworden, in den wilden 50er und 60er Jahren.
Nach Hunderten von Gedichten über Politik, Miteinander und die Mark Brandenburg, die seit über 30 Jahren sein Zuhause ist, hat der Damsdorfer einen Teil seines Lebenslaufs drucken lassen. Er beschreibt die Zeit, in der die Welt im Aufbruch steckte. Eine Zeit, in der noch eher Mangel als Überfluss herrschte, in der die Menschen vorwärtskamen, weil sie improvisierten und fünf gerade sein ließen. In dieser Zeit zieht Klein-Wolfgang mit der Bande vom EISKELLERBERG durch die Straßen.
Walther erzählt unbeschwert. Von unmöglichen Lehrern, schwer gewichtigen Nachbarn und den fetten Rußflocken, die aus den Schornsteinen quollen und sich auf das Fensterbrett setzten. Es ist das stinknormale Leben, und das ist es, was den Leser des Walther-Buches animiert, in der eigenen Erinnerung zu wühlen. Genau das ist das Verdienst des Buches: Rückschau zu halten. Das tut angesichts einer hektischen Gegenwart manchmal unglaublich gut und beruhigt ungemein.
Ein Draußen-Kind erinnert sich, von Sara Thiel
Wolfgang Walther erinnert sich in einem Buch an die Stadt in den 60er-Jahren.
ZWICKAU: Die Hinterhöfe, die Garagen, die ganze lange Bahnhofstraße und nicht zuletzt der Eiskellerberg: Für die Kinder der 60er-Jahre waren das Spielplätze. Jeden Tag haben sie dort ihre Abenteuer erlebt. Manches davon ist unvergesslich geblieben.
Wolfgang Walther hat Geschichten und Anekdötchen aus seiner Kindheit aufgeschrieben. Nicht nur mit der Distanz von einigen Jahrzehnten, sondern auch mit der Entfernung von einigen hundert Kilometern. Denn der Autor lebt inzwischen in Brandenburg. Von dort blickt er mit Liebe auf seine Zeit in Zwickau. Seine Kindheit war zwar reich an Entbehrungen, aber ebenso reich an schönen Erlebnissen, wertvollen Erfahrungen und glücklichen Momenten. Daran lässt Walther seine Leser teilhaben.
Draußen-Kinder waren sie, schreibt er gleich zu Beginn. Nicht besonders erpicht auf Wasser und Seife, dafür aber robust. „Wir waren gesund, hatten immer Hunger und bettelten nicht“, fasst er seine Lebensart zusammen. Er erinnert sich an Holunder- und Brotsuppe, an Margarinebrote mit Zucker drauf sowie an Stullenpaket und kalten Muckefuck - letzteres die Standardverpflegung für einen Tag im 04-Bad.
Eingefleischte Zwickauer werden während der Lektüre das eine oder andere Mal seufzen. Ach ja, die guten alten Zeiten. Mit viel Liebe schreibt Walther über seine Heimatstadt. Und mit mehr als nur einem Augenzwinkern. Über die alte Queck etwa, die einen Laden betrieb, in dem es Nagelscheren gab, Töpfe und Cowboys der Firma Lineol. „Die alte Queck stand mit ihrer noch älteren Freundin tagein, tagaus im Geschäft ... beide waren zusammen sicher 150 Jahre alt. Die eine sah schlecht, die andere hörte schwer“, schreibt er. Und man merkt: Heute kann er über seinen Versuch, dort einen Cowboy zu erstehen, lachen. Damals kam ihm die Situation sicher weniger komisch vor.
Das Buch ist voll von solchen kurzen Erinnerungen. Zusammen ergeben sie das Bild einer Zeit, in der Stubenhocker die Ausnahme waren, im Winter immer Schnee lag und in der es das Schönste an Weihnachten für ein Kind war, den ruhigen Morgen des ersten Feiertags zu genießen.
Manchmal liest man es heraus: Wolfgang Walther ist eigentlich ein Lyriker. Einige Gedichtbände hat er schon geschrieben, doch auch Kurzgeschichten und ein Roman sind bereits aus seiner Tastatur geflossen.
Buchvorstellung – Ein Draußen-Kind erzählt sein Leben, von Sarah Thiel
ZWICKAU: Alteingesessene Zwickauer, die keine Angst vor einem „Weißt-du-noch“ haben, können am Donnerstag rund ein halbes Jahrhundert in der Zeit zurückreisen. Im Lutherkeller stellt Wolfgang Walther seine Kindheitserinnerungen aus der Bahnhofsvorstadt vor. Geschichten von einem Draußen-Kind, das trotz zahlreicher Entbehrungen ein unbeschwertes und glückliches Leben führte.
„Die Bande vom Eiskellerberg“ ist das Buch überschrieben, das er an diesem Abend vorstellt. Es erzählt vom Leben in den Anfangsjahren der DDR, von der Stadt mit ihren Menschen, von der Schule mit ihren Lehrern und deren Lieblingen. Wolfgang Walther stellt dabei kein umfassendes Bild Zwickaus dar. Aber er erzählt Anekdoten, Geschichten, wie sie viele Menschen seines Alters kennen, auch wenn sie ihre eigenen ein wenig anders erzählen mögen, weil sie im Sommer nicht ins Erlenbad gelaufen sind, sondern in ein anderes. Weil sie nicht sämtliche Hinterhöfe der Bahnhofstraße kannten, sondern anderswo wohnten. Und trotz dieser Unterschiede wird die Lesung zu einem Abend der „Weißt du noch‘s“ für alle.
Zuhörer schwelgen in Erinnerungen
Wolfgang Walther liest im Lutherkeller, von Sarah Thiel
ZWICKAU: Im mit rund vierzig Gästen voll besetzten Lutherkeller hat jetzt der ehemalige Zwickauer Wolfgang Walther aus seinem Buch „Die Bande vom Eiskellerberg“ gelesen. Die zahlreichen Zuschauer und die gute Stimmung hat den Autoren überrascht – aber nicht gewundert. Immerhin erzählt er in dem Bändchen seine Erinnerungen an die Kindheit im Nachkriegs-Zwickau.
Ehemalige Klassenkameraden, Bekannte seiner Schwester und die Frisörin von Papa Walther waren gekommen, um diese Erinnerungen zu teilen. Die Haarschneiderin erzählte, wie sie dem Vater einmal den Rasierpinsel ins Gesicht stupste, weil er sie erschreckt hatte. „Er war ein hunecksches Luder“, beschreibt der Autor den Walther Senior. Zeit für Gespräche blieb auch nach der Lesung. In einer langen Schlange warteten die Zuhörer darauf, dass der Brandenburger ihr Buch signiert.
Als es in Pölbitz noch Kirschen gab, von Sarah Thiel
ZWICKAU: Die Bande vom Eiskellerberg ist zurückgekehrt. Der gebürtige Zwickauer Wolfgang Walther hat nun eine erweiterte Ausgabe seiner Erinnerungen vorgelegt.
Die Jungs vom Eiskellerberg, die Draußen-Kinder, sind irgendwann erwachsen geworden. Und sie taten sich damit ähnlich schwer wie alle anderen Jungs und Mädchen vor und nach ihnen. Und die Erinnerung daran ist genau so amüsant wie das Zurückdenken an die Kindheit.
Jedenfalls liest es sich so bei Wolfgang Walther, der vor vier Jahren ein Buch über seine Kindheit in den 50ern und 60ern in Zwickau geschrieben hat. Und der damit einen Nerv nicht nur in seiner Generation getroffen hat. Nun legt er eine erweiterte Ausgabe seiner Erinnerungen vor. Dabei hat er vor allem seine Jugendzeit ausgeschmückt. Man erfährt - oder erinnert sich lächelnd -, dass die Mädchen damals Schnecken genannt wurden. Unter anderem. Über die „Neue Welt“ in Pölbitz etwa schreibt der Wahl-Brandenburger, dass das Haus zu Tanzveranstaltungen einen besonderen Charme hatte - schon wegen der Balustrade. „Es machte Vergnügen, mit einem Bier in der Hand das sich abstrampelnde Volk zu beobachten und sich eine Kirsche für den nächsten Zugriff auszusuchen“, schreibt er. Und vergisst nicht hinzuzufügen, dass genau das oft genug schief ging.
Wo in der ersten Auflage kleine Zeichnungen die Geschichten auflockerten, sind nun Fotos aus den alten Tagen zu betrachten. Etwa vom Schwanenschloss oder vom Hauptbahnhof, als der noch schick und beeindruckend war. Doch Walther war nicht der alleinige Autor dieser Ausgabe. Er hat auch einen Teil der Zuschriften abgedruckt, die ihn in den vergangenen Jahren erreicht haben. Auch die stecken voller kleiner Geschichten aus einem Alltag, der im Rückblick unbeschwerter erscheinen mag, als ihn einige vor Jahrzehnten erlebt haben. Dabei spielen auch der Bachweg und eine gewisse Fressbude eine Rolle, in der es im Winter heiße Brühe gab - mit Ei für 15 Pfennige. Und eine Frau schreibt, sie habe sich beim Lesen gefühlt, als ob sie zuhause gewesen sei. Vermutlich wird auch diese erweiterte Ausgabe dafür sorgen, dass so manch einer beim Lesen seufzt.
„Dreck macht fett“, sagte meine Oma gern, wenn die Bemme runtergefallen oder der Apfel nicht gewaschen war und hatte damit so unrecht nicht.
Wir waren „Draußen - Kinder“. Unsere angeborene Abneigung gegen Wasser und Seife verhalf uns zu einer robusten, widerstandsfähigen Konstitution. Wir waren gesund, hatten immer Hunger und bettelten trotzdem nicht. Im Gegensatz zu einer klinisch reinen, antibakteriellen Umgebung, die manche junge Mutter nicht müde wird, täglich neu zu erzeugen, wuchs ich innerhalb einer natürlichen Umwelt auf und verhalf mir so, in Zusammenarbeit mit etlichen Kinderkrankheiten, zu einem intakten Immunsystem, das mir noch immer die Treue hält. Wenn Ziegenpeter und Co. nicht von alleine kommen wollten, wurde nachgeholfen. Als meine Schwester die Windpocken hatte, wurde ich zu ihr ins Bett gesteckt, um alles „in einem Abwasch“ zu erledigen.
Es gab keinen Gameboy, keinen Computer und keine Playstation. Wir hatten weder Handy, noch Mp3player, und die Haushalte mit Fernsehgerät konnten namentlich benannt werden. Fantasie war gefragt, wenn wir unsere Nachmittage mit abwechslungsreichem Spiel verbringen wollten, und es gelang uns immer wieder aufs Neue, mehr als Gummihopse und Fußballspiel auf die Beine zu stellen. Es wurden Roller- und Fahrradrennen veranstaltet (Dreiräder waren auch zugelassen), Theaterspiel durchgeführt und Ballspiele in allen möglichen Variationen zelebriert. Sehr beliebt war „Ball gegen die Wand“, zehnmal links, zehnmal rechts, zehnmal hinter dem Rücken, zehnmal mit Bein hoch und so weiter. Beim Hauswirt hielt sich die Beliebtheit dieses Spieles in Grenzen, weil wir natürlich seine teure Wand mit unserem Ball beschädigten. Mindestens ebenso beliebt wie Ball spielen, war titschern und pimpern. Mit „pimpern“ wurde nicht etwa ein vorpubertärer, sexueller Zeitvertreib bezeichnet, sondern einfach das Werfen von Pfennigen gegen eine Wand mit dem Ziel, dem zuvor geworfenen Geldstück möglichst nahe zu kommen - dann konnte man beide einheimsen. Titschern war die gebräuchliche Bezeichnung für Murmelspiel. Begehrt waren Titscherkugeln aus Glas, farbig und mit Muster, von zwei Zentimeter Durchmesser oder Eisenkugeln. Peitsche und Kreisel, schöne bunte Holzkreisel, konnten uns gleichermaßen stundenlang begeistern, wie diverse Rollenspiele - Post, Büro, Bahnhof, Kaufmann und so weiter. Wir machten Wettbewerbe im Federballspiel und Seilspringen, und als meine Schwester einen Hula-Hoop-Reifen bekam, versuchten wir uns auch damit. Wir waren ständig auf der Jagd nach Streichhölzern und kokelten, was das Zeug hielt. Aus alten Decken und Planen, Kisten und Brettern bauten wir Buden und fanden es toll, da drinnen mit zusammen gefalteten Gliedmaßen zu hocken. Wir spielten Fanger und Verstecker, kletterten auf Bäume und machten uns dreckig bis zum geht nicht mehr.
Am liebsten jedoch gingen wir auf Entdeckertour. Keine Mauer war uns zu hoch, kein Zaun zu dicht, kein Durchschlupf zu eng. Wir ergründeten Tunnel und Kellergänge und stöberten auf Schrottplätzen und in Hausruinen, von denen noch genügend existierten. Wir trieben uns an den Stadtbächen und in den Schwanenteichanlagen herum. Wir waren am Bahnhof, an der Lutherkirche und überall dort, wo wir nix zu suchen hatten. Wir ärgerten die Leute, die wir nicht leiden konnten, und hatten Angst vorm Schutzmann. Wir machten „Klingelrutschen“, trieben Schabernack und waren dabei weder hinterhältig noch gemein. Wir schlugen uns mit den Kindern anderer Wohnviertel, waren dabei fair, soweit es ging, kamen selten ohne Kratzer und Beulen nach Hause und unser liebster Aufenthaltsort war der Eiskellerberg, der uns und diesem Buch seinen Namen gab.
Der Eiskellerberg war kein richtiger Berg und die Eiskellerbergbande nicht wirklich eine Bande.
Der Berg bestand aus einem lang gestreckten Hang mit einem Weg oben, der von der Reichenbacher Straße zur Kohlenstraße führte und einer Straße unten, der Bachstraße. Der Hang selbst war steil und grasbewachsen. Er trug am oberen Rand Büsche und Sträucher und zwischendrin etliche Bäume mittlerer Größe, die ich sämtlich erstiegen habe und von denen ich zuweilen gefallen bin. Des Berges Namensgeber waren tiefe, mit schweren Holztüren verschlossene Keller, in denen zu früheren Zeiten große Blöcke von Eis gelagert wurden. Niemals hatten wir einen der Keller erkunden können. Die Tore waren mittels eiserner Beschläge und Riegel gesichert, und ich weiß bis heute nicht, was sich wirklich dahinter befand. Ähnliche Keller gab es am Brückenberg auf der anderen Seite der Mulde und dort in großer Zahl, und die waren, wie ich heute weiß, zum Einlagern von Bierfässern gedacht und wurden auch so verwendet.
Als ich 2011 meiner Heimatstadt nach langer Zeit endlich einen Besuch abstattete, fand ich zwar den Eiskellerberg noch an Ort und Stelle, die Keller jedoch sind verschwunden.
Die „Eiskellerbergbande“ war nichts weiter als ein Haufen frecher, meist schmutziger, rotznasiger Kinder verschiedenen Alters, so zwischen fünf und zwölf Jahren (wenn jemand sein Geschwisterkind beaufsichtigen musste, konnte auch schon mal ein Dreijähriger darunter sein), die zusammen spielten, sich zankten und wieder vertrugen, und die mit freudigem Geheule über andere Kinder herfielen, falls die sich erdreisteten, dort spielen zu wollen, wo wir gerade waren.
Zu unserer Bande gehörte der Hanisch Fritz aus der Dreiunddreißig, der picklige Thomas, der aussah, als wäre eine große Hungersnot ins Land gekommen, und der dicke Jochen, der aussah, als wäre er schuld daran, die Schlohtbuben aus der Brunnenstraße, Wolfgang Günnel, dessen Schwester Johanna mit meiner Schwester befreundet war, der dünne Hähnel mit seinen drei Brüdern, die bei der alten Toska im Hause wohnten, Hagen und Günter aus der Brunnenstraße, der Augustin, von dem ich nur noch den Namen weiß, sowie Herbert Schwarz aus der Kohlenstraße, dessen Mutter, wenn es an der Zeit war, den Kopf aus dem Fenster steckte und mit durchdringender Stimme rief:
„Häbäht, komm nach obähn!“
Das war der „Harte Kern“, wie man heute sagen würde. Die weiteren Mitglieder wechselten häufig.
Den dünnen Hähnel mochten wir eigentlich nicht so recht leiden, konnten ihn aber wegen seiner familiären Übermacht nicht übergehen. Indes waren die Hähnelbrüder ob ihres einfachen Wesens leicht zu lenken und einzusetzen. Der Günnel Wolfgang erinnerte ein wenig an den jungen Adolf, nur dass er strohblond war und keinen Schnauzer trug. Er besaß die Fähigkeit, immer wieder eine Schachtel Streichhölzer organisieren zu können, und Streichhölzer waren für uns dringend notwendig, weil die Holzwolle, die die Parfümfirma „Martha Elisabeth“ zusammen mit ihren Verpackungen auf unserem Hinterhof zwischenlagerte, von uns regelmäßig abgefackelt werden musste.
Wir beherrschten das Viertel zwischen Bahnhofstraße, Robert-Blum-Straße, Brunnenstraße und Robert-Müller-Straße einschließlich Bachstraße und Eiskellerberg. Wenn man bedenkt, dass sämtliche Höfe, Zwischenhöfe und Hinterhöfe dazugehörten, sowie alle Dächer, Schuppen, Keller und sonstige Verstecke, war das eine riesige Fläche, deren ständige Kontrolle uns einiges abverlangte. Den Eiskellerberg selbst mussten wir uns mit einer Gruppe teilen, deren Mitglieder von „irgendwo dort hinten“ kamen und mit denen wir uns teilweise heftig auseinanderzusetzen hatten. Oft genug holten wir uns dabei blutige Nasen, doch ebenso oft konnten wir den Berg verteidigen. Selten jedoch ging die Angelegenheit über eine zünftige Rauferei hinaus. Einmal bekam ich ein rostiges Messer in die Hand (wohl mehr aus Versehen), einmal einen Ziegelstein auf den Kopf und einmal ging ich mit einer Eisenstange auf meine Gegner los und hätte sie ihnen wohl auch über den Nischel gezogen, wenn sie nicht ihr Heil in der Flucht gesucht hätten.
Wir trafen uns, sobald die Schule aus war und der Ranzen in der Ecke lag. Wir bestimmten, wer auf unserem Territorium spielen durfte und was gespielt wurde, nicht immer und überall, aber doch häufig genug, um unserem Herrschaftsanspruch Genüge zu tun.
Manchmal drangen wir in fremde Reviere vor, wie zum Marienthaler Bach, wo wir Schiffchen schwimmen ließen und unbehelligt blieben, oder zur Lutherkirche, deren Terrain sich ziemlich fest in der Hand der gleichnamigen Bande befand, und die uns unser Eindringen in ihr Gebiet handgreiflich vergalt. Dennoch kamen wir immer wieder, denn dort ließ es sich wunderbar spielen, zwischen Vorsprüngen und geheimnisvollen Türen, hinter Ecken und Kanten, auf Balustraden, Mauern, Treppen und was ein altes Kirchengelände sonst noch alles zu bieten hat.
Die Lutherkirche war und ist eine gewaltige, alte Kirche mit einem mächtigen Schiff, einem hohen Turm und zahlreichen Nebengebäuden. Die Glocken läuteten nicht nur am Sonntag zum Gottesdienst, sondern auch täglich fünf Minuten vor sieben Uhr und fünf Minuten vor achtzehn Uhr. Ihr voller Ton dröhnte durch die Bahnhofsvorstadt und war lediglich in der Nähe des Bahnhofes nicht zu vernehmen, wenn eine Dampflok ihre Abfahrt mittels eines durchdringenden Signaltones kundtat. Es war also praktisch unmöglich, das abendliche Glockengeläut zu überhören, und wenn wir trotzdem zu spät zu Hause erschienen, mussten wir schon eine gute Ausrede haben, um keine Backpflaumen zu kassieren.
Natürlich trieben wir uns nicht nur am Eiskellerberg und an der Lutherkirche herum. Schwanenteichanlagen und Mulde waren ebenso beliebt, wie die Abraumhalden in Schedewitz, der Weißenborner Wald mit seinen Teichen und der nahe Hauptbahnhof und dessen unmittelbare Umgebung.
Irgendwo im Wald waren Schießstände, auf denen die jugendlichen GST-Mitglieder(xx) ihre Treffsicherheit beweisen konnten. Die Schießanlagen wurden von der Wehrmacht und später von den Russen genutzt, denn es fanden sich jede Menge Patronenhülsen, die eine oder andere scharfe Patrone war auch darunter.
In die Patronenhülsen, besonders gut funktionierte das mit Kleinkaliberpatronen (KK), stopften wir Streichholzkuppen, knipsten die Öffnung mit einer Zange zusammen so fest es ging und legten sie dann auf die Straßenbahnschienen. Das gab immer einen schönen Bums, wenn die Bahn darüber fuhr, und wenn wir mehrere Patronen nebeneinander auf der Schiene deponierten, war der Knall so laut, dass die Bahn anhielt und der Fahrer ausstieg, um nachzuschauen, was los war.
(xx - Erläuterungen am Ende des Buches)
Begonnen hatte alles in einer stürmischen Novembernacht, in der Nacht vom siebenten zum achten November 1950, genau um dreiundzwanzig Uhr und siebenundfünfzig Minuten, im Schlafzimmer der Wohnung im zweiten Stock der Bahnhofstraße Nummer siebenunddreißig in Zwickau.
Die Wohnung hatte kein Bad, vier Zimmer, von denen zwei nicht beheizt werden konnten und ein Plumpsklo eine halbe Treppe tiefer, wo es im Winter schweinekalt war, weswegen sich die Aufenthalte dort nicht länger als unbedingt nötig hinzogen.
Davon wusste ich in jener Nacht auf den achten November 1950 noch nichts, denn ich hatte alle Hände voll zu tun, um endlich auf die Welt zu kommen. Diese Eile hatte ihren Grund in der um meinen Hals geschlungenen Nabelschnur, die mir die Luft abdrückte und mein Gesicht bereits blau hatte anlaufen lassen. In Verbindung mit meinen damals roten Haaren erweckte ich auf die Anwesenden den Eindruck eines bösen Zwerges. Das hat sich, Gott sei Dank, im Laufe der Jahre etwas verwachsen.
Anwesend waren neben der Hebamme drinnen und meinem Vater draußen noch meine Tante und deren Zukünftiger, dem der Vorgang sichtbar peinlich zu sein schien. Jedenfalls schaffte ich es, drei Minuten vor Mitternacht die Welt meinen ersten Schrei hören zu lassen, welcher aufgrund der geschilderten Umstände ziemlich kläglich ausfiel. Doch auch das änderte sich. Im Schreien bekam ich schnell Übung, wie ich dem Pfarrer der Lutherkirche und allen Gästen meiner Taufe stimmgewaltig beweisen konnte.
Meine Taufe war eine feuchte und laute Veranstaltung, laut durch mein Gebrüll, wie man mir später berichtete und feucht durch das Wasser, das mir der Pfarrer auf mein zartes Haupt schüttete. Die Taufe hatte den Vorteil zweier Paten, die sich zwar nicht besonders um mich kümmerten, aber pflichtschuldig zu Geburtstagen und zur Jugendweihe Geschenke ablieferten. Da hatten wir es allerdings nicht mehr so sehr mit der Kirche. Daran vermochte auch das „Neue Testament“ mit Goldschnitt und Lesebändchen vom Onkel Siegfried aus Hauptmannsgrün nichts zu ändern.
Solange Oma noch lebte, gingen wir auch schon mal zum Gottesdienst und wir Kinder in den Religionsunterricht. Der wurde während der ersten Schuljahre noch in den Räumen der Schule abgehalten und später ins Lutherheim in der Bahnhofstraße verlegt.
Bevor es vom Vater ein „Gute Nacht“ gab, kamen stets die Fragen:
„Hast du gebetet?“
„Hast du Lollo gemacht?“
Beides bejahte ich immer, was der Wahrheit entsprach, denn als kleiner Junge bat ich tatsächlich jeden Abend den lieben Gott, das Haus nicht abbrennen zu lassen und „dass uns keiner umbringt“, und ins Bett pinkeln wollte ich auch nicht.
Später überließen meine Eltern den Besuch des Religionsunterrichtes meiner Entscheidung.
Dies hatte eines Tages einen Angriff auf einen Diener Gottes zur Folge. Jener war Pfarrer und gleichzeitig mein Religionslehrer und gekommen, um mir ob meines fortgesetzten Schwänzens des Religionsunterrichtes in mein nicht sonderlich ausgeprägtes Gewissen zu reden. Sein Pech war, dass ich, just als Hochwürden unseren Hof betrat, mit einer Korkenpistole hantierte.
Dieses Gerät war mit einer Spiralfeder bestückt. Die zog man mittels eines seitlich angebrachten Hebels nach hinten, bis sie in einen Haken einrastete. Der wurde durch Betätigung des Abzuges wieder freigegeben, die Feder schnellte nach vorn und schleuderte den Korken mit einem lauten „Plob“ aus dem Lauf. Das war eine Zeit lang recht unterhaltsam, dann suchte der findige Geist nach neuen Verwendungsmöglichkeiten. Und siehe da, man konnte auch diverse Gegenstände mit dieser Pistole auf kurze Distanz verschießen - Bleistiftstummel zum Beispiel oder rohe Erbsen und Linsen. Als Hochwürden mir in die Schusslinie geriet, hatte ich Puddingpulver geladen.
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