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Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des organisierten Verbrechens. Die Demokratien der westlichen Industrienationen werden von den unheimlichen, im Verborgenen operierenden Mafia-Herrschern bedroht. Durch ihre ungeheure Finanzmacht sowie durch Korrumpierung von Politikern, Richtern und Beamten gewinnen diese neuen Verbrecherkartelle zunehmend Einfluß auf unser Wirtschaftsleben.
Jean Ziegler hat gründlich recherchiert und zieht in diesem Buch eine erschreckende Bilanz. "Das organisierte Verbrechen repräsentiert das höchste Stadium des Kapitalismus."
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Seitenzahl: 314
Für Luiz Carlos Perreira,meinen Patensohn, erschossen im Alter voneinundzwanzig Jahren am Dienstag, dem14. Mai 1991, an der Kreuzung der StraßenSanta Rodriguez und Maïa Lacerda(Rio de Janeiro) vom Auftragsmördereines Kokain-Kartells
»Jeder von uns ist verantwortlich für alles vor allen.«
FJODOR DOSTOJEWSKI
Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des organisierten Verbrechens. Demokratische, freie Gesellschaften leben auf unserem Kontinent seit zweihundert Jahren. Heute ist ihre Existenz bedroht von den unheimlichen Herrschern der organisierten Kriminalität.
Die Kartelle des hochtechnologisierten, grenzüberschreitenden Verbrechens stellen das höchste Stadium und das Wesen selbst der kapitalistischen Produktionsweise dar. Sie profitieren in hohem Maße von der Immunschwäche der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft. Die Globalisierung der Finanzmärkte schwächt den Rechtsstaat, seine Souveränität, seine Ordnungsfunktion, seine Fähigkeit der Repression. Die neoliberale Ideologie legitimiert – schlimmer noch: »naturalisiert« – die Globalisierung der Märkte und das weltweite Wirken der »unsichtbaren Hand«. Diese heute anscheinend übermächtige Ideologie umspannt den Planeten. Sie diffamiert täglich die moralische Norm und das staatliche Gesetz. Sie lähmt den kollektiven Willen der Völker und beraubt den Menschen seines höchsten Gutes: der freien Verfügung über sein eigenes Schicksal.
Die großen Paten schreiten maskiert einher. Sie scheuen das Tageslicht. Ihre Welt ist die Dämmerung. Sie benutzen eine Vielzahl von Identitäten und führen dem Anschein nach ein höchst ehrbares, manchmal hoch angesehenes Leben. Selten begehen sie ein Verbrechen mit eigener Hand oder wenden sich direkt an das Heer von Soldaten, das sie befehligen. Sie herrschen über mächtige Schattenreiche. Sie sind geheimnisumwobene Rätsel.
Und dennoch existieren sie! Ihre Spuren bleiben nach der Entfernung der Leichen auf dem blutbefleckten Boden zurück. Ihre Gegenwart spiegelt sich in den panischen Augen des Verdächtigen oder in der extremen Nervosität des Angeklagten vor Gericht, der sich weigert, die »höchste Gottheit« zu nennen.
Wie können wir uns ihnen nähern? Wie ihre Schritte abschätzen? Wie können wir ihre Ziele in Erfahrung bringen? Wie ihre Methoden, ihre Strategien erraten?
Meine Mitarbeiter und ich hatten weitgehend freien Zugang zu einer großen Zahl polizeilicher Quellen in Europa, in Asien (Pakistan) und in den Vereinigten Staaten. Wir konnten viele Lageberichte – insbesondere des deutschen Bundeskriminalamtes sowie der Landeskriminalämter, der Schweizer Bundespolizei, des französischen TRACFIN und der italienischen Guardia di finanza – einsehen.
Zahlreiche kompetente europäische Polizeibeamte und Staatsanwälte fließen uns an ihren Erfahrungen teilhaben, weihten uns in ihr beeindruckendes Wissen, ihre Befürchtungen und Hoffnungen ein.1
Regelmäßig werden von kriminologischen Fachzeitschriften, Strafrechtsspezialisten an den Universitäten und Anwaltsverbänden oder Polizeivereinigungen internationale Kolloquien abgehalten, die (auf Einladung hin) für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Französische leitende Kommissare, Constables von Scotland Yard, Oberste der Carabinieri, Angehörige des FBI, oder deutsche Kriminalbeamte und Staatsanwälte berichten dort mit oft erstaunlicher Offenheit über ihre schwierige Arbeit.
Die Einsicht in Prozeßunterlagen ist je nach Land unterschiedlich geregelt: In Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Österreich mußten wir häufig auf dem Amtsweg Akteneinsicht beantragen. In Italien dagegen, wo der »procuratore pubblico« die Ermittlungen leitet und zugleich die Anklage vor Gericht vertritt, genügte eine schriftliche Genehmigung des Gerichtsschreibers, um die Prozeßakten fotokopieren zu können.
Mein Abgeordnetenstatus hat mir nützliche Dienste geleistet. Das Europäische Parlament wie auch verschiedene nationale Parlamente geben häufig hochinteressante Untersuchungen und Analysen in Auftrag. Manche verfügen über spezielle Untersuchungsausschüsse mit kompetenten Experten, wie zum Beispiel die Anti-Mafia-Kommission der italienischen Abgeordnetenkammer. Die von diesen Ausschüssen veröffentlichten Dokumente sind oft außerordentlich ergiebig. Stellvertretend für viele mag der Bericht der Kommission der französischen Nationalversammlung vom Januar 1993 über die Mafia in Frankreich stehen.
Europaweite Kommunikationsorgane mit Computerarchiven – Time Magazine, die Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, Le Monde, El Pais und die Times in London – verfügen über reichhaltiges und interessantes Dokumentationsmaterial. Wir haben uns bei diesen Datennetzen abonniert und sie für unsere Zwecke genutzt.
Meine Mitarbeiter und ich sind nur bescheidene Soziologen und Juristen mit beschränktem Mut, keine großen und wagemutigen Vertreter des investigativen Journalismus.
Hätten wir die türkischen Buyuk-Baba, die Pathanenherrscher vom Khaiberpaß, die russischen Vor v zakone2 interviewen sollen? Ihre Soldaten treffen, unsere Fragebogen in ihren Reihen verteilen sollen? Schlimmer noch: eine verdeckte Observierung im Milieu versuchen sollen? Ausgeschlossen! Schließlich wollten wir überleben.
Der erste, theoretische Teil unseres Buches untersucht die Zusammenhänge zwischen der Globalisierung der Märkte und dem Absterben des Nationalstaates einerseits und der Entwicklung der organisierten Kriminalität andererseits.
Der zweite und dritte Teil enthalten die empirischen Analysen der Entstehungsgeschichte und der Funktionsweise der Verbrecherkartelle, die in den Ruinen der kommunistischen Terrorstaaten des Ostens entstanden sind. Heute verkörpern die russischen, tschetschenischen, ukrainischen, rumänischen, polnischen u. a. Verbrechersyndikate die unmittelbarste und gefährlichste Bedrohung für die demokratischen Gesellschaften Westeuropas.
Am Beispiel der BCCI (Bank of Credit and Commerce International) von Agha Hasan Abedi wird im vierten Teil die Unterwanderung der internationalen Finanzwelt durch das organisierte Verbrechen erforscht. Time Magazine spricht von der »sleaziest bank of all« (der »widerwärtigsten Bank der Welt«).3
Im fünften Teil möchte ich auf die gerichtlichen und polizeilichen Maßnahmen eingehen, die meiner Ansicht nach am besten geeignet sind, das Überleben der demokratischen Gesellschaft in ihrem Krieg gegen das organisierte Verbrechen zu gewährleisten.
Wozu dieses Buch?
Eine Legende von Herakles, dem mythischen Helden der Griechen, gibt eine Antwort: Herakles hatte die Aufgabe übernommen, eine wilde Bestie, den »Löwen von Nemea«, aufzuspüren, zu überwältigen und zu töten. Beinahe hätte sein Abenteuer ein schlimmes Ende genommen ... Herakles hatte seinen Feind gefunden, ohne ihn zu erkennen! Er hatte die Mähne des Tieres für seine eigenen Barthaare gehalten. Im letzten Augenblick wurde er der Gefahr inne und erwürgte das Ungeheuer.
Das Verhalten der demokratischen Gesellschaften gegenüber dem organisierten Verbrechen ist häufig von einem ähnlichen Unverstand geprägt: Die Gegenwart des Ungeheuers in ihrer Mitte scheint so vertraut, daß sie es nicht wahrnehmen. Sie schlafen weiter und streicheln dabei sacht ihren Feind.
Werden sie rechtzeitig erwachen?
Ich bezweifle es.
Dieses Buch will sie aufrütteln.
»Das erste Zeichen des Sittenverfalls ist die Verbannung der Wahrheit.«
MONTAIGNE, Essais
Von Louis-Antoine de Saint-Just stammt der Satz: »Zwischen dem Volk und seinen Feinden gibt es nichts Gemeinsames ... nichts als das Schwert.«1
In den demokratischen Gesellschaften des Westens ist das Schwert stumpf geworden. Das organisierte Verbrechen ist mit Riesenschritten auf dem Vormarsch. Sein Sieg über die Völker steht unmittelbar bevor.
Eckhart Werthebach, Ex-Präsident des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz, schreibt: »Die Gefahr für den Rechtsstaat liegt nicht in der kriminellen Handlung als solcher, sondern in der Möglichkeit, durch Kapital Einfluß auf gesellschaftliche Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse zu nehmen, die sich einer demokratischen Kontrolle weitestgehend entziehen. Die vordergründigste Einflußnahme ist die Korrumpierung von Politikern oder anderer Entscheidungsträger in gesellschaftlich relevanten Positionen ... Durch ihre gigantische Finanzmacht gewinnt die organisierte Kriminalität heimlich zunehmend an Einfluß auf unser Wirtschaftsleben, die Gesellschaftsordnung und in Folge auf die öffentliche Verwaltung, die Justiz wie auf die Politik und kann schließlich deren Normen und Werte bestimmen.«2
Clark Clifford, ehemaliger Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, als Mitarbeiter einer multinationalen Großbank, die auf kriminelle Geldwäsche und internationalen Waffenhandel spezialisiert ist; Giulio Andreotti, siebenmal italienischer Premierminister, vierzehnmal Minister, der vom Staatsanwalt von Palermo der Zugehörigkeit zur Cosa Nostra beschuldigt wird;3 Ernesto Samper, amtierender Präsident Kolumbiens, dem ein Einreisevisum in die Vereinigten Staaten verweigert wird aufgrund der Anschuldigung, er sei Agent der Drogenkartelle – das sind beunruhigende Fakten.
Es wäre jedoch ein Fehler, in der transkontinentalen Kriminalität nur die Symptome einer sozialen Pathologie zu sehen, Manifestationen von abweichendem Verhalten und Perversionen, die jede zivilisierte Gesellschaft in ihrem Kern in sich birgt. Hier geht es um etwas anderes und um mehr.
Woher kommt der Staat? Worauf gründet seine Macht? Was erfüllt eine Demokratie mit Leben? Was macht aus einer Ansammlung isolierter Individuen eine strukturierte, zivilisierte Gesellschaft, die den zentrifugalen Kräften Paroli zu bieten vermag?
Immanuel Kant gibt eine Antwort: Der Staat ist eine »Gemeinschaft unreiner Einzelwillen vereint unter einer gemeinsamen Regel«.4 Unter unreinem Einzelwillen versteht er, daß jedem Menschen die schlimmsten Leidenschaften innewohnen, zerstörerische Kräfte, Eifersucht, Machttrieb. Aber in seltenen Momenten der Klarsicht verzichte der Mensch auf einen Teil seiner nicht limitierten, zerstörerischen Freiheit zugunsten des allgemeinen Willens und des öffentlichen Wohls. Mit seinen Mitmenschen begründet er die »gemeinsame Regel«: den Staat, das Gesetz. Diese Schöpfung steht unter dem Zeichen vollkommener Freiheit. Kant: »Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.«5
Immanuel Kant glaubte an die Perfektibilität des Menschengeschlechts. Doch er wußte besser als jeder andere um die extreme Anfälligkeit der allgemeinen Norm, des sozialen Netzes, das von unreinen Einzelwillen gewebt wird, um den Abgrund, der unablässig auch die scheinbar unumstößlichsten Institutionen bedroht.
Das Beunruhigende an der grenzüberschreitenden Kriminalität in Europa ist nicht in erster Linie, daß sie die Institutionen, das Gesetz, den Staat angreift. Wäre es nichts weiter als das, würde eine Verstärkung der repressiven Maßnahmen der demokratischen Gesellschaft, ihrer Gerichte, ihrer Gesetze, ihrer Polizei genügen, um sie zu bezwingen.
Die tödliche Bedrohung durch das organisierte Verbrechen liegt woanders. Durch die Verlockungen eines schnellen Gewinns, endemische Korruption, körperliche Bedrohung und Erpressung schwächt es den unreinen Einzelwillen der Bürger. Der Rest folgt zwangsläufig: Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr aus eigenem Antrieb bewegt und deren Institutionen nicht mehr dem freien Willen der Individuen gehorchen, ist zum Untergang verurteilt. Kein Staat, kein Gesetz, keine repressive Macht, wie entschlossen und unerbittlich sie auch vorgehen mögen, kann sie noch schützen. Woraus beziehen die Kartelle des organisierten Verbrechens ihre beeindruckende Effizienz? Die Antwort darauf ist komplex: Die Kartelle des organisierten Verbrechens kombinieren drei Organisationsformen, die sich bisher gegenseitig ausgeschlossen haben.
Ein kriminelles Kartell ist zunächst einmal eine Wirtschafts- und Finanzorganisation kapitalistischen Typs, die nach den gleichen Kriterien der Profitmaximierung, der vertikalen Kontrolle und der Produktivität funktioniert wie jede beliebige normale und legale multinationale Industrie-, Handels- oder Bankgesellschaft. Zugleich aber ist das Verbrecherkartell eine militärische Hierarchie. Gewalt bildet die Basis jeder kriminellen Vereinigung. Eine (häufig) extreme Gewalt, die gänzlich im Dienste der Anhäufung von Reichtum, der territorialen Vorherrschaft und der Eroberung von Märkten steht.
Bisher bestand zwischen der Rationalität der kapitalistischen Akkumulation und der militärischen Struktur ein Widerspruch: Der Erfolg jeder multinationalen Gesellschaft (ob Industrie-, Handels- oder Bankunternehmen) beruht auf der persönlichen Initiative, dem freien Spiel der Kräfte im Rahmen anpassungsfähiger Strukturen, eingebunden in das Primat der Profitschöpfung eines jeden Mitarbeiters.
Eine militärische Struktur hingegen funktioniert nach autoritärem Muster. Die militärische Hierarchie definiert sich durch das Verhältnis Befehl – Gehorsam. Gehorsam gegenüber den Befehlen seiner Vorgesetzten und nicht Eigeninitiative stellt die oberste Pflicht des Soldaten dar.
Die dritte Organisationsform, auf die das kriminelle Kartell häufig zurückgreift, ist der Clan, die Organisation nach ethnischen Kriterien. Diese dritte Form, die ethnozentrische soziale Struktur, schließt beide bereits aufgeführten Gesellschaftsbildungen aus: die militärische Hierarchie und die kapitalistische Formation. Doch auch diesen Widerspruch überwindet das kriminelle Kartell und schafft daraus eine Symbiose.
Jede dieser drei Organisationsformen – die kapitalistische, die militärische und die ethnische – zeichnet sich durch eine spezifische Effizienz aus. Ich betone noch einmal: Im normalen, zivilen Leben schließen diese drei Systeme sich gegenseitig aus oder existieren autonom, parallel nebeneinander, ohne daß eine für die andere durchlässig wäre.
Durch die Kombination dieser drei Sozialformationen gelingt es dem kriminellen Kartell, die jeder einzelnen innewohnende Leistungsfähigkeit zu bündeln. Darin liegt die Wurzel für seinen Siegeszug und für die Resistenz, die es jedem Versuch einer polizeilichen Unterwanderung entgegensetzt.
Kant bezeichnet als das »radikal Böse« jene Macht, die den Gemeinwillen der Bürger wanken läßt und sie dazu führt, die gemeinsame Regel zu schwächen, zu pervertieren oder im schlimmsten Fall aufzuheben.6
Myriam Revault d’Allones, eine Kant-Exegetin, schreibt: »Es gibt die unvergeßliche Großartigkeit des historischen Zeichens, das die moralische Veranlagung der Menschheit enthüllt. Doch demgegenüber steht das radikal Böse als Neigung der menschlichen Natur, eine Neigung, die unausrottbar ist, der unermeßliche Abgrund einer Ur-Macht, die sich auf das Gute oder auf das Böse richten kann ...« Und etwas später: »Der Mensch ist formbar insofern, als er sich nicht von Natur aus unverrückbaren Zielen zuwendet ... Die Menschheit ist das, was wir daraus machen wollen .«7
In den meisten Mafiafürsten, die uns in diesem Buch begegnen werden, steckt etwas von Mephisto. Sie kennen intuitiv, aus Erfahrung den zwiespältigen, widersprüchlichen, seinem Wesen nach brüchigen Charakter all dieser unreinen Einzelwillen, die sie mit so todbringender Effizienz zu verführen suchen. Sie bearbeiten eine formbare Masse, und das wissen sie.
Nach Angaben des Innenministeriums der russischen Föderation kontrollieren heute rund 5700 Mafiabanden direkt oder indirekt mehr als siebzig Prozent des Finanzsektors des gesamten Riesenlandes sowie den Hauptteil der Erdöl-, Erdgas-, Erz-, Holz- und Diamantexporte. In Deutschland, Italien, der Türkei und den Vereinigten Staaten zerrüttet das organisierte Verbrechen ganze Sektoren des Marktes. Die Volkswirtschaften mehrerer schwarzafrikanischer Staaten sind vollkommen kriminalisiert.
Wie konnte es dazu kommen? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe.
Der erste ist die Banalisierung der kriminellen Tat in unserem Jahrhundert.
In der Morgendämmerung des 13. Juli 1995 überfallen reguläre Truppen und serbische Milizen unter dem Kommando von Milosevic, Karadzic und Mladic das Tal und die Kleinstadt Srebrenica in Ostbosnien. Srebrenica ist eine Sicherheitszone der Vereinten Nationen. General Bernard Janvier weigert sich im Namen der Vereinten Nationen, den Aggressoren Widerstand entgegenzusetzen und sie zu bombardieren. Die holländischen Blauhelme vor Ort agieren mit willfähriger Gleichgültigkeit. Die Regierungen Europas hüllen sich in Schweigen. Die Serben treiben alle Männer zwischen fünfzehn und siebzig Jahren im Fußballstadion, auf öffentlichen Plätzen, auf unbebautem Gelände zusammen und schlachten sie anschließend systematisch, einen nach dem anderen ab, reißen ihnen die Augen aus, ermorden sie mit Axthieben, selten nur mit einer Kugel in den Kopf. Die Zahl der Getöteten beläuft sich auf achttausend. Der französische Historiker Jacques Julliard stellte daraufhin die Frage: »Muß Janvier vor Gericht gestellt werden?«8 Die Antwort ist komplex. Indes, Janvier wird nie verurteilt werden, sowenig wie die meisten serbischen Mörder.
April-Juni 1994: In den Hügeln Ruandas, im Gebiet der Großen Seen in Zentralafrika, ermorden die Interahamwe unter der Führung von General Théoneste Bagosora und den Ministern des verstorbenen Präsidenten Juvénal Habyarimana – vorzugsweise mit der Machete – Hunderttausende von Tutsi-Bewohnern und Hutu-Oppositionellen. Die Blauhelme vor Ort intervenieren nicht. Seitens der europäischen Regierungen herrscht Gleichgültigkeit. Wahrscheinliche Zahl der Opfer: zwischen 500 000 und 800 000.
Viele Millionen von Frauen, Männern und Kindern wurden zwischen 1975 und 1979 in Kambodscha, zwischen 1974 und 1989 in Äthiopien, zwischen 1969 und 1974 im Bombenhagel der Amerikaner in Vietnam, zwischen 1954 und 1962 unter der französischen Kolonialherrschaft in Algerien, drei Generationen lang in den sibirischen Gulags und sechs Jahre lang in den Vernichtungslagern der Nazis massakriert.
Buchenwald, Srebrenica, Kolyma, die Lager Kambodschas und die Kerker Äthiopiens sind zu Gradmessern des kriminellen Wahnsinns der Menschheit geworden. Doch Eichmann, Karadzic, Beria, Pol Pot, Mengistu und andere Massenmörder haben alle Maßstäbe außer Kraft gesetzt.
Jedes Verbrechen, jedes Massaker unterhalb dieser Schwelle erscheint infolgedessen zwangsläufig als geringfügiges Vergehen, als kleineres Übel, als letzten Endes hinnehmbares Delikt.
Heroin aus China und Nordkorea überschwemmt auf dem Umweg über Wladiwostok und anschließend Nigeria die Städte Amerikas und Europas und tötet jedes Jahr Zehntausende von Jugendlichen. Russische Banden, die ihre Konkurrenten umbringen und die Kinder widerstrebender Verkäufer entführen, reißen den Immobilienmarkt an der Côte d’Azur an sich. Ganze Segmente des Kleinhandels in Berlin werden von Erpresserbanden terrorisiert. Zehntausende junger Frauen werden wie Vieh verkauft, in ganz Europa zur Prostitution gezwungen.
Im Vergleich zu den Greueltaten der Nazis, der Roten Khmer, der Faschisten vom Balkan wirken all diese Verbrechen wie läßliche Sünden.
Infolgedessen rufen die alltäglichen Machenschaften der Verbrecherkartelle in der öffentlichen Meinung der freien Gesellschaften nicht den entsetzten Abscheu, die mutige Entschlossenheit hervor, die zu ihrer Bekämpfung notwendig wären.
Der zweite Grund ist die Unsichtbarkcit des organisierten Verbrechens. Diese These mag angesichts der offenen Drogenszene, des Rotlichtmilieus, einiger spektakulärer Morde und des in den letzten Jahren gewachsenen medialen Interesses überraschen. Die Öffentlichkeit sieht – wenn überhaupt – aber nur die Spitze des Eisberges; diese ist schon erschreckend genug, doch gefährlicher für die demokratische Gesellschaft ist das, was verborgen bleibt. Selbst für die Experten der Strafverfolgungsbehörden läßt sich dieses Phänomen kaum fassen.
Die »Schlächter« – wie ein leitender französischer Kommissar sie nennt – treten kaum in Erscheinung. Ihre Verbrechen bleiben meist im dunkeln. Sie geben keine vollmundigen Presseerklärungen ab, in denen ethnische Säuberungen oder Vernichtungsschläge gegen wehrlose Dörfer angekündigt werden. Sie verzichten auf triumphierende Siegesmeldungen am Rande von Massengräbern. Die Killer des »Hochwürdigen Herrn«,9 die türkischen »Buyuk Baba« oder die kolumbianischen Auftragskiller töten vorzugsweise nachts. Geräuschlos und ohne vorhergehende Ankündigung. Fern jeder Kamera.
Das gleiche gilt für die Unterwanderung der wichtigsten Finanzmärkte der Welt durch kriminelle multinationale Banken (wie beispielsweise der Bank of Credit and Commerce International, BCCI): Dies vollzieht sich stillschweigend, im verborgenen, unbehelligt von jeder störenden Neugier.
Erschwerend kommt noch hinzu: Leute wie Toto Riina, genannt »die Bestie«, oberster Führer der Cosa Nostra auf beiden Seiten des Atlantik, Giovanni Brusca, genannt »das Schwein«, die tschetschenischen Mafiafürsten oder die kriminellen Bojaren aus Moskau – sie alle verabscheuen Interviews. Eine Nahaufnahme ist ihnen ein Greuel. Schon ein schlichtes Foto kann den unvorsichtigen Reporter eine Nase, ein Ohr oder das Leben kosten.
Wer wollte unter diesen Umständen gründliche und gefährliche Nachforschungen über die Kartelle des organisierten Verbrechens führen? Alarm schlagen und die öffentliche Meinung dauerhaft mobilisieren? Darum bemühen sich leider nur wenige. Viele Journalisten vermarkten das Thema unter der täglichen Rubrik »Sex and Crime«, die der Bedrohung in keiner Weise gerecht wird, sondern vielmehr zur Abstumpfung und Gewöhnung beiträgt. Und auch die Instrumentalisierung des Schlagwortes vom Kampf gegen die organisierte Kriminalität für Wahlkampfzwecke durch viele Politiker ist der Sache nicht förderlich, sondern erweckt bei vielen Bürgern den Eindruck, organisierte Kriminalität sei eine Erfindung geschickter Wahlkampfstrategen.
Will eine Gesellschaft sich der Gewalt, der Erpressung, der täglichen Aggression der Kartelle widersetzen, so braucht sie Werte; nur solidarische, dem Allgemeinwohl verpflichtete Bürger mit komplementären, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehungen, die gemeinsam die Demokratie verteidigen und nach sozialer Gerechtigkeit streben, widerstehen der Korruption und der von den Agenten der internationalen Kriminalität entfalteten Verführungskraft. Nur wer über die eigene Nasenspitze hinaussieht und sich einen historischen Horizont bewahrt, ist immun gegen die Verlockung des schnellen, illegalen und kriminellen Gewinns.
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