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Die neue enragierte Streitschrift des bekannten Globalisierungskritikers!
Jean Ziegler hat als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats im Mai 2019 das EU-Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. Anhand vieler, oft erschütternder Einzelfälle schildert er eingehend seine Begegnungen mit Flüchtlingen, die von ihrem Leidensweg berichten, mit den mutigen, engagierten Vertretern verschiedener Hilfsorganisationen (medico international, Pro Asyl u. a.) und Menschenrechtsaktivisten, mit Anwälten und Offiziellen.
Sein Buch legt Zeugnis ab von dem moralischen Verfall, auf den Europa zusteuert, und ist ein eindringlicher Appell an die zuständigen Politiker in Brüssel und an die Zivilgesellschaft, der Praxis des »Push-Backs« und der unmenschlichen Realität der Hotspots ein Ende zu machen – denn sie sind die Schande Europas.
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Seitenzahl: 129
Buch
Jean Ziegler hat als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats im Mai 2019 das EU-Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. Anhand vieler, oft erschütternder Einzelfälle schildert er eingehend seine Begegnungen mit Flüchtlingen, die von ihrem Leidensweg berichten, mit den mutigen, engagierten Vertretern verschiedener Hilfsorganisationen (medico international, Pro Asyl u. a.) und Menschenrechtsaktivisten, mit Anwälten und Offiziellen.
Sein Buch legt Zeugnis ab von dem moralischen Verfall, auf den Europa zusteuert, und ist ein eindringlicher Appell an die zuständigen Politiker in Brüssel und an die Zivilgesellschaft, der Praxis des »Push-Backs« und der unmenschlichen Realität der Hotspots ein Ende zu machen – denn sie sind die Schande Europas.
Autor
Jean Ziegler lehrte Soziologie in Genf und an der Sorbonne. Er war bis 1999 Nationalrat im eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Von 2009 bis 2019 war er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats und ist heute immer noch als dessen Berater tätig. Zieglers in viele Sprachen übersetzte Bücher wie »Die Schweiz wäscht weißer« haben erbitterte Kontroversen ausgelöst. Zuletzt erschienen die Bestseller »Ändere die Welt!« (2015), »Der schmale Grat der Hoffnung« (2017) und »Was ist so schlimm am Kapitalismus?« (2019).
Jean Ziegler
DIE SCHANDE EUROPAS
Von Flüchtlingen und Menschenrechten
Aus dem Französischen übertragen von Hainer Kober
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Lesbos. La Honte de L’Europe« bei Éditions du Seuil, Paris. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2020 by Jean Ziegler© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-26467-3V001www.cbertelsmann.de
Wer könnte jetzt noch antworten auf die entsetzliche Hartnäckigkeit des Verbrechens, wenn nicht die Hartnäckigkeit des Zeugnisses?
Albert Camus
In meiner Eigenschaft als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen bin ich im Mai 2019 nach Lesbos gereist.1 Vierzig Jahre zuvor hatte ich staunend den Zauber dieser Insel entdeckt.
An der Universität Genf war Stelios Kamnarokos einer meiner sympathischsten und intelligentesten Studenten. Sein Vater, beleibt, lebenslustig, humorvoll und von bedingungsloser Gastfreundschaft, war der Pope von Mytilini: Im Hafen und in den Cafés der Stadt nannte man ihn nur liebevoll »Papa Dimitri«. Er hat mir das Naturwunder erschlossen, das sich Lesbos nennt.
Anschließend machte Stelios eine beeindruckende diplomatische Karriere. Vor allem war er neun Jahre lang der einflussreiche außenpolitische Berater von Staatspräsident Károlos Papoúlias. Empört über das Schicksal, das von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union über Griechenland verhängt wurde, lebt er heute in einem unruhigen Ruhestand in Athen.
Anlässlich meiner UN-Mission im Mai 2019 sah ich sie wieder, die Sand- und Kieselstrände und die Berge, die sich bis zu einer Höhe von 1000 Metern auftürmen.
Unzählige Buchten unterbrechen die Küstenlinie der Insel. Dem türkisfarbenen Wasser verdankt Lesbos, Heimat der Dichterin Sappho (6. bis 7. Jahrhundert v. Chr.), ihren Beinamen »Smaragdinsel«. Die wie ein Amphitheater angelegte Hauptstadt Mytilini – ungefähr 50 000 Einwohner, annähernd die Hälfte der Inselbevölkerung – ist seit der römischen Antike ein Kultur- und Handelszentrum von beeindruckender Vitalität. Davon zeugen die begeisterten zeitgenössischen Schilderungen seiner Pracht und Schönheit,2 aber auch die Ruinen des mächtigen, unter Trajan erbauten Amphitheaters. Strabon hielt die Stadt für »die größte ihrer Zeit«. Die byzantinische Festung, die von den Architekten Kaiser Justinians errichtet und im 15. Jahrhundert von den Baumeistern der Genueser Familie Gattilusi wiederaufgebaut und verstärkt wurde, überragt noch immer den Ostteil der Stadt. Später wurden die Genueser ihrerseits von den osmanischen Eroberern verjagt.
Bunte Fischerhäuschen. Palmen, die sich in der Meeresbrise wiegen. Blumen, so weit das Auge reicht. Landwirtschaftliche Flächen wechseln mit düsteren Bergen. Elf Millionen Olivenbäume und drei Millionen Schirmpinien bedecken die Hügel und Ebenen. Eine der spektakulärsten Attraktionen ist der riesige Wald aus versteinerten Mammutbäumen, der vor 20 Millionen Jahren durch eine Vulkanexplosion entstand. Mit einer Fläche von fast 1700 Quadratkilometern und einer Küstenlänge von 320 Kilometern ist Lesbos die größte Insel in der Ägäis.
Im Mai 2019 fand ich die überwältigende Schönheit der Insel unverändert wieder, genau so, wie sie mir während all der Jahre im Gedächtnis geblieben war.
Vier Jahre zuvor, im April 2015, waren gemäß eines Abkommens, das zwischen der Europäischen Kommission und der griechischen Regierung geschlossen worden war, auf den fünf Kleinasien am nächsten gelegenen Ägäisinseln Lesbos, Kos, Leros, Samos und Chios sogenannte Hotspots eingerichtet worden, Aufnahmezentren für Tausende von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, aber auch aus Pakistan, dem subsaharischen Afrika und anderswo, die vor Krieg, Folter, Zerstörung ihrer Länder flohen und versuchten, die griechischen Küsten zu erreichen.
Diese Flüchtlinge hegen die Hoffnung, es könnte ihnen gelingen, von den Inseln auf den Kontinent zu gelangen und dort der Route über den Balkan nach Mittel- und Nordeuropa zu folgen.
Die offizielle Bezeichnung dieser Hotspots lautet »First reception facilities« (»Erstaufnahmeeinrichtungen«). Zwei europäische Dokumente und ein griechisches Gesetz definieren ihre Funktionen. Die beiden normativen Texte der Europäischen Union (EU) sind zum einen eine Richtlinie vom Mai 2015 mit dem Titel »Europäische Agenda für Migration«, zum anderen die Entschließung des Europäischen Parlaments »Hot spots at EU external borders« (»Hotspots an den Außengrenzen der EU«). Das griechische Gesetz trägt die Nummer 4357 und stammt aus dem Jahr 2016.
Hören wir, wie das Europäische Parlament die Hotspots definiert: »Diese haben zum Ziel, die Zusammenarbeit zwischen den EU-Agenturen und den nationalen Behörden besser zu koordinieren, um ihnen dabei zu helfen, bei ihrer Arbeit an den Außengrenzen den Verpflichtungen des EU-Rechts nachzukommen und rasch die Asylbewerber [›asylum seekers‹] zu identifizieren, zu registrieren und ihre Fingerabdrücke abzunehmen. Derzeit sind Italien und Griechenland die einzigen Mitgliedstaaten, in denen das Hotspot-Konzept angewandt wird. Aber andere Länder können ebenfalls von der Einrichtung solcher Hotspots profitieren, wenn sie sie beantragen oder wenn die Kommission der Meinung ist, dass diese Länder zusätzliche Hilfe benötigen.«
Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge schätzt die Zahl der in den fünf Hotspots der Ägäis geparkten Flüchtlinge im November 2019 auf 39 000. Fast zwei Drittel von ihnen sind Frauen und Kinder. Da die Ausstattung dieser Lager eigentlich nur die Aufnahme von 6400 Personen gestattet, sind sie hoffnungslos überfüllt.3
Trotz der Jagd auf die Flüchtlinge, die von europäischen (oder EU-finanzierten türkischen und griechischen) Instanzen auf hoher See organisiert wird, setzen zahlreiche Schlauchboote und alle möglichen anderen Boote auch weiterhin Flüchtlinge an den Ufern von Lesbos und den benachbarten Inseln ab. Jede Nacht und jeden Morgen. Auf Lesbos mit seiner langen und zerklüfteten Küste gibt es keine Möglichkeit, diese Anlandungen vollkommen zu unterbinden.
Jeden Morgen inspizieren bewaffnete griechische Polizisten die Küsten. Sie nehmen die Flüchtlinge fest, die sich mehr schlecht als recht zwischen den Felsen verstecken. Sie legen ihnen, gelegentlich auch den Kindern, Handschellen an. Dann schubsen sie sie in große blaue Busse und fahren sie nach Moria, ein Lager, das am Rande eines kleinen Dorfs bei Mytilini eingerichtet ist. Dort werden sie, durchnässt, hungernd und verängstigt, abgesetzt und warten auf die ersten Verhöre. Diese werden von Beamten durchgeführt, die drei verschiedenen EU-Organisationen angehören.
Zunächst FRONTEX (Abkürzung für »frontières extérieures«). Die Organisation wurde 2004 unter der Bezeichnung »European Border and Coast Guard Agency« (»Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache«) gegründet. Ihr Sitz ist in Warschau. Ihre Polizisten – aus Dänemark, Frankreich, Bulgarien, Deutschland etc. – haben den Auftrag, grenzüberschreitende Kriminalität und den internationalen Menschenhandel zu bekämpfen. Durch die Verhöre der Flüchtlinge können sie häufig wertvolle Informationen über die Identität der Schleuser, ihre Netze und ihre Aufenthaltsorte gewinnen.
Die Geheimdienstoffiziere und Agenten von EUROPOL, die aus den 28 Mitgliedstaaten der EU abgeordnet werden, führen ihrerseits strenge Verhöre durch. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, Terroristen, die sich möglicherweise unter die Flüchtlinge gemischt haben, zu enttarnen und abzufangen. Die Gefahr ist real. Zwei Täter des Attentats im Pariser Bataclan vom 13. November 2015 waren als »Flüchtlinge« nach Europa gelangt.
Doch noch eine dritte Agentur der EU ist an dieser ersten Etappe beteiligt: Das 2011 gegründete EASO (European Asylum Support Office – Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen), das seinen Sitz auf Malta hat. Das EASO führt die erste Befragung der Asylbewerber durch. Die Personen, die nach Meinung der EASO-Beamten keine Aussichten auf Asyl haben, sortieren sie aus und schicken sie zurück. Die anderen werden an den Greek AsylumService überführt.
Auf dem Papier beschränkt sich die Rolle der EU-Organisationen – der verschiedenen Beamten, aus denen sie bestehen – auf die Unterstützung der griechischen Behörden. In Wahrheit aber machen diese EU-Beamten das Gesetz. Sie haben die strategischen Posten der Institutionen inne. Außerdem werden die griechischen Polizisten, die Küstenwachen aus Griechenland und der Türkei von der EU bezahlt. In Moria wie in den anderen Hotspots sind die Beamten des Migrationsministeriums in Athen, die griechischen Polizisten, die Vollzugsbeamten, die Beamten der Küstenwache und die Offiziere der griechischen Armee nicht mehr als Handlanger der EU.
Wenn man sich die Europäische Agenda für Migration 2015 etwas genauer ansieht, springt eine Ungereimtheit ins Auge: Die EU-Kommission ist von den Schengener Abkommen wie besessen, die bekanntlich die Innengrenzen der EU aufheben. Die freie Zirkulation der Waren, des Kapitals (vollkommen ungehindert) und der Menschen (mit Einschränkungen) ist die Grundlage des Gemeinsamen Marktes. Doch Schengen überlebt nur unter der Bedingung, dass die Außengrenzen der Union kontrolliert und streng überwacht werden. Mit dieser Aufgabe betraut sind die Schiffe und Agenten von FRONTEX, die griechische und türkische Marine, griechische Polizisten und Geheimdienstler sowie die anderen beteiligten europäischen Agenturen. Alle Aktivitäten an den Hotspots und die Interventionen auf hoher See sowie in den Hoheitsgewässern folgen einem vorrangigen Imperativ: Europa vor dem Andrang der Flüchtlinge zu schützen.
Die Flüchtlinge, die 2019, zur Zeit meiner Mission, hinter den Mauern Morias gefangen saßen – oder in den Olivenhainen der Umgebung zusammengepfercht wurden, die ihrerseits zu einem riesigen Lager mit der naheliegenden Bezeichnung »die Olivenhaine« geworden waren –, gehörten 58 Nationalitäten an. Weit überwiegend stammen sie aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, dem Iran und dem Sudan. Die meisten von ihnen kamen aus der Mittelschicht: Lehrer, Ingenieure, Unternehmer, Kaufleute, ehemalige Beamte, Angestellte, Handwerker etc. Bauern- oder Arbeiterfamilien sind weniger zahlreich vertreten. Man braucht nämlich Geld, um aus seinem Dorf oder seiner Stadt zu fliehen; das Geld für die Transporte, die korrupten Grenzwachen, die erpresserischen Polizisten, die Schleuser.
In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle haben die Flüchtlinge Länder verlassen, die von Krieg und Terror verwüstet werden. Dort findet kein normales Wirtschaftsleben mehr statt: der Zahnarzt, der Unternehmer, der pensionierte Beamte, der Kaufmann, der Handwerker kann sein Haus, seine Wohnung oder seine Firma nicht verkaufen, weil seine Stadt und deren Infrastruktur von den Bomben oder Artilleriegranaten dem Erdboden gleichgemacht wurden. In der syrischen Provinz Idlib, in der afghanischen Region Kandahar, in der irakischen Ebene Ninive kann kein Eigentümer mehr sein Stück Land verkaufen, weil er keinen Käufer findet. Wenn die Flüchtlinge aufbrechen, nehmen sie also alle flüssigen Ersparnisse mit – und die erschöpfen sich sehr rasch auf ihrer Route.
Die meisten Flüchtlinge, die an der Küste von Lesbos stranden, sind vollkommen mittellos. Ihr ganzer Besitz hat sich reduziert auf die schmutzigen Kleidungsstücke, die sie am Leib tragen, einige Familienfotos und häufig das unentbehrliche Handy.
Nach der Registrierung durch die griechische Polizei erhalten die Flüchtlinge eine »Registrierungskarte«, die sie berechtigt, einen Schlafplatz aufzusuchen, zur Zeit der Essensausgabe eine Schlange zu bilden sowie Toiletten und Duschen zu benutzen. Aber da das offizielle Lager hoffnungslos überbelegt ist, sind die Neuankömmlinge im Sommer 2019 alle in dem sogenannten »inoffiziellen« Lager zwischen den Olivenbäumen untergebracht worden.
Die Polizisten händigen den Neuankömmlingen Plastikplanen und einige Geräte aus – Schaufeln, Hacken –, damit sie den Boden planieren können. In den Olivenhainen müssen sich die Flüchtlinge selbst ihre Hütten bauen.
Die Registrierungskarte gibt ihrem Inhaber auch das Recht auf eine kleine Summe – die monatlich vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge ausgezahlt wird (UNHCR oder kürzer: HCR). Die Berechnungsweise ist schwierig: Die Höchstgrenze pro Familie beträgt 550 Euro. Doch die Afghanen, Syrer, Iraker und Bahrainer fliehen mit der ganzen Familie: Vater, Mutter, Großeltern, Kinder der verschiedenen Generationen. 550 Euro auf 16 oder 18 Personen aufzuteilen, hat natürlich wenig Sinn.
Von diesem Betrag müssen die Flüchtlinge ihre Einkäufe bestreiten: Wasserflaschen, Medikamente, Milch für die Kinder, Kleidung zum Wechseln, Schuhe, Produkte für die Körperpflege (Seife etc.).
1 Zwei einflussreiche europäische NGOs (Nichtregierungsorganisationen) hatten mir bei der Organisation meiner Mission wertvolle Hilfe geleistet. Dafür bin ich Thomas Gebauer und Ramona Lenz von medico international sowie Karl Kopp von Pro Asyl zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet.
2 Cicero, Vitruv.
3 Vgl. Amnesty International, Les Camps inhumains et surpeuplés doivent être fermés immédiatement, London, Januar 2019.
Grau und tief hängt der Himmel über dem Ägäischen Meer. Dichter Nebel umhüllt die Gipfel des ganz nahe liegenden türkischen Gebirges. Die silberne Wolkendecke spiegelt sich im Wasser. Aus Athen kommend, beschreibt die Maschine des Flugs A37252 der Olympic Airways eine lange Schleife über der Meerenge. Die ist schmal: Lediglich sieben Kilometer trennen die türkischen Berge vom europäischen Ufer.
Mytilinis kleiner, nach dem Dichter Odysséas Elýtis benannter Flughafen liegt am Meer. Die schuldenbasierte Erpressung der griechischen Regierung durch IWF und EU hat Spuren hinterlassen: Gegenwärtig gehört der Flughafen der deutschen Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens. Die kurvenreiche Küstenstraße, die nach wenigen Kilometern ins Zentrum der Hauptstadt führt, ist von Palmen und Bougainvilleen gesäumt.
In der Ferne zeichnen sich unter dem grauen Himmel drei stählerne Silhouetten ab: Kriegsschiffe. Langsam bewegen sie sich an der Grenze der Hoheitsgewässer entlang. Wie riesige Raubtiere, die eine unsichtbare Beute belauern.
Giorgos Pallis ist unkompliziert und freundlich. Er hat lebhafte dunkle Augen. Er ist Abgeordneter von Lesbos im Athener Parlament. Die Insel hat traditionell eine kommunistische Mehrheit. Sein Vater Giorgos war kommunistischer Abgeordneter. Giorgos selbst gehört den Grünen an, die mit der Syriza verbündet sind, sie bilden eine Koalition der extremen Linken, die im Mai 2019 an der Macht war. Pallis ist etwa 40 Jahre alt.
»Schauen Sie dort unten, das erst Kriegsschiff gehört der NATO, das zweite, etwas weiter westlich, FRONTEX. Das dritte? Es ist zu weit weg, ich kann es nicht erkennen.«
Ich frage: »Wieso ein Kriegsschiff der NATO?«
Mit bitterem Lachen antwortet er: »Um Europa zu schützen; sie müssen die Frauen und Kinder zurückdrängen, die in Afghanistan, Syrien und im Irak bombardiert wurden.«
Mit unvermindertem Zorn fährt Giorgos fort: Die NATO habe mindestens vier Kreuzer vor der Küste von Lesbos. »Ist sie nicht wunderbar, die Souveränität meines Landes!«
Das Auto setzt mich am Hotel Blue Sea ab, an der westlichen Uferpromenade von Mytilini. Vom Balkon meines Zimmers im zweiten Stock kann ich den Hafen überblicken. Ein Metallgitter von vier Metern Höhe trennt ihn von der Promenade. Es wird von griechischen Polizisten streng bewacht. Überall schwarze Uniformen. Die Bewaffnung der Polizisten, ihre gepanzerten Jeeps verhindern jede Annäherung.