Die Bauchtänzerin - Safeta Obhodjas - E-Book

Die Bauchtänzerin E-Book

Safeta Obhodjas

4,8
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Safeta Obhodjas führt uns mit ihrem Roman »Die Bauchtänzerin« in eine erfundene Stadt zwischen Orient und Okzident in einem gar nicht erfundenen Bosnien. Erzählt wird die Geschichte der jungen, verwöhnten und eigensinnigen Vildana Mulic, die einer Familie mit muslimischen Wurzeln entstammt, aber ganz und gar europäisch ausgerichtet ist. Vildana sucht ihren Platz in einer bunten Gesellschaft, die anfangs noch aus vielen unterschiedlichen Religionen und Kulturen besteht – um sich dann radikal zu nationalisieren und zu verändern und einer kreativen Modeschöpferin wie Vildana kaum mehr Raum zum Leben zu geben. Obhodjas nähert sich Vildana aus zwei Perspektiven: Sie nutzt die Fotografin Sandra für die distanzierte Beschreibung Vildanas und Kommentierung der gesellschaftlichen Umbrüche und lässt im Wechsel Vildana selbst zu Wort kommen. Es entsteht das Kaleidoskop eines modernen muslimischen Frauenlebens zwischen zwei rasant auseinanderdriftenden Kulturen. Ein Buch über Frauen zwischen den Kulturen – zwischen Europa und Orient –, was für ein spannendes und immer wieder wichtiges Thema! Bei uns erscheint »Die Bauchtänzerin« zum ersten Mal in deutscher Sprache und komplett überarbeitet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 614

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Safeta Obhodjas führt uns mit ihrem Roman »Die Bauchtänzerin« in eine erfundene Stadt zwischen Orient und Okzident in einem gar nicht erfundenen Bosnien. Erzählt wird die Geschichte der jungen, verwöhnten und eigensinnigen Vildana Mulic, die einer Familie mit muslimischen Wurzeln entstammt, aber ganz und gar europäisch ausgerichtet ist.

Vildana sucht ihren Platz in einer bunten Gesellschaft, die anfangs noch aus vielen unterschiedlichen Religionen und Kulturen besteht – um sich dann radikal zu nationalisieren und zu verändern und einer kreativen Modeschöpferin wie Vildana kaum mehr Raum zum Leben zu geben.

Obhodjas nähert sich Vildana aus zwei Perspektiven: Sie nutzt die Fotografin Sandra für die distanzierte Beschreibung Vildanas und Kommentierung der gesellschaftlichen Umbrüche und lässt im Wechsel Vildana selbst zu Wort kommen.

Ein Buch über Frauen zwischen den Kulturen – zwischen Europa und Orient –, was für ein spannendes und immer wieder wichtiges Thema! Bei uns erscheint »Die Bauchtänzerin« zum ersten Mal in deutscher Sprache und komplett überarbeitet.

Über die Autorin

Safeta Obhodjas

Die Bauchtänzerin

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Zoë Beck

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.04.2015

ISBN 978-3-944818-80-1

Inhaltsverzeichnis

Prolog
-1-
-2-
-3-
-4-
-5-
-6-
-7-
-8-
-9-
-10-
-11-
-12-
-13-
-14-
-15-
-16-
-17-
-18-

Prolog

Anziehen, ausziehen, wieder anziehen – in Windeseile wie ein ausgehungerter Modejunkie wechselte ich die Kleider vor dem Spiegel. Das Ergebnis – ernüchternd. Alle neuen Stücke in meinen Lieblingsfarben Schwarz, Lila, Grau und Grün erwiesen sich als zu weit für die Figur einer Bohnenstange. Zum Glück stand meine Schwester nicht neben mir, um mich mit ihrem Humor zu nerven: Sandra, bist du nicht ein wenig zu alt für die Karriere eines Models?

Mehrere Beschäftigte hasteten durch den Second-Hand-Laden der humanitären Organisation »Schwestern in Not«, wobei sie die Kleider sortierten und versuchten, in den Regalen Ordnung zu schaffen. Endlich nahm ein schwarzes Mädchen, dessen Kopf mit einem turbanähnlichen Schal bedeckt war, meine Verzweiflung wahr. Sie lächelte mich an, und ein Funke Freundlichkeit in ihren dunklen Augen weckte meine fast verschütteten Instinkte. Ich wollte ihr Antlitz durch die Linse sehen, ein Foto von ihr machen. Ein schnelles Abtasten der Brust, aber die Leere dort rief mir wieder meinen Verlust ins Gedächtnis. Meine Kamera hatte sich in dem Hab-und-Gut-Koffer befunden, der mir in Budapest gestohlen worden war.

Ich unterdrückte ein Schluchzen. Um mich unter Kontrolle zu halten, fing ich wieder an, die Kleiderstangen zu durchsuchen. Mode war nie mein Ding gewesen. Für meine Arbeit im Freien war mir in meinen jungen Jahren ohnehin sportliche Kleidung lieber gewesen, weil ich sie bequemer fand: Jeans, Lederjacke, Turnschuhe, Pullis ... Jetzt, nachdem ich mehr als einen Monat mit einer durchlöcherten Hose und einem vom vielen Waschen verblassten T-Shirt herumgelaufen war, wurde mein Wunsch wach, etwas Anständiges anzuziehen.

Das schwarze Mädchen kam zu mir, steckte die von mir ausgewählten Kleider in eine Tüte, nahm mich am Arm und strahlte mich mit dem Weiß ihrer Zähne an. Sie gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Verblüfft ließ ich mich führen, ohne zu ahnen, wohin. Zuerst gingen wir einen langen Korridor entlang, dann bogen wir nach links und dann nach rechts. Dort zeigte sie mir am Ende des Flurs eine Tür mit einem Schild in Großbuchstaben: Änderungsschneiderei.

Eine kurze Aufklärung in Englisch, hinter dieser Tür arbeite eine Schneiderin mit goldenen Händen, eine Zauberin, die mir die ganze Garderobe anpassen könne.

– Ich habe keine Zeit dafür – antwortete ich und gab ihr die Tüte zurück. – Meine Familie und ich, wir sind nur für kurze Zeit in Deutschland, in zwei, drei Wochen fliegen wir nach Amerika.

Sie ergriff wieder meinen Arm.

– Diese Frau wird dir helfen. Eine Landsmännin von dir. Sie ist ein bisschen merkwürdig, aber sie kann fantastisch nähen, verstehst du. Sie hat mir eine Tracht genäht, für meine afrikanischen Tänze. Ich habe ihr nur ein Bild gezeigt, und sie wusste sofort, wie man das schneidert. Sie heißt Dana ... nein, sie hat einen anderen Namen, aber wir nennen sie Dana. Sie hat eine Narbe auf der Wange, deshalb mag sie es nicht, wenn jemand sie anstarrt. Du solltest so tun, als ob du ihre Narbe nicht siehst. Stell’ ihr keine Fragen, sie hasst neugierige Menschen. Jetzt wirst du sie kennenlernen.

Zum Glück hatte ich während des langen Wartens in einer Flüchtlingsunterkunft in Zagreb meine Langeweile mit Englischlernen bekämpft. Sonst hätte ich nicht verstehen können, was das Mädchen sprach.

Die »Schneiderin mit den goldenen Händen« wollte ich auf jeden Fall kennenlernen. Leider war sie nicht an ihrem Arbeitsplatz. Die Schwarze entschuldigte sich, sie habe vergessen, dass heute Donnerstag sei, und Dana habe Spätschicht. Sie überließ mir die Entscheidung, eine Stunde auf sie zu warten oder morgen wiederzukommen.

Ich entschied mich zu warten, eine Stunde mehr oder weniger, das war doch egal. Die letzten Jahre waren ohnehin eine Geduldsprobe gewesen. Ich war schon im Besitz des schwarzen Gürtels in der Disziplin »Zeit totschlagen«. Sechzig Minuten – eine Kleinigkeit im Vergleich zu den vergangenen Jahren! Ich ging zur Toilette, dann machte ich einen Spaziergang durch die Korridore und steckte am Ende meine Nase in eine Halle, wo ein Mann, wahrscheinlich aus dem Vorderen Orient, die Kleider in Kartons packte, die er danach verklebte und auf einen langen Wagen stapelte.

– Wohin schicken sie die alten Kleider? – fragte ich und floh, als er mich auf Deutsch ansprach.

Als ich die Tür der Änderungsschneiderei wieder öffnete, befand sich meine Schicksalsgenossin an ihrem Arbeitsplatz. Sie saß gebeugt zwischen einem Schneidertisch und einer Nähmaschine und entfernte den Reißverschluss einer Jacke. Das kann nicht sein!, dachte ich. Das ist wieder so eine Halluzination, eine Täuschung, die mir meine Sehnsucht nach bekannten Gesichtern vorgaukelt! Aber ich konnte nicht widerstehen, den vertrauten Namen auszusprechen.

– Vildana?

Die Näherin hob schnell den Kopf, und noch schneller senkte sie ihn wieder.

– Vildana, bist du das?

Keine Reaktion. Aber ich war mir sicher, das konnte nur sie sein.

– Hallo, du bist Vildana, nicht wahr? Vildana aus der Čaršija? Erkennst du mich etwa nicht?

Sie warf die Jacke auf den Tisch, und mit einer raschen Bewegung überprüfte sie, ob ihre lange Ponysträhne auch wirklich die Narbe auf ihrem linken Jochbein bedeckte. Danach blickte sie mich an.

– Vildana, erkennst du mich wirklich nicht? Habe ich mich so verändert?

Ihre Nervosität hielt mich davon ab, so viel zu reden. Sie wies auf einen Stuhl in der Ecke und fuhr in ihrer Arbeit fort. Flink wie ein Automat nähte sie den neuen Reißverschluss in die Jacke, und ich erkannte ihre Handbewegungen. Es gab keinen Zweifel mehr: Das war Vildana Mulić aus der Čaršija, meine entfernte Verwandte, die einst unzählige Male vor meinem Objektiv gestanden hatte. Wie viel Zeit war mittlerweile vergangen? Einige Jahrzehnte oder nur einige Jahre?

Sie warf mir unter ihrem langen Pony einen misstrauischen Blick zu, ohne mich willkommen zu heißen. Dieser Blick ließ sich als Frage deuten: Sandra, welcher Teufel hat dich hierher gebracht?

Doch das konnte mich auch nicht vertreiben. Ich setzte mich auf den Stuhl und wartete auf eine Erklärung. Nachdem sie die Jacke fertig hatte, nahm sie ein anderes Kleidungsstück und trennte die Nähte auf. Danach maß sie die Länge, wobei sie vor sich hin murmelte. Endlich schaute sie mir wieder ins Gesicht.

– Warum starrst du mich so an? Ich mache das, was ich mein Leben lang gemacht habe. Bist du glücklich, mich gefunden zu haben? Ja, ich bin Vildana, ich trage noch immer diesen Namen. Ich freue mich, dich wiederzusehen. Etwas sagt mir, dass ich mich freue. Aber ich kann dir das nicht zeigen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich sollte mich freuen, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen, aber ich kann das nicht zeigen.

Was redet sie da? Hat sie noch alle Tassen im Schrank?, dachte ich. Ich erkannte ihre Stimme nicht wieder.

Sie legte einen Rock auf den Tisch und schnitt den Saum ab.

– Unser Doktor, man nennt ihn Seelenklempner, er hat meine ganze Seele inspiziert. Er behauptet, darin gäbe es kein einziges Gefühl. Meine Gefühle seien abgestorben oder eingefroren. Ich denke, es ist besser so. Es gibt weder Freude noch Traurigkeit. Damit kann man leben – sagte Vildana, ohne den Ton zu wechseln.

Der Kloß in meinem Hals wurde dicker.

Vildana setzte wieder ihre Nähmaschine in Gang und arbeitete eine Weile. Ein bisschen zerstreut beobachtete ich ihre Bewegungen, aber ich wagte nicht, sie weiter zu bedrängen. Sie warf mir hin und wieder einen Blick zu, verwundert, dass ich noch immer da war.

– Wie geht es euch, habt ihr alle überlebt? Was ist mit Ivos Herz, konnte es so eine lange Reise verkraften? – Die Stimme blieb weiterhin farblos, sodass ich den Eindruck hatte, einem Roboter gegenüberzusitzen, dessen Greifarme keine Ruhe fanden.

– Wir haben irgendwie überlebt. Aber das Warten in Zagreb war sehr hart. Mein Bruder ist sofort nach der Flucht aus der Heimat nach Amerika ausgewandert, aber wir wollten nicht mitgehen, weil Ivo noch immer die Hoffnung hatte, nach dem Krieg in unsere Stadt zurückkehren zu dürfen. Jetzt müssen wir aber doch meinem Bruder folgen, weil keine Rückkehr möglich ist. Auf dem Weg hierher geschah die Katastrophe. In Budapest wurde mir der Koffer gestohlen, mit allem, was ich hatte. Auch meine Kamera war drin, verstehst du? Sie haben mir meine Kamera gestohlen! – erklärte ich.

– Ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Ich freue mich, habe ich gesagt. Du glaubst mir, nicht wahr? Und jetzt: Was willst du von mir? Ich habe viel zu tun, ich kann nicht den ganzen Tag dasitzen und mir anhören, wer was verloren hat. Ich freue mich, und jetzt lass mich in Ruhe! – fuhr mich Vildana an.

– Ich freue mich auch, dich zu sehen. »Schwestern in Not« haben mir diese Kleider geschenkt. Aber alles ... alles ist zu groß – stotterte ich, beschämt wie nie zuvor in meinem Leben.

Sie leerte den Inhalt meiner Tüte auf den Tisch und schaute auf die Kleidergröße.

– Glück gehabt. Das sind schöne Sachen, fast neu – murmelte sie. – Aber bist du sicher, gerade diesen Fummel zu wollen? Du warst früher immer sportlich gekleidet.

– Alles hat sich geändert, ich mich auch. Siehst du nicht, was ich anhabe, seit Wochen! Ich träume davon, endlich etwas Neues anzuziehen.

Sie nahm das Maßband und legte es mir an, wobei sie versuchte, mich zu trösten. Ich solle keine Bedenken haben, sie habe bereits viele Obdach- und Heimatlose schick ausstaffiert. Für die schwarze Schönheit dort, in dem Altkleiderlager, habe sie irgendeine afrikanische Tracht genäht. Sie wolle ihre Heimattänze nicht verlernen.

Nach langem Schweigen fügte sie hinzu:

– Von mir aus! Aber ich hasse tanzen, Folklore, egal wie es heißt, afrikanische genauso wie die vom Balkan oder orientalische.

– Vildana, bitte, sprich nicht so, ich kann das nicht ertragen – sagte ich.

– Vergessen wir das! Auf Wiedersehen! Ich habe zu tun.

Ich ging zu Fuß zurück zum Flüchtlingsheim und versuchte, mich zu beruhigen. Reue und schlechtes Gewissen lagen wie ein Stein auf meiner Seele. Ich hatte das Bedürfnis zurückzulaufen und mich bei Vildana zu entschuldigen: Verzeih’ mir bitte, weil ich um meinen gestohlenen Koffer gejammert habe.

-1-

Der Familienüberlieferung nach befanden sich die Fotos von Familie Mulić auf dem ersten Film, den mein Vater lange vor Vildanas Geburt im Fotolabor seiner zukünftigen Braut, meiner Mutter, entwickelt hatte.

Mein Vater Ivo war in seiner Jugend ein Vagabund. Er hatte keine Ahnung, welcher Nationalität er zugehörte, und verspürte auch kein Bedürfnis, irgendwo dazuzugehören. Viele Hummeln im Hintern trieben ihn durch die Gegend, sodass er keine Zeit hatte, über seine Herkunft nachzudenken. Das Fotohandwerk erlernte er rein zufällig in der Armee. In einem Zagreber Fotoladen klaute er eine Kamera, und danach begann sein Wanderleben. Eine Weile verdiente er sein Brot als reisender Fotograf, wobei er auch viel über Menschen lernte, die sich zu ihren Wurzeln bekannten. Jede Ortschaft auf beiden Seiten der Grenze von Kroatien und Bosnien-Herzegowina besuchte er mehrmals im Jahr, meistens zu den Zeiten der großen Festtage. Alle Filme, die er bei diesen Gelegenheiten aufnahm, entwickelte er später in den Dunkelkammern seiner Kollegen in größeren Städten, und die angefertigten Fotos schickte er per Post an seinen Kundenstamm. Er war für seine Ehrlichkeit bekannt, deshalb zögerte seine Kundschaft nicht, ihn im Voraus zu bezahlen.

An einem heißen Sommertag besuchte er in einer bosnischen Stadt, die ich weiter einfach nur die Čaršija nennen möchte, einen kommunistischen Jahrmarkt. Diesmal entschied sich Besim Mulić, Spross einer angesehenen, einheimischen Familie, samt seiner jungen Gattin Edina, als Erster vor seinem Objektiv zu posieren.

– Ich werde mich bis zum Ende meiner Tage wundern, wie sie es geschafft haben, mich an nur einem Tag an die Čaršija zu binden. Sie haben mich sozusagen gezwungen, hier mein Glück zu finden – erklärte Ivo uns, seinen Kindern, die Tatsache, warum wir gerade in dieser Stadt geboren wurden.

Nachdem Posieren und Fotografieren vorbei waren, kamen die zwei jungen Männer ins Gespräch. Vildanas Mutter stand daneben und hörte ihnen zu. Voller Stolz erzählte mein Vater von seiner Art, Geschäfte zu machen, immer auf der Durchreise, ohne festen Wohnsitz, ohne die Absicht, sich irgendwo niederzulassen. Als er weg wollte, lud Edina ihn ein mitzukommen. Sie wollte zu ihren Verwandten im Stadtzentrum, die das junge Paar zum Mittagessen erwarteten. Das sei ein wohlhabendes Haus, erklärte sie ihm, bei ihnen gäbe es immer eine Portion mehr, auch für nicht geladene Gäste.

Ivo kannte schon diese angenehme Gastfreundschaft der Bosnier und schöpfte keinen Verdacht. Er begleitete sie also und freute sich auf eine Mahlzeit aus einer richtigen Hausküche.

Dort wurde ihm viel mehr als eine Mahlzeit angeboten.

Edinas Verwandter, von Beruf auch Fotograf, besaß ein Fotoatelier im ersten Stock seines Hauses, aber eine schwere Krankheit hinderte ihn daran, weiterzuarbeiten. Seine nicht mehr junge, aber noch immer hübsche Tochter hatte sein Handwerk leider nicht erlernt, weil der Vater ihr nicht mal erlaubte, seine Kameras auch nur anzufassen. Gerade versuchte er jemanden zu finden, dem er sein Geschäft vermieten konnte. Ivo hat später jahrelang, immer laut lachend, geschworen, dass diese ganze Familienbande ihn damals verzaubert hätte. Mit gesundem Verstand hätte er wohl nie zugestimmt, den ganzen Laden mit allem, was drin war, zu übernehmen.

Zweimal stieg er in einen Bus, um seinem Versprechen zu entkommen, aber sein gegebenes Wort war stärker als seine Angst vor Bindung. Er kam wieder zurück und nach zwei Tagen ging er mit Besim zu einem Notar, der einen Vertrag für die Übernahme ausfertigte.

– Das war Teufelswerk, das nur Bosnier kennen. Ich habe nie daran gedacht, auf meine Reisen zu verzichten und sesshaft zu werden, schon gar nicht in so einem verschlafenen Kaff. Ach, nicht gerade Kaff, sondern etwas dazwischen, weder Provinz noch richtige Stadt. Sie haben mir mit Raki meinen gesunden Verstand betäubt, und seit diesem Tag reise ich nur noch in meinen Träumen.

Ob er wollte oder nicht, Ivo blieb an die Stadt und an meine Mutter gebunden.

Mein Großvater, der Besitzer dieses Ladens, starb wenige Monate später. Plötzlich fand mein Vater Freude daran, etwas zu besitzen, und wollte das Geschäft von meiner Mutter, die das Fotostudio geerbt hat, kaufen. Aber meine Mutter Sanija hatte eine bessere Idee. Sie sagte ihm, er könne das alles kostenlos bekommen und als Zugabe eine Braut, deren Wunsch es sei, ihm eine treue Partnerin und Hausfrau zu werden.

Er fühlte sich schon als Chef, hatte viele neue Ideen und keine Zeit für lange Bedenken.

Bald bestätigte meine Mutter, obwohl sie über dreißig war, die Fruchtbarkeit der bosnischen Frauen. Zuerst gebar sie Zwillinge, die ihrem Wunsch nach die muslimischen Namen Rusmir und Meliha bekamen. Das war die Zeit, als sie sich noch als Hausherrin empfand und trotz des Atheismus ihres Ehegatten an ihren islamischen Wurzeln hing.

Meine Eltern wollten keinen Nachwuchs mehr, zwei Kinder auf einmal waren ihnen schon fast zu viel. Aber unangenehme Überraschungen in diesem Bereich konnte man nie ausschließen. Laut meinem Vater habe ich mich als ein Unfall angekündigt, der sich später in einen Glücksfall verwandelte. Als ich geboren wurde, war mein Vater schon Hausherr, sein Laden lief gut, und er wurde in der Čaršija als Einheimischer akzeptiert. Meine Mutter gab sich mit einer Hausfrauenrolle zufrieden, und alle Probleme, die nicht in Reichweite ihres Herds entstanden, überließ sie ihrem Mann. Fragt Ivo, er ist sehr schlau, weiß alles, lautete ihre Lebensdevise, die manchmal wie Spott klang.

Von Kindheit an war ich Vaters Tochter, meine Kinderstube und Spielplatz waren sein Atelier. Er gab mir den westlichen Namen Sandra und brachte mir alles bei, was ich im Leben brauchte. Ich wusste, wie man Filme entwickelte, bevor ich eingeschult wurde.

– Liebe Tochter, die wichtigste Sache im Leben ist das, wovon man lebt. Ich kann dir keine Nationalität und keine Religion weitergeben, weil ich selbst kein Zugehörigkeitsgefühl kenne. Ich kann dir nur mein Handwerk weitergeben, und du kannst später selbst entscheiden, ob dir Mutters Lehre gefällt oder nicht.

Meine Mutter Sanija widersprach ihm nicht. Sie behielt ihr Leben lang etwas von ihrer muslimischen Tradition, machte aber keine Anstrengung, mich damit vertraut zu machen.

Ich habe sehr früh gelernt, dass Familie Mulić zu den besten Freunden des Hauses zählte. Mein Vater vergrößerte einige Fotos ihrer Kinder, die er im Laufe der Jahre aufgenommen hatte. Besonders stolz war er auf einen Schnappschuss, das Foto, das bei uns im Laden im schönsten Rahmen an der Wand gegenüber der Eingangstür ausgestellt wurde. Die siebenjährige Vildana saß auf einem Schemel, auf ihren Knien hielt sie eine nackte Puppe, die ihr älterer Bruder Amar mit besorgter Arztmiene und einem Stethoskop in den Ohren untersuchte.

Aber es gab auch viele andere Bilder von den Geschwistern, mit denen mein Papa die Wände unseres Ladens schmückte.

– Du hast mehr Fotos von den Mulićs als von deinen eigenen Kindern – wunderte sich manchmal unsere Kundschaft.

– Das sind sehr begabte und wunderbare Kinder – antwortete Ivo, – deshalb gelingt es mir, von ihnen Kunstfotos zu schießen.

Trotz meiner Eifersucht musste ich zugeben, dass er recht hatte. Diese Bilder waren etwas Besonderes: Vildana und Amar mit den Eltern hoch oben in einem Karussell, das Mädchen angelehnt an einen riesigen Schneemann, der Junge, ertappt in einem Moment, als er versuchte, ihr einen alten Topf auf den Kopf zu setzen, Vildana als Teenager, aufgenommen auf einer Bühne während eines Tanzauftritts. Das letzte Foto mit dem Titel »Mädchen in bosnischer Tracht« war auf der Ausstellung »Fotografie als Kunst« in Sarajevo ausgezeichnet worden.

Vildana und ich hatten eines gemeinsam, wir waren beide Vatertöchter, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Besim verwöhnte seine Tochter vollkommen, meine Rolle hingegen war es, Vaters rechte Hand im Fotoatelier zu sein. Von Kindheit an wurde ich darauf vorbereitet, eines Tages seine Geschäfte zu übernehmen. Sie hatte Freizeit im Überfluss, ich aber bekam sehr selten Ivos Erlaubnis, mit meinen Freundinnen ins Kino zu gehen oder durch die Čaršija zu bummeln.

Das war kein Problem für mich, weil ich meine Beschäftigung mochte und den Zeitvertreib mit den Altersgenossinnen immer langweilig fand. Ich mochte Vaters Handwerk, und gelungene Fotos machten mich stolz und glücklich. Aber von Neid blieb ich trotzdem nicht verschont. Auch ich war, wie alle anderen Mädchen unserer Generation, auf Vildana eifersüchtig. Ein paar Versuche, ihrer Clique beizutreten, scheiterten, weil ich keine Freizeit hatte, und ihr meine Bewunderung nicht zeigen konnte. Ich beobachtete sie aber gern aus sicherer Entfernung, sowohl in der Schule während der Pausen als auch bei gegenseitigen Familienbesuchen. Sie besaß eine ganze Palette an Selbstdarstellungen, ein fabelhaftes Geschick, sich wichtig zu machen. In der Schule schaffte sie das durch modische Aufmachung und Schlagfertigkeit. Zu Hause benahm sie sich wie eine verwöhnte Göre, die immer ihren Willen durchzusetzen wusste. Vildanas Vater war ihr total verfallen, er konnte ihr keine Grenzen setzen. Edina bevorzugte strengere Erziehungsmethoden, aber die Tochter ignorierte ihre Verbote und Ratschläge. Das Mädchen wuchs in der Überzeugung auf, ihm sei alles erlaubt und die Welt drehe sich, so wie es ihm lieb sei.

Je älter Vildana wurde, desto mehr entwickelt sich ihr Sinn für Modeschöpfung. Sie war bekannt für ihre exquisiten Modelle, die sie trug, und gleichzeitig nahm sie sich das Recht, die anderen in ihrer Clique modebewusster zu trimmen. Aber ihre Ratschläge waren nicht leicht zu ertragen, weil sie jede Problemzone direkt ansprach:

– Bist du etwa farbenblind, so ein Graugrün steht dir nicht, das macht deinen Teint noch matter. Für so eine Frisur ist dein Hals viel zu kurz! Woher hast du dieses Kleid, aus dem Schrank deiner Tante etwa, das ist Mode aus den Fünfzigern. Warum entfernst du deinen Schnurrbart nicht, ist eine Pinzette etwa teuer? Du stolzierst wie ein Junge, imitierst du deinen Bruder? Denk daran, du bist kein Rambotyp, sondern ein Mädchen mit schönen Beinen!

Ihre Bemerkungen waren zwar sehr grob, aber sie lachte ihre Kameradinnen nie aus, sie wollte ihnen einfach etwas Gutes tun und merkte nicht, wie sie damit jemanden kränken konnte. Wahrscheinlich, weil sie sich in ihrer Haut so sicher fühlte, weil sie ihre Makel immer gut zu kaschieren wusste. Von Natur aus war sie so geschaffen, dass sie sich jede Mode erlauben konnte. Egal ob wilde Locken oder glatt gekämmte Haare, sie sah immer perfekt aus. Zu jeder Frisur hatte sie passende Ohrringe, mit denen sie gern klimperte. Mit fünfzehn konnte sie schon eine lange Liste von Verehrern aufweisen und heimste auf der Straße mehr Männerpfiffe ein als alle anderen Mädchen zusammen.

Obwohl wir auch viel Kundschaft hatten und mein Vater als Fotograf sehr aktiv war, gab es in unserer Familie keine aufregenden Ereignisse. Wir konnten uns keine Außeneinflüsse vorstellen, die imstande gewesen wären, unsere Lage in der Čaršija gravierend zu ändern. Die Geschäfte liefen mal so, mal so, die Umsätze erwiesen sich in der einen Woche als spärlich, in der anderen als reichlich, genügten aber immer, um über die Runden zu kommen. Meine Eltern waren damit zufrieden. Bei der Familie Mulić dagegen waren Veränderungen an der Tagesordnung. Sie beschäftigten sich sowohl privat als auch beruflich mit Dingen, die immer in der Čaršija Neugier und Aufmerksamkeit erregten.

Vildana hatte viele Gründe, auf ihre Familie stolz zu sein, und sie verpasste keine Möglichkeit, die Errungenschaften ihrer Lieben hervorzuheben: Mein Vater Besim, Bürgermeister, meine Mutter Edina, Leiterin der Volkshochschule, mein Bruder Amar, der zukünftige Arzt. Ihr Haus, Wohnzimmer, Garten, ihre Freundschaften, alles, was sie umgab, war etwas Besonderes, und jeder, der mit ihr verkehrte, musste das zur Kenntnis nehmen.

Aber dass man ihr das alles gönnte, hatte sie in erster Linie ihrem Bruder Amar zu verdanken, er hielt ihren Thron so hoch.

Viele Mädchen in der Čaršija waren in ihn verliebt. Es war für mich sehr interessant zu beobachten, wie Vildana sogar die Mädchen, die sie nicht ausstehen konnten, geschickt manipulierte und sich gefügig machte. Wann immer sie eine Mädchenschar um sich hatte, erzählte sie mit Vorliebe von ihrem Bruder, und jedes Mal beschrieb sie einen anderen Mädchentyp, der sein Herz zum Rasen und seine Knie zum Zittern brachte. Jedes Mal erkannte sich ein anderes Mädchen in dieser Skizze, was seine Hoffnung nährte, durch Vildanas Freundschaft Amar näher zu kommen. Alle wussten, dass er, seit seine Liebe mit der schönen Nađa in die Brüche gegangen war, keine Angebetete mehr in der Stadt hatte. Sogar die älteren Mädchen umschmeichelten Vildana und hofften, sie würden eines Tages von ihr nach Hause eingeladen und ihrem Bruder vorgestellt werden.

Deshalb war es ein Schock für uns alle, als sich eines Tages ein Gerücht in der Čaršija breit machte: Amar Mulić, Medizinstudent, habe in der Großstadt eine orientalische Prinzessin kennengelernt und ihr Herz erobert. Sie habe zusammen mit ihrem Bruder schon ein paar Wochenenden bei der Familie Mulić verbracht und sei dort herzlich empfangen worden.

Ich habe mich nicht über diese Nachricht gewundert, sondern über Vildanas Schweigen darüber. Das war doch etwas Großartiges, mit dem man prahlen konnte. Normalweise schmückte sie sich gern mit allem, was sie hatten, angefangen bei Mutters Sonntagskuchen bis hin zu den Studienerfolgen ihres Bruders. Warum schwieg sie über seine Freundin, in der man eine echte Prinzessin vermutete? Einmal, als sie gerade nicht dabei war, versuchte ich, ihre Busenfreundinnen darüber auszuhorchen. Aber Jelena und Melita überfielen mich mit Fragen über Amars exotische Freunde, weil sie dachten, ich sei besser informiert als sie.

Am nächsten Tag kam Vildana mit Edina in unseren Laden. Hinterlistig fragte ich sie, wie sie die neue Freundin ihres Bruders fände. Sie blieb ziemlich ruhig, bestritt aber jegliche Liebesgeschichte dahinter und stellte alles lediglich wie eine normale Freundschaft hin. Die Geschwister Daraj seien nur Kommilitonen ihres Bruders, die er, wer wisse schon, warum, hierher mitgeschleppt habe. Sie seien rücksichtslos und nutzten die Gastfreundschaft ihrer Familie aus. Erst mein Nachhaken, ich hätte etwas von einer Prinzessin gehört, brachte Vildana in Rage, und sie fuhr mich an, sie habe mit diesen zwei grauen Mäusen nichts zu tun. Sie seien die langweiligsten Menschenwesen, denen sie im Leben begegnet sei, und sie habe genug davon, sie jedes Wochenende im Haus ertragen zu müssen.

– Vildana, sie sind nicht so grau, wie du behauptest. Ich habe sie an der Bushaltestelle gesehen. Das Mädchen ist zwar altmodisch gekleidet, hat aber ein hübsches Gesicht. Isa, ich habe gehört, der Bruder des Mädchens heißt Isa, hat zwar einen ziemlich dunklen Teint, aber große, wunderschöne Augen.

– Wenn sie dir gefallen, nimm sie in dein Haus auf, ich werde sie bestimmt nicht vermissen.

Bald aber bot sich mir eine Möglichkeit, die zwei Fremden persönlich kennenzulernen. Besim lud uns ein, am Samstag ihre Gäste zu sein. Sie hatten vor, in ihrem Garten eine kleine Feier zu veranstalten. Wir sollten natürlich unsere Kamera mitbringen, weil außer Amars Kollegen aus der Großstadt auch viele Freunde und Verwandte aus der Čaršija eingeladen waren. Ich freute mich, Fotos von der exotischen Schönheit machen zu dürfen. Dieses Mädchen war mir sympathisch, weil sie Vildanas Wohlbehütetheit im Elternhaus störte.

Selten konnte eine Familie in der Čaršija so viele materielle Beweise ihrer tiefen Verbundenheit mit der Stadtgeschichte aufweisen wie die Mulićs. Es existierten mehrere Legenden über ihre Ankunft im Tal am Ufer des Flusses. Mein Vater bevorzugte die Version von Besims Schwester Haruna, die er für glaubwürdig hielt: Ihre Ahnen hätten das Tal von einem Pascha erhalten, nachdem sie zum Islam übergetreten waren. Meine Mutter Sanija war überzeugt, dass Besim als hochgebildeter Mensch mehr von seinen Wurzeln wusste als Tante Haruna, die vielleicht nur eine Grundschule besucht hatte. Seiner Ansicht nach sei der erste Mulić ein großer Held gewesen. Unmittelbar nach der Eroberung des Landes durch die Osmanen habe er mit seinen Einheiten die Grenze zwischen dem katholischen Venedig und dem islamischen Bosnien überwacht. Er habe Angriffe von Christen auf bosnischer Seite verhindert, die Ortschaften vor Plünderung und die Bewohner vor der Versklavung bewahrt. Als er eines Tages von seinen Heldentaten erschöpft gewesen sei, habe er von einem Pascha das Tal als Entlohnung für seine treuen Dienste bekommen. So sei ihm das Schicksal alt gewordener Soldaten erspart geblieben, die irgendwo versteckt in Armut und Einsamkeit dahinvegetieren mussten.

Welche Version der Wahrheit entsprach, war ohnehin nebensächlich. Diese Familie konnte viele Beweise ihres Einflusses auf die Stadtentwicklung liefern. »Mulićs Mühlen« war der Name einer Lagune, wo Kinder schwimmen lernten, »Mulićs Ecke« nannten wir eine Ruine, wo einst angeblich ihre Karawanserei gestanden hatte. Die erste Schule unserer Stadt wurde von einem ihrer Vorfahren gegründet. Mulić hieß der erste Richter, der sein Jurastudium an der Universität Wien abgeschlossen hatte, in der Zeit, als das Land noch Teil der Donaumonarchie gewesen war. Auch ein Frauenname ist erhalten geblieben: Genossin Nafija Mulić war die erste Muslimin, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Gesichtsschleier abgelegt hatte, und zwar demonstrativ vor einer Menge von Leuten, die danach vergessen hatten, gegen die vom kommunistischem Regime durchgeführte Enteignung zu protestieren. Sie hatte mit dem unverhüllten Gesicht direkt vor den Männern gestanden und ihnen die erste Lektion über Frauenrechte erteilt.

Sogar Ivo, der sonst für jedes Geschehen in der Čaršija eine Erklärung parat hatte, gelang es nicht, die Gründe zu durchleuchten, warum jede Geschichte über die Mulićs mit gewisser Schadenfreude weitererzählt wurde.

– Wahrscheinlich, weil das Schicksal dieser Familie beweist, wie vergänglich Ruhm und Reichtum sind. Aber ich schätze sie, weil sie trotz des materiellen Verlustes ihre Würde und Anständigkeit nicht verloren haben – klärte er mich auf, als wir im Laden von einem Kunden wieder mal eine diffamierende Bemerkung über seinen Freund Besim über uns ergehen lassen mussten.

Würde und Anstand, daraus konnte man nicht viel Kapital schlagen. Diese Familie hatte mit jedem neuen Herrscher in unserem Land einen Teil ihres Besitzes verloren. Am Ende hatten die sogenannten »roten Diebe« die Reste ihres Reichtums verschlungen. Zuerst wurde ihr Haus im Stadtzentrum beschlagnahmt, danach abgerissen und auf ihrem Grundstück das Rathaus erbaut. Noch ein paar Läden und Geschäfte verschwanden auf demselben Weg. In den Sechzigern besaßen die Mulićs nur noch eine Wiese zwischen Landstraße und Fluss. Die Stadt brauchte aber mehr Platz, und die Familie wurde unter Druck gesetzt, ihre Wiese als Bauplatz zu verkaufen, und zwar zu den niedrigen Preisen, die ihr die Gemeinde aufzwang. Vildanas Großvater versuchte, gegen die Machthaber zu kämpfen, aber Stress und schlechte Behandlung vor Gericht machten ihn krank. Sein Herz versagte einen Monat vor Besims Volljährigkeit. Die Wiese wurde vom Amt für Stadtplanung übernommen, aufgeteilt und als Bauplatz verkauft. Besim seinerseits gab nach Vaters Tod den Kampf auf. Obwohl der Preis, den man ihm für die Bauplätze zahlte, unverschämt niedrig war, konnte er davon sein Haus renovieren.

Auf Mulićs Wiese entstand danach eine schöne, lebendige Siedlung, eine echte Mischung von Kulturen und Religionen, worauf Besim immer stolz war. Allein in ihrer engen Nachbarschaft wohnten sieben Nationalitäten. Rechts nebenan lebte Familie Savić von orthodoxer Herkunft und fast vom selben sozialen Status. Genosse Savić saß in führender Position bei den Stadtwerken, seine Gattin arbeitete als Gemeindeangestellte. Sie hatten zwei Kinder: Sohn Marko und Tochter Jelena. In den Häusern links und gegenüber wohnten eine einheimische und zwei zugewanderte katholische Familien, die aus Tschechien und der Vojvodina stammten. Die einheimische Sippe zählte mindestens zehn Mitglieder, drei Generationen lebten unter einem Dach. Vildana war befreundet mit Jelena aus der orthodoxen und mit Melita aus der katholischen Familie. Melitas Vater war Meister im Heizungsbau, und die Mutter führte im Haus einen Frisiersalon. Vildana und Danijel, Melitas Cousin, dessen Eltern als Gastarbeiter in Deutschland wohnten, waren eng befreundet. Danijel wuchs bei seinem Onkel auf, weil seine Eltern längst vergessen hatten, je einen Sohn in der alten Heimat gehabt zu haben. Diese drei, Danijel, Melita und Jelena, waren unzertrennlich und bildeten den Kern von Vildanas Clique, die auf andere Jugendliche in der Umgebung immer einen unwiderstehlichen Reiz ausübte.

In der Zeit, als Besims politische Karriere nur den Weg nach oben kannte, brachte er alle hochrangigen politischen Besucher der Stadt in seine Straße, um den Gästen das schönste Beispiel für Kosmopolitismus auf bosnische Art zu demonstrieren. Alles, was die sozialistische Theorie verkündete, hatten die Bewohner seiner Straße in der Praxis verwirklicht.

– So was kann man nirgendwo in Europa finden. Gemütlich lebt bei uns sogar ein Donauschwabe – wiederholte er in jedem Interview, das er als Bürgermeister den Journalisten der Stadtzeitung oder den Korrespondenten der Medien in der Großstadt gab.

Meine Eltern vergaßen nie, wem sie ihr Glück zu verdanken hatten. Edina hatte Ivo und Sanija zusammengebracht. Sie hatte diese seltene Begabung, Menschen zu lenken, auch wenn sie nicht wussten, wonach sie suchten. Ivo hatte ein Atelier und meine Mutter einen Mann, und ihre gute Fee hatte sie zusammengebracht. Nach meiner Geburt war meine Mutter sehr krank geworden, sie bekam Fieber und ein paar Tage rang sie mit dem Tod. Edina war mit dem Zug in die Großstadt gefahren, um ihr die richtigen Medikamente gegen Lungenentzündung zu holen, die in unserer Apotheke nicht vorhanden waren.

– Diese Frau ist vom lieben Gott gesegnet. Sie tut nur Gutes. Sie hat mich vor dem Schicksal einer alten Jungfer und meine Kinder vor dem Waisenhaus bewahrt.

Mit diesem Satz brachte sie jeden zum Schweigen, der versuchte, in unserem Geschäft böse Gerüchte über die Familie zu streuen. Wenn sie bei uns zu Gast waren, veranstaltete meine Mutter immer ein richtiges Festmahl, aber sie war zurückhaltend und sprach sehr wenig. Sie fand einfach kein Thema, über das sie mit dieser gebildeten Frau sprechen konnte, und wollte sie nicht mit Alltäglichkeiten belästigen. Edina diskutierte mit Ivo und Besim manchmal sehr heftig und wusste immer ihre Meinung zu vertreten. Edina trug auch den Spitznamen »Mutter Teresa«, weil sie immer bereit war, wildfremden Menschen zu helfen.

Sie gab sich aber nie dazu her, lange über die Probleme der Hilfsbedürftigen zu diskutieren, war gegen Jammern allergisch und kam sofort zur Sache:

– Bitte kein Heulen! Mitleid und Selbstmitleid sind reine Zeitverschwendung. Wenn du so weitermachst, kann ich dir nicht helfen. Konkret, was kann ich für dich tun?

Sie wirkte auch in ihrer Familie sehr energisch. Der Bau von Mulićs Haus hatte sich über Jahre hingezogen. Besim war zwar ein geschickter Handwerker, arbeitete aber sehr langsam. Das Legen des Parketts beschäftigte ihn einen ganzen Sommer lang, das Verglasen der Veranda eine Ewigkeit. Am Ende wuchs Edina alles über den Kopf, und sie engagierte Handwerker für die Renovierung der anderen Räume. Alles kostete viel Mühe und Geld, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Für die Verhältnisse unserer Stadt wirkte ihr Haus sogar luxuriös. Jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer, und das Wohnzimmer war so groß, dass darin trotz der massiven Möbel noch genug Platz zum Tanzen war. Und die Tür dieses Hauses war immer offen, auch für ungebetene Gäste.

An diesem herrlichen Sommertag kamen wir in der Kosmopolitischen Straße Nummer 23 früher als die anderen Gäste an. Ivo wollte sich ein bisschen umsehen, um schöne Hintergrundmotive für seine Aufnahmen auszuwählen.

Dort angekommen, lief ich sofort in den Garten, der in dieser Jahreszeit in voller Blüte stand. Die Herrin dieser bunten Pracht war Tante Haruna, deren Wohnung sich im zweiten Stock des Hauses befand. Sie trug wie immer ihre bosnische Tracht mit Pluderhose und Spitzenkopftuch; deshalb fotografierte ich sie gern. Der Garten war ihr ganzer Stolz, und sie war immer entzückt, wenn sich jemand für ihre Blütenpracht interessierte. In der Sonne leuchteten das Orange der Kürbisse, das Rot der am Zaun hängenden Schotenbohnen, im üppigen Kartoffelgrün wiegten sich weißlila Blüten. Meine Bewunderung rief nur Harunas Seufzer hervor, ach, wenn die Familie ihres Bruders so dächte und ein bisschen Dankbarkeit für frisches Gemüse aus dem Garten zeigen würde. Alle waren nämlich überzeugt, es sei billiger, wenn man es auf dem Markt einkauft.

Als ich mich gerade fragte, ob Vildana sich vor mir versteckte, erschien sie an der Tür zwischen den benachbarten Gärten, die den Mulićs und Savićs gehörten. Ich hatte sie noch nie zuvor mit so düsterer Miene gesehen.

– Lächeln, bitte! – rief ich und drückte den Auslöser, ehe sie es schaffte, ihre schlechte Laune zu verbergen. Ich machte gern Überraschungsfotos, weil ich später damit meine Modelle ärgern wollte. Einige mürrische Gesichter boten mir Geld an, um ihre hässlichen Bilder in meinem Archiv vernichten zu dürfen. Ich hatte mir immer gewünscht, Vildana einmal in schäbigen Klamotten zu erwischen. An diesem Tag war sie wie üblich wie für den Laufsteg herausgeputzt. Sie trug ein dunkelrotes Kleid mit tiefen Schlitzen auf beiden Seiten des Rockes und viele silberne Armbänder, die bei jeder Bewegung klirrten. Egal ob abends oder morgens, in der Schule oder zu Hause, man sah sie niemals nachlässig gekleidet.

– Wo sind deine Gäste? – fragte ich neugierig.

– Sie sind nicht meine Gäste – erwiderte sie grob und überging meinen Versuch, sie herzlich zu begrüßen. – Ich will in die Stadt gehen, möchtest du mit?

Aber bevor sie sich aus dem Staub gemacht hatte, erschien ihre Mutter am Küchenfenster und befahl ihr, den Tisch auf der Veranda zu decken.

– Ich soll diese Kreaturen auch noch bedienen, mich bedanken, weil sie mir jeden Sonntag kaputt machen! Diese Fremden sind meinen Eltern wichtiger als ich – nörgelte Vildana und pflückte die ersten roten Früchte von den niedrigen Ästen des Kirschbaums. Sie bewegte sich erst in Richtung Veranda, nachdem ihr Edina mit einer Strafe gedroht hatte.

Ich ging hinter ihr her, neugierig zu erfahren, warum Vildana Amars Kommilitonen so verabscheute.

Am Tisch, den sie decken sollte, saß ein junger Mann und las in einem Buch mit arabischer Schrift. Er überhörte meinen Gruß, sprang auf und wollte seinen Platz verlassen. Aber Vildana reagierte schnell, verrückte den Tisch und versperrte ihm den Weg. Er stand eng an der Wand, sie aber setzte sich auf den Tisch direkt vor ihn hin und schaute ihn herausfordernd an. Aus dieser Falle konnte er sich nicht befreien, ohne sie beiseitezuschieben. Der Junge senkte den Kopf, und das Rot, das durch seinen dunklen Teint loderte, ließ deutlich erkennen, wie peinlich ihm die Situation war. Ich fragte sie leise, welcher Teufel in sie gefahren sei.

– Isa, das ist meine Freundin Sandra. Sandra, darf ich dir Isa, Amars Freund vorstellen? Zusammen mit seiner Schwester studiert er Medizin an der Uni in Sarajevo. Seit einem Jahr lebt er in unserem Land und, kannst du dir das vorstellen, bis jetzt hat er nicht gelernt, wie man sich bei uns begrüßt. Mädchen begrüßt er überhaupt nicht, sie sind es nicht wert ... Isa, gib meiner Freundin deine Hand, sie wird sie nicht abbeißen. Sag, du freust dich, sie kennenzulernen!

Isa stand wie angewurzelt da, und ich versuchte Vildana zum Aufstehen zu bewegen. Sie weigerte sich und klappte sein Buch zu.

– Wie kann man das lesen? Hat diese Schrift überhaupt Buchstaben?

– Das sind Buchstaben wie bei der lateinischen Schrift – über seine Stirn liefen Schweißtropfen. Aber er sprach ziemlich deutlich.

– Wer hätte das gedacht, er kann sprechen!

Er wischte die Stirn mit dem Ärmel und beugte sich nach vorn, als ob er den Tisch überspringen wollte. Sein Atem wurde immer lauter.

– Eure Sprache ist schwierig – murmelte er.

– Dein Pech, du musst meine Sprache lernen, ich deine nicht. Etwas interessiert mich. Fühlst du dich wohl in unserem Land?

– Ja, das Land ist schön, und ich studiere gern hier.

– Nur studieren? Hier ist es schön zu leben! Hier kann man viel Spaß haben, mit Mädchen ausgehen. Gefällt dir meine Freundin Sandra?

– Vildana, lass ihn in Ruhe! Edina hat gesagt, wir sollen ... – ich hatte Mitleid mit diesem Jungen. Meine Proteste waren ihr jedoch egal.

– Ihr seid in unserem Land, seid Gäste in meinem Elternhaus. Bei uns sind Menschen unerwünscht, die nicht lachen können. Ein Lächeln, bitte, Sandra will dich fotografieren!

Isa Daraj sprang hoch, stieß den Tisch samt Vildana beiseite, und sie landete auf dem Boden, wobei sie mit dem Arm gegen das Tischbein schlug. Sie schrie auf vor Schmerz und rief Isa Beschimpfungen hinterher.

Amar kam im Morgenmantel aus dem Haus gelaufen, ein Handtuch auf dem Kopf – offensichtlich war er gerade unter der Dusche gewesen -, packte seine Schwester an der Schulter, zog sie hoch und verabreichte ihr einen Klaps.

– Lass meine Freunde in Ruhe, du verwöhnte Göre, sonst bekommst du eine Tracht Prügel!

– Papa, Papa, er bedroht mich, dein Sohn schlägt mich – rief Vildana aus vollem Hals, dann beschimpfte sie ihren Bruder. – Ich sage dir, schlepp sie nie mehr hierher, sie leben noch hinter dem Mond!

Im letzten Moment rettete Besim Vildana vor dem Zorn seines Sohnes.

– Papa, sag deiner verwöhnten Tochter, sie soll meine Freunde nicht heruntermachen! Mein Freund Isa ist ein frommer Muslim, für ihn sind islamische Bräuche heilig. Sie erlauben ihm nicht, sich mit einem Mädchen zu unterhalten. Und sie benimmt sich wie ein Straßenmädchen und zerstört unsere Gastfreundschaft.

– Ich habe genug von deinen Heiligen! Und von deiner Inkonsequenz! Unser Onkel Murat war für dich wegen seiner Frömmigkeit ein Mensch aus dem Mittelalter. Und diesem Fremden sollen wir unsere Ehre erweisen!

Ich musste lachen, weil Vildana einen gesunden Verstand besaß und jeden mit seinen eigenen Waffen schlagen konnte. Onkel Murat, der unlängst verstorbene Ehemann von Tante Haruna, war in der Familie immer gehänselt und ausgelacht worden, weil er Freude an islamischen Bräuchen, am Fasten und Beten empfand.

– Mein Onkel war ein lieber, humorvoller Mensch, der uns alle mit dem Musizieren auf seiner Saz beglückte. Fromm oder nicht, Amars Kommilitonen lachen nie, sitzen da wie Mumien!

Obwohl sich Vildana trotzig aufführte und Amars Gastfreundschaft laut verfluchte, umarmte ihr Vater sie und versuchte sie zu beruhigen. Liebevoll belehrte er sie über die Situation ihrer Gäste.

Es schien, diese Fremden stammten gar nicht aus einer Sultans-Sippe, wie man in der Čaršija vermutete. Besim beschrieb sie als unglückliche Menschen, die heimatlos geworden waren. Von einer sorglosen Jugend, die junge Leute in unserem freien Land genießen durften, konnten sie nur träumen. Unsere Regierung unterstütze alle Befreiungsbewegungen gegen Diktatoren und Okkupanten in der Welt. Das sei praktisch die Grundlage ihrer Außenpolitik, dadurch sei unser Land berühmt geworden und habe in der politischen Szene Glaubwürdigkeit gewonnen. Deshalb gäbe sie zum Beispiel jungen Menschen aus Palästina eine Chance, an den Universitäten hier im Land zu studieren.

– Liebe Tochter, Gott bewahre uns vor dem, was unsere Gäste in ihrem Land durchmachen mussten – ergänzte Besim seine lange Rede, nachdem er alle Argumente aufgeführt hatte.

– Warum ziehst du jetzt Gott hinein? Du glaubst doch gar nicht an ihn! Das hast du mir neulich erst gesagt und auch behauptet, es sei dir egal ob du ein Muslim oder ein Außerirdischer bist – lachte die Tochter ihn aus.

In diesem Moment beneidete ich Vildana und wünschte so sehr, mein Vater wäre ebenso geduldig und liebevoll wie Besim. Ich musste mir Ivos Predigten, egal wie langweilig sie waren, immer geduldig anhören. Während der Arbeit in der Dunkelkammer machte mir seine Nervosität zu schaffen. Er erwartete von mir, seine Gedanken lesen zu können und ihm immer das Material auszurichten, das er gerade brauchte. Zwar schlug er mich nie, aber er schrie und schimpfte, wann immer ich nicht konzentriert bei der Sache war.

Ich hatte sein Handwerk gern erlernt, mir aber oft einen anderen Lehrer gewünscht.

Und doch musste ich zugeben, Onkel Besim übertrieb bei seinen politischen Themen und Analysen, die sowohl meinem Vater als auch Vildana und mir wie böhmische Dörfer vorkamen.

Während Edina und Isas Schwester Rashida den Tisch »für den kleinen Hunger« – bis der Grill vorbereitet war – deckten, erzählte Besim uns die Geschichte des Landes, das irgendwo hinter sieben Meeren und sieben Gebirgen lag. Die Heimat der Geschwister Daraj wäre durch die Feinde okkupiert, Dörfer seien zerstört, Hab und Gut sei vernichtet und weggeschleppt worden. Nun lebten viele Palästinenser in den Flüchtlingslagern fremder Länder, viele seien auch nach Amerika ausgewandert. Ein Volk ohne Heimat und ohne Zukunft.

Wahrscheinlich hatte Besim ein gutes Herz und wollte den jungen Ausländern zur Seite stehen, aber seine Aufklärungen waren unerträglich langatmig und unverständlich. Er und seine Politik, runzelte Ivo die Stirn. Wann immer Vildanas Vater eine Möglichkeit sah, über Weltpolitik zu reden, ritt er auf diesem Thema so lange herum, bis er alle Ungerechtigkeiten dieser Welt aufgezählt hatte. In fünfzehn Minuten mussten wir uns Dutzende Male anhören, wie viel Glück wir mit unserer Regierung hatten, die sich seit Jahrzehnten auf Weltebene stark für friedliche Lösungen aller Konflikte und für eine Zusammenarbeit der blockfreien Länder engagiert. Unsere Führer seien gerecht und konsequent, sowohl in inneren als auch in äußeren Angelegenheiten. Wir hätten eine Verfassung, in der die Rechte und die Gleichberechtigung jeder Nationalität und jeder Minderheit garantiert seien. Sogar der reiche Westen habe unseren humanen Sozialismus schätzen gelernt.

– Papa, hallo, das habe ich bereits tausendmal gehört! – rief Vildana. – Besim, deine politische Lektion ist langweilig.

– Du bist ein kluges Mädchen – sagte Ivo zu Vildana und nutzte diese Möglichkeit, Besims Vortrag zu unterbrechen.

– Sandra, wo ist meine Tasche? Hast du einen Schwarz-Weiß-Film eingepackt? Bitte bring unsere Modelle in Pose, ich möchte sie fotografieren. Strecke ihnen die Zunge raus, damit sie lächeln. Vildana hat recht, sie können nicht lachen.

– Pass auf, sie verstehen dich – ermahnte ihn Besim.

– Ivo, bitte, nicht jetzt knipsen, das Essen wird kalt! – protestierte Edina.

– Sandra, komm bitte mal her, ich möchte dir meine Freundin Rashida vorstellen – wandte sich Amar an mich. – Die beste Studentin unseres Semesters!

Ich bemerkte sofort, dass Rashidas Kleid trotz der Hitze zugeknöpft war. Eine merkwürdige Prinzessin, dachte ich.

Meinem Vater gelang es, diesen Moment, als Amar mir seine Freundin vorstellte und sie ihn anlächelte, als Foto festzuhalten.

-2-

Ich hatte keine Ahnung, wie Sandra und Ivo es geschafft hatten, diese zwei Schlaftabletten im Augenblick des Abdrückens zu einem Lächeln zu bewegen. Auf allen Fotos strahlten sie gute Laune aus.

In Amars Leben schien Normales und Einfaches keinen Platz zu haben. An der Universität in Sarajevo studierten Tausende junger Menschen aus allen Ecken unseres Landes, und mein Bruder hatte sich gerade diese zwei Fremden als Freunde ausgesucht. Immer gelang es ihm, diejenigen zu finden, die seine Hilfe brauchen konnten.

– Er hat eine gute Seele – lobte ihn Tante Haruna.

– Er sollte mehr gesunden Egoismus haben – seufzte Mutter Edina.

– Er wird schon seinen eigenen Weg finden. – Besim sah immer alles positiv.

– Er ist ein Bekloppter, der sich bestehlen und ausnutzen lässt – tat ich laut meine Meinung kund, aber keiner wollte sie hören.

Seit ich denken konnte, war das immer ein Thema in unserem Haus, Amar und seine Weltfremdheit. Manchmal wurde ich von Mama losgeschickt, in der Nachbarschaft seine Spielzeuge einzusammeln und wieder nach Hause zu bringen. Marko Savić, der Sohn unserer Nachbarn, der Bruder meiner Freundin Jelena, ein Lausbub und ein Jahr jünger als Amar, nahm in unserem Hof alles an sich, was er ergattern konnte, sogar unsere Spielsachen. Wenn ich sie zurückverlangte, behandelte er mich, als ob ich ihn bestohlen hätte. Deshalb hatten wir ständig Zoff. Als ich genug von seinem Zupfen an meinen Zöpfen hatte, warf ich ihm Sand in die Augen.

Edina dachte ohnehin, ihr Sohn brauche kein »normales« Spielzeug wie Waffen, Raketen oder Lastwagen; er solle lieber etwas für die Seele haben, und kaufte ihm eine Gitarre. Einige Tage später landete das Instrument in den Händen seiner Schulkameraden, die alle überzeugt waren, begnadete Musiker zu sein. Ich konnte nicht zusehen und zuhören, wie sie die arme Gitarre misshandelten. Heimlich gab ich das Instrument meinem Freund Danijel, weil ich von seinem musikalischen Talent überzeugt war. Es war Danijels heißer Wunsch, ein eigenes Instrument zu besitzen. Er hatte sogar einmal einen Bettelbrief an seine Mutter in Deutschland geschrieben, in der Hoffnung, dass sie ihm Geld für eine Gitarre schicken würde. Aber sie schickte ihm nur ein Paket mit abgetragenen Kleidern.

Immerhin: Mein Freund lernte das Spielen auf der Saz meines seligen Onkels Murat. Wir zwei »Teufelskinder«, wie uns Tante Haruna nannte, hatten einmal den alten Kram auf dem Speicher durchwühlt und in einer Kiste Onkels Nachlass gefunden. Danijel hatte das Instrument nach Hause mitgenommen und mich eine Woche später mit der Melodie von »Purple Rain«, einem Hit unseres Idols Prince, überrascht.

Was für Feten haben wir damals gefeiert! In der Abenddämmerung machten wir Feuer am Ufer des Flusses, buken Kartoffeln in der Glut, Danijel spielte auf der Saz, und wir sangen auf Englisch Songs von Prince. Dazu imitierten wir die Tänze aus dem Film »Flash Dance«. Zusammen mit meinen Freundinnen Melita und Jelena fantasierte ich davon, eine eigene Tanzgruppe zu gründen.

Danijels Traum blieb jedoch die Gitarre. Er wollte unbedingt Musiker werden und eines Tages in Konzertsälen auftreten. Wir, seine Fans, glaubten an ihn.

Mein Bruder Amar hatte auch seine Träume und Dinge, die nur ihm gehörten und die ich auf keinen Fall anrühren durfte. Dazu gehörten zum Beispiel eine Doktortasche für Kinder und ein Rettungswagen, die ihm unser Papa von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Seine heilige Tasche war für mich tabu, aber gleichzeitig nahm er sich das Recht, meine Puppen zu seinen Patientinnen zu machen. Er dichtete ihnen irgendwelche Unfälle an, führte eine Rettungsoperation durch, wickelte sie in Bandagen und Gipskorsetts ein, verschrieb ihnen Bettruhe und andere Therapien, die ich als Krankenschwester durchführen sollte. Auf Zetteln, die er an die Wand klebte, standen alle möglichen Diagnosen, einmal auch eine Fehlgeburt. Ich fragte die Mutter, was für eine Krankheit eine Fehlgeburt sei, und erst danach kam sie auf die Idee, ihr medizinisches Lexikon vor Amar zu verstecken. Zu spät: Er hatte bereits seine Entscheidung getroffen, nach dem Gymnasium Medizin zu studieren.

Im Jahr 1980 war es so weit. Er bestand die Aufnahmeprüfung an der Medizinischen Fakultät von Sarajevo, und während des ersten Semesters wohnte er in einem Studentenwohnheim. Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, vermisste Edina beim Waschen eines seiner Kleidungsstücke. Sie ärgerte sich über ihn, zuerst wegen seiner vermeintlichen Fahrlässigkeit, dann wegen seiner Gutmütigkeit, weil er nicht Nein sagen konnte und sich von den Kollegen ausnutzen ließ. Einmal versuchte sie es mit Härte:

– Amar, so geht das nicht weiter! Wo ist dein Hemd? Und der graue Pulli? Hast du von deinen Freunden jemals verlangt, dir deine Sachen zurückzugeben?

– Aber, Mama, ich habe drei Pullis, Darko hat keinen einzigen.

Danach mussten wir uns Darkos Problem anhören. Amars Kamerad habe den ganzen Winter hindurch gebibbert, weil es in seinem Zimmer hundekalt gewesen sei. Darko habe nicht das Glück gehabt, im selben Studentenwohnheim einen Platz zu bekommen. Dazu sei seine Vermieterin eine Hexe, die nicht erlaube, einen Heizkörper in seinem Zimmer anzumachen, weil sie angeblich Angst vor Feuer habe.

– Wie du willst – seufzte Edina – aber einen neuen Pulli bekommst du sicher nicht, sieh’ zu, wie du zurechtkommst.

– Mama, lass mich in Ruhe, bitte, diesen Pulli hat mir Tante Haruna gestrickt. Ja, ich weiß, du hast mir das Hemd gekauft, aber ich werde es zurückverlangen. Das verspreche ich. Mama, diese Litanei habe ich schon öfter gehört. Ja, ich soll aufpassen, weil mich die anderen ausnutzen. Aber es ist nicht so, ich helfe, wenn ich kann ... Okay, einverstanden, du hast recht, ich werde meine Sachen nie mehr verschenken. Mama, ich habe schon reagiert, habe meinen Kameraden klipp und klar gesagt: Bei mir könnt ihr nichts mehr borgen! Mama, du bist so süß und so klein, ich muss dich hochheben, damit du deinen Eintopf auf dem Herd rühren kannst. Hmmmm, wie es duftet, du bist die beste Köchin der Welt! Nur das Essen in der Mensa schmeckt besser als deines. Nein, mein Herz, nein, ich scherze! Edina, du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Hundefutter sie uns dort auftischen. Meine armen Freunde müssen sogar sonntags in der Mensa diesen Eintopf aus harten Bohnen löffeln. Rashida und Isa Daraj, Mama. Ich habe dir von ihnen erzählt. Ich lerne gern mit ihnen, weil sie so klug und strebsam sind. Möchtest du sie kennenlernen?

Normalweise konnte Edina ihrem Sohn nie etwas abschlagen, besonders dann nicht, wenn er ihr so schmeichelte. Aber jetzt zögerte sie mit ihrer Erlaubnis.

– Amar, das sind fremde Leute, wir verstehen ihre Kultur nicht. Sie haben andere Bräuche als wir. Und eine andere Sprache, wie können wir mit denen reden? – Edinas blaue Augen leuchteten vor lauter Mutterliebe.

Nein, sie sind keine Fremden, das sicher nicht, behauptete mein Bruder, der Edinas milden Blick geerbt hatte. Darajs würden unsere Sprache kennen, ohne Sprachkenntnisse hätten sie ja nicht studieren können. Edina werde sie gernhaben, weil die Geschwister Daraj, und besonders Rashida, sowohl anspruchslos als auch fromm und fleißig seien. Das klingt langweilig, dachte ich.

Diesmal versagte seine Überzeugungskunst bei Edina. Sie versprach nur, darüber nachzudenken und die Angelegenheit mit Vater zu besprechen. Und es war gleichzeitig ein guter Anlass für sie, ein bisschen laut zu philosophieren. Wir Muslime in Bosnien, meinte sie, hingen auch an unseren islamischen Wurzeln, aber nur kulturell. Das würde seinen Freunden aus Palästina nicht gefallen, weil sie von uns mehr Frömmigkeit erwarteten. Die Menschen aus dem Vorderen Orient seien einfach einer anderer Schlag.

Amar wollte Mamas Ausflüchte nicht akzeptieren. Sobald Vater nach Hause kam, wiederholte er seine Bitte, am nächsten Wochenende die Geschwister Daraj mitbringen zu dürfen. Edina war noch immer nicht bereit, ihre Erlaubnis zu geben. Besim lachte ihre Bedenken beiseite.

– Was sie später über uns denken werden, das ist ihre, nicht unsere Sache. Mein seliger Opa pflegte zu sagen, der liebe Allah beurteilt dich nach deinen Taten, nicht nach deinem Eifer im Beten. Ob sie beten oder nicht, das ist mir egal, aber sie studieren, sogar in einem fremden Land. Deshalb respektiere ich sie, obwohl ich sie nicht kenne. Und wir möchten unsere Gastfreundschaft beweisen, nicht unseren Glauben. Wenn wir uns gegenseitig kennenlernen, werden wir nicht mehr fremd sein. Lass es uns versuchen, und wenn es ihnen bei uns nicht gefällt, sollen sie das nächste Mal in ihrem Heim bleiben.

Aber das Vater-Sohn-Tandem konnte sich nicht durchsetzen, Edina blieb bei ihrem Nein.

– Mama, das ist Heuchelei. Angeblich leben wir in einer kosmopolitischen Straße und wollen nicht mal die echten Gläubigen bei uns willkommen heißen. Edina, frage dich mal, ob du wirklich tolerant bist!

Enttäuscht und verärgert fuhr er zurück nach Sarajevo. In der nächsten Woche erzählte er eine andere Geschichte über seine Lieblinge.

– Edina, sie tun mir so leid, weil sie das ganze Wochenende in ihrem Zimmer hocken müssen. So allein und isoliert grübeln sie die ganze Zeit. Liebe Eltern, ihr wisst doch, was in ihrer Heimat Palästina los ist. Sie haben wochenlang keine Nachricht von ihrer Familie bekommen, sie wissen nicht mal, ob ihre Lieben noch am Leben sind.

Endlich fand Amar die richtige Chiffre, um Mutters Herz zu öffnen.

– Stellt euch vor, wie sie vom Schicksal geschlagen sind, ohne Zuhause, ohne Heimat.

– Ich habe noch nicht gehört, dass Zigeuner Medizin studieren – ich war stolz auf meine Schlagfertigkeit, aber meine Bemerkung verärgerte Amar.

– Du bist eine freche Rotznase – beschimpfte er mich. – Das sind keine Zigeuner, sondern Roma, und sie sind auch nicht daran schuld, dass sie keine Heimat haben. Nur damit du’s weißt: Sie studieren, wenn sie eine Chance dafür bekommen.

Immer dieselben Lektionen, immer sagte ich etwas Falsches.

Unsere Mutter stimmte ihm zu und sagte, wenn ich schon dumm sei und nicht wisse, wovon mein Bruder rede, wäre es besser für mich, den Mund zu halten.

Nach dieser Lektion beglückte sie den Sohn mit ihrer Bereitschaft, die Fremden aus dem Orient willkommen zu heißen.

Ehrlich, ich hatte auch nichts dagegen, bis sie mir klarmachten, welches Opfer man von mir verlangte. Edina wollte Rashida in meinem Zimmer unterbringen, und ich sollte auf der Couch im Wohnzimmer schlafen.

– Das werdet ihr nicht erleben! Ich lasse mich nicht aus meinem Bett vertreiben! – protestierte ich, aber sie nahmen mich nicht ernst.

Mutter und Amar taten sich zusammen und marschierten in mein Reich, um sich zu vergewissern, ob die Unterkunft einer frommen Prinzessin würdig sei. Ich nannte die fremde Studentin »Amars Prinzessin«, weil er von ihr so schwärmte, als ob sie in einer goldenen Wiege im Sultanspalast zur Welt gekommen sei.

Kaum hatte Edina einen Blick auf meine Wände geworfen, bekam sie einen Wutanfall. Wie konnte ich, ihr kleines Mädchen, mein Zimmer mit Postern halb nackter Pop-Idole bebildern?

– Schande, Vildana, Schande über dich! – herrschte sie mich an und stürzte sich auf das Foto meines Lieblings Prince.

Schluchzend rannte ich zu meinem Papa, um bei ihm Schutz zu finden.

– Papa, das ist mein Zimmer! Sie haben kein Recht, meine Sachen zu vernichten. Ich will diese Rashida nicht, nicht in meinem Zimmer! Papa, sag deiner Frau ... Sie ist eine böse Frau – rief ich, und in einem Wutanfall zerfetzte ich Edinas Zeitungsartikel auf dem Esstisch. Ich wollte ihr wehtun, weil ich wusste, wie sehr sie das Tippen an der Schreibmaschine hasste.

Besim war ein Mensch, auf den ich immer zählen konnte. Er befahl den Okkupanten, auf der Stelle mein Zimmer zu verlassen. Nach kurzer Überlegung fand er folgende Möglichkeit:

Isa konnte in Amars Zimmer und mein Bruder im Wohnzimmer schlafen; Rashida sollte in Harunas Gästezimmer untergebracht werden.

Vaters Lösung konnte jedoch meine Poster nicht mehr retten. Edina hatte fast alle von den Wänden gerissen. Und wegen ihrer zerrissenen Blätter erlegte sie mir die Strafe auf, an zwei Wochenenden zu Hause zu bleiben und keine Tanzstunden zu besuchen. Als ich versuchte, mich zu widersetzen, dehnte sie die Strafe noch aus. Ich dürfe auch nicht mehr mit meinen Puppen spielen und ihnen Kleider nähen, weil ich ohnehin kein kleines Mädchen mehr sei.

– Du übertreibst wie immer – sagte Tante Haruna, die bei jedem Lärm in unserer Wohnung neugierig wurde. – Vildana kann nähen, Edina, guck mal, sie hat mir diese Bluse genäht. Sie wird eine echte Meisterin werden, das sage ich euch.

– Was will sie werden? Schneiderin etwa? Gott behüte! Nur über meine Leiche! Das lernen arme Mädchen aus Arbeiterfamilien. Bei uns, den Handižćs, der angesehensten Familie in der Čaršija, haben die Kinder immer studiert.

– Edina, jetzt reicht es! Sie ist doch noch ein Kind! Und jedes Handwerk hat goldenen Boden. Dieser Beruf wird sie immer ernähren können.

Im Prinzip war Mutters Ärger harmlos, und ich machte mir keine Gedanken wegen der Strafe. In einigen Stunden würde alles vergessen sein. Eine mündliche Entschuldigung wollte ihr aber nicht über die Lippen kommen, deshalb versöhnte sie uns mit einem Leckerbissen aus ihrem Spezialitätenkochbuch. Auch diesmal machte sich im Haus in der Abenddämmerung eine freundliche Familienatmosphäre breit, die man sogar durch die Nase wahrnehmen konnte. Sie tischte uns köstliche Apfeltaschen auf und servierte dazu Tee aus duftenden Kräutern unseres Gartens. Edina war sogar bereit, die Schneiderei zu akzeptieren, aber nur als Hobby, und versprach mir, Stoffe für meine Experimente zu besorgen. Aber ich sollte mir keine Hoffnung machen, was meinen zukünftigen Beruf betraf.

Mutter war so lieb, dass ich mein verwüstetes Zimmer total vergessen hatte. Als ich jedoch schlafen ging, kochte meine Wut noch einmal hoch. Die Poster konnte ich nicht wieder an die Wand hängen. Ich versuchte, das Bild meines Idols zu bügeln, aber er hatte ein durchbohrtes Auge. Ich küsste seine Verletzung und legte ihn in eine Schublade unter der Couch. Lange konnte ich nicht einschlafen und schmiedete Rachepläne. Nächste Woche würde ich diesen Fremden deutlich zeigen, dass sie in meinem Elternhaus nichts zu suchen hatten.

Tante Haruna hatte die Nachricht von unseren exotischen Besuchern in der ganzen Straße verbreitet. Die Nachbarschaft wartete gespannt darauf, Amars Freunde endlich beäugen zu dürfen. Mein Vater erklärte ihnen unermüdlich die politische Lage in Palästina, die, wie ich meinte, kaum jemand verstehen konnte. Meine Schulkameradin Jelena war irgendwie beleidigt, weil sich bei uns wieder mal etwas Interessantes abspielte. Sie ließ mich nicht in Ruhe, egal wo wir uns trafen. In der Schule oder beim Tanzen überfiel sie mich mit Fragen über Amars Freunde. Sie wollte alles über sie wissen, warum wir sie eingeladen hätten, wo sie herkämen, ob sie eine Familie hätten, ob diese Rashida schön sei?

– Ich weiß es nicht, ich werde sie auch zum ersten Mal sehen! – Sie machte mich wirklich wahnsinnig.

– Das kommt mir komisch vor! Warum studieren sie gerade bei uns, und was suchen sie in unserer Stadt? Mein Onkel vermutet Spionage dahinter.

Ihr Onkel, ein entfernter Verwandter ihrer Mutter, der als Unteroffizier in der Stadtkaserne diente, war ständig angetrunken und nach Meinung von Sandras Vater Ivo ein großartiger Lügner. Seine Hirngespinste waren legendär, er behauptete, in seiner Armeekarriere Dutzende von Spionen entlarvt und dem Gericht ausgeliefert zu haben. Jelena hatte seine Ansichten übernommen und wollte mich überzeugen, dass man in Palästina ein Komplott gegen unseren Präsidenten und seine Partei schmiede.

– Ach, Jelena, alle wissen doch, dass dein Onkel ein Spinner ist. Spione existieren nur in schlechten Filmen.

– Aber warum schleppt dein Bruder diese Ausländer hierher? Muss deine Familie immer auffallen? – Jelena verzweifelte wie immer, wenn ihr etwas außer Kontrolle geriet.

– Meine Familie ist etwas Besonderes. Und wenn es dir nicht passt, such dir eine andere Freundin.