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Johann Friedrich Arndt war ein deutscher evangelischer Prediger. In diesem Werk betrachter er ausführlich die Bergpredigt, die unstreitig nicht bloß zu den exegetisch-, sondern auch homiletisch-schwierigsten Abschnitten der Heiligen Schrift gehört, wie dies schon aus der geringen Zahl ihrer praktischen Bearbeitungen hervorgeht. Sie setzt für die homiletische Behandlung nicht nur ein selbstbegründetes Verständnis ihres großen und herrlichen Zusammenhangs, wie ihrer einzelnen Teile, sondern auch einen gewissen Mut voraus, sich an schwierige Aufgaben zu wagen und vor Bedenklichkeiten nicht zurückzuschrecken Die Bergpredigt ist etwas so Erhabenes und Vollendetes, ein solches Meisterstück der gediegensten Redekunst, eine solche Harmonie von Gesetz und Evangelium, eine solche Verwahrung vor Pharisäismus, Heidentum und christlicher Unnatur, eine solche Lebensnorm, nicht nur für den einzelnen Christen, als solchen, sondern auch für seine häuslichen, bürgerlichen und kirchlichen Verhältnisse, wie sich so umfassend und inhaltreich, so andeutend und doch so erschöpfend, fast nirgends wiederfindet im Neuen Testament. Sie ist, wie Herder mit Recht sagt, die Magna Charta des Reiches Gottes.
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Seitenzahl: 636
Die Bergpredigt Jesu Christi
JOHANN FRIEDRICH ARNDT
Die Bergpredigt Jesu Christi, J. F. Arndt
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849661878
Der Originaltext dieses Werkes entstammt dem Online-Repositorium www.glaubensstimme.de, die diesen und weitere gemeinfreie Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Wir danken den Machern für diese Arbeit und die Erlaubnis, diese Texte frei zu nutzen.
www.jazzybee-verlag.de
Vorwort1
1. Predigt. 3
2. Predigt13
3. Predigt23
4. Predigt..33
5. Predigt43
6. Predigt53
7. Predigt62
8. Predigt72
9. Predigt83
10. Predigt96
11. Predigt106
12. Predigt116
13. Predigt125
14. Predigt135
15. Predigt147
16. Predigt156
17. Predigt166
18. Predigt176
19. Predigt186
20. Predigt195
21. Predigt204
22. Predigt.212
23. Predigt221
24. Predigt.230
25. Predigt.240
26. Predigt.249
27. Predigt.258
28. Predigt.267
29. Predigt.276
30. Predigt.285
31. Predigt.294
32. Predigt.303
Die Bergpredigt gehört unstreitig nicht bloß zu den exegetisch-, sondern auch homiletisch-schwierigsten Abschnitten der heiligen Schrift; wie dies schon aus der geringen Zahl ihrer practischen Bearbeitungen hervorgeht. Sie setzt für die homiletische Behandlung nicht nur ein selbstbegründetes Verständniß ihres großen und herrlichen Zusammenhangs, wie ihrer einzelnen Theile, sondern auch einen gewissen Muth voraus, sich an schwierige Aufgaben zu wagen und vor Bedenklichkeiten nicht zurückzuschrecken, welche theils in der Verzärtelung und Verbildung unserer Zeit, theils in der Zähigkeit oder Beschränktheit des Stoffes liegen. Solcher Muth ist aber eher das Eigenthum der frischeren Jugend, als des bedächtigeren und krittelnderen Alters. Der Verfasser hat das Unternehmen gewagt, und Gott hat es sichtbar an manchem seiner Zuhörer gesegnet; nichtsdestoweniger gesteht er offen, daß die Lösung der Aufgabe ihm nicht selten sehr schwer geworden, und daß er nur schüchtern den Aufforderungen zum Drucke dieser Vorträge nachgegeben hat. Es ist nicht der Inhalt, welcher ihm diese Schüchternheit auflegt, denn den hat er nicht zu vertreten, sondern der Herr Selbst und Sein Wort. Es ist auch nicht die einfache, alltägliche Form und Diktion, in die diese Betrachtungen gekleidet worden sind; denn die Erfahrung lehrt zur Genüge, daß wir Prediger des Evangeliums nicht einfach genug predigen können, und daß manchmal sogar die einfachsten Vorträge von den Gebildeten nicht verstanden werden; warnte doch schon Paulus vor dem Predigen mit klugen Worten, damit nicht das Kreuz Christi zu nichte würde; mußten doch in der alten Kirche alle Rhetoren und Histrionen ihre frühere Beschäftigung aufgeben, wenn sie zum Christenthume übertraten; und ist sogenannte ciceronianische Schönrednerei eigentlich erst von den Rationalisten gepflegt worden, die dadurch ihren magern Inhalt zu bereichern und ihre leeren Kirchen zu füllen hofften. Nein, was ihn verlegen und schüchtern macht, ist lediglich der gewaltige Text und die Armuth des auslegenden Wortes; bei allem Detail ist das Tiefste doch nicht gesagt worden, und die umfassenderen Stellen selbst sind mehr Andeutungen als Ausdeutungen geblieben. Die Bergpredigt ist etwas so Erhabenes und Vollendetes, ein solches Meisterstück der gediegensten Redekunst, eine solche Harmonie von Gesetz und Evangelium, eine solche Verwahrung vor Pharisäismus, Heidenthum und christlicher Unnatur, eine solche Lebensnorm, nicht nur für den einzelnen Christen, als solchen, sondern auch für seine häuslichen, bürgerlichen und kirchlichen Verhältnisse, wie sich so umfassend und inhaltreich, so andeutend und doch so erschöpfend, fast nirgends wiederfindet im N.T. Sie ist, wie Herder mit Recht sagt, die Magna Charta des Reiches Gottes. Daher sie auch durch Luthers geniale Erklärung, Tholucks gründliche Monographie, und Menkens unvergleichliche Homilien, noch lange nicht genügend erörtert worden ist, und es hienieden auch wohl nie werden wird. Man sieht in ihr die Morgenröthe eines neuen Tages aufgehen; aber der große, herrliche Tag selbst, den die Morgenröthe anmeldet, geht erst in der triumphierenden Kirche, in der Ewigkeit auf.
Der Verfasser schließt mit dem Wunsche: daß der Geist Dessen, der da gewaltig predigte, und nicht wie die Schriftgelehrten, das schwache Wort dieser Predigten kräftig, und das todte Wort in den Herzen der Leser lebendig machen möge!
Herr, gehe nicht ins Gericht mit Deinen Knechten; denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht. Amen.
Text: Matth. V., V. 1-3.
Da Jesus aber das Volk sahe, ging er auf einen Berg, und setzte sich, und Seine Jünger traten zu Ihm. Und Er that Seinen Mund auf, lehrete sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.
Es ist freilich noch nicht der Trinitatissonntag, mit welchem wir sonst gewöhnlich eine Reihe zusammenhängender Betrachtungen über irgend einen Abschnitt aus der heiligen Schrift zu beginnen pflegen, meine Andächtigen; es sind noch die vierzig Tage der Freude, in denen wir verweilen, und in denselben heute der jährliche Buß- und Bettag des Vaterlandes; aber theils sind die biblischen Textworte, welche uns zunächst beschäftigen werden, der gegenwärtigen Kirchenzeit nicht entgegen, theils ist der Abschnitt, der uns dieses Jahr Stoff zu den mannichfaltigen Erwägungen darbieten soll, so umfassend und reich, daß wir fürchten müssen, ihn nicht zu vollenden, wenn wir nicht bereits einige Wochen früher eure Aufmerksamkeit für denselben in Anspruch nehmen. – Es war das Gebet des Herrn, mit welchem wir uns das vorige Jahr ausschließlich beschäftigten. Dies Gebet ist aber nur ein kleiner Theil der größeren Rede Jesu Christi, welche von dem Berge, auf welchem sie gehalten wurde, gewöhnlich die Bergpredigt genannt wird. Wie nahe liegt es, daß wir vom Theile zum Ganzen übergehen und das Letztere einer gleichen Aufmerksamkeit unterwerfen! Die Bergpredigt beginnt mit acht Seligpreisungen. Die erste derselben ist unser heutiger Text. Wir betrachten demgemäß die geistliche Armuth; lernen sie selbst zuerst näher kennen, und überzeugen uns dann von ihrem Werthe und Segen. Eine Betrachtung, die dem Zwecke und der Bedeutung des heutigen Tages durchaus entspricht, und, wir hoffen es zu Gott, nicht fruchtlos bleiben wird.
I.
Jesus hatte soeben eine Menge der außerordentlichsten Wunder verrichtet, und allerlei Kranke, mit mancherlei Seuchen und Qual Behaftete, Besessene, Mondsüchtige, Gichtbrüchige (4,24.) gesund gemacht. Darauf war ihm viel Volks nachgefolgt aus Galiläa, aus den zehn Städten, von Jerusalem, aus dem jüdischen lande, und von jenseits des Jordans. Groß war der Andrang des Volks, das der Ruf Seiner Lehren und Thaten um Ihn versammelt hatte. Und Jesus, da Er das Volk sahe, ging Er auf einen Berg. Auf welchen Berg? wissen wir nicht. Die kirchliche Ueberlieferung gibt einen Berg in Galiläa an, nicht weit von Kapernaum, welchem sie auch den Namen des Berges der Seligkeiten beilegt, und auf welchem sich noch an der Stelle, wo Jesus gestanden haben soll, der Grund einer kleinen Kirche befindet. War es wirklich jener Berg, so war er allerdings zu einem öffentlichen Vortrage sehr geeignet. Auf seiner Höhe eine mäßige Fläche bildend, und nur sanft abhängig, war er allenthalten wie geschaffen zu einem Orte, auf welchem eine zahlreiche Menge zuhören konnte. Seine freie Lage gewährte überdies dieselbe weite und liebliche Aussicht, wie der Berg Thabor. Nach Osten hin breitete sich aus der unvergleichliche See Genezareth mit dem Kranze seiner fruchtbaren Berge und Waldungen, gegen Norden ragte himmelan der schneebedeckte Hermon, gegen Westen begrenzte den Horizont das weite mittelländische Meer und der Carmel, und gen Süden die reiche blühende Landschaft Galiläa’s. Auf diesen Berg ging der Herr also hinauf, wahrscheinlich in stiller feierlicher Morgenstunde; dicht bei Ihm die Jünger, in weiterem Kreise neben und hinter Ihm das aus der Nähe und Ferne herbeigeströmte, dichtgedrängte Volk, voll Spannung und Erwartung auf die Lehren, die Er ihnen mitteilen würde, und voll Sehnsucht, Ihm so nahe zu kommen, wie möglich, um keines Seiner holdseligen Worte zu überhören oder zu verlieren. So gehen sie miteinander bergan. Endlich sind sie an Ort und Stelle. Jesus setzt sich; denn die Lehrer und Meister in Israel pflegten sitzend zu lehren. Seine Jünger treten näher heran und lagern sich umher mit dem Volke. Und Jesus that Seinen Mund auf – man möchte in Gedanken hinzusetzen: Hörer, thut auch eure Ohren auf! - lehrete sie und sprach… Was wird Er lehren, was wird Er sprechen? wie wird das erste Wort lauten, das nach solchen Vorbereitungen, in solcher Umgebung, den heiligen Lippen entquillt? Die Jünger, das ganze Volk, auch wir hängen an den Lippen des großen Meisters zu reden mit der gelehrten Zunge, und Jesus spricht: Selig sind! Das sind Seine ersten Worte! Das sind die ersten Klänge, mit denen eine ganze Welt neuer Töne sich öffnet und himmlische Harmonien erklingen in den Gemüthern der Tausende, die damals leiblich, der Millionen, die in allen Jahrhunderten im Geiste Ohrenzeugen jener Worte gewesen sind. Selig sind! Nicht beginnt Er mit: „Heilig sind, Gott wohlgefällig sind;“ ach, damit hätte Er nur erschrecken, nur niederschmettern und zermalmen können jedes aufrichtig nach Vollkommenheit ringende und seine große Unvollkommenheit fühlende Herz. Nein, kein neues Gesetz, keine ängstliche Moral, keine beengenden Vorschriften will Er geben; ein Evangelium will Er verkündigen, wie es nie in die Welt gebracht, nie in der Welt gehört worden war. Darum beginnt Er mit dem innersten Wesen, mit dem Hauptinhalte und Zwecke aller frohen Botschaft: Selig sind. Hieß Er doch Jesus, das heißt, der Seligmacher! War Er doch gekommen, selig zu machen, was verloren war! Ging doch die Absicht aller Seiner Lehren, Wunder, Schicksale, Thaten und Offenbarungen darauf hinaus, Verheißungen und Anweisungen zur Seligkeit zu geben, der Mann der Liebe und der Schmerzen, der Arzt der Kranken und das Heil der Verlorenen zu sein! Kannte Er doch das tiefste Bedürfniß aller menschlichen Herzen, die Frage aller Fragen, die Lebensfrage aller Zeiten: Was muß ich thun, daß ich selig werde? Wie hätte Er anders beginnen können, als mit den Worten: Selig sind! Kein ansprechenderes, erwecklicheres Wort gab es in dem ganzen Sprachgebiete, als dieses Wort, und wir erkennen in Ihm sogleich von vornherein Den, der den rechten Fleck zu treffen und die Saite anzuschlagen weiß, bei der Seine Stimme am liebsten gehört wurde. wie mußten sie horchen, die Tausende, welche Ihn umringten! Und wie müssen auch wir, mögen wir in noch so vielen Sorgen, Schmerzen, Zerstreuungen hingegangen sein, bei diesem Worte, an welchem unser Aller Seele hängt, aufhorchen und alles Andere vergessen! Selig sind!
Wen aber preist Jesus selig? Gewiß die Glücklichen, die Reichen, die Hochbegabten, die Fröhlichen, die Vornehmen, die Könige der Erde? So hätten wir es wohl gethan, die wir immer nur auf das sehen, was vor Augen ist; aber nicht Er, der das Herz ansieht. Er spricht: Selig sind, die geistlich arm sind! Die Armen also preist Er selig! Viele Ausleger der heiligen Schrift haben an äußerlich und leiblich Arme gedacht; und allerdings hatte Jesus solche Arme vornämlich lieb, ließ ihnen insbesondere das Wort Gottes verkündigen, besuchte gern die Hütten der Niedrigkeit und Dürftigkeit, wählte Seine Apostel aus Fischern und Zöllnern, und fand zunächst Eingang unter dem Volke, das gesundere Blicke und empfänglichere Herzen hatte, als seine Führer und Obersten. Auch haben die Armen manche Vorzüge vor den Reichen; tausend Versuchungen, Zersplitterungen des Gemüths, Verläumdungen und Gefahren bleiben ihnen fern; Genügsamkeit schließt ihnen die Thore des Glückes auf, und zuletzt müssen auch die Reichen selbst dahin kommen, weltliche Würden und zeitliche Güter zu verachten. Man erklärte dann das Geistlicharmsein als gleichbedeutend mit: dem Herzen nach, freiwillig arm sein; oder: im Innern los sein von allem Besitzthum; oder: auf geistliche Weise, mit Ergebung und Geduld arm sein; ja, unsere katholische Schwesterkirche begründete hierauf zum Theil mit ihre sogenannten drei evangelischen Rathschläge und Gelübde der Keuschheit, des Gehorsams und der freiwilligen Armuth. Indeß von der andern Seite können wir doch das Künstliche dieser Erklärung nicht in Abrede stellen; die eigenthümliche Bezeichnung: „geistlich arm, Armuth des Geistes“, führt uns auf ganz andere Gebiete und Bedeutungen, und die Wahrheit steht doch einmal fest, daß weltliche Armuth dem Menschen ebensowenig wahren Werth gibt, als irdischer Reichthum, und daß die leiblich Armen ebenso unselig sein können, als die Fürsten auf ihrem Throne, wenn ihr Herz nicht reich ist an Gott und göttlichen Gnadengaben. Jesus preist daher selig die geistlich Armen, und diese geistliche Armuth finden wir ebensogut auf dem Throne, wie bei denen, die in der Welt niedrig und verachtet sind; sie äußert sich ebensostark in der Blüthe des Gesunden, wie in dem Herzen des Gepreßten; sie meldet sich unter seidenem Gewande nicht minder, als unter grobem Kittel und der äußersten Entbehrung. Jeder Mensch ist von Natur ein geistlich Armer. Die Welt mag unterscheiden zwischen leiblich Armen und Reichen, sie hat ein Recht dazu; das Reich Gottes kennt solchen Unterschied im Geistlichen nicht, es betrachtet Alle als geistlich arm.
Was heißt das aber: geistlich arm? Arm ist der, der nicht so viel hat, als er bedarf, der Mangel leidet am Nothdürftigsten, an Wohnung, Kleidung, Nahrung, oder dessen Wohnung finster und eng, dessen Kleidung zerrissen und kaum die Blöße bedeckend, dessen Nahrung ungesund und unzureichend ist. Der ist arm, und das ist unser Aller geistliches Bild vor Gott. Oder wie? haben wir, was wir bedürfen? Licht im Geiste, Frieden im Herzen, Kraft zum Guten; Glaube, Liebe, Hoffnung; Wahrheit, Gerechtigkeit, Seligkeit? Leiden wir nicht Mangel, bittern Mangel, am Allernothdürftigsten? Unser Verstand ist verfinstert und im ewigen Suchen begriffen, ohne zu finden; unser Herz ist kalt und leer von Liebe zum Herrn, matt im Gebetsdrang, lau in der Gemeinschaft mit dem Ewigen; unser Wille ist schlaff und ohnmächtig, wenn es gilt, Gottes Willen zu thun; in Verlegenheiten sind wir rathlos, im Leiden trostlos, im Handeln gottlos, im Umgange mit Andern lieblos. Ach, wenn Gott sich unserer nicht erbarmt hätte in unserm Elende, wenn Er uns nicht hätte Seine Offenbarungen gegeben in unsere Nacht und Seine Gnade in unsere Sündhaftigkeit: wir wären allzumal verloren. Unsere Behausung ist finster, unsere Kleidung zerrissen, unsere Nahrung verdorben und vergiftet.
Arm ist der, der, weil er nicht hat, was er bedarf, es sich borgen, leihen, Schulden machen muß bei Anderen. Ach, und was ist das für ein drückendes Gefühl, Schulden zu haben, abhängig zu sein von Andern, einen Theil seiner Freiheit dadurch zu verlieren und einzubüßen. Das ist entsetzlich; und doch ist es wieder unser Aller geistliche Beschaffenheit vor Gott. Wir sind nicht nur von Natur leer an allem Guten, wir haben auch diese Leere auszufüllen gesucht durch Böses, wir sind Gott verschuldet; mit dem Mangel an wahrer Tugend und Gerechtigkeit hat sich verbunden Reichthum an Sünden und Ungerechtigkeit; unser Herz ist von Natur nicht nur fern von Gott und entfremdet von Ihm, es ist auch befreundet der Welt und ihrer Lust, dem Fleische und seinen Begierden, ja, es ist in Feindschaft gegen Ihn getreten; jede Sünde, die es gedacht, gewollt, geredet, gethan, ist eine Empörung und Aufwiegelung gegen den Herrn, und dieser Sünden sind Legion; kein Vermögen unseres Geistes, kein Glied unseres Leibes, kein Zeitraum unseres Lebens ist unbefleckt geblieben; auch an unseren vollkommensten Werken finden sich Mängel, an unseren reinsten Thaten Flecken. Das Schuldbewußtsein ist unser tiefstes und wahrstes Bewußtsein. Wir können uns unserer selbst nicht bewußt werden, ohne uns zugleich unserer Missethaten und Versündigungen gegen Gott bewußt zu werden. Und dieses Schuldbewußtsein ist darum so drückend, weil es uns unsere Abhängigkeit vom Bösen, unsere Dienstbarkeit unter der Sünde, den Verlust unserer Freiheit so furchtbar bekundet.
Arm, recht arm, blutarm ist endlich der, der, nachdem er Schulden gemacht, um seine Blöße zu bedecken oder seinen Hunger zu stillen und sein Leben zu fristen, wenn die Zeit des Abzahlens heranrückt, sich völlig unfähig erkennt, seinem Gläubiger zu genügen, und entweder neue Gelder aufnehmen muß, um alte Lücken zuzustopfen, oder, wenn das nicht mehr geht, sich muß auspfänden, ausstoßen, berauben, bestrafen lassen. Der fühlt seine Armuth recht bitter und schwer; und doch ist das unser Aller geistliches Bild vor Gott! Wir sind Ihm verschuldet und der Sünde verfallen: was thun wir und was könnten wir thun, um uns von ihr zu erlösen? Wir machen es wie der Schuldner; wir treiben einen Teufel aus durch einen andern; wir bessern und ändern uns, werden dann aber hochmütig und voll Einbildung auf uns selbst; wir hören auf, grobe Sünden zu begehen, aber bedecken sie durch feinere und heucheln; wir fliehen die Eitelkeit, aber dienen dem Hochmuth; überwinden die Sinnlichkeit, aber huldigen dem Ehrgeiz. Damit wird die Zahl unserer Sünden nur immer größer, unsere Verantwortlichkeit schwerer, unser Anspruch an die ewige Verdammniß begründeter, unsere Aussicht in die Zukunft und Ewigkeit trüber und herzzerreißender. Was kann endlich bei solchem Leben herauskommen? was muß sein Ziel, was muß unser Loos sein? Völlige Verstoßung von Gott, Hinwegweisung von Seinem Angesichte, ewige Unseligkeit an dem Orte, der wohl einen Eingang hat, aber keinen Ausgang, dessen Schauer wohl einen Anfang nehmen, aber nimmer ein Ende. Denn furchtbar lautet das Wort des Herrn an jenem Tage: Wer nicht hat, dem wird auch genommen werden, was er hat. Jeder Arme, auch der Aermste, hat doch noch einen Rock auf dem Leibe: auch dieser Rock soll ihm vom Leibe gerissen werden. Ohne Bild: Jeder Mensch, auch der größte Sünder, hat hier doch noch etwas Gutes; auch dies geringe Gute soll ihm entzogen werden. Jeder Arme hat doch wenigstens ein unveräußerliches Gut, das weit über Geld und Geldeswerth hinausgeht, seine Freiheit: auch dieser Freiheit soll er dann verlustig gehen. Ohne Bild: Jeder Mensch, auch der größte Sünder, hat hier noch die Fähigkeit, sich zu entscheiden für das Gute oder für das Böse: dort wird er auch dieses Willensvermögen einbüßen müssen und verdammt sein, nur Böses zu thun. Jedem Armen bleibt hier noch die Möglichkeit einer Rettung, und darum die Hoffnung auf Rettung, und das Gebet um ein Ende seiner Noth: dort verschwindet selbst diese Hoffnung, der Verdammte kann nicht mehr beten, der Verdammte kann nur verzweifeln. Ach, wie mögen die Unseligen in der Hölle uns beneiden in unserm Zustande und zu sich selbst, so oft sie an uns auf Erden denken, sprechen: „Ihr habt viel, wir haben aber Alles verloren; ihr habet etwas noch behalten, wir aber nichts mehr. Ihr Hügel, fallet über uns! Ihr Berge, bedecket uns!“
Indeß, Geliebte, mag immerhin unser gegenwärtiger Zustand golden sein gegen den der Verdammten: denken wir an das, was wir hatten im Paradiese und was wir noch immer haben könnten, so müssen auch wir gestehen: wir sind arm, und jene Worte der frommen Katharina von Siena im vierzehnten Jahrhundert sind über alle Maßen bezeichnend für unsern Zustand: Gott ist, der Er ist; der Mensch aber ist, der er nicht ist. Gott ist, der Er ist, das wahre Sein, das Wesen, das vollkommene Leben; so nannte Er sich selbst an Mosen: „Ich bin, der ich bin, dies ist mein Name in Ewigkeit.“ Wir aber sind, was wir nicht sind. Denn was sind wir denn? Sind wir dieser Leib, dieses Auge, dieses Herz? Nein, das ist nur die Außenseite und Hülle unseres Wesens. Oder sind wir unsere Gedanken, Neigungen, Bestrebungen, Worte, Thaten? Nein, denn wir oft sind die untereinander in Widerspruch: wir denken nicht, wie wir reden; wir meinen es nicht so, wie wir handeln; wir sind als Kinder andere Menschen, als Knaben wieder andere, als Jünglinge, Männer, Greise immer Andere. Was also sind wir? was ist eigentlich unser Wesen? Ist es unser Charakter, unser Temperament; jener Charakter, der meistentheils im Grunde nichts ist, als Eigensinn und Selbstsucht; jenes Temperament, das bald die Trägheit, bald die Heftigkeit, bald den Trübsinn, bald den Leichtsinn abspiegelt? Gewiß nicht. Wir sind, was wir nicht sind. Wir sind nichts durch uns selbst, wir haben nichts durch uns selbst; was wir sind und was wir haben, das sind und haben wir von Gott. Ohne Ihn sind wir durch und durch arm.
Doch wenn wir auch Alle von Natur geistlich arm sind, so preist darum nicht Jesus die Menschen selig, denn dann müßte Er Alle von Natur selig preisen; sondern Er preist nur diejenigen unter ihnen selig, die diese ihre geistliche Armuth auch erkennen, und der Sinn der Textesworte ist kein anderer, als: Selig sind, die sich für geistlich arm halten und erkennen! Das ist nämlich der einzige, aber auch unermeßlich große und allentscheidende Unterschied im Reiche Gottes, daß es die Menschen darnach sondert, je nachdem sie entweder bloß geistlich arm sind, oder auch ihren hülfsbedürftigen Zustand einsehen und zugeben. Es gibt ja Unzählige, die da sprechen: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts, und wissen nicht, daß sie sind elend und jämmerlich, arm, blind und bloß (Offenb. 3,17.); Selbstzufriedene, die Gefallen an sich haben und von ihren Mängeln und Gebrechen nichts wissen wollen. Diese Selbstzufriedenheit geht bei ihnen entweder aus Leichtsinn hervor, weil sie es zu leicht nehmen mit Gottes Gesetz, mit Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, und sich einreden: Er werde es wohl so genau nicht nehmen, Er sei die Liebe, Er werde mit dem guten Willen zufrieden sein, Er fordere nicht mehr, als der Mensch gerade leisten könne; oder aus Hochmuth, weil sie ihre äußere Ehrbarkeit und Pflichterfüllung, ihre gute Sitte, ihre bürgerliche Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit, ihre Freiheit von groben Vergehungen, zu hoch anschlagen und mit der Gerechtigkeit vor Gott verwechseln. So dachte auch der Pharisäer im Tempel, der da betete: „Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ehebrecher, Ungerechte, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von Allem, was ich habe.“ So dachte der reiche Jüngling, als er voll Selbstgefühl dem Herrn antwortete: „Das Alles habe ich gehalten von meiner Jugend auf; was fehlet mir noch?“ Unmöglich kann Jesus solche Menschen, die in tiefster Selbsttäuschung befangen sind, selig preisen. Wie gerade der Mensch äußerlich am übelsten daran ist, der die Zerrüttung seines Vermögens nicht einsieht, sondern in dem Wahne, er besitze noch Alles, in den Tag hineinlebt und seinem Untergang unbewußt entgegen arbeitet: so ist auch geistlich derjenige am übelsten daran, der sich über sich selbst täuscht, sich für reich hält und doch blutarm ist. Denn also spricht der Herr zu den Pharisäern: „Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde, nun ihr aber sprechet: wir sind sehend, so bleibt eure Sünde (Joh. 9,41.). Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichthums; sondern wer sich rühmen will, der rühme sich deß, daß er mich wisse und kenne, daß ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übet auf Erden“ (Jer. 9,23.24.). Zehn Sünden, die man als solche erkennt, sind nicht so schädlich, wie eine einzige, die man nicht dafür erkennt. Es bleibt dabei: der erste Schritt in’s Reich Gottes besteht darin, daß wir uns für geistlich arm erkennen.
II.
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Das Himmelreich! So nannte Jesus die Heilsanstalt, welche Er zu begründen erschienen war und welche in Zeit und Ewigkeit den Menschen beseligen sollte, und Paulus spricht, sie näher beschreibend: „Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist“ (Röm. 14,17.). Gerechtigkeit, d.h. die Vergebung der Sünde, die Aussöhnung der Menschen mit Gott, die Schuldloserklärung des mit Schulden aller Art behafteten Sünders, die gänzliche Straferlassung für immer und ewiglich. Friede, d.h. das Bewußtsein jener Gerechtigkeit oder das Bewußtsein davon, daß Gott uns gnädig sei, die Aneignung der durch Christum erworbenen Gerechtigkeit. Freude im heiligen Geist, d.h. Freude über die Gerechtigkeit vor Gott und über den Frieden in uns selbst, als die Hauptstimmung des gerechtfertigten Menschen. Wahrlich, wo diese Güter des Menschen Eigenthum werden, da ist das Himmelreich gekommen, da hat alle Noth ein Ende, da sind die Armen reich, die Traurigen fröhlich, die Gebundenen frei, die Verbannten wieder aufgenommen, da ist der Himmel zur Erde herniedergestiegen.
Und dies Himmelreich ist ihr, gehört den geistlich Armen, sagt der Herr, d.h. ihnen ist es bestimmt vom Herrn und sie sind dafür empfänglich. Keine einzige Stelle gibt es in der ganzen heiligen Schrift, in welcher den geistlich Reichen, den Stolzen, den Selbstgenügsamen und Sichern eine Verheißung von der Ewigkeit gegeben worden wäre; immer heißt es: „Die sich selbst erniedrigen, sollen erhöhet werden; die sich selbst aber erhöhen, sollen erniedrigt werden; die Ersten sollen die Letzten, und die Letzten sollen die Ersten sein; die Hungrigen füllt Er mit Gütern und die Reichen läßt Er leer; den Hoffärtigen widerstehet Er, aber den Demüthigen gibt Er Gnade.“ (Vgl. Matth. 9,13. 11, 28. 29. Jes. 57,15. 66,2. Matth. 22,12.13.) So ist es Gottes ewige, allweise und unverrückliche Ordnung, und Niemand bilde sich ein, außerhalb dieser Ordnung des Heils theilhaftig zu werden. Der Herr aber hat darum diese Ordnung aufgestellt und den geistlich Armen das Himmelreich versprochen und zugesagt, weil sie dafür empfänglich sind. Von Natur ist jeder Mensch so weit abgekommen von dem Leben, da aus Gott ist, daß ihm nur die Fähigkeit geblieben ist, wieder in dasselbe aufgenommen werden zu können; diese Fähigkeit wird erst Empfänglichkeit, wenn der Mensch seinen Mangel an wahren Gütern wahrnimmt und einsieht. Denn wer sich als arm erkennt, nimmt gern und dankbar die Gabe an, die ihm geboten wird; der Stolze nur verschmäht sie, er mag sie nicht, er weist sie zurück, es dünkt ihm eine Entehrung und Herabwürdigung zu sein, wenn er sie annehmen wollte. Sind wir zum Bewußtsein unserer geistlichen Armuth gekommen: wie willkommen ist uns da jede Gnade, die der Herr uns widerfahren läßt! Das Widerstreben ist weg, das Streiten hat aufgehört, das Schönthun mit falscher Demuth ist verschwunden, jede Ziererei und Eitelkeit ist abgelegt: wir nehmen aus der Fülle des Herrn Gnade um Gnade. Wir nehmen; denn es ist keine Schande mehr für uns, zu nehmen, sondern eine Ehre, die größte Ehre, die uns auf Erden widerfahren kann. Wir nehmen; denn der Herr gibt uns gern, was wir bedürfen, mit vollen Händen und mit warmem Herzen. Wir nehmen; denn es wäre die größte Thorheit, nicht nehmen zu wollen Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist; Keiner käme dabei zu kurz, als wir selbst, die wir es ausschlügen. – Wer sich als arm erkennt, nimmt indeß nicht nur, er bittet auch gern den Geber um seine Gaben und schämt sich nicht, zu bitten; das Bitten steht ihm besser an, als das Fordern; es ist ihm das Natürlichste von der Welt und trägt wahrhaft beglückende Kraft schon in sich. Sind wir zum Bewußtsein unserer geistlichen Armuth gekommen: wie freudig eilen wir hin zu dem Herrn, der da reich ist über Alle, die Ihn anrufen, Ihm zu sagen und zu klagen, was uns drückt, jede Noth des Herzens und des Lebens, jede Entbehrung und Versagung, jeden wahren Schmerz und jede Sorge, die uns nicht frei athmen läßt. An Bedürfnissen ist unser Herz nie leer: so ist es denn auch an Wünschen nie leer, und jeder Wunsch wird zum Gebet. Die Gebote des Herrn, wie Seine Verheißungen, schallen uns unaufhörlich in die Seele; sie erscheinen uns so groß, so schwer; jedes neue Vernehmen derselben wird zum Gebet. Was wir sind und was wir haben, verdanken wir dem Herrn; je lebhafter dies Dankgefühl wird, desto dringender wird auch das Verlangen, mit Ihm immer noch mehr in Gemeinschaft zu treten und Ihn vollkommen und ganz zu genießen. Je mehr wir empfangen, desto mehr wir bitten, und je mehr wir bitten, desto mehr wird uns gegeben. Von Natur arm an geistlichen Gütern und himmlischen Segnungen, werden wir nun reich an denselbigen gemacht durch Christum; haben in uns selbst nichts und doch Alles in Ihm; sind arm und machen doch Viele reich; besitzen Gott und in Ihm Reichthum die Fülle und liebliches Wesen zu Seiner Rechten immer und ewiglich. Solches Nehmen und Bitten ist etwas unaussprechlich Seliges, und erfährt das Verheißungswort des Herrn an den Bischof der Gemeinde zu Smyrna: „Ich weiß deine Armuth, du aber bist reich.“ (Offb. 2,9.) O seliges Armuthsgefühl! Durch dich werden wir, was wir nicht sind, Bürger, Genossen, Erben des Himmelreichs.
„Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr!“ Diese Seligpreisung steht an der Spitze aller andern, Andächtige, weil sie die Grundlage bildet des ganzen Gottesreichs und alle spätern Gemüthszustände aus derselben hervorgehen, wie aus dem Keime die Pflanze und der Baum; weil kein Christenthum möglich ist ohne Geistesarmuth, und sie nicht bloss den Anfang, sondern zugleich die fortgehende Gemüthsstimmung des wahren, lebendigen Christen ausmacht. Nur so viel Christenthum ist in uns, als geistliche Armuth vorhanden ist. Ein wahrer Christ ist nie zufrieden mit sich selbst. Wenn auch alle Menschen seine Pflichterfüllung, seine Gaben und Leistungen, seine Tugenden und Verdienste hoch anschlügen: er weiß allezeit, daß er nichts gethan hat, so lange noch etwas zu thun übrig bleibt (schon Worte Julius Cäsar’s); er vergißt gern alle sein Gutes, was hinter ihm liegt, um sich nur nach dem zu strecken, was vor ihm liegt; er wünscht nichts angelegentlicher, als daß der Herr Gefallen an ihm habe, aber er will nicht Gefallen an sich haben; Gott hat ihm seine Verschuldungen vergeben, aber er kann sie sich selbst nicht vergeben. Er verlernt nie, von Gnade und aus Gnade zu leben; nicht bloß einmal im Jahre, alle Tage feiert er Bußtag; denn jeden Tag ist er zurückgeblieben, jeden Tag gibt es etwas zu bereuen, jeden Tag muß er von vorn wieder anfangen, jeden Tag muß es heißen: „Vergib uns unsere Schulden!“ O so werdet denn geistlich arm, Geliebte, und bleibet geistlich arm. Verlieret nie das Gefühl, daß ihr Sünder seid, die der Gnade und Erbarmung bedürfen; denn nur durch dieses Gefühl wird euch geholfen. Lebt euch immer mehr zusammen mit der Erkenntniß eurer Unwürdigkeit, eurer Unfähigkeit, die Schuldenlast zu tragen und zu bezahlen. Klagt euch täglich an vor Gott, damit Er euch losspreche von aller Schuld und eure Strafen in Christi Tode gutmache und bezahle.
Selig sind, die Demuth haben
Und sich fühlen arm im Geist,
Rühmen sich gar keiner Gaben,
Daß Gott wird’ allein gepreist;
Danken Dem auch für und für,
Denn das Himmelreich ist ihr.
Gott wird dort zu Ehren setzen,
Die sich selbst gering hier schätzen.
Amen.
Text: Matth. V., V. 4.
Selig sind, die da Leide tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Am Bußtage hatten wir aus der Gegenwart uns losgewunden und uns im Geiste versetzt auf jenen Berg in Galiläa, auf welchem der Herr Seinen Mund aufthat und sprach: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.“ Dort stehen wir auch heute wieder; das erste Selig in seiner reichen und tiefen Bedeutung hat uns gedemüthigt und erhoben zugleich, durch Demüthigung und Erhebung uns aber gespannt, das zweite Selig aus Seinem Munde zu vernehmen. Es lautet: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Es knüpft sich unmittelbar an das erste an. Des Segens jener Betrachtung voll, sammeln wir uns um dieses Wort, und schauen heute die Leidtragenden an, welche Jesus selig preist. Was sind das für Leidtragende? und warum preist Jesus sie selig? dies sind die beiden Fragen, deren nähere Beantwortung uns obliegt.
I.
Selig sind, die da Leide tragen. Offenbar, Geliebte, meint Jesus nicht alle und jede Leidtragenden; denn es gibt ein Gott mißfälliges Leidtragen, und das kann der Herr nicht selig preisen. Es gibt Unzufriedene, denen es Niemand, auch Gott nicht, Recht machen kann, weil sie vom Leben zu viel verlangen, lauter Freude, lauter Genuß, und die dann gegen Gott murren, wenn Er sie einmal mit Prüfungen und Drangsalen heimsucht. Es gibt Selbstsüchtige, deren Augen voll Thränen und deren Lippen voll Klagen sind, wenn ihre Wünsche nicht befriedigt, ihre Hoffnungen getäuscht werden, und es ihnen nicht geht nach ihrem Willen und Gutdünken, sondern nach Gottes weiser und gnädiger Führung. Es gibt Verblendete, die den Grund ihrer Leiden immer außer sich suchen; im Schicksal, in andern Menschen, in ihrer Bestimmung, - und nun als Ankläger ihres Looses und ihrer Brüder auftreten. Es gibt Kleinmüthige, die gleich verzagen und verzweifeln, alles Vertrauen daran geben, sich mit Zweifeln, Furcht und Sorgen aufreiben und sich selbst um allen Segen des Kreuzes bringen, den es unter andern Umständen für sie entwickeln würde. Diese Alle sind offenbar nicht gemeint von dem Herrn, wenn Er spricht: „Selig sind, die da Leide tragen:“ Ueberhaupt ist keine Trauer über irdische Entbehrungen und Verluste als solche gemeint; vielmehr handelt der ganze Zusammenhang von einer tieferen Herzenstrauer, von einer Beziehung des Schmerzes auf geistliche Entbehrungen und Verluste. Denn unmittelbar vorher sprach der Herr: „Selig sind, die da geistlich arm sind: denn das Himmelreich ist ihr!“ und gleich hinterher: „Selig sind die Sanftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Offenbar ist in dieser Stellung der Textesworte eine Steigerung unverkennbar. Zunächst preist Jesus selig diejenigen, die sich in ihrer geistlichen Armuth erkennen; dann diejenigen, die über diesen ihren Zustand Leide tragen; es soll nicht bloss bei der Einsicht in ihr Elend bleiben, vielmehr soll die Einsicht zum Eindruck sich gestalten, das Wissen Gefühl, die Erkenntniß Schmerz werden. Selig sind, die da Leide tragen über ihren geistigen und sittlichen Zustand vor dem Herrn!
Es gibt nun eine dreifache Stufenfolge in der Entwickelung dieses Leidtragens: zuerst fühlt der Mensch Schmerz über die Folgen der Sünde; dann über die Sünde selbst; endlich über die Quelle der Sünde.
Da leben wir hin in unserm Glücke; das Loos des Verderbens ist uns gefallen auf’s Lieblichste; gesellige und freundschaftliche Kreise versüßen uns die Tage, die Gott uns schenkt; ein Sonnenstrahl der Freude lächelt uns an nach dem andern. Aber ist der Genuß dieses Glücks ein vollkommner bei irgend Einem unter uns? Eilen in der Regel die frohen Stunden nicht dahin, als flögen sie davon? Bricht ihr Ende nicht immer urplötzlich und unvermuthet herein, wenn wir auch nicht die leiseste Ahnung haben? Blieben auch alle Trübungen und Störungen unserer Heiterkeit fern: schon daß die Zeit so schnell flieht, daß wir weder das Leben genießen, noch das in unserm Berufe leisten und erreichen können, was wir gern möchten, daß die unbewußte Kindheit, dann der Schlaf, endlich die Erschlaffung der Kräfte, das Alter und, ach, die Trägheit so viel hinwegnimmt: ist das nicht im höchsten Grade bejammernswerth? ist diese Flüchtigkeit der Zeit, diese Nichtigkeit aller unserer Werke und Thaten, diese Vergänglichkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen, nicht ein Zeichen unseres tiefen Falles? – Dann kommen die Stürme, die Ungewitter, die düstern Wintertage des Daseins, die Krankheiten, die Verluste, die Mühseligkeiten, Sorgen, Beschwerden, bittern Erfahrungen, Kränkungen der Menschen, die Wüsten des Lebens: o wenn so eine selbstgemachte Hoffnung nach der andern, ein liebes, süßes Herz nach dem andern zu Grabe geht und die ganze, weite Erde sich in ein Leichengewand hüllt, lauter Grabhügel, lauter Trümmer: fühlen wir es da nicht oft recht schwer, daß wir hienieden keine bleibende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen, daß wir hier Pilger und Fremdlinge sind? stimmen wir da nicht unwillkürlich unsere Harfen zu weicheren Tönen? rufen wir da nicht aus mit Hiob: „Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden, und seine Tage sind wie eines Tagelöhners? Wie ein Knecht sich sehnet nach dem Schatten, und ein Tagelöhner, daß seine Arbeit aus sei: also habe ich wohl ganze Monde vergeblich gearbeitet, und elender Nächte sind mir viel worden.“ (7,1-3.); mit Jacob: „Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens, und langet nicht an die Zeit meiner Väter in ihrer Wallfahrt.“ (1. Mos. 47,9.); mit Moses: „Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ (Ps. 90,10.); mit David: „Siehe, meine Tage sind einer Handbreit bei Dir und mein Leben ist wie nichts vor Dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! (Ps. 39,6.); mit Sirach: „Es ist ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben, von Mutterleibe an, bis sie wieder zur Erde werden, die unser Aller Mutter ist; da ist nichts als Sorge, Furcht, Hoffnung, und zuletzt der Tod.“ (40,1-3.) Wahrlich, die Erde ist kein Himmel; die den hienieden erwarten, sind Thoren!
Woher aber diese Flucht unserer Tage, diese Unbeständigkeit des Glücks, diese Fülle von Trübsal, diese Bitterkeit des Todes? Ist das immer so gewesen? Gehören diese Erscheinungen zum Wesen der menschlichen Natur, oder des Erdenlebens? Nein, einst stand es anders um uns und um die Welt; Seligkeit, Engelverkehr, ewiger Frühling in der Natur und in dem Herzen, Gottesgemeinschaft war da das Gepräge der Menschheit. Die Sehnsucht nach etwas Höherem und Besserem, das Heimweh, das wir in uns tragen, ist der Gottesbürge und das Unterpfand dieses unvergleichlich herrlichen Zustandes am Anfange der Tage. Aber wodurch ist es verloren gegangen, jenes selige Ursein der Menschheit? Ach, durch eine einzige düstere Stunde, durch einen Ungehorsam, eine Verletzung göttlicher Gebote; denn sie war das erste Glied einer unabsehbaren Kette von Sünden. „Durch einen Menschen ist die Sünde gekommen in die Welt, und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu Allen hindurchgedrungen, dieweil sie Alle gesündigt haben“ (Röm. 5,12.) Daß es so traurig um uns bestellt ist, daß uns nichts hienieden genügt, die ganze Welt uns nicht befriedigt, wir uns auf die Dauer hin immer unbehaglicher, mißvergnügter, unzufriedener mit uns selbst und mit unserem Schicksale fühlen: das ist die Folge unserer Sünde. „Was murren denn die Leute im Leben also?“ ruft Jeremias aus; „ein Jeglicher murre wider seine Sünde.“ Die Sünde ist der Leute Verderben! Die Sünde ist aller Leiden und alles Todes alleinige Ursach. Die Sünde ist die Schlagen, die unsterbliche Menschenseelen vergiftet und sie um ihren zeitlichen und ewigen Frieden zu bringen sucht. Die Sünde ist das alleinige Uebel in der Welt; jedes Uebel, auch das größte, wäre zu ertragen, wenn das Schuldgefühl es nicht vergällte; ja, es wäre kein Uebel, keine Krankheit, kein Schmerz, kein Tod in der Welt, wenn keine Sünde da wäre. Wohlan, ihr Leidetragenden, trauert nicht über eure Leiden, trauert über eure Sünden; zerreißet nicht eure Kleider, zerreißet eure Herzen; sprechet nimmer: ich habe zu viel zu leiden; sprechet immer: ich habe viel mehr verdient. Denn ach, eure Sünden sind groß: so viel Tage, Stunden, Minuten, ich ohne Gott und Christum gelebt habt, so viel Sünden habt ihr begangen; denn Alles, was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde. Eure Sünden sind schwer; denn sie sind Empörungen der Creatur gegen ihren Schöpfer und höchsten Wohlthäter, Frevel an dem Allbarmherzigen. Eure Sünden sind tief; denn alle Glieder eures Leibes, eure Augen, Ohren, Lippen, Hände, Füße sind Sündenglieder; alle Kräfte eurer Seele, euer Verstand, euer Gedächtniß, euer Gefühl, euer Begehren, euer Wollen, sind mit der Sünde durchzogen. Eure Sünden sind mächtig; denn alle Alter, alle Zustände, alle Lagen eures Lebens haben sie sich unterworfen. Eure Sünden sind eure Ankläger vor Gottes Gericht; denn sie sind eure Schuld! Weg mit allen Entschuldigungen, weg mit den Ausflüchten, die das falsche Herz so gern aufsucht; weg mit den Verkleinerungen und Beschönigungen unserer Missethaten: vor Gott gelten sie alle nichts, Er zerreißt sie wie Spinneweben.
Doch ihr habt trauern gelernt über die Folgen eurer Sünde und über eure Sünde selbst: warum, Geliebte, wirkt diese Traurigkeit nicht kräftiger auf eure Heiligung und Besserung ein? Warum bewährt sich an euch Salomo’s Wort nicht: Trauern ist besser, denn Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert? Warum bleibt es trotz eurer redlichsten Bemühungen und heißesten Kämpfe immer beim Alten, immer auf derselben Stelle und bei demselben Wort: „Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach, ob ich’s ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin?“ und die Stunde kommt nicht und will nicht kommen, wo ihr sagen dürftet: „Jetzt halte ich, o Herr, Deine Gebote von ganzem Herzen, jetzt stehe ich am Ziele?“ Der Grund liegt wiederum in euch selbst, in eurem eigenen Herzen; denn aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerung. (Matth. 15,19.) Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. (Joh. 3,6. Matth. 7,18.) Der Grund liegt in eurem Unglauben, welcher trotz der mannichfachsten Offenbarungen der göttlichen Gnade dem Herrn nicht folgen mag; in eurer Selbstsucht, die oft sogar dann, wenn sie Gottes Ehre zu suchen scheint, doch wesentlich sich selbst sucht; in eurer Reizbarkeit und Empfänglichkeit, in eurem Mangel an Wachsamkeit, Einfalt und Treue, in eurer angeborenen bösen Lust; denn die Lust, wenn sie empfangen hat, gebieret sie die Sünde, die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebieret sie den Tod. (Jac. 1,15.) Der Grund liegt in eurer Lieblingssünde, sei sie Sinnlichkeit oder Ehrgeiz oder Habsucht, welche immer von neuem ihre Angriffe auf euch versucht. So erkennt denn in der allgemeinen Sündhaftigkeit der menschlichen Natur eure besondere Sünde, und laßt euch strafen und überführen durch den heiligen Geist von eurer Sünde, daß ihr nicht glaubet an Christum, daß es Stunden und Tage gibt, wo Sein Bild aus eurem Herzen weicht, und ihr kaltherzig vergessen könnt, was der Herr für euch gethan hat, daß der Sieg des Evangeliums über euch kein vollendeter und allumfassender ist. Traget Leide darüber und fühlet es stets unauslöschlich tief, daß das menschliche Herz ein trotzig und verzagt Ding ist, das Niemand ergründen kann.
Das Worüber unserer Trauer ist also klar, meine Lieben; nur das Wie bleibt noch zu erwägen. Wie wollt ihr Leide tragen über die Folgen eurer Sünde, über eure Sünde selbst, und über den Quell derselben? Wollt ihr es etwa bloß thun an Bußtagen, an Communiontagen, wenn die vorhergehende Selbstprüfung euch eure Sündhaftigkeit zum Bewußtsein bringt? Nein, jeder Tag eures Lebens soll ein Bußtag sein; an jedem Tage soll es heißen: „Vergib uns unsre Schuld; heute, so ihr Gottes Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht.“ Oder wollt ihr es bloß thun in der Kirche, wenn der Prediger gerade davon redet, sonst aber gedankenlos dahingehen, als drückte euch nichts? Dann müßte man auf euch anwenden das Wort: Einmal ist Keinmal! Nicht die Kirche allein; das Haus vielmehr, die Betkammer, der Schauplatz des täglichen Lebens, die Stätte eurer Sünde soll auch die Stätte eurer Buße sein. oder wollt ihr Leide tragen bloß darum, weil Gott es fordert? Dann wäre euer Schmerz ein gemachter, ein künstlicher Schmerz, kein wahrer und natürlicher, und es träfe euch das Wort: „Dies Volk nahet sich mir mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir.“ (Matth. 15,8.) Nein, nein, das Alles wäre kein rechtes Leidetragen über euch selbst. Das wahre Leidetragen besteht darin, Buße zu thun über seine Buße, seine Schmerzensthränen selbst waschen zu lassen im Meere der Gnade, mit Augustinus zu flehen: „Vergib mir meine guten Werke“; denn Alles ist unrein und befleckt an uns, selbst der Schmerz über unsern Abfall vom Herrn ist nicht rein, nicht wahr, nicht tief, nicht nachhaltig, nicht durchdringend genug.
II.
Wie kann Jesus aber nun sagen: Selig sind, die da Leide tragen? Ist denn der Schmerz an sich etwas Beseligendes, daß man ihn aufsuchen und in ihm wühlen müßte, um seiner ganz theilhaftig zu werden? hat die Welt Recht, wenn sie von einer Wonne der Wehmuth singt und die Glücklichen beneidet, die da weinen können? Gewiß nicht. Man hat nicht selten den Schmerz von dieser Seite betrachtet, und, unnatürlich genug, ihn um sein selbst willen liebgewonnen, in ihm etwas Verdienstliches gefunden, und aus dieser gesetzlichen übertriebenen Ansicht zu Fasten, Büßungen, Kasteiungen, sich verleiten lassen, um dadurch ein Anrecht an die Heiligen Gottes und an die höheren Stufen des Himmels zu gewinnen. Unser Text weiß davon nichts. Er sagt nicht: Selig sind, die da Leide tragen; denn dieses Leiden ist ihre Krone und ihr Ruhm. Er führt ein anderes Denn herbei: Denn sie sollen getröstet werden. Um des Trostes willen also; weil der Schmerz die Trauernden antreibt, den Herrn zu suchen und zu finden; um der göttlichen That, nicht um des menschlichen Gefühls willen; um der reichen Befriedigung willen preist der Herr das Bedürfniß selig.
Was ist das aber für ein Trost, den Jesus meint, wenn Er spricht: “Sie sollen getröstet werden“? meint Er jenen allbekannten Trost der Welt, welcher lautet: Zerstreue dich, vergiß deine Traurigkeit, setze dich über dein Elend hinweg, und trage das Unvermeidliche mit Würde? Nein, meine Lieben, ein solcher Gedanke wäre alles Andere in der Welt, nur Trost dürfte er nicht genannt werden. Selbsttäuschung wäre das, keine Beruhigung. Künstliche Abwendung des Auges vom Schmerz wäre es, keine Anwendung desselben zum Heile der Seele. Lüge wäre es, denn man läugnete damit des Schmerzes Nothwendigkeit, und indem man diese Nothwendigkeit läugnete, läugnete man die Weisheit und Heiligkeit Gottes, und indem man die Weisheit und Heiligkeit Gottes aufhöbe, läugnete man zuletzt seine Sünde, verkleinerte, verdeckte sie und kehrte alle Verhältnisse um. Gott will, wir sollen es uns tief durch’s Herz gehen lassen, daß wir gefallene Wesen sind: die Welt aber will, wir sollen uns dagegen abstumpfen, wir sollen eilen, darüber hinweg zu kommen, und bietet uns deßhalb ihre Genüsse und Zerstreuungen dar. O fliehet die Zauberin, die euch Leben vorgaukelt und Tod bringt! Sie ist mir ihren Liebkosungen eine Delila, die schon manchen Simson gestürzt hat. Der wahre Trost will den Schmerz nicht zudecken; im Gegentheil, er will ihn zum Bewußtsein bringen, er will die Wunde erst weit aufreißen, um sie besser auszureinigen, und dann nicht bloß theilweise erleichtern, sondern ganz und durchaus Trauer in Freude verwandeln. Der wahre Trost ist immer Hülfe zugleich! er beruhigt und er heilt.
Wie kann nun aber das Leidetragen über die Sünde beruhigt werden? Nur durch die Gewißheit der Vergebung. Wie kann es geheilt werden? Nur durch die Aussicht auf Erlösung. Gewißheit der Vergebung, vollkommene Erlösung: das, das sind die wahren, ewigen Trostesquellen. O fließt in unsere Seelen, ihr himmlischen Quellen: unsere Augen thränen euch entgegen; unsere Füße eilen, euch zu suchen; unsere Fragen, unsere Seufzer, unsere sehnsuchtsvollen Wünsche meinen euch; himmlische Trostesquellen, öffnet euch, strömet uns zu, kühlet ab den brennenden Schmerz über unser böses Herz und unser verlorenes Leben, bereitet uns heilenden Balsam für unsere Gewissenwunden! Wir fragen: Wo finden wir diese Gewißheit der Vergebung und der Erlösung? Da tönt uns eine Stimme entgegen: “Bessere dich, und Gott wird dir vergeben.“ Unseliger Trost! Können wir uns denn wahrhaft bessern, Geliebte? Sind nicht alle Kräfte unrein, mit denen wir uns bessern müßten? und wenn Gott nur so viel vergibt, als wir uns bessern; wenn Er uns nicht ganz und vollkommen vergibt, nicht um unsert-, sondern um Seinetwillen: so ist das eine Lehre zur Verzweiflung! Da tönt eine andere Stimme: „Tritt ein in unsere alleinseligmachende Kirche; wir haben Gnadenspenden, wie keine andere Kirche und Religion sie hat; beichte unsern Priestern, denn sie haben das Amt der Schlüssel, zu lösen und zu binden, vom Herrn überkommen, der ihnen die ausdrückliche Vollmacht gegeben hat: Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (Joh. 20,23.) Ungenügender Trost! Was der Herr Seinen Aposteln verliehen, das hat Er nicht euch verliehen; sonst hätte Er als Beglaubigungsformel euch auch mit der Gabe, Wunder zu thun, in fremden Sprachen und mit Zungen zu reden, ausgestattet. Was der Herr Seiner ganzen Kirche übertragen hat, hat Er keinem einzelnen Stande, als solchem, überwiesen. Und warum lehret ihr denn, daß kein Mensch in diesem Leben gewiß werden könne seiner ewigen Seligkeit? Warum ängstiget ihr denn die euch anvertrauten Gemüther mit Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten, Opfern? warum quält ihr denn die Sterbenden noch mit der Furcht vor dem Fegefeuer? warum habt ihr denn noch so viel Menschenbeiwerk ersonnen und erfunden, um nachzuhelfen? warum genügt euch denn nicht Christi Verdienst, die Menschen zu beseligen, sondern bedarf dieses noch ihres Zuthuns durch ihre Werke? Darum, weil ihr es fühlt, daß alle menschlichen Einrichtungen eurer Kirche nicht ausreichen zur Seligkeit, zur Gewißheit der Vergebung und zur Erlösung. Menschen können nicht vergeben, weder sich selbst, noch Andern; sondern Gott allein! Weg denn mit jenen verführerischen Stimmen, die wahren Trost versprechen, und nur halben Trost, nur einen Scheintrost geben können; die die Leiden nur vermehren, statt die zerschlagenen Herzen ihres Trostes freudig gewiß zu machen! Zu Dir fliehen wir, Herr Jesu, der Du gesprochen hast: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Sage Du uns, worin dieser Dein Trost besteht; verschaffe Du uns Vergebung, verschaffe uns Erlösung.
Und siehe, sie ist das, die befriedigende Antwort auf alle Fragen. Drei Bürgschaften gibt uns der Herr, und nur eine Bedingung fordert Er. Drei Bürgschaften! Die erste ist: Sein Gotteswort, das uns Vergebung zusagt und verspricht: „Ich, ich tilge deine Uebertretung um meinetwillen, und gedenke deiner Sünden nicht. (Jes. 43,25.) Ich vertilge deine Missethat wie eine Wolke, und deine Sünde wie den Nebel. Kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich. (44,22.) Wenn eure Sünde gleich blutroth ist, so soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden. (1,18.) Ich will meinen Bund mit dir aufrichten, daß du erfahren sollst, daß ich der Herr sei; auf daß du daran gedenkest und dich schämest und vor Schande nicht mehr deinen Mund aufthun dürfest, wenn ich dir Alles vergeben werden, was du gethan hast, spricht der Herr Herr.“ (Ezech. 16,62.63.) Schon dieses Gotteswort müßte uns genügen, um uns sowohl über jeden Zweifel, als über jede Furcht hinauszusetzen; denn was der Wahrhaftige zusagt, das hält Er gewiß. Weil aber Gott wußte, daß es dem verzagten menschlichen Herzen nicht genügte, hat Er zum Worte die That hinzugefügt, und Christus hat durch Seinen heiligen sündlosen Tod, den Er stellvertretend für uns übernahm, uns Vergebung der Sünden feierlich erworben, so daß um Seinetwillen wir vor Gott gerecht werden und die von Ihm freiwillig übernommene Strafe unserer Sünden uns so zugerechnet werden soll, als ob wir selbst die Strafe erduldet hätten. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. An Ihm haben wir die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden. Gott hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“ (Joh. 3,16.; Col. 1,14.; 2- Cor. 5,21.) O wenn Er, der heilige Gottessohn, für uns den schreckenvollen Tod auf Golgatha litt, wenn Er für uns duldete, kämpfte, starb in des Wortes höchster und umfassendster Bedeutung: so ist unser Schuldbuch zerrissen, so ruht auf einem Gottesfelsen die Gewißheit unserer Vergebung, und die erlösete Seele darf singen: „Herr Jesu Christ, Dein theures Blut ist meiner Seele höchstes Gut; das stärkt, das labt, das macht allein das Herz von allen Sünden rein.“ Endlich aber, damit gar kein Zweifel obwalten möchte an Seinem Ernste, uns wohlzuthun und zu segnen, setzte Er das heilige Abendmahl ein, um uns in diesem herrlichen Sacramente die durch sein Wort uns verheißene und am Kreuze uns erworbene Vergebung zuzueignen, und ruft in demselbigen, so oft wir es genießen, uns zu: „Nehmet hin und trinket, so oft wir es genießen, uns zu: „Nehmet hin und trinket, dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blute, das für euch und für Viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Diesen großen Bürgschaften gegenüber fordert der Herr nur eine Bedingung: daß wir sie glauben und im Glauben uns aneignen. Kann man Größeres geben? kann man Geringeres fordern? Treibt nicht schon das Schmerzgefühl und der Wunsch, von demselben befreit zu werden, uns hin zum Glauben? Und wenn nun noch Hunderte, Tausende, Millionen von Leidtragenden, die in dieser Gewißheit Ruhe und Trost gefunden haben; wenn nun noch alle die Gichtbrüchigen, die Marien Magdalenen, die Zöllner, die Zachäus, die Schächer am Kreuz, die Märtyrer, die Reformatoren als Zeugen auftreten, daß sie die Gewißheit der Sündenvergebung kraft des Verheißungswortes Gottes, kraft des stellvertretenden Todes Jesu Christi und kraft des heiligen Abendmahls an ihrem Herzen erfahren haben: ist es uns da nicht, als sänke auch bei uns die centnerschwere Last unserer Schuld von unsern Schultern nieder, als könnten, als dürften wir nicht mehr in Sorgen schweben, als müßte es auch bei uns heißen: „Nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, haben wir Friede mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum. (Röm. 5,1.) Es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste.“ (8,1). „Wohl dem Menschen, dem der Herr die Sünde vergibt, dem ER die Missethat nicht zurechnet, und in deß Geiste kein Falsch ist?“ Wer nun noch anstehen wollte, Gottes Gnade mehr Gutes zuzutrauen, als seine Sünde Strafe verdient hat: der müßte an Allem zweifeln, was es Gewisses im Himmel und auf Erden gibt; für den wäre es auch nicht einmal gewiß, ob die Sonne am Himmel steht, oder ob es einen Gott gibt, ob der Mensch eine Seele hat und diese Seele ewig lebt. Dürfen wir aber glauben das Große, Wunderbare der göttlichen Gnadenführung: dann sind wir auch vollkommen getröstet, und sind wir vollkommen getröstet, so sind wir auch getrost, und sind wir getrost, so sind wir auch selig, und es bleibt bei dem Worte des Erlösers im Texte: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Der Schmerz ruht noch auf dem Grunde des Herzens, weil die Sünde bleibt; aber er ist verklärt, und auf dem dunkeln Grunde desselben erhebt sich lieblich und heiter die Freude über des Herrn unendliche und ewige Barmherzigkeit. Mit dem Schmerze über die Sünde ist dann aber auch jeder andere Schmerz überwunden; innerlich getröstet über unsern Abfall von Gott, sind wir zugleich getröstet über jedes Leiden der Erde, das uns sonst drückt. Es ist nicht mehr Strafe, es ist ein Gnadenkreuz. Es kommt nicht mehr von Gottes Gerechtigkeit, es kommt von Seiner Liebe, und wir dürfen dem Apostel sein Zeugniß nachsprechen: „Wie wir des Leidens Christi viel haben, also werden wir auch reichlich getröstet durch Christum.“ (2. Cor. 1,5.) „Wir sind erfüllet mit Trost, wir sind überschwänglich in Freuden in allem unserm Trübsal.“ (7,4.) Daß so Viele unter uns sich im Leiden trostlos verhalten, kommt lediglich daher, weil sie noch nie vom äußern Leiden zum innern, vom Leiden des Leibes zum Leiden der Seele übergegangen sind, noch nie ihre geistliche Armuth erkannt, noch nie Traurigkeit gefühlt haben über ihre Sünde, vielmehr oft im Leiden sich durch Trotz erst recht wieder versündigen und sich nicht wollen trösten lassen. Oder wie, Geliebte? Fragt euch einmal ernstlich vor Gott: Habt ihr schon über eine Sünde geweint? Ueber Anderes gewiß genug; aber auch schon über eine Sünde? Ach, wer nie über sich weint, der weint entweder über Andere und über das Böse, das sie ihm zufügen, oder er weint über die schlechten Zeiten, über seine Noth und Armuth, die er, wie er denkt, unverschuldet tragen müsse; damit weint er aber eigentlich über Gott, der Beides zuläßt, ihn dadurch zu prüfen. Weinet denn über euch selbst, damit ihr euch freuen könnet über den Herrn und über Seine Gnade, und eure Trauer hier schon theilweise, dereinst aber ganz in Freude verwandelt werde. Wie das dereinst geschehen wird, ob mit der Trennung des Leibes von der Seele auch die Sünde sich trennen wird von demselben, oder ob mit dem Aufhören der Versuchungen auch die Neigung zur Versuchung, die Erbsünde, aufhören, oder ob noch auf andere Weise jene große Verwandlung vor sich gehen wird: das wissen wir nicht, dies ist des Herrn Sache, und Er wird sie hinausführen. Genug, dann wird die gläubige Seele schauen, und im Schauen ganz rein und selig sein! Die Thränen sind versiegt, und die Freudenernte ist groß und unermeßlich, wir ernten dann, wie die Schrift sagt, ohne Aufhören.
Fliehet denn nicht, Geliebte, den Schmerz und die Thränen: sie sind die Quellen einer unaussprechlichen Freude. Der Mensch ist ein unglücklicher Mensch, der noch nie über sich geweint hat; derjenige aber ist beneidenswerth, der sich anschaut, wie er gestaltet ist, und sich nicht schämt, seinen Jammer vor Gott auszuweinen. Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind, die Leide tragen,
Göttlich trauern über sich,
Die beseufzen und beklagen
Ihre Sünden inniglich;
Die für sich und Andre flehn,
Und vor Gott mit Thränen stehn;
Diese sollen noch auf Erden,
Und einst dort getröstet werden.
Amen.
Text: Matth. V, V. 5.
Selig sind die Sanftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
So lautet die dritte Seligpreisung in der Bergpredigt, oder die dritte Stufe in der Entwickelung des Reiches Gottes im menschlichen Herzen. Die Grundlage des Ganzen ist die Erkenntniß seiner geistlichen Armuth, aus der geistlichen Armuth entwickelt sich das Leidetragen über dieselbe, und aus dieser wieder die Sanftmüthigkeit. Wir beschäftigen uns demnach heute mit der dritten Seligpreisung, und sehen, 1) an wen sie gerichtet ist, und 2) was sie verheißt.
I.
Selig sind die Sanftmüthigen. Auf den ersten Anblick erscheint es schwierig, zu bestimmen, was denn der Herr eigentlich unter Sanftmüthigkeit verstehe. Gewöhnlich denken wir bei dem Worte an eine sittliche Tugend, an die Gelindigkeit und Gefügigkeit im Umgange mit andern Menschen. Diese Bedeutung paßt aber in keiner Beziehung in den Zusammenhang unserer Textworte, sintemal in den vier ersten Seligpreisungen nicht von sittlichen Tugenden, sondern von Gnadengaben, von Früchten des Geistes Gottes die Rede ist; nicht Verhältnisse zu Andern, sondern das Grundverhältniß des Menschen zu Gott dargestellt wird. Mit der fünften Seligpreisung beginnen erst die Gesinnungen des gläubig gewordenen Christen gegen seine Mitmenschen. Noch schwieriger erscheint die Auslegung unseres Textworts, wenn wir die Stellung desselben in’s Auge fassen. Voran geht: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden;“ hinterher folgt: „Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Man hätte meinen sollen, natürlicher wäre die umgekehrte Ordnung gewesen, daß unmittelbar auf das Leidetragen über die Sünde gefolgt wäre das Hungern nach der Gerechtigkeit, und dann erst die Sanftmüthigkeit des Herzens. Indessen dem Herrn hat es gefallen, gerade diese Ordnung zu wählen; erst: „Selig sind, die da Leide tragen, denn sie sollen getröstet werden;“ dann: „Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen;“ und zuletzt: „Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Demnach muß Er unter den Sanftmüthigen einen Zwischenzustand des Herzens zwischen der göttlichen Traurigkeit über die Sünde und dem Verlangen nach vollkommener Gerechtigkeit verstanden haben, und dieser Zwischenzustand leuchtet auch ein, sobald wir auf unsere bisherigen Betrachtungen zurückgehen. Das Himmelreich beginnt mit der Erkenntniß der geistlichen Armuth; diese Erkenntniß kann aber nicht unserm Geiste aufgehen, ohne sofort unser ganzes Gefühl zu durchdringen und sich als ein Leidetragen über die Sünde zu offenbaren. Aber damit ist das Wesen des Menschen noch nicht erneuert. Die erworbene Einsicht des Verstandes, das empfundene Gefühl des Herzens theilt sich endlich auch dem Willen des Menschen mit, und sobald das geschieht, ist die Sanftmüthigkeit gegen Gott vorhanden. Sie besteht in der stillen, gebeugten Hingebung des Herzens an den Herrn, in dem gebrochenen Eigenwillen, in dem Aufhören zu widerstreben, und in der Neigung, sich Alles gefallen zu lassen, was der Herr will, den ganzen Weg der Gnade, die ganze Heilsordnung. – Diese Gemüths- und Willensstellung ist zunächst gemeint, wenn Jesus sagt: „Selig sind die Sanftmüthigen.“ Laßt sie uns nun näher in’s Einzelne verfolgen.