Die Beute - Dirk Husemann - E-Book
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Die Beute E-Book

Dirk Husemann

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Beschreibung

Frankreich 1940. Colonel Pierre Delort, Organisationsgenie der Armee, erhält einen unmöglichen Auftrag: Er soll über dreitausend Gemälde, Statuen und Artefakte aus dem Louvre evakuieren, bevor die Wehrmacht in Paris einmarschiert. Schon bald heftet sich ein deutsches Einsatzkommando an Delorts Fersen, und eine gefährliche Jagd beginnt. Den größten Schatz trägt Delort stets im Handgepäck bei sich: die Mona Lisa. Und allmählich begreift der nüchtern kalkulierende Offizier, warum dieses kleine Porträt für die Welt von so großer Bedeutung ist ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumDie Figuren der HandlungTeil IKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Teil IIKapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Teil IIIKapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54NachwortDank

Über dieses Buch

Frankreich 1940. Colonel Pierre Delort, Organisationsgenie der Armee, erhält einen unmöglichen Auftrag: Er soll über dreitausend Gemälde, Statuen und Artefakte aus dem Louvre evakuieren, bevor die Wehrmacht in Paris einmarschiert. Schon bald heftet sich ein deutsches Einsatzkommando an Delorts Fersen, und eine gefährliche Jagd beginnt. Den größten Schatz trägt Delort stets im Handgepäck bei sich: die Mona Lisa. Und allmählich begreift der nüchtern kalkulierende Offizier, warum dieses kleine Porträt für die Welt von so großer Bedeutung ist …

Über den Autor

Dirk Husemann, Jahrgang 1965, gräbt als Wissenschaftsjournalist und Archäologe Geschichten aus. Er studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Münster und schreibt Reportagen und Sachbücher, zum Beispiel über die älteste Stadt der Welt in Syrien, die letzten Geheimnisse von Stonehenge oder Fleischdoping bei den antiken Olympischen Spielen. Sein Debütroman »Ein Elefant für Karl den Großen« wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

DIRK HUSEMANN

DIE

BEUTE

AUF DER

FLUCHT MIT DER

MONA LISA

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: zef art | Olena Zaskochenko | Evgeniia Litovchenko | Ysbrand Cosijn; © Lee Avison/trevillion.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0990-3

luebbe.de

lesejury.de

Die Figuren der Handlung

Pierre Delort, Colonel

Gérard, sein Bruder, Soldat

Marianne, seine Schwester

Jean-Auguste, ihr Sohn

Henri Verne, Direktor des Louvre

Gaston Récine, Kunsthistoriker

Floride Harlé, Automechanikerin

Der alte Harlé, ihr Vater

Spartaco, Gewichtheber

Georges Bersonides, Lehrer

Ladislas Lemaisier, Kaufmann und Funker

Laurent Pataille, Gefreiter

Raoul Martín, spanischer Flüchtling in Cléry-Sainte-Anne

Celedonio, sein Vater

Elsa, seine Mutter

Miguel, sein Bruder

Pfarrer Gallimard, Geistlicher in Cléry-Sainte-Anne

Michel Delapont, Winzer in Cléry-Sainte-Anne

Josette, seine Tochter

François, Tischlergeselle

Madame Denoit

Prudent de Valantin, Marquis, Schlossherr von Chambord

Camille und Louise, seine Töchter

Serge, Hausdiener in Chambord

Curt Hardefust, Obersturmbannführer und dt. Botschafter in Paris

Ursula, seine Frau

Konrad Heißberger, SS-Hauptamtsleiter

Hermann Göring, Reichsmarschall

Albert Speer, Architekt

Alfred von Vollard-Bockelberg, General

Harald Meißner, Oberleutnant

Teil I

Drei rote Punkte

Kapitel 1

MADRID, MUSEO DEL PRADO, FEBRUAR 1939

Wenn Pierre Delort in ein Museum ging, schloss er für gewöhnlich die Augen.

Genauso wie die Schönheit der Gemälde, Artefakte und Skulpturen liebte er ihre Gerüche: das Aroma von Leinöl und Lösungsmitteln, von Holz und Harz, von alten Zeitungen und vom Pfeifenrauch, den die Maler auf ihre Leinwände geblasen hatten. Das war l’Eau d’Atelier. Das war l’Essence de Musée. Das war der Duft der Kunst.

Doch jetzt hielt sich Colonel Delort ein Taschentuch vor die Nase. Im Prado, Madrids berühmtem Museum, stank es nach Qualm und Flugbenzin. Pierres Augen tränten. Über dem großen Gebäude dröhnten Flugzeugmotoren. Geschosse knallten. Statt der Sterne, die sonst durch das Glasdach funkelten, sah er das Aufleuchten von Explosionen. Der Angriff der Faschisten hatte begonnen. Die spanische Hauptstadt stand unter Beschuss.

Gérard kam auf Pierre zugelaufen. Das Blitzen der Flugabwehrgeschütze riss die vertraute Gestalt aus der Dunkelheit, nur um sie im nächsten Moment wieder darin verschwinden zu lassen. »Hast du endlich alles?«, hörte Pierre ihn rufen.

»Einen Augenblick noch«, antwortete Pierre und steckte das Taschentuch weg. Den Gestank ignorierend, leuchtete er mit der Handlampe auf das Klemmbrett in seiner linken Hand. Darauf waren dicht beschriebene Bögen Papier befestigt. Der Lichtkegel tanzte über berühmte Namen: Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch, Francisco de Goya, Rembrandt van Rijn, daneben standen die Titel ihrer Gemälde. Am Ende jeder Zeile hatte Pierre eine Markierung gesetzt, ein kleines »v« mit ungleichen Schenkeln, das ihm verriet: Dieses Bild war bereits aus dem Museum evakuiert worden und rollte auf einem Lastwagen in Richtung der französischen Grenze. Jedes einzelne dieser Häkchen war für Pierre ein Siegeszeichen.

Eine Detonation ließ die Wände erbeben. Pierre blickte sorgenvoll zum Glasdach der Galerie auf.

»Wir verschwinden!«, rief Gérard und zog am schmutzigen Ärmel von Pierres Uniformjacke.

Pierre riss sich los. »Warte doch«, sagte er. Sein Blick flog über die Liste. Die Häkchen standen in Reih und Glied. Alles schien vollständig abtransportiert worden zu sein, Kunstwerke von Weltrang, gerettet vor den deutschen Bomben, die die spanischen Faschisten über Madrid abwarfen.

Er blätterte um. Auf Seite zwei las er die Namen von Michelangelo Buonarotti, El Greco und Fra Angelico. Auch hinter ihren Werken waren die Häkchen gesetzt.

Dann sah er die Lücke.

»Las Meninas ist noch hier im Haus«, sagte Pierre.

Ein berstendes Geräusch war zu hören, gefolgt vom Jaulen überdrehender Motoren. Die Flugabwehr musste einen Bomber erwischt haben.

»Du kommst jetzt mit«, rief Gérard und riss erneut an Pierres Uniform. »Wir haben mehr als tausend Kunstwerke verladen. Auf dieses eine kommt es nicht an.«

Pierre legte eine bebende Hand auf Gérards bloßen Arm. Der untersetzte Soldat hatte die Ärmel seines Militärhemds hochgekrempelt. Seine Haut fühlte sich heiß an, und die dichten Haare auf seinem Unterarm waren aufgerichtet. Er zitterte.

»Aber es ist Las Meninas«, sagte Pierre so ruhig wie möglich. »Ein Velázquez.«

»Na und?« Gérards Augen waren aufgerissen. »Du hast dein Leben heute schon für genug Leinwände aufs Spiel gesetzt!«

Pierre zögerte. Von seiner Stirn fiel ein Schweißtropfen auf das Klemmbrett und verschmierte zwei kleine Siegeszeichen. Es ging ihm ja ebenso wie Gérard, auch in seinem Bauch lag der kalte Klumpen der Angst.

»Wenn wir dieses Bild zurücklassen, sind wir gescheitert.« Pierre klopfte mit der Lampe gegen das Klemmbrett. Der Lichtschein streifte die Wände der großen Galerie. Wo noch vor wenigen Stunden Gemälde gehangen hatten, ragten nur noch Haken und Drahtseile aus dem Putz hervor. Der Prado war ein ausgeschlachteter Kadaver. »Wenn es hier verbrennt, wäre das viel mehr als nur der Verlust eines alten Ölgemäldes. Es wäre der Triumph des Faschismus über den freien Geist des Menschen. Verstehst du? Franco kann Madrid erobern. Er kann sich ganz Spanien nehmen. Aber die Freiheit, Gérard, die bekommt er nicht. Nicht, solange wir beide noch hier sind und darauf achtgeben!«

Das Jaulen wurde lauter und endete in einem Krachen. In der folgenden Stille war das Rieseln von Putz zu hören, der sich aus den Mauern des Museums löste.

Gérard stöhnte. »Du bist zwar mein kleiner Bruder, aber dein Sturkopf war schon immer größer als meiner. Wo finden wir dieses Bild?«

Pierre richtete das Licht wieder auf die Liste. »Saal zwölf«, sagte er in das Platzen einer Detonation hinein. Er deutete auf eine Treppe am Ende der großen Halle. »Dort entlang.«

In Saal zwölf stand Wasser. Es reichte ihnen bis zu den Knöcheln, irgendwo musste eine Leitung geplatzt sein. Das Atmen fiel schwer, denn die Rotunde war voller Rauch. Trotzdem war sofort zu erkennen, dass alle Gemälde entfernt worden waren.

»Wo ist dieses Bild denn nun?«, fragte Gérard ungeduldig. »Hast du dich im Saal geirrt?«

Pierre stapfte durch das Wasser bis vor die Wand. »Unmöglich.« Er tastete über den Putz. »Es war hier. Ich habe es vergangene Woche selbst gesehen, als ich die Liste erstellt habe.«

»Dann hat es wohl jemand mitgenommen«, schlussfolgerte Gérard.

»María Teresa und Rafael waren für diesen Flügel zuständig«, sagte Pierre. Er spürte Zorn in sich aufwallen. »Ich hatte ihnen doch befohlen, sich an die Pläne zu halten und jedes evakuierte Bild abzuhaken.« Kopfschüttelnd watete er zum Ausgang des Saals. »Wenn hier jeder macht, was er will, werden wir hinterher nichts mehr wiederfinden.«

»Wenn wir dann überhaupt noch am Leben sind«, versetzte Gérard.

Diesmal leistete Pierre keinen Widerstand, als sein Bruder ihn durch die dunklen Fluchten des Prado zog. Früher hatte Pierre sich immer gewünscht, eine Nacht allein in einem Museum wie diesem verbringen zu können. Jetzt eilte er durch die gespenstisch leeren Säle und Korridore wie durch ein albtraumhaftes Labyrinth.

Wo war Las Meninas?

Das Bild hatte etwas Geisterhaftes. Es war die Krönung im Werk von Diego Velázquez. Es zeigte die fünfjährige spanische Königstochter Margarita im Kreis ihrer Hofdamen. Und es zeigte den Maler selbst, der sich mit Staffelei und Farbpalette neben der Königstochter in Szene gesetzt hatte. Was Velázquez dabei wohl im Sinn gehabt hatte? Bislang war es noch niemandem gelungen, dieses Rätsel zu lösen. Und wenn das Gemälde jetzt in der Bombennacht von Madrid verschwand, würde sein Geheimnis mit ihm untergehen.

Kühle Nachtluft schlug Pierre und Gérard entgegen, als sie die Stufen zur Plaza Murillo hinabliefen. Der Himmel über den Dächern der Stadt wurde von den tastenden Fingern der Suchscheinwerfer zerschnitten. Am Seiteneingang des Museums hatten sie die Lastwagen geparkt. Um die Plaza war ein kleiner Park angelegt, und Pierre hatte daraufgesetzt, dass die Frühlingsblätter in den Baumkronen den Bomberpiloten die Sicht auf die Wagen nehmen würden. Das hatte offenbar funktioniert. Nur ein einziger Laster wartete noch in der Dunkelheit.

»Miguel, wo bist du?«, rief Pierre.

Unter dem Fahrzeug war eine Bewegung zu erahnen. Kurz darauf kam ein Mann zwischen den Reifen hervorgekrochen. Er war jung, kaum älter als achtzehn, und trug das Barett der Freiwilligenverbände, die Madrid gegen den Ansturm der Faschisten verteidigten.

»Zur Stelle, Señor Coronel«, sagte Miguel. »Die anderen sind schon unterwegs. Ich hielt es für das Sicherste, unter dem Wagen auf Sie zu warten.«

Die Ladefläche des Lasters war geschlossen. Pierre schob die Plane zur Seite. In der Dunkelheit dahinter erkannte er schemenhaft dicht an dicht stehende Bilderrahmen. »Las Meninas. Ist das Bild auf dem Wagen?«

Miguel schaute ihn ratlos an. »Señor. Monsieur. Ich kenne die Gemälde leider nicht mit Namen.« Er deutete ins Innere des Lastwagens. »Aber der Wagen ist voll bis auf den letzten Millimeter. Und wir müssen abfahren.«

»Es ist ein Velázquez. Die Infantin mit Hofdamen. Ein kleines blondes Mädchen.«

Miguel zuckte mit den Schultern.

Pierre spürte, wie er die Nerven verlor. Er versuchte sich zusammenzureißen. Miguel war nicht schuld an der Misere. »Das Bild ist groß«, begann er noch einmal. »Etwa drei mal zweieinhalb Meter.«

»María Teresa und Rafael könnten es herausgebracht haben«, warf Gérard ein. »Waren sie hier?«

Miguel rieb sich eine Wange. Im Aufblitzen eines Geschosses war sein jugendliches Gesicht zu erkennen. Mein Gott, dachte Pierre, als er den Flaum auf der Oberlippe Miguels sah, der hat ja noch nicht einmal einen Bart.

»Sí, sí, sí«, beeilte sich Miguel zu sagen. Die Laute klangen wie die Querschläger eines Schnellfeuergewehrs. »María Teresa und Rafael waren hier. Sie haben ein Bild aus dem Museum getragen. Es war so groß.« Er deutete den Umfang mit ausladenden Gesten an.

»Habt ihr es auf diesen Wagen verfrachtet? Oder ist es mit den anderen unterwegs?«, hörte sich Pierre mit erstickter Stimme fragen. Am liebsten hätte er die Antworten aus dem jungen Spanier herausgeschüttelt.

»No, no, no«, sagte Miguel und unterstrich seine Worte mit abwehrenden Gesten. »Das Bild war viel zu groß. Die Laster waren alle schon fort, und dieser da ist voll. Es passte nirgendwo rein.«

Pierre spürte, wie etwas in ihm platzte. »Wo ist dieses Bild?«, donnerte er.

Eine Detonation, keine zwei Häuserblocks entfernt, unterstrich seine Worte. Die Abwehrgeschütze husteten.

Miguel deutete auf den Paseo del Prado, die Hauptstraße, keine hundert Meter vom Museum entfernt. »Sie wollten es nicht einfach hier stehen lassen. Da haben sie es mitgenommen.«

»Zu Fuß?«, rief Pierre. »Sie tragen einen Velázquez zu Fuß durch diesen Bombenhagel?« Er schaute zur Hauptstraße hinüber. Dort war alles dunkel. Jede Art von Licht, und wäre es nur das Aufglimmen einer Zigarette, diente den Bomberpiloten als Zielmarkierung.

»Haben sie gesagt, wohin sie das Bild bringen wollten?«, fragte Pierre.

Gérard stellte sich zwischen ihn und Miguel. »Lass ihn in Ruhe, Pierre. Wir haben versucht, deinen Velázquez zu retten. Aber das ist jetzt vorbei. Die Kommunisten werden sich darum kümmern. Da bin ich sicher.«

»Aber ich nicht«, blaffte Pierre. Er spürte, wie eine schmerzhafte Besessenheit von ihm Besitz ergriff. Was er vorhin zu Gérard über den Triumph des Faschismus gesagt hatte, davon hatte er jedes Wort ernst gemeint. »Kommt! Ohne dieses Gemälde werden wir diese verfluchte Stadt nicht verlassen.«

Pierre riss die Tür zur Fahrerkabine des Lastwagens auf. Beim Einsteigen stieß er mit dem Kopf gegen das niedrige Dach und verlor seinen Offiziershut. Die schwarze runde Kopfbedeckung fiel herunter und rollte davon. Pierre scherte sich nicht darum. Der Schlüssel steckte. Er startete den Motor mit pumpenden Tritten auf das Gaspedal. Wie durch einen Nebel bemerkte er, dass Gérard und Miguel auf der Beifahrerseite einstiegen. Dann rammte Pierre den Rückwärtsgang in das Getriebe, wendete den Wagen und fuhr los in Richtung Hauptstraße.

In der Kabine übertönte das Klappern des Dieselmotors den Kriegslärm über der Stadt. Gérard beugte sich über den in der Mitte sitzenden Miguel zu Pierre hinüber. »Du fährst jetzt Richtung Süden. Das ist ein Befehl. Ich bin der Dienstältere.«

Pierre antwortete nicht. Seine Blicke waren auf die Straße gerichtet. In der Dunkelheit war die Fahrbahn kaum zu erkennen. Er bog in den Paseo del Prado ein und steuerte den Laster nach Norden.

»Pierre! Verdammt!« Gérard versuchte, an den Zug der Handbremse zu gelangen. Doch der war unterhalb des Lenkrads angebracht.

Pierre schlug die Hand seines Bruders weg. »Miguel!«, knurrte er. »Wo liegt das Hauptquartier der Kommunisten?«

»Am Ende der Gran Vía«, rief Miguel über den Motorenlärm hinweg. »Hinter dem großen Lederwarengeschäft.«

»Das ist im Herzen der Stadt«, protestierte Gérard. »Was glaubst du, wo die meisten Bomben runterkommen?«

Pierre lachte laut und kalt. »Die Kommunisten haben ihren Sitz ausgerechnet dort, wo die Bourgeoisie ihr Geld ausgibt? Komm schon, Gérard! Das müssen wir uns ansehen.« Er achtete nicht mehr auf die Einwände seines Bruders, die sich in Beschimpfungen verwandelten, und trat das Gaspedal durch. Der Laster rumpelte über den zerstörten Straßenbelag. Das durchgesessene Sitzpolster übertrug die Stöße, und Pierre meinte, sogar das Rütteln der Kunstwerke auf der Ladefläche spüren zu können.

Die Abzweigung vom Paseo del Prado in Richtung der Gran Vía war ausladend. Dennoch hätte Pierre sie in der Dunkelheit um ein Haar übersehen. Die kalte Windschutzscheibe war vom warmen Atem der drei Passagiere beschlagen. Pierre trat auf die Bremse. Er setzte ein Stück zurück und bog links ab. Die Straßenzüge und Wohnblöcke lagen auch hier in Finsternis. Die Bomber luden ihre tödliche Fracht jetzt weiter im Westen ab. Der Widerschein der Feuer wirkte beinahe festlich.

In der Fahrbahn vor ihnen klaffte ein Loch. Eine Bombe hatte einen Krater in die Straße gerissen, so groß, dass die Fassaden der Geschäfte an der linken und rechten Seite hineingerutscht waren. Der Boden des Trichters war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Die Trümmer rauchten noch.

Pierre zog die Handbremse an und schlug auf das Lenkrad, dass es ihn schmerzte. »Daran kommen wir nicht vorbei.«

»Müssen wir auch nicht«, sagte Gérard.

»Hör endlich mit dem Gejammer auf!«, fuhr Pierre seinen Bruder an. »Ich sehe ja ein, dass wir sie nicht mehr finden werden. Aber versuchen mussten wir es wenigstens.« Er keuchte. »Also gut. Raus aus der Stadt!«

»Willst du dein Bild denn nicht mitnehmen?«, fragte Gérard.

Pierre funkelte seinen Bruder zornig an. Wollte Gérard ihn im Augenblick der Niederlage verspotten? Miguel streckte einen Arm aus und wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über die Windschutzscheibe. Durch die klaren Stellen auf dem Glas sah Pierre Las Meninas am Rand des Kraters stehen. Das Bild lehnte an einem verbogenen Laternenpfahl. Das goldene Haar von Prinzessin Margarita leuchtete selbst in der Dunkelheit aus der Leinwand hervor.

Die drei Männer sprangen aus dem Wagen.

»Raffa? María?«, rief Gérard.

»Auf und davon«, stellte Pierre fest.

»Und wenn sie getroffen wurden?« Gérard kletterte zwischen den Trümmern umher.

»Dann wäre das Gemälde auch zerstört«, antwortete Pierre. Er trat an das Bild heran. Als er über den Rahmen strich, stellte er an einer Stelle einen Riss fest. Die Leinwand selbst schien jedoch unbeschädigt zu sein.

»Sie sind vermutlich da rüber.« Er deutete über den Krater. Daraus ragten beindicke Kabel hervor wie das zerrissene Gedärm der Stadt. An einer Stelle türmte sich Schutt in dem Loch, hoch genug, um darüberzubalancieren. »Aber sie konnten das Bild nicht mitnehmen.«

Ein Wind zog durch die Straße. Etwas knisterte. An einer der Ruinen baumelte die Leuchtreklame eines Zigarettengeschäfts und flackerte auf. Tabacos. Efectos Timbrados. Lotería leuchtete es in roten und gelben Buchstaben.

»Pierre!«, rief Gérard. »Das Licht!« Mit drei Sätzen hatte Pierre das Schild erreicht, packte das baumelnde Kabel und riss es heraus. Die Reklame erlosch.

Für einen Moment standen die Männer still und schauten zum Nachthimmel hinauf. Hatte einer der Bomberpiloten das Leuchten gesehen? Aus Richtung des Linarespalastes war das Blubbern großer Motoren zu hören. Doch es kam nicht näher.

»Schnell jetzt«, rief Pierre und lief mit Gérard zu dem Gemälde. Miguel wollte ihnen folgen, aber Pierre schickte ihn zurück. »Wende den Wagen. Damit wir gleich losfahren können.« Wie sie das großformatige Kunstwerk in dem vollen Laderaum unterbringen sollten, musste sich noch herausstellen.

Pierre postierte sich an einem Ende des Bildes, Gérard am anderen. Unter ihren Stiefeln knirschte der Schutt. »Pass auf, dass du die Leinwand nicht berührst«, sagte Pierre. Sie hoben den Rahmen an. Das Gemälde war leichter, als seine Größe vermuten ließ. Kein Wunder, dass ihre Kameraden geglaubt hatten, sie könnten es auch ohne Fahrzeug in Sicherheit bringen.

Pierre ging rückwärts in Richtung des Lasters. Er hörte den Wagen anspringen. Das dumpfe Tuckern hallte durch die leere Straße. Miguel setzte zurück und würgte dabei den Motor ab. Als er ihn wieder anließ, flammten die Scheinwerfer auf. Die Lichtfinger schnitten Pierre und Gérard mit dem Gemälde aus der Dunkelheit.

»Licht aus!«, brüllte Gérard. Doch nichts geschah.

Miguel stieg aus der Fahrerkabine. »Ich bin an den Schalter geraten, und jetzt finde ich ihn nicht wieder.«

»Links unter dem Blinker«, rief Pierre. Wusste Miguel, wo der Blinker war?

»Was?«, rief Miguel zurück.

»Unter dem Blinker«, rief Pierre noch einmal. Erst da fiel ihm auf, dass er gegen den Lärm eines sich nähernden Flugzeugs anschrie.

Im nächsten Moment war der Bomber über ihnen.

»Weg!«, brüllte Pierre seinem Bruder zu. Er ließ das Bild los. Er bemerkte noch, dass es langsam zur Seite kippte. Dann sprang er in den Bombenkrater hinein.

Er kam hart auf dem Rücken auf. Etwas landete auf seiner Brust, und ihm blieb die Luft weg. Ein Knall war zu hören, dann die sich entfernenden Motoren des Flugzeugs.

Pierre schlug die Augen auf. Über dem Rand des Kraters war Feuerschein zu sehen. Gérard lag auf ihm. Auch er hatte sich in den Bombentrichter geworfen. Hoffentlich war er wohlauf. Hoffentlich hatte das Gemälde keinen Schaden genommen.

»Aufstehen, Gérard«, sagte Pierre. Er schob seinen Bruder von sich herunter. Gérards schlaffer Körper rollte zur Seite und blieb reglos liegen.

»Ich muss dich doch wohl nicht hier raustragen«, witzelte Pierre gegen die Sorge an, die seine Stimme zu lähmen versuchte. Er beugte sich neben Gérard und fasste an dessen Arm entlang zu seiner Schulter, zu seinem Hals hinauf.

Erst jetzt bemerkte er die warme Feuchtigkeit, die sein Hemd durchdrang, an der Stelle, an der sein Bruder auf ihm gelegen hatte.

»Steh auf!«, rief Pierre. Er tastete nach Gérards Hals, um den Puls zu fühlen. Schon bevor seine Finger die Wunde fanden, wusste er, dass sein Bruder tot war.

Kapitel 2

PARIS, LOUVRE, JUNI 1939

In ganz Paris hörte man den Krieg. Dabei war er noch gar nicht ausgebrochen. Wie gewöhnlich tranken die Menschen ihren Pastis im Café um die Ecke, tauschten Küsse im Jardin du Luxembourg, flanierten an den Modehäusern der Rue du Faubourg Saint-Honoré entlang, gingen ihrer Arbeit nach oder lehnten sich aus dem Fenster, um dem Treiben zuzusehen. Doch unter der dünnen Haut der Normalität brodelte es. Jede Plauderei über die jüngste Theaterpremiere, über die Preise von Fleisch, über die ungewollte Schwangerschaft der Nachbarstochter führte unweigerlich zu dem Thema, das eigentlich alle vermeiden wollten: Adolf Hitler hatte im März das Münchner Abkommen gebrochen und die Tschechoslowakei vollständig besetzt. Was würde als Nächstes kommen?

»Der Krieg«, sagte Henri Verne, »ist unvermeidbar.« Der Direktor des Louvre saß hinter seinem Schreibtisch im Verwaltungstrakt des Museums. Die Wände seines Büros waren mit Bildern tapeziert: Fotografien schneidiger Offiziere, Skizzen von Jünglingen am Sterbebett der Geliebten, Seestücken und barocken Damen mit frivol verrutschten Dekolletés. Dazwischen standen Regale mit orientalisch anmutenden Artefakten und kunstvollen Parfümflakons. An einem Haken hing ein Gewehr mit Steinschloss, das aus dem vorletzten Krieg zu stammen schien. Vernes Büro war ein Museum im Museum. Und der graubärtige Leiter des Louvre, dem alle französischen Nationalmuseen unterstanden, hockte inmitten der Sammlung wie ein Fossil. Ein Fossil, das qualmte.

Henri Verne zog an einer Zigarre, blies Rauch gegen die Decke und ließ die Asche zu Boden fallen. »Ich verstehe immer noch nicht, was Sie an unserem Plan zur Evakuierung des Louvre auszusetzen haben, General Potard.«

»Ihr Plan, Monsieur Verne, ist ganz ausgezeichnet«, sagte der Angesprochene, auch er ein Mann im fortgeschrittenen Alter, mit federigem weißem Haar und rosigen Wangen. Er saß in einem Sessel vor Vernes Schreibtisch. Sein in einer schwarzen Uniform steckender Leib hatte die Form eines Apfels, aus dem Stöcke als Arme und Beine herausragten. »Ich bin sicher, dass all dies 1933 funktioniert hätte.« Potard wedelte den Rauch beiseite, der von Vernes Zigarre zu ihm herüberzog. »Allerdings schreiben wir das Jahr 1939. Und die Zeiten, mein Bester, haben sich geändert, sie sind ungewisser denn je, wie wir gerade erfahren müssen.«

»Dann erklären Sie uns, warum Direktor Verne irren sollte, General«, sagte ein junger Mann, der in einem zweiten Sessel neben Potard saß. Er hatte ein Jungmännergesicht mit aufgekämmtem Stutzbärtchen und kurz geschnittenem lockigem Haar. »Der Plan des Direktors ist ein Meisterwerk. Wenn die Deutschen tatsächlich Frankreich angreifen sollten, könnten wir den Louvre damit im Handumdrehen leer räumen.«

»Das bestreite ich auch gar nicht, Monsieur Récine«, erwiderte Potard. »Was mir daran nicht gefällt, ist das, was nach der Evakuierung kommen soll. Die Orte, an denen Sie die Kunstwerke vor der Wehrmacht verstecken wollen, sind dafür ungeeignet. Wenn die Deutschen Paris besetzen sollten – was Gott verhüten möge – werden sie genauso denken wie Monsieur Verne. Und dann werden Frankreichs Kunstschätze entdeckt und nach Berlin abtransportiert werden. Und zwar im Handumdrehen, wenn Sie erlauben, dass ich Ihren Ausdruck verwende.«

Récine richtete sich in seinem Sessel auf, lehnte sich zu Potard hinüber und holte tief Luft. Doch bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich der Direktor ein. »Wo bleibt denn nun ihr Experte, General? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Wieder stieß er eine Rauchwolke aus.

Potard zog eine Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf und schaute auf die Zeiger. »Noch zwei Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt. Colonel Delort wird pünktlich hier sein. Verlassen Sie sich drauf.«

»Stimmt es, was man sich über ihn erzählt?«, fragte Récine. »Dass er in Madrid gescheitert ist?«

»Colonel Delort ist es gelungen, den Prado vollständig zu evakuieren, bevor die Faschisten Madrid einnehmen konnten«, erklärte Potard mit ruhiger Stimme. »Alle Kunstwerke haben Spanien unbeschadet Richtung Genf verlassen. Bezeichnen Sie das als gescheitert?«

»Er soll Menschenleben aufs Spiel gesetzt haben«, entgegnete der junge Mann. »Wie man hört, war Las Meninas mit Blut gesprenkelt, als das Gemälde in Genf eintraf. Die Restauratoren können die Flecken angeblich nicht mehr entfernen.«

Potard räusperte sich. »Sie sind gut informiert, Monsieur. Allerdings ist das Blut nur auf der Rückseite des Rahmens zu sehen. Die Leinwand ist unbeschädigt. Gérard Delort, der Bruder des Colonels, hat die Druckwelle einer Detonation mit seinem Leib abgefangen und das Bild dadurch vermutlich gerettet. Er selbst ist ums Leben gekommen.«

»Eine tragische Geschichte«, sagte Verne. Die Zigarrenspitze wackelte zwischen seinen Zähnen.

»Wie soll jemand, der andere solche Risiken eingehen lässt, dabei helfen, die größten Kunstwerke Frankreichs vor den Deutschen zu retten?«, fragte Récine scharf. »Wollen Sie ein Blutbad im Louvre anrichten?«

»Fragen Sie doch den Colonel selbst«, sagte Potard. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging zur Tür. Dort blieb er stehen, in der rechten Hand die Türklinke, in der linken seine Taschenuhr. Einen Augenblick wartete er noch, den Blick auf die Zeiger geheftet. Dann zog er die Tür auf und sagte: »Kommen Sie herein, Pierre.«

Im Eingang stand ein Mann mit langem Kinn und dünnem Oberlippenbart. Er trug die Uniform der Offiziere im französischen Heer: schwarze polierte Schuhe, eine rote Hose mit einem schwarzen Streifen an den Seiten, eine schwarze Jacke mit silbernen Aufschlägen und Epauletten auf den Schultern sowie einen runden Hut, der das Rot, Schwarz und Silber der anderen Kleidungsstücke aufnahm. Colonel Delort sah elegant aus, aber unter seinen großen braunen Augen lagen Schatten, und seine Wangen waren eingefallen.

»Messieurs«, sagte General Potard, »ich stelle Ihnen Pierre Delort vor. Colonel im vierten Regiment der Rad fahrenden Dragoner.«

Delort salutierte mit weiß behandschuhter Hand.

Henri Verne erhob sich und winkte den Gast mit der Zigarre in den Raum. Die Männer gaben sich über den Schreibtisch hinweg die Hand.

»Colonel Delort«, hob Verne an. »Ich freue mich, dass Sie Zeit für uns gefunden haben. Wir werden Sie nicht lange aufhalten. Darf ich Ihnen Doktor Gaston Récine vorstellen? Er ist mein Stellvertreter.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Colonel.« Récine stand auf und schüttelte Pierres Hand. »Rad fahrende Dragoner?«, fragte er. »Was muss man sich denn darunter vorstellen?«

»Unser Regiment war früher mit Fahrrädern ausgestattet«, antwortete Pierre. »Dadurch hatte es eine hohe Marschgeschwindigkeit und konnte sich lautlos bewegen. Außerdem waren die Fahrzeuge leicht zu reparieren und brauchten kein Benzin. Vorteile, die im Feld nützlich sein können.«

Récine schien nach einem Anflug von Ironie in Pierres Worten zu suchen. »Würde sich die Kriegsmaschine der Wehrmacht von Soldaten auf Fahrrädern aufhalten lassen?«

Pierre ließ die Hand los. »Das wäre eine interessante Möglichkeit, Monsieur. Aber das Oberkommando des Heeres hat schon vor Jahren entschieden, unsere Fahrräder gegen Motorräder mit Beiwagen auszutauschen. Nur der Name unseres Regiments ist geblieben. Ich fahre allerdings noch immer mit dem Rad durch Paris.«

»Messieurs«, sagte Henri Verne, »wir wollen über die mögliche Evakuierung des Louvre sprechen. Fahrräder werden dabei gewiss nicht zum Einsatz kommen.« Der Direktor trat zu einer Landkarte an der Wand, die zwischen den Gemälden wie ein weiteres Kunstwerk wirkte. Sie zeigte Frankreich.

»Wie Sie wissen, besteht die Möglichkeit, dass Hitler Frankreich angreifen wird.« Er schaute in die Runde. Die drei Männer nickten und traten näher an die Karte heran. »Wir müssen mit Bomben auf Paris rechnen. Der Louvre könnte in Flammen aufgehen. Und selbst wenn die Wehrmacht die Stadt besetzt, ohne sie in Trümmer zu legen, wird Hermann Göring nichts Eiligeres zu tun haben, als unsere Museen zu plündern, um unseren nationalen Kunstschatz in seine Privatsammlung zu überführen. Berlin, Messieurs, giert danach, endlich den Schlüssel zu unseren Schatzkammern in die Finger zu bekommen. Das müssen wir verhindern.«

»Koste es, was es wolle!«, rief Récine ein wenig zu laut.

Verne fischte eine große Brille mit Hornfassung aus der Brusttasche seines Jacketts und setzte sie auf. Dann deutete er mit der Spitze seiner Zigarre auf die Karte. »Paris und der Louvre«, sagte Verne. »Hier sind Zehntausende Kunstwerke untergebracht. Wir können unmöglich alle retten. Deshalb habe ich eine Auswahl getroffen. Ich glaube, dass es uns gelingen kann, eintausend der wichtigsten Objekte zu evakuieren. Die weniger bedeutenden Werke überlassen wir aber auch nicht einfach den Nazis. Wir verstecken sie unter dem Museum. Wie Sie vielleicht wissen, war der Louvre einst eine Festung. Und die alten Grundmauern und Gewölbe sind noch immer vorhanden. Nur weiß kaum jemand, wie man hineingelangt, am allerwenigsten die Deutschen. Dorthin bringen wir alles, was nicht evakuiert werden kann. Da sind die Kunstwerke vor dem Zugriff des Feindes und sogar vor Bombenangriffen sicher.« In den Augen des Direktors blitzte es. »Und das ist noch nicht alles! Die unbedeutendsten Gemälde verbergen wir so schlecht, dass die Deutschen auf ihre Spur stoßen werden. Göring wird alles daransetzen, dieser Fährte zu folgen. Und am Ende wird er mit einer Handvoll zweitklassiger Kunst dastehen. Zugleich wird ihn die Aussicht auf Erfolg blind machen und von den wirklich bedeutenden Objekten ablenken, die bis dahin für ihn unerreichbar sein werden.«

»Bravo!« Récine applaudierte. »Monsieur Verne, Sie sind ein Genie.«

»Tatsächlich.« Potard nickte zurückhaltend. »Ein formidabler Plan. Was halten Sie davon, Colonel Delort?«

»Unterschätzen Sie die Deutschen nicht«, sagte Pierre. »Die SS wird ein geheimes Magazin unterhalb des Louvre früher oder später aufstöbern, es sei denn, Sie vernichten alle schriftlichen Informationen darüber und bringen jeden zum Schweigen, der davon weiß.«

»Zum Schweigen bringen?«, wiederholte Récine. »Sollen wir unsere Angestellten etwa hinrichten lassen? Wir sind doch nicht im alten Ägypten.«

Pierre lächelte den jungen Mann an. »Wenn die Deutschen erst einmal hier sind, werden Sie sich noch wünschen, im Reich der Pharaonen zu leben, Doktor Récine. Glauben Sie mir. Ich habe in Spanien erlebt, wozu Faschisten fähig sind.«

»Bei allem Respekt vor dem, wozu Sie selbst fähig sind«, erwiderte Récine. »Methoden wie Ihre können wir in Paris nicht dulden.«

»Von welchen Methoden sprechen Sie?« In Pierres Stimme lag ein lauernder Unterton.

»Messieurs«, unterbrach Henri Verne, »bitte bleiben Sie bei der Sache. Doktor Récine, schenken Sie uns bitte Cognac ein.« Er deutete auf ein Wägelchen neben seinem Schreibtisch, auf dem Flaschen und Gläser aufgereiht waren.

Récine schaute seinen Vorgesetzten fragend an. »Monsieur le Directeur?«

»Wir könnten jetzt alle einen Schluck vertragen«, fuhr Verne fort. »So ist es doch, nicht wahr, Messieurs?«

»Ich habe Ihre Flasche Montaubert schon geraume Zeit im Visier«, stimmte General Potard zu.

Récine blieb nichts übrig, als der Aufforderung Folge zu leisten. Während er sich mit klingelnden Geräuschen an dem Cognacwagen zu schaffen machte, sprach Verne weiter.

»Sie glauben also, Colonel Delort, dass die Nazis das Versteck unter dem Louvre finden würden?«

»Das ist keine Frage von glauben,« antwortete Pierre. »Ich bin sicher.«

»Welches Vorgehen würden Sie stattdessen empfehlen?«, wollte Verne wissen.

Récine ging mit einem Tablett voller Gläser herum. Pierre bediente er als Letzten. Die Männer tranken.

»Ich würde den gesamten Louvre evakuieren«, sagte Pierre.

»Alles?«, platzte es aus Verne heraus. »Wissen Sie, wovon Sie da sprechen?«

»Von viertausenddreihundertundachtzehn Gemälden sowie fünfzehntausendvierhundertunddrei Reliefs, Zeichnungen, Skulpturen und Kunstobjekten«, zählte Pierre auf. »Die jüngsten Neuzugänge vom 16. März mitgerechnet.«

»Unmöglich!« Récine lachte freudlos über den Rand seines Glases hinweg. »Niemand kann das schaffen.«

Pierre warf dem jungen Mann einen finsteren Blick zu. »Sie finden den Versuch, Frankreichs Kunst vor den Deutschen zu retten, belustigend?«

»Uns fehlen die Möglichkeiten, alles in Sicherheit zu bringen«, sagte Henri Verne. »Deshalb hatte ich eine Auswahl getroffen.«

»Wohin wollen Sie die tausend ausgewählten Stücke denn bringen, Monsieur Verne?«, fragte Pierre.

»Darüber hat sich Doktor Récine den Kopf zerbrochen.« Verne nickte seinem Stellvertreter zu. »Bitte, zeigen Sie den Herren, was Sie sich überlegt haben.«

Récine stellte sich neben den Direktor und tippte mit einem Finger gegen die Karte. »Wir bringen die Kunstwerke hierher, in den Westen Frankreichs. Dort sind sie so weit wie möglich von den Kampfhandlungen entfernt. Wir gehen nämlich davon aus, dass die Deutschen von Osten her angreifen werden. Außerdem können wir von Westen aus alles rasch nach England bringen, wenn es nötig werden sollte.«

Verne sah Pierre an. »Wie ist Ihre Meinung dazu, Colonel?«

Pierre ging an Récine vorbei zu der Karte und bedeckte den gesamten Westen Frankreichs mit der linken Hand. »Hier im Westen liegt die Küste. Das ist kein Vorteil für Sie, sondern ein Risiko. Was glauben Sie, wird Hitler als Erstes unternehmen, sobald er Frankreich unter Kontrolle hat? Er wird die Westküste sichern. Er wird die Häfen besetzen, um von dort aus den Atlantik beherrschen zu können. Doktor Récine, die Deutschen werden schneller im Westen Frankreichs sein als eine Katze, die einen Kettenblitz überholt. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wenn Sie in den Westen evakuieren, können Sie die Louvre-Kunst auch gleich direkt nach Berlin schaffen.«

»Sie sind so impertinent wie uninformiert«, blaffte Récine. »Hitler wird sich mit Paris zufriedengeben. Wenn er überhaupt bis an die Seine kommt, kann er von Glück reden, wenn er die Hauptstadt halten kann. Die Deutschen haben nicht genug Truppen, um ganz Frankreich zu besetzen. Der Westen ist unsere beste Wahl!«

Pierre nahm die Hand von der Karte. »Wie Sie meinen.«

»Wo läge Ihrer Meinung nach ein besseres Versteck?«, fragte Henri Verne.

Pierre trat zu ihm und pflückte ihm die Zigarre aus den Fingern. Dann zeigte er mit der glimmenden Spitze auf die Landkarte, auf fünf Orte, die in einer Reihe in der Mitte Frankreichs lagen.

»Dort«, sagte Pierre, »dort, dort, dort und dort befinden sich die Schlösser an der Loire.« Am letzten Punkt bildete sich ein verkohlter Kreis. Pierre zog die Zigarre rasch zurück. »Bessere Schlupfwinkel für die Kunst des Louvre werden Sie in Frankreich nicht finden.«

»Schlösser?«, fragte Verne und schaute amüsiert auf das glimmende Loch in seiner Landkarte. »Sind die nicht ein bisschen auffällig?«

»Außerdem sind sie doch gerade mal hundertfünfzig Kilometer von hier entfernt«, warf Récine hitzig ein. »Das ist viel zu nah an Paris.«

»Und genau das«, erklärte Pierre, »ist der Vorteil. Sie können die Kunstwerke rasch in Sicherheit bringen. Jeder Kilometer, den die jahrhundertealten Gemälde und brüchigen Statuen zurücklegen müssen, kann ihnen schaden. Überdies müssen die Evakuierungstrupps Kontakt nach Paris halten. Ihre Leute könnten krank werden, während sie die Kunst bewachen. Dann brauchen Sie Medizin und Ersatzkräfte. Je nachdem, wie lange die Deutschen in Frankreich bleiben, werden Sie auch einzelne Werke zurück nach Paris schaffen wollen, um sie restaurieren zu lassen.« Pierre deutete mit der Spitze der Zigarre wieder auf die Landkarte. »Zudem liegen die Schlösser isoliert in der Landschaft. Keine Industrieanlagen in der Nähe, keine wichtigen Straßen oder Brücken. Niemand wird diese Orte bombardieren wollen. Und wenn es doch einen Angriff geben sollte, so können die Mauern einiges aushalten. Schließlich waren das früher Festungen. Sie haben nicht nur feindlichen Armeen, sondern auch der Zeit die Stirn geboten.«

Pierre gab Henri Verne die Zigarre zurück. Der Museumsleiter schaute auf das fast erloschene Ende. »Das sind eine Menge Argumente, die für Ihren Vorschlag sprechen«, sagte der Direktor des Louvre.

»Es sind noch nicht alle«, fuhr Pierre fort. »Jedes der Schlösser verfügt über eine eigene Wasserversorgung.«

»Das bedeutet ja wohl, dass die Mauern feucht sind«, warf Récine ein. »Damit sind die Châteaux zur Aufbewahrung von Gemälden ungeeignet.«

Pierre nickte. »Feuchtigkeit und Temperatur müssten natürlich kontrolliert werden. Aber dafür garantiert die Wasserversorgung, dass Sie Brände löschen können. Wir sprechen von betagten Leinwänden, die so trocken sind, dass sie brennen wie Papier.«

»Einige sind sogar aus Papier zusammengeleimt«, ergänzte Henri Verne, der sich für Pierres Vorschlag zu erwärmen schien.

»Haben Sie auch an die Kastellane gedacht?«, fragte Récine. Er füllte sein Glas zum zweiten Mal. »Die sind doch alle rechtsnational. Was ist, wenn sie mit den Nazis gemeinsame Sache machen?«

»Ein guter Einwand«, gab Pierre zu. »Tatsächlich gehören die Eigentümer der Schlösser eher dem rechten politischen Lager an. Aber das bedeutet nicht, dass sie Hitlers Ziele unterstützen. Im Gegenteil. Sie könnten ebenso gut dabei helfen wollen, das nationale Erbe Frankreichs zu schützen. Das hängt von denjenigen ab, die mit den Schlossherren verhandeln.«

»Oder davon, welchen Druck unsere Regierung auf diese Leute ausübt«, ergänzte General Potard.

Henri Verne starrte auf die Landkarte. Mit einem Finger strich er über das Loch, das Pierre in den Karton gebrannt hatte. »Würden Sie uns helfen, Colonel Delort?«, fragte er schließlich. »Sie scheinen der richtige Mann für diese Aufgabe zu sein. Natürlich würden Sie mit Doktor Récine zusammenarbeiten.«

Die beiden Männer sahen sich an.

»Monsieur Verne«, brach es aus dem jungen Mann heraus. »Ich …«

»Keine Sorge«, versuchte Pierre, den anderen zu beruhigen. »Sie müssen sich nicht mit mir herumschlagen. Ich bin nur als Berater hier. Und das auch nur heute. Als Offizier werde ich gebraucht, um die Landesgrenzen zu sichern. Für die Kultur Frankreichs sind Sie zuständig, Messieurs. Ich bin sicher, es gibt keine besseren Männer für diese Aufgabe.«

Récine schaute Pierre missmutig an.

Henri Verne schüttelte den Kopf. »Das ist schade. Wir könnten jemanden mit Ihrem Weitblick und Ihrer Erfahrung in unserem Stab brauchen, Colonel Delort. Vielleicht kann ich General Potard dazu bringen, Ihnen einen entsprechenden Befehl zu geben?« Der Direktor schmunzelte.

Potard trank den letzten Schluck Cognac. Dann drückte er Récine das leere Glas in die Hand. »Befehle? Damit kann ich Soldaten in die Schlacht schicken. Die Aufgabe, die Sie dem Colonel antragen wollen, ist weitaus schwieriger. Auf den Schultern derjenigen, die die Kunst Frankreichs retten müssen, lastet eine Verantwortung, die selbst Atlas in die Knie zwingen würde.«

»Bedauerlich«, sagte Henri Verne. »Dennoch danke ich Ihnen für Ihre Hilfe. Wir werden eine Liste aller infrage kommenden Schlösser im Loiretal zusammenstellen und dann entscheiden, was zu tun ist. Wie kann ich mich für Ihre Mühen erkenntlich zeigen?«

»Evakuieren Sie so viele Objekte wie möglich«, sagte Pierre. »Jedes Stück, das vor den Deutschen gerettet wird, ist ein Gewinn. Für Sie. Für mich. Für uns alle.«

Potard klopfte Pierre auf den Rücken. »Da sehen Sie es: Unsere Offiziere sind selbstlos. Sie denken immer nur an Frankreich. Aber ich als alter Egoist hätte noch einen Wunsch, den zu erfüllen in Ihrer Macht steht, Monsieur Verne.«

Der Direktor wedelte mit der erkalteten Zigarre. »Raus mit der Sprache, General.«

»Gestatten Sie dem Colonel und mir einen Rundgang durch den Louvre. Es wäre schön, wenn wir einen letzten Blick auf die Kunstschätze unseres Landes werfen könnten, bevor sie auf unbestimmte Zeit verschwinden.«

Kapitel 3

PARIS, LOUVRE, JUNI 1939

Pierre und General Potard traten ins Freie und überquerten den Innenhof des Louvre. Rings um sie her wuchs die Fassade des einstigen Königspalastes in den Himmel. Die Geräusche der Stadt drangen gedämpft herüber. Ein leichter Sommerregen raschelte in den Bäumen, und die Schritte der Männer knirschten auf dem Kiesweg.

»Sie sollten noch einmal über Vernes Bitte nachdenken, Colonel«, sagte Potard, der nun dieselbe Art Militärkappe trug wie Pierre. »Das Museum könnte Ihre Hilfe gebrauchen. Dieser Récine ist nur ein Emporkömmling. Als Fachmann kann er jemandem wie Ihnen nicht das Wasser reichen.«

»Aber den Cognac«, sagte Pierre. »Das genügt mir.«

Sie betraten den Sully-Flügel mit der Sammlung griechischer und römischer Kunst. Der Saal der Karyatiden empfing sie mit dem Duft von Reinigungsmitteln. Die feuchten Schuhe der Männer quietschten auf den Marmorfliesen. Bleiche Skulpturen säumten die Wände. Pierre kannte sie alle: die Artemis von Versailles, wie sie mit elegantem Griff einen Pfeil aus ihrem Köcher zog, die Nackte beim Bade, die sich die Wade abtrocknete, den Ringer, der mit dem Schabeisen das Öl von seiner Haut kratzte, den Kentauren, auf dessen Rücken ein Putto ritt und den Pferdemann ausgelassen neckte. Alle Figuren waren so lebensecht aus dem Stein geholt, dass man meinen konnte, sie seien angesichts der Besucher vor Schreck erstarrt und würden im nächsten Moment wieder zum Leben erwachen.

Schon als Kind hatte Pierre den Louvre geliebt und sein Taschengeld für den Eintritt ins Museum ausgegeben, während seine Freunde lieber in die neuartigen Kinos gegangen waren. Niemand hatte Pierre damals in die Galerien begleiten wollen, nicht einmal Gérard. Wer wollte schon Bilder sehen, die sich nicht bewegten? Bei der Erinnerung an seinen Bruder spürte Pierre die Wunde des Verlustes brennen.

»Warum sind wir hier, General?«, fragte er. »Sie kennen das Museum genauso gut wie ich.«

Sie hatten das Daru-Treppenhaus erreicht. Über ihnen, auf einem Absatz, erhob sich die Nike von Samothrake. Die Statue der griechischen Siegesgöttin war riesig, hatte aber keinen Kopf. Niemand konnte sagen, wohin ihr Blick einst gerichtet war. Aber in diesem Moment war es Pierre, als schaute die Göttin zu ihm hinunter.

»Warum wir hier sind?«, fragte Potard mit seiner kehligen Altmännerstimme und begann mit seinen Streichholzbeinen die Stufen hinaufzustaksen. Pierre folgte ihm. »Damit wir uns ein Bild davon machen, welche Herausforderungen auf Verne und Récine zukommen werden.« Er blieb vor der drei Meter hohen Siegesgöttin stehen. »Wissen Sie, wie schwer diese Dame ist, Pierre?«

»Dreitausendneunhundert Kilogramm. Etwa vier Tonnen«, antwortete er. »Trotzdem gehört sie für mich zu den schönsten Frauen der Welt.« Als Kunststudent hatte Pierre stundenlang auf den kalten Stufen gesessen und die Nike gezeichnet. Er kannte jede Falte ihres Gewands, das Spiel ihrer darunter erkennbaren Muskeln, ihren Bauchnabel, der durch den eng anliegenden Stoff sichtbar war und den Eindruck erweckte, der Stein habe sich unter den Händen des unbekannten Bildhauers in Gewebe verwandelt. Manchmal hatte Pierre der Statue auf dem Papier einen Kopf gezeichnet. Doch niemals war er damit zufrieden gewesen. Nur der antike Meister, der die Nike geschaffen hatte, hatte ihr ein Gesicht verleihen können, das der Schönheit ihres Körpers angemessen war.

Potard lächelte und fuhr fort. »Können Sie sich vorstellen, was mit der Nike geschehen wird, wenn Doktor Récine für den Transport zuständig ist?«

Das war es also. Der General wollte ihn zur Mithilfe bei der Evakuierung des Louvre überreden, indem er Pierres Sorge um die Kunstwerke schürte.

»Mon Général«, sagte Pierre unverwandt. »Ich stehe für diese Aufgabe nicht zur Verfügung. Ich bin nicht mehr … geeignet.«

Potard sah unter dem schmalen Schirm seiner Kappe zu ihm herüber. »Colonel?«

»Darf ich frei sprechen?«, fragte Pierre.

»Ich befehle es«, sagte Potard. Pierre war nicht sicher, ob der General einen Scherz machte.

»In Madrid habe ich die Kontrolle verloren. Über das Unternehmen und über mich selbst.«

»Das kann passieren«, sagte Potard. »Was zählt, ist, dass Sie den Auftrag erfüllt haben.«

»Leider muss ich widersprechen. Es fehlte ein Gemälde«, sagte Pierre. »Las Meninas.«

»Ich habe gehört, dass Sie dem Bild durch die brennende Stadt hinterhergefahren sind. Und davon, was mit Ihrem Bruder geschehen ist.«

Pierre zögerte, bevor er weitersprach. »Gérard hat versucht, mich zurückzuhalten. Er meinte, dass kein Kunstwerk ein Menschenleben aufwiegt. Er hatte recht. Und ich hätte auf ihn hören sollen.«

»Sein Schicksal ist tragisch. Es tut mir sehr leid, Pierre. Aber in Spanien herrscht Krieg. Und der Krieg tötet nun mal Menschen.« Potard trat näher an Pierre heran. »Eine deutsche Bombe hat Ihren Bruder getötet, Colonel Delort. Nicht Sie. Und bald könnten deutsche Bomben auch auf Paris fallen. Der einzige Unterschied wird sein, dass die Deutschen sie diesmal selbst abwerfen.«

Pierre schaute zu der Nike hinauf. Für einen Augenblick sah er den parischen Marmor bersten und tausend Splitter durch das Treppenhaus fliegen.

»Alors, Colonel«, schloss Potard. »Ich will Sie zu nichts zwingen. Obwohl ich es könnte. Begleiten Sie mich noch in die Grande Galerie?«

»Selbstverständlich, General«, sagte Pierre. Die Männer stiegen die Daru-Treppe wieder hinunter und wandten sich nach rechts. Schon nach wenigen Schritten öffnete sich der erste Saal der großen Gemäldegalerie vor ihnen. Bevor sie zu den Hauptwerken der französischen Kunst kamen, durchquerten sie einen kleinen Raum mit einer Sonderausstellung. Darin ging es um maritime Kunst. Ölgemälde von Segelschiffen in schwerer See waren zu sehen, Bronzegüsse von Dreimastern und Flaschenschiffe mit vielen Details. Die Modelle hielt Pierre zwar nicht gerade für Kunst, aber doch für beachtenswerte Exempel menschlicher Kunstfertigkeit.

»Schauen Sie!« Potard führte Pierre zu einem düsteren Bild an der Südwand der Galerie hinüber. Die Grau- und Blautöne auf der Leinwand standen in einem starken Kontrast zum dunklen Rot des Wandputzes. Das Gemälde stellte eine Seeschlacht dar. Ein Schiff in der Mitte stand unter Beschuss und verlor gerade seinen Hauptmast.

»Ein Gudin«, sagte Pierre. »Die Schlacht am Cap Lizard«, fuhr er fort, ohne den Titel des Bildes von dem Messingschild darunter ablesen zu müssen. »Es hängt normalerweise im historischen Museum von Versailles. Ich habe es lange nicht gesehen.«

Potard stellte sich vor das Gemälde und reckte den Kopf in die Höhe. »Imposant«, sagte er. »Ein Seegefecht. Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Faible für die Marine haben, Colonel.« Unter Potards grauem Bart zuckte ein Lächeln.

Pierre deutete auf das auseinanderbrechende Schiff. »Sehen Sie die realistische Darstellung der Zerstörung? Das Flattern der Segel? Wie die Leinen schlaff werden, wenn der Mast kippt?«

»Beeindruckend, wirklich«, pflichtete der General ihm bei, »geradezu schaurig, wenn man sich vorstellt, wie …«

»Gudin hat intensive Recherchen betrieben, bevor er anfing, ein Bild zu malen«, berichtete Pierre.

»Hat er selbst an Seeschlachten teilgenommen?«, wollte Potard wissen.

»Nein. Er hat Schiffsmodelle gesammelt. Wunderschöne Miniaturen aus Holz mit so feiner Bemalung, dass sie nur von Kindern vorgenommen werden konnte. Schon das Augenlicht eines Fünfzehnjährigen hätte dafür nicht mehr ausgereicht. Dafür soll Gudin sein letztes Geld ausgegeben haben. Und wenn er genug davon im Atelier hatte, nahm er einen Knüppel und schlug alles zusammen.«

Potard zog die Brauen hoch. »Warum denn das, um Himmels willen?«

Noch einmal deutete Pierre auf das Bild. »Um zu sehen, wie ein zerstörtes Schiff auseinanderfällt.«

Für einen Augenblick schauten die Männer stumm auf die Seeschlacht am Cap Lizard. Dann sagte Pierre: »Der Wahnsinn eines Künstlers steht dem des Krieges bisweilen in nichts nach.«

Als sie in die Galerie italienischer Kunst eintauchten, war Pierre versucht, stehen zu bleiben, die Augen zu schließen und die Gerüche einzusaugen. Doch er hätte General Potard für dieses Verhalten eine Erklärung geben müssen, also begnügte er sich damit, beim Abschreiten der größten Gemälde Frankreichs tief ein- und auszuatmen.

Vor der Hochzeit zu Kana blieben die Männer stehen. Das Gemälde von Veronese war das größte des Louvre. Einige behaupteten sogar, es sei das größte Bild, das jemals auf eine Leinwand gemalt worden war. Mitsamt Rahmen maß es beinahe zehn Meter in der Breite und sieben Meter in der Höhe.

Pierre und Potard zogen sich zur gegenüberliegenden Wand der Galerie zurück, um das monumentale Werk erfassen zu können.

»Jesus verwandelt Wasser in Wein«, beschrieb Potard das Thema des Bildes. »Wenn ich mich recht erinnere.«

Pierre nickte und setzte an, Potard auf Details des Gemäldes aufmerksam zu machen, aber der General sprach schon weiter.

»Wissen Sie, wie das Bild hierhergekommen ist, Pierre?«

»Napoleons Truppen haben es aus einem Kloster bei Venedig mitgenommen, San Giorgio Maggiore. Dort soll es den Speisesaal geschmückt haben.«

»Das meine ich nicht«, erwiderte Potard. »Wissen Sie, wie die Soldaten es transportiert haben?«

Pierre runzelte die Stirn. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Das Gemälde hing hier schon, als er den Louvre zum ersten Mal betreten hatte. Für Pierre war es ebenso Bestandteil des Museums wie dessen Wände und das gläserne Dach der Galerie. »Sie haben es zusammengerollt«, riet er.

»Absurd!«, stieß Potard hervor. »Es wäre immer noch zu groß gewesen.«

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter, General. Wie haben Napoleons Männer das Bild nach Frankreich bekommen?«

»Sie haben das getan, was Soldaten am besten können«, antwortete Potard und strich sich über den Bart. »Sie haben das Bild zerstört. Zerschnitten, um genau zu sein. Und dann haben sie es in zwei Teilen nach Paris gebracht.«

»Aber …« Pierre sah das riesige Gemälde an. Er kannte jeden der darauf abgebildeten hundertdreißig Menschen, hatte die Mienen ebenso studiert wie die Gesten: Christus im Strahlenkranz; den Majordomus, der prüfend ein Glas des verwandelten Weins hochhält; die drei Musiker, von denen man glaubte, es seien die Maler Veronese, Tizian und Tintoretto. »… aber das Bild ist doch heil.«

Potard bat Pierre, an die Leinwand heranzutreten. Als die Männer so nah vor dem Bild standen, wie es die Absperrung zuließ, hatte Pierre das Gefühl, in die Szene hineinsteigen zu können. In unmittelbarer Nähe wirkten die Personen darin lebensgroß. Und in dem bunten Gedränge, das an der Hochzeitstafel herrschte, wären zwei schwarz uniformierte Franzosen aus dem 20. Jahrhundert kaum aufgefallen.

»Napoleons Männer haben entlang des Geländers geschnitten, dass sich horizontal durch das Bild zieht. Später hat man die Leinwand auf der Rückseite wieder vernäht. Aber am Rand sieht man noch die Beschädigung.«

Pierre reckte den Hals. Er erkannte die hellen Striche auf den die Szene einrahmenden Säulen. Bislang hatte er geglaubt, es handele sich um Verwitterung.

»Diese Barbaren«, sagte er leise.

»Krieg und Kunst, mein Bester, gehen stets eine schändliche Verbindung ein.« Potard deutete auf einen Durchgang. »Haben Sie noch Zeit für einen Besuch bei unserer schönsten Dame?«

Die Mona Lisa hing in einem kleinen Raum des Denon-Flügels. Auch das Gemälde war klein, es wirkte nach dem monumentalen Hochzeitsfest von Veronese geradezu winzig. Dennoch füllte die Ausstrahlung des Porträts den Raum bis in den letzten Winkel aus.

Die Offiziere betrachteten das Bild einen Augenblick lang schweigend. Pierre sog die Luft ein. Da! Ein Hauch zog durch seine Nase und berührte seine Sinne. Der Geruch nach vergehenden Lilien. Der Duft der Mona Lisa.

»Wenn alle Gemälde in Europa zerstört werden müssten, und eines dürfte überdauern, so wäre es die Mona Lisa«, sagte Potard.

Pierre sah ihn überrascht an.

»Oh, das ist nicht von mir«, sagte Potard. »Ein Biograf Leonardo da Vincis hat das geschrieben. Aber ich stimme ihm zu.« Er wedelte mit einer Hand. »Natürlich rein hypothetisch. Niemals würden alle Kunstwerke Europas zerstört werden. Nicht, solange Leute wie Sie darauf achtgeben, non?«

Pierre beschloss, nicht auf Potards Provokation einzugehen. »Wissen Sie, wie die Mona Lisa von Italien nach Frankreich gekommen ist?«, fragte er stattdessen.

»Ich glaube, König François I. war Kunstliebhaber und hat Leonardo Geld gegeben«, antwortete der General.

»So ähnlich«, sagte Pierre. »Da Vincis vormaliger Mäzen war im März 1516 gestorben, und der französische König sprang in die Bresche. Er bot da Vinci den Posten als Erster Maler, Ingenieur und Architekt am französischen Hof an. Leonardo hat angenommen. Natürlich musste er dafür nach Frankreich kommen. Allerdings reiste man damals recht unbequem. Leonardo da Vinci ist auf einem Esel nach Frankreich geritten. Drei Monate soll er unterwegs gewesen sein.«

Der General schaute zu dem kleinen Porträt hinüber.

»Von all seinen Werken hat Leonardo drei ausgewählt und mit nach Frankreich gebracht: Johannes der Täufer, Anna selbdritt und die Mona Lisa.«

»Sie meinen …«, brach es aus Potard hervor.

»… dass die Mona Lisa auf einem Esel über die Alpen nach Frankreich gebracht wurde.« Pierre schmunzelte. »Sie sehen, mon Général, Kunst lässt sich auf ungewöhnlichste Art transportieren.«

»Wie wahr!«, stimmte Potard zu. »Und was erkennen wir aus all diesen Geschichten? Es kommt nicht so sehr darauf an, wie man ein Gemälde oder eine Skulptur befördert. Es kommt darauf an, wer darauf aufpasst.«

Zwei Frauen kamen in den Saal und stellten sich vor die Mona Lisa. Eine trug einen runden Hut mit einer Feder. Das kleine Gemälde verschwand dahinter. Und der kaum wahrnehmbare Geruch nach sterbenden Lilien versank unter dem eines aufdringlichen Parfums.

Pierre und Potard sahen sich an. Dann zuckte der General mit den Schultern. »Kommen Sie, Pierre, lassen wir die drei Damen allein.«

Auf den Stufen vor dem Haupttor verabschiedete sich Potard von Pierre. Hinter den beiden Männern lag der stille Tempel der Kunst, vor ihnen die lärmende Stadt.

»Colonel«, sagte der General, »selbst wenn Sie jedes einzelne dieser Kunstwerke auf einem Esel aus Paris bringen müssten, kämen alle unbeschadet am Ziel an. Daran hege ich keinen Zweifel.«

»Danke für das Kompliment«, erwiderte Pierre. »Aber es ist gewiss sicherer, wenn Direktor Verne und Doktor Récine alles auf Lastwagen verladen. Ich sagte ja schon, dass ich für die Aktion nicht zur Verfügung stehe.« Bevor Potard etwas einwenden konnte, setzte er rasch hinzu: »Allerdings erkläre ich mich bereit, weiterhin bei den Planungen zu helfen.«

»Bravo, mein Junge«, stieß Potard hervor. Meinte er damit Pierres Angebot? Oder gratulierte der General sich selbst, weil seine Bemühungen nun doch von einem kleinen Erfolg gekrönt waren? »Kommen Sie am Dienstag um acht wieder zur Besprechung in Henri Vernes Büro«, sagte Potard. »Dann werden wir Doktor Récine zeigen, dass das französische Militär mehr kann als Bilder zerschneiden.«

Kapitel 4

PARIS, PALAIS TALLEYRAND, JUNI 1939

Der heiße Sonnenuntergang war erloschen und hatte einen violetten Schimmer am Himmel über Paris hinterlassen. Im Palais Talleyrand wurden die Lichter entzündet. Ihr warmer Schein fiel durch die Fenster des Prachtbaus auf die Straße an der Place de la Concorde.

Aus dem Innern des Gebäudes war die Musik eines Streichquartetts zu hören. Beethovens Allegro wurde begleitet von zornigen Rufen einer Menge, die sich vor dem Palais versammelt hatte. »Frankreich stellt sich gegen Hitler. Deutsche vor die Tür«, skandierten die etwa fünfzig Demonstrierenden. Einige reckten Fäuste in die Luft.

Pierre war gerade aus dem Palais getreten, um zu sehen, ob die vier Soldaten vor der Tür Unterstützung benötigten, und um dem Vortrag der Deutsch-Französischen Gesellschaft zu entkommen. Ihr Geschäftsführer Curt Hardefust warb vor französischen Diplomaten und Unternehmern für das nationalsozialistische Deutschland und dessen neue, angeblich friedliche Politik gegenüber Frankreich. Pierre hatte den durchsichtigen Lügen nicht länger zuhören wollen und war ins Freie entkommen.

Einen Tumult sah er dort trotz des Lärms nicht aufziehen. Die Menschen standen einfach beisammen und riefen zu den Fenstern des Palais hinauf. Pierre kamen sie vor wie ein Chor, der die Kirche nicht gefunden und sich nun dazu entschlossen hatte, auf der Straße zu singen. Typisch Pariser: Sie machten allen klar, was ihnen auf dem Herzen lag, lautstark, aber elegant.

Trotzdem waren die Wachen vor der Tür, ein junger Leutnant mit drei Gefreiten, sichtlich nervös. Sie warfen sich rasche Blicke zu und wechselten immer wieder den Griff an ihren Gewehren, die sie sich vor die Brust hielten. Wenn die Lage außer Kontrolle geraten würde, dann eher durch die angespannte Wachmannschaft als durch die Protestierenden.

Pierre bot dem Leutnant eine Zigarette an, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Ich kann jetzt leider keine Pause einlegen, Colonel«, sagte der junge Mann gepresst. Sein blonder Schnurrbart leuchtete im Halbdunkel.

»Sie brauchen wohl beide Hände, um ihre Landsleute niederzuschießen«, sagte Pierre, zog eine Zigarette aus der zerknautschten Packung hervor und steckte sie dem überraschten Leutnant zwischen die Lippen. Er ließ sein Feuerzeug aufschnappen und hielt es an die Zigarettenspitze. »Rauchen können Sie allein, non?«

Der Leutnant wollte etwas sagen, verschluckte dabei aber Rauch und war nun damit beschäftigt, einen Hustenanfall zu unterdrücken.

Im Palais endete die Kammermusik. Nun würde der zweite Teil von Hardefusts Vortrag beginnen. Pierre nahm sich vor, noch ein Weilchen im Freien zu bleiben und mit den Kameraden zu plaudern.

»Wie lange sind Sie schon im Dienst, Leutnant?«, fragte er.

»Fünf Jahre«, sagte der Angesprochene an seiner Zigarette vorbei. Rauch biss in seine Augen, und er verzog das Gesicht, ließ aber das Gewehr nicht sinken.

»Und wie gefällt es Ihnen?«, wollte Pierre wissen.

»Gut, Colonel«, sagte der Leutnant.

Das würde ja ein anregendes Gespräch werden. Pierre seufzte. Es gab beim Militär zwei Arten von Männern: solche, die auf den Mund gefallen waren, und solche, die nur Witze über Schnaps und Frauen rissen. Im Augenblick wäre ihm die zweite Sorte lieber gewesen.

Er bot auch den drei Gefreiten Zigaretten an. Sie griffen zu und lehnten ihre Gewehre gegen ihre Beine. Bon! Die Gefahr, dass einer von ihnen die Nerven verlor und auf die Demonstrierenden schoss, war vorerst gebannt. Zigarettenrauch war besser als Pulverdampf.

Pierres Blick wanderte über die Menge. Die Leute standen im Licht zweier Straßenlaternen und waren gut zu erkennen. Die meisten waren jung, kaum älter als Mitte zwanzig. Die Männer trugen keine Hüte, sie hatten ihre Jacken abgelegt und die Ärmel ihrer Hemden aufgerollt. Die Frauen waren in leichten schwingenden Kleidern gekommen, über denen sie kurze Jacken trugen. Eine hatte einen Hut mit schwarz-weißen Federn auf dem Kopf. Während sie Parolen rief, wippte der Kopfputz auf und ab.

»Sehen Sie die mit dem Federhut?«, fragte Pierre. »Welche Art Vogel mag das sein?«

»Hühnchen«, antwortete einer der Soldaten, ein Rothaariger mit Sommersprossen im Gesicht. Die anderen lachten.

Pierre schmunzelte. Gut, die Jungs entspannten sich. Er suchte nach weiteren auffälligen Gestalten. Einer der Männer trug eine rote Krawatte mit weißen Punkten. Pierre nickte in Richtung des Mannes. »Und der mit den Punkten unter dem Hals? Was fällt Ihnen zu dem ein, Leutnant?«

»Ein Fliegenpilz«, entgegnete dieser knapp. Noch immer hielt er das Gewehr vor der Brust. Die Zigarette wippte beim Sprechen zwischen seinen Lippen. Asche fiel auf seine Uniform.

»Nein, nein.« Das war wieder der Rothaarige. »Das ist ein Ausschlag an seinem Hals. Die Krätze. Er hat sie bekommen, weil er sich mit dem Hühnchen eingelassen hat.«

Wieder lachten die anderen. Um den Mundwinkel des Leutnants zuckte es.

Dieser Mann musste doch zu knacken sein. Pierre suchte weiter die Menge ab. Bevor er fündig wurde, kam ihm der Rothaarige zuvor. »Die da!«, rief er und zeigte auf eine junge Frau mit roter Lederjacke, einem grünen Barrett auf dem Kopf und einer ebenso grünen Schultertasche an einem langen Gurt.

»Nicht auf die Leute zeigen!«, zischte Pierre.

Der Gefreite nahm den Arm herunter. Aber es war zu spät. Sein ausgestreckter Finger schien ein Loch in das Gedränge gebohrt zu haben. Wo er hingedeutet hatte, waren die Menschen zurückgewichen. Nur die Frau in der roten Lederjacke war stehen geblieben. Es schien, als wisse sie genau, wen der Soldat gemeint hatte.

Und nun kam sie auch noch auf ihn zu!

Der Leutnant spuckte die Zigarette auf den Boden und zog das Gewehr fester an die Brust. Die Gefreiten wandten scheu die Blicke von der Frau ab und suchten nach etwas Interessantem in der Umgebung. Mein Gott, dachte Pierre, was soll nur aus diesen Burschen werden, wenn dreihundert Landser der Wehrmacht auf sie zustürmen?

»Wer hat hier das Sagen?«, fragte die junge Frau den Gefreiten mit den roten Haaren. Bevor er reagieren konnte, hatte sie bereits die Uniformen studiert und schien zu dem Schluss zu kommen, dass Pierre der Vorgesetzte war. »Sie da!«, sagte sie und stellte sich vor Pierre auf. »Warum zeigen Ihre Männer mit dem Finger auf mich? Wollen Sie mich verhaften? Ich bin Patriotin, Monsieur! Sperren Sie lieber das Ungeheuer ein, das da drinnen Reden schwingen darf.« Sie nickte zu den erleuchteten Fenstern des Palais hinauf. Das Muttermal über ihrem Mund hob sich, wenn sie sprach. Zwischen ihren Schneidezähnen gab es einen kleinen Spalt.

»Mademoiselle«, sagte Pierre, »der Gefreite hat nur ihre Schönheit bewundert. Niemand will Sie verhaften. Seien Sie unbesorgt.«

»Ich soll unbesorgt sein?«, rief sie. Ihre Augen weiteten sich. Pierre stellte fest, dass sie tatsächlich auf eine herbe Art schön war. Nicht so wie eine Blume schön ist, sondern eher wie eine Distel.

Aus der Menge rief eine Frauenstimme: »Halt den Mund, Floride! Mach dich nicht unglücklich!«

»Da oben«, fuhr die Frau namens Floride unbeeindruckt fort, »wird vielleicht gerade über das Schicksal unseres Landes entschieden. Curt Hardefust ist der Feind aller Franzosen. Also benutzen Sie gefälligst Ihre Waffen, und verteidigen Sie Frankreich gegen diesen Unhold!«

»Frankreich ist ein freies Land, Mademoiselle«, versuchte Pierre noch einmal, die Aufgebrachte zu beruhigen.

»Nicht mehr lange«, schnaubte sie. »Ist Ihnen etwa entgangen, dass Hitler das Münchner Abkommen gebrochen hat? Würden Sie den Deutschen jetzt noch Glauben schenken, wenn sie behaupten, sie wollten Frankreich nicht angreifen?«

Sie hatte recht. Hitler brach eine Vereinbarung nach der anderen, die er zuvor scheinheilig mit den Nachbarländern ausgehandelt hatte. »Es ist nicht die Aufgabe der französischen Soldaten, über Politik zu entscheiden und eigenmächtig zu handeln«, sagte Pierre. »Bitte, gehen Sie nach Hause, und nehmen Sie Ihre Freunde mit.«

»Ich bin hier zu Hause!«, platzte es aus ihr heraus. »Hier in Paris. Wenn einer nach Hause geht, dann ist es dieser Faschist.« Der Duft ihres Parfüms stieg Pierre in die Nase. Und da war noch etwas anderes. Der scharfe Geruch von Maschinenöl.

In diesem Moment erklangen Stimmen in Pierres Rücken. Er wandte sich um und sah, dass die Tür zum Palais aufgestoßen wurde. Ein Mann in weißem Jackett kam heraus. Männer im dunklen Smoking mit Schärpen um die Hüften folgten ihm, verließen aber das Gebäude nicht. Alle riefen durcheinander. Es schien, als habe die Menge vor dem Palais Verstärkung bekommen. »Antisemit!«, klang es aus dem Palais heraus, »faschistischer Heuchler« und »Kriegstreiber!«

Der Mann im weißen Anzug war Curt Hardefust. Anscheinend hatte er sich für seinen Vortrag das falsche Publikum ausgesucht. Er blieb stehen. Er hatte blondes zurückgekämmtes Haar und ein Gesicht wie eine Kiefernplanke. Die Haut, die sich über seine Wangenknochen spannte, sah trocken aus.