Die Eispiraten - Dirk Husemann - E-Book
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Die Eispiraten E-Book

Dirk Husemann

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Beschreibung

Der Wikinger Alrik und seine Mannschaft gehen einem rasanten Geschäft nach: Sie schaffen Schiffsladungen voll Eis vom Ätna an die Adria. Das Einzige, was noch schneller ist als die Eispiraten, ist ihr Ruf - und der erreicht den Dogen von Venedig. Von ihm erhalten sie den Auftrag, die Gebeine des heiligen Markus aus Alexandria herauszuschmuggeln. In den Katakomben der Stadt stoßen die Eispiraten tatsächlich auf eine geheimnisvolle Mumie - und sehen sich plötzlich von Schatzjägern, Sektierern und Sarazenen verfolgt ...

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Seitenzahl: 592

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Prolog

TEIL I: Das Eis aus dem Feuer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

TEIL II: Die Königin der Wüste

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

TEIL III: Der Kopf des Drachen

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Nachwort

Dank

Die Figuren der Handlung

Glossar

Über das Buch

Der Wikinger Alrik und seine Mannschaft gehen einem rasanten Geschäft nach: Sie schaffen Schiffsladungen voll Eis vom Ätna an die Adria. Das Einzige, was noch schneller ist als die Eispiraten, ist ihr Ruf – und der erreicht den Dogen von Venedig. Von ihm erhalten sie den Auftrag, die Gebeine des heiligen Markus aus Alexandria herauszuschmuggeln. In den Katakomben der Stadt stoßen die Eispiraten tatsächlich auf eine geheimnisvolle Mumie – und sehen sich plötzlich von Schatzjägern, Sektierern und Sarazenen verfolgt …

Über den Autor

Dirk Husemann, Jahrgang 1965, gräbt als Wissenschaftsjournalist und Archäologe Geschichten aus. Er studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Münster und schreibt Reportagen und Sachbücher, zum Beispiel über die älteste Stadt der Welt in Syrien, die letzten Geheimnisse von Stonehenge oder Fleischdoping bei den antiken Olympischen Spielen. Sein Debütroman »Ein Elefant für Karl den Großen« wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Dirk Husemann

DIE EISPIRATEN

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, BonnIllustration der Innenklappen © Markus Weber, Guter Punkt MünchenTitelillustration: © View of Corvus, Naval Crane, used by G. Duillus, 1796 (colour litho), French School, (18th century)/Private Collection/The Stapleton Collection/Bridgeman Images; © shutterstock/Brian C. Weed; © Antonov Roman; © shutterstock/donatas1205; © shutterstock/goghy73Umschlaggestaltung: Kirstin OsenauE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3989-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Prolog

Snôrheim,März794 n. Chr.

Zwischen den Hütten Snôrheims stapfte Alrik durch den blutigen Schnee. Die Nacht des Baugenfestes war angebrochen. Alle neun Jahre verlangten die Götter neun Köpfe von jedem männlichen Lebewesen. An den Giebeln hingen die abgeschlagenen Häupter von Böcken, Ebern und Bullen – den Tieren der Bauern. Die Krieger und Jäger des Dorfes hatten sich gefährlichere Beute erwählt. In der laublosen Ulme vor Alriks Haus baumelten neun Bärenköpfe im kalten Wind. Sein Nachbar und Schwager Sithric Seidenbart hatte neun Wölfe zur Strecke gebracht. Vieh oder Bestie – allen Geopferten war gleich, dass ihr Blut auf die Schwellen tropfen musste, um von den Menschen, die durch die Türen ein und aus gingen, durch das Dorf getragen zu werden. Ein rotes Band lag zwischen den Häusern. Odin, der Windmäher, konnte zufrieden sein.

»Wird Surtur mich diesmal endlich zum Mitglied der Mannschaft ernennen?«, fragte Sithric, der neben Alrik ging. Ihr gemeinsames Ziel lag am anderen Ende des Dorfes: die große Halle Surturs des Schwarzen, ihres Anführers und Kriegsherrn.

Alrik blickte zu Sithric hinüber. Sein Schwager war ein kleiner, schmächtiger Mann, dem der Hunger der Wintermonate zusetzte. Seinen Beinamen »Seidenbart« verdankte er den wenigen dünnen Haaren an seinem Kinn. Auf seinen Wangen jedoch wollte kein Bart sprießen. Zwar war Sithric ein guter Jäger. Niemals aber würde er ein Schwert heben, geschweige denn eines schwingen können. Alrik bezweifelte sogar, dass Sithric eine Fahrt mit der Visundur hinaus auf die offene See überstehen würde, ohne sich Verletzungen zuzufügen. Aber Sithric war vom selben Blut wie Catla, und wie konnte Alrik seine Frau lieben, ohne ihren Bruder zu achten?

»Vielleicht«, antwortete Alrik. »Aber du weißt ja, dass Surtur ein Liebhaber von Knaben ist. Vielleicht nimmt der Jarl dich nicht auf seine Schiffe, sondern in seine Halle auf, wo du ihm zu Diensten sein musst.«

Sithric lachte, doch Alrik konnte das Erschrecken in seiner Stimme hören. Sithric!, dachte er, wie willst du jemals ein Dorf der Franken überfallen, wenn du dich schon vor deinem Jarl fürchtest?

»Es ist wahr, oder nicht?«, fragte Sithric. Atemwolken schwebten von seinen Lippen auf. »Dass Surtur sich die Knaben unter den Kriegsgefangenen bringen lässt, sie schändet und dann tötet?«

»Schau, die Halle des Jarls ist bereits festlich erleuchtet«, sagte Alrik ausweichend und deutete auf den gewaltigen Bau. Um die Wände aus massiven Balken herum waren Holzpfosten in den Schnee getrieben. Darauf steckten brennende Fackeln und tauchten das Gebäude in ein Licht, das die Farbe von überreifem Fallobst hatte.

Sithric gab nicht nach. »Antworte, Alrik! Surtur ist ein Knabenschänder, stimmt’s? Deshalb hat unser Jarl auch noch keine Nachkommen gezeugt. Weil er …«

»Sei still, du Narr!«, zischte Alrik. »Wenn dich jemand hört, wirst du ebenso enden wie die da!« Er deutete auf das Tor der Halle. Davor stak ein Pfahl in der Erde, an dem Surtur im Sommer Bären anbinden ließ, um seine besten Krieger gegen sie kämpfen zu lassen. Alriks Rücken trug mehr Narben von Bärenkrallen, als sein schwarzer Bart Haare hatte.

Diesmal waren Menschen an den Pfahl gebunden: neun junge Sklaven, Lustknaben des Jarls, derer er müde geworden war. Noch waren sie lebendig und versuchten der Kälte zu trotzen, indem sie sich eng aneinanderdrängten. Bald aber würde der Frost sie bezwingen, und bevor das Fest vorüber war, würden sie regungslos in ihren Fesseln hängen und den Tod durch die Kälte herbeisehnen. Doch zuvor musste Surtur ihre Köpfe nehmen, um auch den Boden vor seiner Halle mit Blut zu tränken, so wie es die Götter zum Baugenfest verlangten: Neun Köpfe von jedem Lebewesen – dazu zählten auch die Häupter von Menschen.

Als sie an den jungen Männern vorbeikamen, wollte Sithric innehalten, doch Alrik stieß ihn vorwärts, auf die weit geöffneten Flügel der Hallentür zu.

Im Innern loderte ein mannshohes Feuer. Die Funken flogen – Loki, der Feuergott, gab seinen Kindern Schläge. Bis auf den letzten Platz waren die Bankreihen an den Wänden gefüllt. Alrik erkannte die Besatzungen der Schiffe – jene der Visundur, der Sturmriesin, der Goldmähne und der Klippenbrecher. Auch fremde Gesichter sahen Alrik erwartungsvoll entgegen. Männer aus anderen Dörfern, von anderen Schiffen, welche der Jarl eingeladen hatte, um seinen Ruhm zu mehren. Es war üblich, dass das Oberhaupt des mächtigsten Dorfes den Nachbarn Geschenke machte, damit sie sich ihm verpflichtet fühlten. Wein und Fleisch genügten, um Frieden zwischen den Dörfern zu garantieren, Armreifen aus Bronze und Silber, um einen Schwertarm und das Blut seines Trägers zu kaufen. Aber das waren nur Almosen gegen das, was der Jarl Alrik vor zwei Tagen geschenkt hatte: einen gezahnten Helm, ein goldenes Banner, eine Brünne sowie acht Pferde mit verziertem Zaumzeug und kunstreich gefertigten Sätteln. An diesem Abend würde Surtur offenbaren, was er im Gegenzug für diese Freigebigkeit verlangte. Und Alrik würde Gehorsam schwören vor zweihundert Paar Ohren.

Die Halle gehörte den Männern. Ebenso wie alle Opfer in dieser Nacht männlich waren, war auch alles andere frei von Weiblichkeit: Die Gesänge erklangen im Bass der Krieger, die Luft war fett von Schweiß und Fürzen, und die Tänzer führten sich auf wie Ziegenböcke. Sogar das Holz der Halle wäre männlich gewesen, wenn Bäume ein Geschlecht hätten.

»Alrik ist hier«, brüllte jemand, der ein großes Stück Braten im Mund hatte.

Der Lärm legte sich. Alrik seufzte. Er hatte gehofft, sich zunächst mit Met betäuben zu können, bevor Surtur ihn als seinen Vasallen einschwor. Doch Surtur lebte so, wie er seine Axt führte: schnell und geradenwegs auf sein Ziel aus.

Dunkelhaarig und finster thronte der Jarl auf seiner Bank am Kopfende des Raums. Seine Haut war trocken, und über seinen Augenbrauen leuchtete sie rot. Vor ihm stand der einzige Tisch in der Halle. Darauf lag ein umgestürzter Kelch aus Silber, dessen Inhalt sich über die Tischplatte ergossen hatte. Met tropfte über den Rand und bildete eine Pfütze. Zwei junge Männer flankierten Surtur. Sie schmiegten sich an die Pelze, die der Jarl übergeworfen hatte. Einer von ihnen küsste ihm das Hammelfett vom Mund.

Der Fürst erhob sich und stemmte die Fäuste auf die Tischplatte. »Alrik! Wo bist du so lange gewesen?« Es gehörte zu Surturs Eigenarten, seine Männer stets in Verlegenheit bringen zu wollen.

Alrik gab Sithric einen Wink. Sein Schwager zog sich aus der Mitte der Halle zurück und mischte sich unter die Gäste. Dann stellte sich Alrik zwischen zwei der tragenden Pfosten. Sie waren zu viereckigen Balken gezimmert und vom Boden bis zum Dach mit Schnitzereien verziert, Bildern der Sigurdsage, einer Geschichte, die Surtur so gut gefiel, dass er versuchte, sich selbst als Sigurds Nachkommen darzustellen. Alrik stützte sich mit einer Hand an einem der Balken ab. Unter seinen Fingern spürte er jene Szene, in der Sigurd von seinem Schiff aus versuchte, die Midgardschlange zu angeln. Das Untier zog so kräftig an der Angelschnur, dass Sigurds Fuß durch den Rumpf des Bootes brach.

»Ich habe dafür gesorgt, dass mein Jarl in Sicherheit ist, wenn er ein Fest feiert«, antwortete Alrik ruhig, »und die Schiffswachen neu eingeteilt, die betrunkenen Posten vor dem Dorf gegen nüchterne ausgetauscht und die Fackeln bei den Ställen gelöscht, damit der besinnungslose Pferdeknecht nicht in einem Inferno aus brennendem Stroh aufwachen muss, sondern noch lebt, um deine Strafe zu empfangen. Verzeih, dass ich mich verspätet habe!« Von seinem Handgelenk, das an dem Pfosten ruhte, zog er den Ärmel seines Gewandes zurück und entblößte drei Armreifen aus Gold und Silber. Schlangen gleich wanden sie sich um Alriks Fleisch und versuchten, das Spiel seiner Muskeln zu bändigen. Doch unter der Haut pulsierte das Leben, und es war nicht klar, wer das Ringen gewinnen würde: Muskeln oder Metall – Sinnbild für den Kampf zwischen dem Herrscher und dem Beherrschten.

Surtur warf nur einen flüchtigen Blick auf die Armreifen. Er selbst hatte sie Alrik vor einem Jahr geschenkt, nachdem sie gemeinsam von Lindisfarne zurückgekommen waren. Damals war Alrik zum obersten Kendtmann der Flotte Surturs ernannt worden. Heute sollte er noch einen Schritt weiter kommen.

»Alrik!«, brüllte Surtur, und von seinen Lippen sprühten Met und Speichel. Die Gespräche und Gesänge verstummten. »Ich habe gesehen, wie du ein Schiff fährst, das keine Segel und keine Männer mehr hat. Ich habe gehört, wie du unter den Schilden sangst, die vor dem Tor einer belagerten Stadt erhoben wurden. Ich habe gezählt, wie viele Feinde du in einer einzigen Schlacht getötet hast. Du bist der beste meiner Männer!«

Alrik senkte das Haupt.

»Aber bist du auch der treueste?«, fuhr Surtur fort. »Wenn ich dich mit Macht ausstatte, dienst du mir dann weiter, oder zerfleischen wir uns wie zwei Leitwölfe eines einzigen Rudels?«

Alrik hütete sich, Surtur gegenüber seine Loyalität zu beteuern. Augenblicklich hätte Surtur die Ausrede erkannt.

»Du schweigst. Also teilst du meine Bedenken.« Der Jarl schritt zu einer Wand und pflückte eine Axt aus einer Halterung. Zweimal zerteilte er prüfend die Luft mit kräftigen Schlägen. »Aber soll ich deshalb einen Kendtmann entbehren, wie du einer bist? Meine Feinde würden mich ebenso verspotten wie meine Untertanen! Deshalb schicke ich dich von hier fort. Du kennst das Reich Horviks?«

Und ob Alrik das kannte! Er selbst hatte es im Namen Surturs erobert. Zwei Jahre lang hatte er es überfallen, geplündert, verbrannt, bis Horvik dem letzten Angriff nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Als Surtur in Horviks Halle hineinstolziert war, hatten Alriks Stiefel den alten Fürsten auf dem Boden festgenagelt. Alles, was Surtur noch hatte erledigen müssen, war, Horvik den dünnen Mund der Axt küssen zu lassen.

»Ja, du kennst es!«, übersetzte Surtur die Gedanken seines obersten Kendtmanns. »Ich gebe es dir. Aber du musst es nach meinen Vorstellungen verwalten. Als mein Vasall. Willst du das für mich tun, Alrik der Dulder?«

Wie gern hätte Alrik den Kopf geschüttelt und Surtur zu verstehen gegeben, dass sein Zuhause Snôrheim war, dass seine Freunde, seine Familie hier lebten und er lieber den verachtenswerten Strohtod im Bett sterben wollte, als seine Heimat zu verlassen. Doch diese Möglichkeit gab es nicht.

»Bei den zehntausend Toten der Brawallaschlacht! Ich werde dein Vasall sein«, sagte er und legte Eis in seine Stimme. Seine Worte klangen draufgängerisch, doch er zitterte. Denn er wusste, was folgen würde.

Die Gäste johlten verhalten und schrammten mit den Bänken über die Podeste. Surtur näherte sich Alrik. Spielerisch drehte seine Rechte den Schaft der Axt.

»Dann zahlst du auch den Preis dafür?«, fragte er.

Alrik blickte in die Augen des schwarzen Jarls. Sie waren noch nicht trübe von Alkohol und gestillter Fresslust. Der Schlag mochte Surtur gelingen.

Kaum hatte Alrik genickt, hieb der Jarl die Axt in den Pfosten und durchtrennte die Hand des Kendtmanns. Er spürte keinen Schmerz, die Axt war scharf, der Schlag gut geführt. Dennoch gaben Alriks Knie nach, und er fand sich auf dem Boden wieder, zu Surturs Füßen. Ein Blick auf seine Hand verriet ihm, dass er zwei Finger verloren hatte. Surtur hatte seine Anhänger schon übler zugerichtet.

Gelächter erklang von den Bänken. Jemand stellte einen Eimer mit Schnee neben Alrik, und er steckte die Hand hinein. Die Kälte kämpfte gegen das Feuer, das sich in der Wunde auszubreiten begann. Der Inhalt des Eimers färbte sich rot.

Mit der gesunden Hand wischte sich Alrik den Rotz von der Nase. Der zweite Versuch, wieder aufzustehen, gelang. Doch Surtur war noch nicht zufrieden.

»Wie ich schon sagte: Du bist ein guter Kämpfer, ein noch besserer Kendtmann und ein kluger Stratege, Alrik. Es ist gleichgültig, ob du zehn Finger hast oder nur einen. Ich misstraue dir trotzdem.«

Was wollte Surtur denn noch? Alrik warf Sithric einen Blick zu. Über die Züge seines Schwagers schlängelten sich Sorgenfalten.

»Wenn du mein Vasall sein willst – und das willst du, wie du zugegeben hast –, brauche ich Sicherheiten. Etwas, das mir garantiert, dass du dich nicht plötzlich mit meinen Feinden verbündest, dass du meine Befehle achtest und mir Tribut zollst. Deshalb werde ich deine Söhne behalten. Ingvar und Bjor – so heißen sie doch. In meiner Halle werden sie leben und zu Kriegern erzogen werden. Und du wirst in der Ferne meinen Ruhm mehren und meinen Namen in die Häuser meiner Feinde tragen.«

Alriks Herz zog sich zusammen wie Leder in der Kälte. Surtur!, dachte er, Loki der Gerissene ist ein Dummkopf gegen dich. Langsam zog er die Finger aus dem Schnee und ließ den Eimer zu Boden fallen. Hättest du mir das gesagt, bevor du mich verstümmelt hast, hätte ich dich auf der Stelle getötet. Jetzt aber muss ich dir zustimmen. Jedenfalls glaubst du das.

Alrik sah zu Boden. Seine Gedanken schäumten. Niemals würde er Ingvar und Bjor einem Knabenschänder ausliefern!

»Kendtmann«, sagte Surtur. »Sag mir, dass du mir deine Kinder geben wirst.«

Schweigen senkte sich über die Halle wie der Schnee, wie die Zeit.

Alrik spürte das Blut aus seiner Hand rinnen. Er zog einen der Armreifen enger, um seine Adern zu schließen. Wie hätte er mit dieser Hand ein Schwert schwingen sollen? Noch dazu gegen einen wie Surtur?

»Nein«, sagte Alrik. »Meine Söhne bekommst du nicht.«

»Ich habe es gewusst«, rief Surtur zum Dach der Halle hinauf. »Kaum dass ich dich vom Halseisen befreie, gehst du mir an die Kehle.« Er warf Alrik die Axt vor die Füße. In der Klinge spiegelte sich der Schein des Feuers, und es schien, als würde die Waffe von innen heraus brennen. »Also zieht einer von uns heute Nacht in Walhall ein. Heb die Axt auf, oder ich erschlage dich wie ein Schwein.«

Alrik dachte an Leichenschlinger, sein bestes Schwert. Es lehnte neben seinem Bett, denn es wäre ein Frevel gewesen, in der Halle des Jarls Waffen zu tragen. Aber selbst mit dem vertrauten Heft in der Hand wäre es ihm wohl kaum gelungen, Surtur zu bezwingen. Trotzdem bückte er sich nach der Axt, nahm sie mit der Linken auf. Diese Hand war es gewohnt, ein Schild zu halten und einen Feind damit zu schlagen. Aber die filigrane Arbeit einer Waffenhand hatte sie nie geübt.

Da stürzte sich jemand auf Surtur. Der Jarl schrie auf. In dem Knäuel, dass beide Männer auf dem Boden bildeten, leuchtete der gelbe Umhang Sithric Seidenbarts.

»Lauf, Alrik!«, rief Sithric. Eine Hand mit einem Dolch kam zwischen den Armen der Ringenden hervor. Auf den Podesten fielen polternd Bänke um, als die Gäste aufsprangen, um ihrem Anführer beizustehen.

Alrik schob den Gedanken beiseite, Sithric helfen zu wollen. Sein Schwager war bereits so gut wie tot. Aber Catla und die Jungen konnte er retten. Bevor Sithric überwältigt werden konnte, stürzte Alrik aus der Halle. Die verstümmelte Hand unter die Achsel geklemmt, rannte er an dem Opferpfahl vorbei. Einen Moment lang glaubte er, seine Familie daran angepflockt zu sehen. Doch die kalte Nachtluft klarte seinen Geist auf.

Das Dorf schwieg. Hinter einigen Fensterklappen schienen noch Lichter, der Geruch von brennendem Tran zog unter den Türen hindurch. Niemand begegnete dem einsamen Läufer auf dem Weg zu seinem Haus. Als Alrik die blutige Spur des Baugenfestes im Schnee bis zu seiner Tür verfolgt hatte, stellte er erleichtert fest, dass dahinter alles ruhig war. Surtur hatte keinen seiner Krieger vorausgeschickt.

Mit der gesunden Hand stieß Alrik die Tür auf. Catla saß auf dem Rand des Bettes und schob die Scheite im Feuer zurecht. Die Jungen waren, eingesunken im Stroh ihrer Holzkisten, eingeschlafen. Alrik sog den Anblick in sich auf. Er wusste, dass es lange dauern würde, bevor seine Familie wieder ein Dach über dem Kopf haben würde.

»Was ist geschehen?« Catla sprang auf und tastete nach seiner Hand, die er noch immer unter der Schulter verborgen hielt. Das rote Haar seiner Frau strich über seinen Arm.

»Die Kinder!«, stieß Alrik hervor. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Kehle wie zugeschnürt war. »Wir müssen sofort verschwinden.«

Catla stellte keine Fragen. Schon hatte sie Ingvar aus der Kiste gehoben. Der Junge war klein und leicht. Mutter und Kind standen bereits in der Tür. Alrik warf seinem Schwert an der Wand einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Doch er hatte nur eine Hand zur Verfügung und musste Bjor tragen, den massigen Jungen, den Catla schon als Säugling kaum hatte aufheben können.

Im nächsten Augenblick huschte die Familie in Richtung der Schiffe davon.

TEIL IDAS EIS AUSDEM FEUER

Januar 828 n. Chr.

Kapitel 1

Rivo Alto, das Palatium des Dogen

Über der Lagune hing der Frosthauch des Januars. Die Hände des Dogen zitterten nicht nur vor Kälte, als er sich an den schweren Wollvorhang klammerte. Durch einen Spalt lugte er hinaus auf den Hof, auf das Meer der Gesichter. Von draußen strömte faulige Luft herein. »Was geschieht, wenn sie mich nicht wollen?« Er blickte hilfesuchend zurück in die Halle und wischte sich die glänzende Stirn.

»Nichts wird geschehen, Giustiniano«, sagte ein breit gebauter Mann mit einem Bart, so dünn wie ein Strich mit dem Federkiel. Ein Ausdruck von Argwohn verdarb seine Gesichtszüge. »Tretet endlich hinaus! Zeigt Euch dem Volk, damit es die Wahl bestätigen kann! Bei Euren Vorgängern war es ebenso.« Die übrigen sechs Tribunen in der großen Halle umringten die beiden Männer und nickten zu diesen Worten.

Aber der hochgewachsene Doge rührte sich nicht. Nur die Falten des Vorhangs bewegten sich, vom Zittern seiner bleichen Hände in Bewegung gesetzt. Der schwere Lederbesatz des Stoffes rutschte über den Mosaikboden. Draußen nahm das Raunen der Menge zu.

»Ihr lügt, Bonus«, sagte der Doge und schluckte schwer. »Meine Vorgänger sind allesamt tot. Sie wurden geblendet, hingerichtet oder ermordet. Weil das Volk sie nicht mochte. War es nicht so?«

Der Angesprochene schnaubte. »Wenn es die Wahrheit einfacher für Euch macht, vor Eure Untertanen zu treten: Ja, so war es. Aber für Euch, Giustiniano, wird es anders sein.«

Matelda hielt es nicht länger im hinteren Teil der Halle aus. Darauf bedacht, den nach Duftwasser riechenden Bonus nicht zu berühren, drängte sie sich an den versammelten Tribunen vorbei, hin zu ihrem Vater. Mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, ihm mit einer Umarmung Trost zu spenden. Doch das hätte sein Ansehen bei den Edelingen endgültig vernichtet – und ebenso sein Selbstvertrauen.

»Deine Vorgänger waren Schwächlinge«, sagte Matelda. »Einzig darauf bedacht, sich selbst zu bereichern. Aber du bist Giustiniano Partecipazio. Du wirst Rivo Alto zum Zentrum der Lagunenstädte machen und den Streit zwischen Franken und Byzantinern um unser Land beenden. Du wirst ihre Ansprüche tilgen, und dann werden wir frei sein, und unsere Schiffe werden Reichtümer aus fernen Ländern in die Lagune bringen. Geh hinaus und sage das deinen Untertanen. Sie werden dich lieben. So wie ich.«

Die Statur ihres Vaters straffte sich. »Du würdest einen besseren Dogen abgeben als ich, Matelda. Einen viel besseren.« Er seufzte. »Also gut. Ich will es versuchen.« Mit einem Ruck riss er den Vorhang beiseite und trat auf den schmalen Balkon hinaus.

Die Menge verstummte. Blicke aus vielen Hundert Augenpaaren trafen den Dogen, musterten den zipfeligen Corno auf seinem Kopf, die in gelbe Seide gehüllte schlanke Gestalt und die blaue Schärpe mit den Blumenornamenten um seine linke Schulter. Seinerseits schaute der Doge hinab auf die Menschen, die seine Untertanen sein sollten und zugleich seine Henker werden konnten.

»Die Hände!«, flüsterte Matelda hinter dem Vorhang. Giustiniano zeigte seine offenen Handflächen in der uralten Geste vollendeter Demut. »Sprich zu ihnen«, fuhr sie fort. »Erinnere dich an das, was ich dir soeben gesagt habe.« Doch bevor sie die Worte wiederholen konnte, fühlte sie sich am Arm gepackt und fortgezogen. Es war Bonus von Malamocco, der sich erdreistete, sie zu berühren. Als er sie losließ, schrie sie auf und trat nach ihm.

»Still, Mädchen!«, raunzte Bonus sie an. Auf seinem schwarzen Umhang blitzten silberne Stickereien – die Farben der Familie Malamocco. »Was glaubst du wohl, geschieht mit deinem Vater, wenn der Pöbel erfährt, dass ihm seine Tochter die Regierungsgeschäfte einflüstert?«

»Wenn Ihr wüsstet, was ich glaube, Tribun, würde es Euch den Schlaf kosten.« Vergebens suchte Matelda nach einem Weg um Bonus herum. Da begann ihr Vater auf dem Balkon zu sprechen.

»Menschen von Rivo Alto«, rief er, und seine Stimme bebte.

Matelda schloss die Augen und formte die Worte, die nun zu folgen hatten: Diese Stadt wird zum Zentrum der Laguneninseln werden. Byzantiner, Franken und Langobarden werden nicht länger eure Herren sein.

Auf dem Balkon jedoch blieb es still. Was trieb ihr Vater da? Gewiss, er war schon immer ein furchtsamer Mann gewesen. Aber er hatte doch gewusst, dass dieser Moment auf ihn wartete: der Augenblick, sich dem Volk zu zeigen. Viele Male schon hatte diese traditionelle Konfrontation über Leben und Tod entschieden. Verharrte das Volk in Schweigen, so lehnte es den Dogen ab. Jubelte es hingegen, galt das neue Oberhaupt als akzeptiert. Triumph oder Untergang lag auf den Zungen von Salzsiedern und Fischern, von Küfern und Steinmetzen, Goldschmieden und Stellmachern. Als vom Balkon her die Stimme Giustinianos endlich erklang, ließen seine Worte Matelda zu Eis erstarren.

»Was kann ich für euch tun, meine Untertanen?«, fragte der Doge die Menschen im Hof. »Was immer es ist, ich werde dafür sorgen, dass ihr es erhalten werdet. Denn ich bin euer neuer Doge, und ihr sollt mich lieben.«

In der Halle erstarben die Gespräche. Bonus von Malamocco schaute Matelda aus aufgerissenen Augen an. Zwei der Tribunen eilten auf die Balkontür zu, verhielten jedoch den Schritt, denn zum Eingreifen war es zu spät. Vom Hof stieg ein Raunen empor. Dann löste Giustinianos Angebot der Menge die Zunge. »Erlass uns die Steuern!«, schrie jemand. »Hol Tomaso aus dem Kerker!«, ein anderer. Ein weiterer forderte einen Posten als Salzmeister. Mehrere verlangten nach äthiopischen Sklavinnen und dem Kopf des byzantinischen Kaisers. Der Einfall eines besonders Vorwitzigen, die Kanäle sollten einmal im Monat mit Wein gefüllt werden, brach höhnischem Gelächter Bahn.

Giustiniano blickte sich Hilfe suchend nach seiner Tochter um. Schon immer hatte ihr Vater sie an einen Vogel erinnert, doch stets war er ihr wie ein Raubvogel erschienen, ein König der Lüfte. Jetzt jedoch war er zu einem flügellahmen Sperling geschrumpft. Matelda ballte die Fäuste. »Lasst mich vorbei, bevor sie meinen Vater in der Lagune ersäufen«, zischte sie Bonus zu. Doch der Tribun schien sie nicht länger wahrzunehmen. Wie versteinert starrte er zum Balkon hinüber, dorthin, wo das Unglück der venetischen Politik seinen Lauf nahm.

Diesmal verbarg sich Matelda nicht hinter dem Vorhang. Sie trat neben ihren Vater auf den Balkon hinaus. Von der Menge drangen Pfiffe herauf. Lauthals äußerte eine von Alkohol schwere Stimme die Vermutung, der neue Doge wolle dem Volk seine Tochter schenken.

»Was tust du hier?«, fragte Giustiniano. »Bist du von den Geistern aller Heiligen verlassen?«

Da hellte sich Mateldas Miene auf. Mit der Eleganz der Lagunengeborenen winkte sie der Menge und warf ihr eine Kusshand zu. Weit beugte sie sich über die Brüstung und rief den Menschen ihrer Heimatstadt etwas zu.

»Einen Heiligen herbeischaffen? Ihr seid ja von Sinnen. Da hätten wir uns besser auf die nubischen Sklavinnen und die Kanäle voller Wein einlassen sollen.« Bonus quälte seine Stimme auf die Höhe eines Vogelschreis. Er war rot angelaufen, und eine Ader pulsierte auf seiner Stirn. Von Entsetzen getrieben war die Versammlung in den Ratssaal gerauscht, wo die Flaggen der Lagunenstädte die Wände schmückten und die Faltstühle aus Nussbaum und Fohlenleder darauf warteten, den Gesäßen der Edelinge zu schmeicheln. Doch die Erregung vertrieb die Tribunen immer wieder von ihren Plätzen und ließ sie umherwandern. Einzig der Doge verharrte auf seinem Sitz und stützte den Kopf in eine Hand. Matelda hatte sich hinter ihm aufgestellt. Sanft ruhten ihre Hände auf den Schultern ihres Vaters.

»Ihr irrt, Bonus«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Was ich den Venetern versprach, war keineswegs irgendein Heiliger, sondern ein ganz besonderer.«

»Der heilige Markus«, stöhnte Tribun Falieri, Oberhaupt einer der drei mächtigsten Familien der Lagunenstädte. »Warum musste es ausgerechnet der heilige Markus sein?«

»Weil er meinem Vater das Leben retten wird«, sagte Matelda. Als der Doge ihre Hand berührte, verstummte sie. Giustiniano erhob sich.

»Es ist so, wie ich es euch allen schon gesagt habe: Ich bin der Aufgabe des Dogats nicht gewachsen«, sagte er. »Dafür braucht es Männer, wie die Römer es waren. Ich aber bin nur ein Veneter. Es wird das Beste sein, wenn ich ins Exil gehe. Dann bleibe ich wenigstens am Leben. Jedenfalls für kurze Zeit.«

Einige der Tribunen sahen zu Boden. Bonus blickte aus dem Fenster. Falieri sagte: »Das ist unmöglich. Jeder hier im Raum weiß das.«

»Euer Vater war Doge, nun sollt Ihr Doge sein«, warf Marcello von der Dynastie Oro ein. »Nur durch Euer Dogat, das zweite in Folge, wird der Titel des Dogen endlich erblich.«

Giustiniano winkte ab. »Ja, ja. Und der nächste Doge ist dann einer Eurer Söhne. Derjenige, der meine Tochter und damit den Titel heiratet – und ihn in seiner eigenen Familie weitervererbt.«

Schweigen lastete auf dem Saal. Vom Hof her waren noch immer die Rufe der Menge zu hören.

Noch einmal ergriff Bonus das Wort. »Es muss einen anderen Weg geben. Einen anderen Heiligen, den wir herbeischaffen können.«

Falieri schüttelte den Kopf. »Nein, Bonus. Ihr habt doch gehört, wie das Volk geschrien hat. Wie begeistert es war von der Ankündigung, unsere Inseln zur letzten Ruhestätte des heiligen Markus zu erheben. Wollt Ihr etwa zu den Leuten hinaustreten und sagen, dass sie zwar einen Heiligen bekommen werden, aber wir erst sehen müssen, auf welchen Märtyrer es derzeit einen Preisabschlag gibt?«

»Es wird der heilige Markus oder niemand!«, schaltete sich nun auch Severo ein, der Älteste der Gradenigo-Familie. Er zog einen mit Juwelen besetzten Dolch aus dem Gürtel und legte ihn in der Mitte des Saals auf den Boden. Das Metall klingelte. »Wer anderer Meinung ist, der gebe Giustiniano einen schnellen Tod. Eine andere Möglichkeit bleibt uns nicht.«

*

Bonus stieß die Tür mit so viel Wucht auf, dass die Flügel gegen die Wand krachten. Im Raum dahinter saß sein Zwillingsbruder an einem Tisch, einen schwarzen Federkiel in der Hand. Es roch nach feuchter Tinte. Immer wieder war Bonus davon fasziniert, wie ähnlich Rustico ihm war. Die Gewissheit, gleich zwei Plätze in der Welt einzunehmen, beruhigte ihn – jedenfalls geringfügig.

»Wie ist es gegangen?«, fragte Rustico. »Nicht so gut wie erhofft, scheint mir.« Er löschte die Tinte mit Sand ab, ließ den Federkiel in ein Loch in der Tischplatte fallen und lehnte sich zurück.

Bonus eroberte den Raum mit weiten Schritten, vorbei an den Wandteppichen voller bunter Chimären mit gezackten Zungen. Normalerweise bewunderte er die Pracht, mit der sich sein Bruder zu umgeben pflegte. Heute jedoch warf er keinen Blick darauf.

»Partecipazio ist als Doge anerkannt. Die Menge hat ihm zugejubelt.«

»Gut«, sagte Rustico und schürzte die Lippen. »Aber das erklärt deine Empörung nicht.«

Bonus schüttelte den Kopf, als er sich das Geschehen noch einmal vor Augen führte. »Um ein Haar wäre alles schiefgegangen. Dieser Doge ist der unpassendste Kerl für diese Aufgabe, den wir uns hätten aussuchen können. Aber wir brauchen ihn nun einmal.« Er stemmte beide Arme auf den Tisch und beugte sich zu seinem Bruder hinab. »Seine Tochter hat ihn gerettet.«

Ein Lächeln kräuselte die dehnbaren Lippen Rusticos. »Jene Tochter, die du zu heiraten gedenkst? Hat sie den Teufel beschworen, dass sie dich derart in Aufruhr versetzt?«

»Den Teufel? Wenn es nur der wäre! Die Gebeine des heiligen Markus hat sie dem Volk versprochen.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Rusticos Tintenfass fiel um, und eine schwarze Pfütze ergoss sich über das Schriftstück. Rustico verfolgte die Vernichtung seiner Arbeit mit einem Stirnrunzeln.

»Der heilige Markus, sagst du? Das ist klug. Sie ist ein heller Kopf. Du wirst wenig Freude an ihr haben, mein Guter.«

Bonus ließ sich auf eine Holzbank fallen. Das Möbel protestierte knirschend. Der Veneter antwortete mit einem Fluch, in dem die besten Teile des Papstes eine Rolle spielten.

»Ich verstehe deine Erregung nicht«, sagte Rustico und tupfte mit einem Tuch in dem kleinen Tintenmeer herum. »Partecipazio ist Doge. So wollten wir es doch. Jetzt wirst du die hübsche Matelda dazu bringen, dich zu heiraten. Oder …«, er blickte von seiner Beschäftigung auf, »oder hat sie dir schon einen Korb gegeben?«

Bonus verbiss sich eine Antwort. Was ging es seinen Bruder an, wie seine Bemühungen um Matelda vorangingen? Sollte er doch selbst versuchen, sie zu umgarnen. Stattdessen sagte er: »Du verstehst nichts, Bruder. Überhaupt nichts.« Es kam selten vor, dass er Rustico als Bruder titulierte. Dass er es jetzt tat, sollte dem anderen zeigen, dass die Zeit des Scherzens vorüber war.

Tatsächlich schien Rustico die Zeichen deuten zu können. Er erhob sich, zwängte sich zwischen Stuhl und Tisch hindurch und ließ sich neben Bonus auf der Bank nieder. Das Brett bog sich bis an die Grenze der Bedenklichkeit. »Dann erkläre mir alles. Bruder!«, sagte Rustico.

»Es ist unmöglich. Wie sollen wir diese Gebeine beschaffen? Der heilige Markus! Als wenn es nicht schon genug Versuche gegeben hätte, seiner habhaft zu werden!«

»Bitte! Der Reihe nach.«

»Zunächst einmal«, Bonus klappte mit der linken Hand einen Finger der rechten aus, »liegen die Reliquien des Markus in Alexandria, in Ägypten. Das Land aber ist nicht länger im Besitz von Byzanz, wie du weißt, sondern von den Sarazenen besetzt.«

Rustico nickte.

»Zweitens«. Ein weiterer Finger wuchs aus Bonus’ rechter Faust. »Gehört das, was von der christlichen Gemeinde in Alexandria noch übrig ist, zur orthodoxen Kirche. Die Kopten werden uns wohl kaum ihren wichtigsten Heiligen einfach mir nichts, dir nichts überlassen.«

»Damit habe ich auch nicht gerechnet. Man müsste ihn stehlen.«

»Oh, nichts leichter als das!« Bonus ließ nun Finger auf Finger folgen. »Unbemerkt in den Hafen Alexandrias segeln. In die Kirche spazieren und den Leichnam mitnehmen. Zurück aufs Schiff und die Verfolger abhängen, auf einer dickbauchigen Dromone. Schau! Jetzt habe ich schon keine Finger mehr.«

»Und demnächst wohl auch keinen Kopf.«

»Was soll das heißen?« Aber Bonus wusste es bereits.

»Dass du selbst diese Aufgabe erledigen wirst.« Rustico legte eine joviale Hand in den Nacken seines Bruders.

»Ich? Aber ich bin Tribun in Rivo Alto. So etwas ist eine Aufgabe für … für …«

»Den Mann, der Doge sein wird. Denk nach! Giustiniano muss dem Volk den heiligen Markus bringen. Sonst setzen sie ihn wieder ab. Auf ihre eigenwillige, aber zugegebenermaßen wirksame Art.«

Bonus lächelte verkrampft.

Rustico fuhr fort: »Jeder der Tribunen will sich oder seinen Sohn mit Matelda vermählen. Aber wen wird sie erhören müssen? Denjenigen, der ihren Vater, das Dogat und damit den gesamten Plan rettet. Dich!«

»Pah!« Bonus musste sich zusammennehmen, um nicht vor Trotz auf den Teppich zu spucken. »Du hast sie wohl noch nicht näher kennengelernt, diese Schlange. Zugegeben«, er wiegte den Kopf, »sie ist eine Schönheit. Aber was habe ich davon, wenn mir die Araber die Eier abschneiden und mich auf einen Pfahl spießen?«

Die Hand seines Bruders griff fester zu. »Niemals würde ich von dir verlangen, dass du selbst in die Höhle des arabischen Löwen gehen sollst. Finde jemanden, der diese Aufgabe für dich erledigt. Sind die Reliquien erst einmal hier, werden alle dich lieben. Oder lieben müssen.«

*

Die Flocken sanken wie Daunen durch die Dämmerung. Auf dem gefrorenen Wasser des großen Kanals lag bereits Schnee, von Fußspuren gesprenkelt. In der Mitte hatten Salzmeister eine Fahrrinne entstehen lassen, durch die die letzten Fischer des Tages behäbig ihre Boote nach Hause stakten. Alles in dieser Stadt ist langsam, dachte Bonus, selbst die Schiffe. Eingehüllt in Zobelfell stand er unter dem Torbogen eines Lagerhauses und vermied es, in die Lichtinsel unter der kleinen Laterne zu treten. Niemand sollte beobachten, wie er seine Fäden spann.

»Es tut mir leid, Signore.« Hafenmeister Pietro studierte ein mit Kreide bekritzeltes Stück Holz mit mehr Kerben darin als Furchen in seinem Gesicht – die Schiffsliste von Rivo Alto. »Die schnellsten Schiffe, die ich in den letzten Monaten verzeichnet habe, waren die, deren Besatzung es eilig hatte, an Land zu kommen.« Die ausgemergelte Gestalt duckte sich, als erwarte sie Schläge.

Keine schlechte Idee, sagte sich Bonus. Vielleicht wärmt es mich etwas auf, wenn ich diesen Hanswurst mit den Fäusten bearbeitete. Er räusperte sich. »Dann denk dir etwas aus. Ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt.« Und der nächste Doge, fügte er in Gedanken hinzu. »Wenn du mir hilfst, wirst du vielleicht Schiffsmeister meiner Familie.«

Die Augen des Hafenmeisters wuchsen. »Ich kenne Euch doch. Ihr seid Bonus von Malamocco.«

Unwillkürlich wich Bonus zurück in den Schatten. Wenn ihn der Hafenmeister erkannt hatte, mochte er anderen von dieser Begegnung erzählen. Und Gerüchte, das wusste jedes Kind der Lagune, machten in Rivo Alto schneller die Runde als das Wasser in den Kanälen.

»Gern will ich helfen, Signore«, fuhr der Hafenmeister jetzt fort. »Aber wie?«

Bonus seufzte. »Indem du zum Beispiel ein schnelles Schiff aus dem Trockendock holst, die Mannschaft aus dem Winterschlaf weckst und ihnen in ihre warmen Hintern trittst.«

Der Hafenmeister starrte ihn an. In seinem Blick gähnte Leere. Der Kerl schien ebenso festgefroren zu sein wie sein Verstand. Bonus fischte zwei Münzen aus seiner Börse und warf sie auf den Boden. Bevor sie aufgehört hatten, sich klingelnd zu drehen, stellte er einen Fuß darauf. Sein Gegenüber nagelte Bonus’ Stiefel mit Blicken fest und krächzte: »Vielleicht in Ravenna.«

Jetzt war die Reihe an Bonus, den anderen anzustarren. Auf den Gedanken, in der verhassten Stadt im Süden nach Hilfe zu suchen, war er noch gar nicht gekommen. »Ravenna, sagst du? Was soll dort anders sein als hier bei uns?«

»Ich habe etwas gehört von einem fremden Schiff. Es bringt Eis dorthin.«

»Eis?«, echote Bonus. »Hier ist alles voller Eis. Weißt du, was es bedeutet, wenn man Eulen nach Athen trägt?«

»Braucht Ihr dafür das schnelle Schiff?«, fragte der Hafenmeister und rieb sich die rot gefrorenen Ohren.

Bonus ignorierte die Frage. »Was gibt es in Ravenna?«

»Die hohen Herren dort. Die sind ganz verrückt nach einer neuen Köstlichkeit aus Arabien.«

Bonus hatte davon gehört. »Du meinst Saccharum? Es heißt, sie stellen Süßspeisen damit her. Aus Sarazenenscheiße. Pfui Teufel!«

»Ihr habt recht, Tribun Bonus. Aber in den Schenken erzählen sich die Leute, für dieses süße Zeug sei Eis in großen Mengen notwendig. Eis, das man essen kann. Nicht diese gefrorene Jauche.« Er deutete auf die Kanäle.

»Was hat das mit einem schnellen Schiff zu tun?«

Die Blicke des Hafenmeisters lösten sich nur mühsam von dem Reichtum verheißenden Fuß des Tribunen. »Angeblich bringen sie es von Sizilien herauf. Vom Ätna.«

Da verstand Bonus. Ein Schiff, das Eis über eine solche Strecke bis nach Ravenna transportierte, bevor die Ladung schmolz, musste fliegen können. »Weißt du, wann dieses Schiff wieder in Ravenna anlegt?«

Über dem Hafenmeister quietschte die Laterne im Wind. »Nein. Niemand weiß das. Es erscheint plötzlich. Wie der Nebel. Und ebenso schnell ist es wieder verschwunden. Es hat den Kopf eines Drachen, und statt Segel hat es Flügel.«

Bonus verzichtete auf weitere Ammenmärchen. Rasch nahm er den Fuß von den Münzen und brachte den Hafenmeister damit zum Schweigen. »Und das sollte auch so bleiben«, murmelte Bonus. Als sich der Mann begierig nach seiner Belohnung bückte, zückte Bonus einen Dolch und stach ihm die Klinge in den Nacken.

Bald darauf trieb ein Leichnam im Dunkel der offenen Fahrrinne des Kanals. Ein Holzbrett tanzte hinter ihm her. Zwischen den Häusern der nächtlichen Lagunenstadt hallte das Stakkato sich rasch entfernender Schritte.

Kapitel 2

Sizilien, der Gipfel des Ätna

Der Felsbrocken bewegte sich von selbst. Langsam rollte er durch den Schnee. So langsam, dass sein Fortkommen dem menschlichen Auge verborgen geblieben wäre, hätte er nicht eine sichtbare Spur in den Schnee gedrückt. Alrik hob eine Hand. Die kleine Gruppe blieb stehen.

»Warum hältst du an?«, fragte Ingvar neben ihm und wischte sich winzige Eiszapfen von der Nase.

Schweigend musterte Alrik die Flanken des Vulkans. Der Gipfel des Ätna war in Schnee gehüllt. Aus Spalten im Gestein quoll Dampf hervor, schwarzer Dampf, wie Alrik beunruhigt feststellte.

»Wenn wir uns nicht bald in Bewegung setzen, werden wir hier noch bis in die Nacht schuften, oder ich will einen Troll küssen«, sagte Ingvar.

»Pass auf, dass du diesmal das richtige Ende erwischst«, brummte Bjor. Der ältere von Alriks Söhnen hatte seine Kapuze abgestreift. In seinem langen Blondhaar spielte der Wind und warf ihm Strähnen ins Gesicht. An einer Hand zog der massige Nordmann die beiden Schlitten hinter sich her. Darauf waren robuste Kästen aus Holz gezimmert, so groß, dass sogar Bjor darin hätte liegen können. Noch waren die Kästen leer.

Unverwandt ließ Alrik den Blick über Grate und Felswände schweifen. Er kannte die Zeichen. Es war nicht das erste Mal, dass er dem Vulkan Eis abtrotzte. »Der Stein dort.« Er deutete auf das Phänomen. »Er rollt aufwärts.«

»Vielleicht ist es ein Tier«, warf Bjor ein.

Ingvar schnaubte. »Ich erschlage es mit der Axt. Dann wissen wir es.«

»Nein. Es ist der Berg. Er bebt«, fuhr Alrik fort. »Wir können es sehen. Bloß spüren können wir es nicht. Noch nicht.« Er pflückte die Handschuhe von den drei Fingern seiner Rechten, kniete sich in den Schnee und drückte die Hand hinein. Bevor die Kälte sein Fleisch betäubte, bemerkte er ein leichtes Vibrieren, dem Knurren eines Hundes ähnlich.

Er erhob sich und klopfte sich den Schnee von den Händen. »Der Vulkan erwacht. Uns bleibt nicht viel Zeit.«

Wenig später hatten die drei Männer einen kleinen Krater in der Flanke des Berges erreicht. Zwischen Geröll stieg Dampf hervor, kühlte in der Luft des sizilianischen Winters ab und senkte sich wieder auf das Gestein. Dem Berg war eine Fettschicht aus Eis gewachsen.

»Hier ist es gut.« Bjor kippte einen der Schlitten um. Klirrend fiel ein Bündel Eisenstangen in den Schnee. Ingvar verteilte die Werkzeuge.

»Wir hätten den Nubier und den Sarazenen mit hinaufnehmen sollen«, sagte Bjor. Atemwolken flogen vor seinem Mund auf.

»Damit sie von glühendem Gestein erschlagen und verbrannt werden?«, fragte Ingvar. »Dann wäre endlich Ruhe auf dem Schiff.«

»Und mit wem stehst du dann abends schweigend auf Deck, wie du es so gern tust, starrst ins Leere und lässt einen Furz?« Alrik setzte die Spitze einer Stange senkrecht auf das Eis, prüfte die Ausrichtung und nickte zufrieden. Mit der freien Hand löste er den Hammer von seinem Gürtel und drosch auf die Stange ein. Das Eis schrie auf.

Als die Sonne lange Schatten auf den Schnee malte, war Alrik in Schweiß gebadet. Ingvar und Bjor zeigten keinerlei Spuren von Erschöpfung. In den Schlittenkästen lagen zwei gewaltige Blöcke Eis.

Bjor klopfte darauf und grinste. »Gleich zwei. Von dem Geld werden wir der Visundur ein paar neue Riemen kaufen können. Und für unsere eigenen Riemen ein paar Weiber.«

»Noch ist das Eis nicht in Ravenna.« Alrik säuberte die Eisenstangen und klemmte sie in die Schlitten. Dann schälte er seine Handschuhe von den Fingern. Seine Hände waren von der beißenden Kälte geschwollen und schmerzten. Sie waren zweimal so groß wie sonst und leuchteten in aggressivem Rot. An einem Finger löste sich ein Nagel. Alrik biss ihn ab und spie ihn in den Schnee. »Und vom Berg sind wir auch noch nicht herunter.« Er hielt Ausschau nach dem wandernden Felsbrocken. »Seht!«, rief er.

Noch immer rollte der Stein aufwärts. Doch jetzt konnten sie die Bewegung mit bloßem Auge wahrnehmen. Sogar auf diese Entfernung.

Im nächsten Augenblick lag Alrik mit dem Gesicht im Schnee. Er stützte sich auf einen Ellenbogen, spuckte Schnee und zupfte sich seine langen grauen Haare aus dem Mund. Die Gesichter Bjors und Ingvars tauchten ebenfalls aus dem Weiß empor. Schnee rieselte ihnen von den Köpfen.

Ingvar kam als Erster auf die Beine. »Bei allen Sturm- und Hagelriesen! Was war das?«

Alrik stand auf und erwartete einen weiteren Erdstoß. Doch nichts geschah. »Auf die Schlitten mit euch. Wir verschwinden sofort.«

Ingvar und Bjor sahen ihn fragend an. »Auf die Schlitten? Was hast du vor?«

Da erklang ein Geräusch wie das Reißen von Leinenstoff. Ein Krachen folgte, dann ein Bersten. Etwas pfiff durch die Luft und schlug zwei Mannslängen entfernt in den Schnee ein.

»Willst du etwa spazieren gehen, während dir der Berg Felsen auf den Kopf wirft?« Alrik musste die Stimme erheben, denn der Lärm ebbte nicht ab.

Erneut war das Pfeifen zu hören. Bjor zog den Kopf zwischen die Schultern. »Aber die Eisblöcke. Wir werden sie verlieren.«

»Das Eis ist viel zu schwer«, protestierte Ingvar. »Wir können nicht steuern.« Ein faustdicker Felsbrocken prallte neben ihm auf, und der hochspritzende Schnee sprenkelte seine hagere Gestalt. Ingvar sprang zurück.

»Na und? Es geht bergab. Das muss als Richtung genügen.« Alrik packte die jüngeren Männer bei den Kapuzen und zog sie zu den Schlitten. »Und jetzt los!« Es war nicht seine Kraft, der sie folgten, sondern sein Wille. Ich bin immer noch ihr Anführer, sagte er zu sich selbst. Und ihr Vater. Diese Gewissheit verlieh ihm Sicherheit, trotz der bedrohlichen Situation.

Während Bjor die Bremspflöcke herauszog und Ingvar den Sitz der Eisblöcke noch einmal überprüfte, musterte Alrik den Hang zu ihren Füßen. Der Gipfel des Ätna hatte nicht viele Grate und Schluchten. Über Jahrhunderte hatte der Vulkan hier seine Lava erbrochen und Unebenheiten mit heißem Gestein gefüllt. Vielleicht gelang es ihnen, bis zur Baumgrenze hinabzurutschen, ohne sich zu überschlagen oder von einem der Felsen getroffen zu werden, die jetzt immer dichter vom Himmel fielen.

Eine schwarze Wolke wehte an ihnen vorüber und nahm Alrik für einen Augenblick den Atem. Er hustete. Als sich der Qualm verzogen hatte, hatte er freien Blick auf den Abgrund, bis hinunter zum Meer. Dort erspähte er, klein wie eine Schneeflocke, die Visundur, ihr Drachenboot. Und da war noch etwas aufgetaucht. Alrik kniff die Augen unter den grauen buschigen Brauen zusammen. Vor der Küste, im tiefen Wasser, trieben weitere Schiffe. Er konnte die Farben ihrer Segel nicht erkennen. Aber es schienen Dromonen zu sein.

»Da unten wartet Besuch auf uns«, rief er und bückte sich, um die letzten Bremspflöcke aus dem Boden zu ziehen. Ein Hagel kleiner Steine prasselte vom Himmel herab gegen seine Schultern. »Wir wollen die Geduld unserer Gäste nicht auf die Probe stellen.« Als der Schlitten der Schwerkraft nachgab, sprangen die drei Nordmänner auf die Kufen.

*

Bonus lauschte den fernen Explosionen und sah schwarze Rauchfahnen aus der Flanke des Ätna aufsteigen. Vom Strand her konnte er nur Teile des Vulkans erkennen. Zwar war kein Lavastrom zu sehen, doch würde es das Beste sein, dass sie so rasch wie möglich von Siziliens Küste verschwanden. Die bösen Legenden, die sich um diesen Berg rankten, waren auch in Rivo Alto bekannt. Und Bonus hatte nicht vor, ihnen auf den Grund zu gehen. Überdies war Sizilien in der Hand der Araber, und wenn die Herren der Insel sein Schiff bemerkten, würden sie etwas damit anstellen, das einem Vulkanausbruch gewiss nahe kam.

Unter seinen Stiefeln knirschte der Sand. Angewidert verzog er das Gesicht. Das Geräusch reibender Sandkörner war ihm zuwider, fast bereitete es ihm körperliche Schmerzen. Deshalb versuchte er, sich so wenig wie möglich zu bewegen, während er nun beobachtete, wie seine Männer das merkwürdige Schiff besetzten.

Es dümpelte nur fünf Mannslängen vom Ufer entfernt im Wasser. Nie zuvor hatte Bonus etwas Ähnliches auf dem Meer schwimmen sehen. Dieses Schiff hatte kaum Tiefgang. Nur wenige Fuß ragte die Bordwand über dem Wasserspiegel auf. Bei starkem Seegang musste es volllaufen und sinken. Dennoch sollte es über die offene See fahren können. Noch dazu so schnell, dass es Eis vom Ätna nach Ravenna an der Adria bringen konnte, bevor dieses schmolz.

Eiligen Schrittes näherte sich Gisulf, der Kapitän der mächtigsten Dromone der Malamoccos. Gisulfs Stiefel mahlten im Sand. Bonus knirschte mit den Zähnen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

»Es scheint keine besondere Kunst oder gar Zauberei dahinterzustecken, Herr«, sagte Gisulf. Er kratzte sich den borstigen Schopf und verzog das Gesicht. »Aber etwas an diesem Schiff ist anders. Anders, als ich es je zuvor gesehen habe.«

»Natürlich ist es das«, stieß Bonus hervor. »Warum glaubst du, bin ich ihm bis nach Sizilien gefolgt und habe seine Mannschaft gefangen nehmen lassen?«

Er schaute zu den etwa zwanzig Gestalten herüber, die von seinen Männern mit Lanzen bedroht wurden. Fremdartige Hochgewachsene waren darunter, ein Zwerg mit einem langen roten Bart, ein Dunkelhäutiger, ebenso ein Araber und zwei Langobarden, die er an ihrer Kleidung erkannte. Bonus glaubte, die Flüche eines Byzantiners zu hören, und einer trug das Haar nach Art der fränkischen Edelinge. Wer hatte diese Besatzung zusammengewürfelt? Die Männer sahen aus wie die Ware eines Sklavenschiffs.

Gisulf zertrat eine Krabbe im Sand. Das Geräusch ließ eiskaltes Wasser über Bonus’ Rücken rinnen. »Können deine Seeleute damit umgehen?«, presste er hervor.

»Mit diesem Schiff? Es scheint recht simpel gebaut. Nur ein einfaches Segel und jede Menge Riemen. Wir könnten sofort in See stechen.«

Bonus atmete auf. Damit war es in seiner Hand: das Schiff, das fuhr wie der Wind. Dem Heiligenraub in Alexandria stand nichts mehr im Wege. Und seiner Karriere als Doge der Lagunenstädte ebenso wenig. Matelda war eine reizvolle Dreingabe. Er würde sie sich mit seinem Bruder teilen.

»Was soll mit der Mannschaft geschehen?«, fragte Gisulf.

»Tötet sie! Ihr seid in der Überzahl.«

»Wir haben keine Bogenschützen, Herr. Und im Kampf Mann gegen Mann könnten die Fremden einige unserer Leute verletzen.« Er zögerte und sagte dann leiser: »Aber es ist Eure Entscheidung.«

Bonus stöhnte auf. Er wedelte mit der Hand. »Töte sie halt irgendwie. Auf ein paar Mann mehr oder weniger in unseren Reihen kommt es nicht an. Gewährleiste mir nur, dass niemand diesem Schiff Schaden zufügt.« Darum bemüht, das schreckliche Knirschen nicht hervorzurufen, schritt Bonus langsam über den Sand auf das Schiff zu und watete in die Brandung hinein.

Als er seine Beute erreichte, schwappten die Wogen gegen seinen Bauch. Neugierig streckte er den Hals und musterte das Innere. Es war so, wie Gisulf gesagt hatte: Kein geheimer Antrieb war zu sehen. Nur Ruderbänke, Riemen, ein paar Proviantfässer und die Habseligkeiten der Mannschaft. Ein Mast mit einem Großbaum lag in der Mitte. Daneben ein zusammengerolltes Segel aus wollenem Tuch. Wie es schien, ließ der Mast sich aufstellen, wenn die Winde günstig waren. War das nicht der Fall, ruderte stattdessen die Mannschaft. Ein einfaches Prinzip. Aber das kannten schon die Römer. Wo lag das Geheimnis dieser Konstruktion? Gedankenverloren strich Bonus über das Dollbord. Dem bunt bemalten Holz war eine grüne Schicht gewachsen, die nun an seinen Händen klebte.

Etwas traf ihn am Kopf. Er taumelte und musste sich an einem der Riemen festhalten, um nicht ins Wasser zu stürzen.

»Nimm die Finger von meinem Schiff, Qualle!«, dröhnte eine Stimme in seinem Rücken. Bonus tastete nach seinem Kopf. Drei Männer näherten sich eiligen Schrittes dem Strand. Der Vordere war hochgewachsen, ein grauer Bart verlängerte sein schmales Gesicht. Unter den zottigen Brauen glitzerten Augen wie Bergwasser, das über einen Stein fließt. Ihm folgte ein noch größerer Kerl, dem das blonde Langhaar bis auf die Schultern hing. Ein kurzer Bart umrahmte die vollen Lippen. Der Dritte war im Vergleich zu seinen Kumpanen klein. Seinen Schädel zierte schwarzes Haar, das zu kurzen Zöpfen geflochten war. Ein Mann mit Zöpfen? Wer waren diese Kerle? Und warum waren ihre Gesichter schwarz von Ruß? Bonus bellte Befehle, und fünf seiner Lanzenträger stellten sich den drei Fremden in den Weg.

Für das, was dann geschah, hatte Bonus später nur eine Erklärung: Der Irrsinn musste diesen Männern den Geist versengt haben. Ohne sich im Mindesten um die Lanzen zu scheren, eilte der Graubärtige auf die venetischen Krieger zu. Derweil warf der Zopfträger Steine nach den Wachen. Mit einer Hand hielt er einen Vorrat an Geschossen gegen seinen Bauch gepresst. Er musste sie zuvor aufgesammelt haben. Jetzt wusste Bonus auch, was ihn am Kopf getroffen hatte. Seinen Kriegern erging es nicht besser. Sie duckten sich unter einem Hagel faustgroßer Brocken und waren lange genug abgelenkt, damit der Grauhaarige die Lanzen beiseitestoßen und zwischen den Wachen hindurchkommen konnte. Da walzte er auch schon durch die Brandung und packte Bonus’ besticktes Seidenwams.

Mit einem Ruck fühlte sich der Tribun emporgerissen. Er verlor den Boden unter den Füßen. Im nächsten Moment tauchte sein Kopf ins Wasser. Ihm verging der Atem. Schon wurde er wieder hochgezogen, Mund und Augen gefüllt mit Meer. In seinem verschwommenen Blick waberte ein Gesicht.

»Einmal noch berührst du die Visundur, und die Fische werden in deinen Augenhöhlen ihren Laich ablegen.« Die Stimme des Fremden war nur ein Flüstern. Sein Griechisch klang hart, wie abgehackt. Die Worte aber waren deutlich zu verstehen.

Der Fremde sagte noch etwas, aber in Bonus’ Ohren rauschte das Wasser, und in seinen Gedanken raste der Zorn. Mit der flachen Hand schlug er dem Graubart ins Gesicht. Augenblicklich wurde sein Kopf wieder unter Wasser gedrückt. Diesmal presste sein Gegner ein Knie auf Bonus’ Brust, und er kam nicht wieder an die Oberfläche. Vergeblich versuchte er, sich zu befreien. Doch ebenso gut hätte er versuchen können, den Ätna beiseitezuschieben. Dann wurde er wieder hochgerissen. Das Wasser in seinem Mund schluckte er hinunter. Husten schüttelte ihn. Noch immer klammerten sich die Fäuste in seine Kleider.

Wo blieben nur Gisulfs Männer?

»Was willst du?«, krächzte Bonus, in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen. Das Salz in seinem Schlund erregte einen kapitalen Brechreiz.

»Lass meine Mannschaft frei.« Aus dem Bart des Fremden regnete Salzwasser herab. Seine Augen sprühten Funken.

Bonus wandte den Kopf. Da standen sie unschlüssig am Strand, Gisulf und seine Leute. Sie duckten sich unter einem Hagel von Wurfgeschossen, denn nun hatte auch die gefangene Mannschaft damit begonnen, Steine aufzuklauben und damit nach den Venetern zu werfen. Einige wichen aus, andere rannten auf die Besatzung zu, die gezückten Schwerter in der erhobenen Faust. Aber ihre Opfer liefen einfach davon, während von allen Seiten weitere Steine auf die Bewaffneten niedergingen, und sie sich schließlich wieder zurückziehen mussten. Schon waren die Gesichter der Veneter mit Striemen gezeichnet. Diejenigen, die Schilde trugen, hoben sie über ihre Köpfe, so als kämpften sie gegen Riesen.

Bonus tobte. Beim nächsten Mal, schwor er sich, werde ich Bogenschützen mitnehmen.

*

Der Bug des Drachenschiffs schnitt durch die Wellen, und die Gischt flog um den Steven. Die Visundur knarrte. Alrik genoss den Seewind in seinem Haar, das Beben der Planken unter seinen Füßen, das Krächzen der Raben in den Käfigen und den heiseren Gesang der Mannschaft in seinen Ohren. Nirgendwo auf der Welt gab es etwas Belebenderes, als auf einem starken Schiff die Wellen zu teilen – weder im Norden, wo der Frost Eiszapfen an die Rah hing, noch im Osten oder Süden, wo die Meere warm waren.

Mit beiden Händen hielt Alrik die Ruderpinne fest. Vor ihm saßen die Männer auf den Bänken und legten sich in die Riemen. Zwei Dutzend Rücken bogen sich wie einer, doppelt so viele Hände umklammerten die Holzstangen, und über den Köpfen wartete das Wollsegel darauf, mit Wind gefüllt zu werden. Alrik hatte den Stoff eigenhändig mit roten Streifen gefärbt, und die Möwen schmückten ihn mit Arabesken.

Die beiden Eisblöcke lagen mittschiffs, von den Schlittenkästen vor der Sonne geschützt. Darunter lief eine kleine Lache hervor und vermischte sich mit dem Wasser, das über die Bordwand ins Boot spritzte. Noch war die Schmelzpfütze klein. Bald aber würde sie größer werden, und die Mannschaft würde sich sputen müssen, wenn sie die Beute rechtzeitig in Ravenna abliefern wollte. Das Zwischenspiel am Strand hatte Zeit gekostet.

Der schwere Kerl, der versucht hatte, die Visundur zu stehlen, hockte neben einem Fass mit Frischwasser. Seine teuren Kleider hingen nass und schlapp an ihm herab. Seine weichen Hände waren vor seinem Bauch zusammengebunden. »Ein paar Tage an den Riemen würden dir guttun«, rief Alrik ihm zu. »Aber ich dulde keine Ratten auf meinem Schiff.« Ohne das Ruder loszulassen, zückte Alrik den Dolch, den er dem Gefangenen abgenommen hatte. Er untersuchte die Waffe. Über die Klinge liefen die Wellen damaszierten Eisens. Edelsteine funkelten im Griff. Alrik steckte sich den Dolch in den Mund und kaute darauf herum. Eine nach der anderen nagte er die Juwelen aus den Fassungen, spie sie in seine Hand und ließ sie in seinem feucht glänzenden Lederwams verschwinden. Dann streckte er die Klinge mit der Spitze voran dem Gefangenen entgegen.

Dessen Gesicht wurde fahl. Mit Verachtung blickte Alrik auf die bebenden Lippen des Mannes. Dann schnitt er die Hanfseile durch, die, sterbenden Schlangen gleich, zu Boden fielen. Den Dolch warf er über Bord.

»Wie ist dein Name?«, fragte Alrik und pulte einen Rubin zwischen den Zähnen hervor.

»Bonus«, kam die Antwort. »Bonus von Malamocco.«

»Warum wolltest du unser Schiff stehlen?«

Bonus schnaubte verächtlich. »Ich wollte es nicht stehlen, sondern dir einen guten Preis dafür bieten.«

»Dafür musstest du meine Mannschaft gefangen setzen? Ich verstehe.« Alrik blickte über seine Schulter nach Westen. Dort hing die Sonne über dem Horizont. Die drei Dromonen waren zu winzigen Punkten zusammengeschrumpft.

»Du kannst jetzt gehen, Bonus«, fuhr Alrik fort.

»Wollt ihr mich hier an Land setzen?«, fragte der Gefangene. Er suchte den Horizont ab.

»Siehst du denn eine Küste?«

»Nein. Aber es lässt sich doch bestimmt eine erreichen.«

Alrik strich sich den Bart glatt. »Kaum schenke ich dir das Leben, schon bist du Kapitän dieses Schiffs. Du musst entweder der Sohn eines Gottes sein oder der des Größenwahns.«

»Wessen Sohn ich bin, werdet ihr schon bald herausfinden«, rief Bonus. »Ich bin ein Edeling aus Rivo Alto und werde bald der mächtigste Mann an der Adria sein. Und du bist nur ein«, er fischte nach Worten, »ein Eispirat. Bald wirst du die Peitsche zu schmecken bekommen.«

»Zuvor werden die Haie etwas zu schmecken bekommen. Bjor! Wirf den Hoflecker über Bord!«

Der blonde Hüne wuchs aus den Reihen der Ruderer empor und sprang behände auf Bonus zu. »Mit dem da die Fische füttern?«, fragte Bjor, fasste Bonus mit seinen Rudererfingern in den Schritt und packte seinen Kragen. Während er den um sich Schlagenden zur Bordwand zog, keuchte er: »Hoffentlich wird den armen Tieren nicht schlecht.« Dann schleuderte er das Bündel, zu dem sich Bonus von Malamocco zusammengekrümmt hatte, über Bord.

»Hoffentlich sehen wir den nicht wieder«, sagte Bjor und wischte sich die Finger an seinen geschnürten Wollhosen ab.

»Das hoffe ich auch«, stimmte Alrik zu. Aber als er zurückblickte und den Kopf auf den Wellen tanzen sah, ahnte er, dass er Bonus von Malamocco nicht zum letzten Mal begegnet war.

*

Gisulf brachte trockene Tücher und einen Becher Wein. Bonus griff danach und wollte beides ins Meer schleudern. Aber die Bordwand der Dromone war zu hoch. Das Tuch blieb hängen und wehte über das Deck. Der Wein spritzte gegen den Deckaufbau.

»Was soll das?«, keifte Bonus. »Wischlappen und Seemannspisse! Bring mir richtigen Wein und ein Tuch, das es verdient hat, meinen Körper zu berühren.«

Gesenkten Blickes schlich Gisulf davon. Wütend trat Bonus mit dem Fuß auf. Ein saugendes Geräusch drang aus seinem Stiefel. Noch immer lief das Meerwasser aus seinen Kleidern, brannte in seinen Augen und verstopfte seine Ohren. Immerhin waren seine Schiffe schneller bei ihm gewesen als die Haie. Zwar hatte Gisulf ihn beruhigen wollen und behauptet, in diesen Regionen gebe es die Meeresräuber überhaupt nicht. Doch davon wollte Bonus nichts wissen. Mit knapper Not war er dem Tod entronnen. Daran gab es nichts zu beschönigen. Wenn er erst wieder in Rivo Alto war, würde er seine Begegnung mit einem Hai zum Gespräch der Stadt machen. Damit mochte er immerhin einen kleinen Vorteil aus dieser unglücklichen Episode schlagen.

Gisulf kam mit einem neuen Tuch zurück. Es war so weiß wie Walbein. Nur Gott wusste, wo er den Stoff aufgetrieben haben mochte. Bonus riss ihn dem Kapitän aus der Hand und tupfte sich die Haare trocken. Der Seewind zog kalt über seine Kopfhaut.

»Besseren Wein haben wir nicht an Bord. Verzeiht, Herr.«

Bonus grunzte unter dem Tuch hervor und reckte Gisulf die Stiefel entgegen, damit dieser ihn von dem nassen Leder befreite. Obwohl das ein Sklavendienst war, folgte der Kapitän der Aufforderung widerspruchslos.

»Woher, glaubst du, kamen diese Männer?«

Gisulf schüttelte den ersten Stiefel aus. Wasser rann aus dem Schaft. »Einer war ein Araber, aus Sizilien vielleicht. Die anderen …«

Bonus unterbrach ihn. »Ich weiß selbst, woher Sarazenen, Franken und Langobarden kommen. Ich frage nach diesen hochgewachsenen Seeleuten, denen das Schiff offenbar gehört. Sie sind mit zwei riesigen Eisblöcken von einem ausbrechenden Vulkan heruntergekommen und haben unsere Leute waffenlos bezwungen. Das ist der Stoff, aus dem Lagerfeuergeschichten gesponnen werden. Nur würden wir darin als Schneckenhirne auftauchen.«

Gisulf stopfte Stroh in Bonus’ Stiefel und stellte sie ins Sonnenlicht. Dann strich er sich über die Haare. »Es gehen Gerüchte über Krieger aus dem Norden. Sie sollen Riesen sein. Entlang der Flüsse im Frankenreich tauchen ihre Schiffe auf wie aus dem Nichts. Wenn sie wieder verschwinden, nach wenigen Augenblicken, sind Dörfer und Klöster an den Ufern verwüstet und geplündert. So schnell sollen sie herankommen, dass den Angegriffenen keine Zeit bleibt, eine Gegenwehr zu organisieren.«

»Du glaubst, eines dieser Schiffe hat sich ins Mare Nostrum verirrt?« Bonus fühlte seine Wut verrauchen. Dieser Kapitän war vielleicht doch zu etwas zu gebrauchen.

»Das weiß ich nicht, Herr. Von Überfällen an unseren Küsten habe ich noch nichts gehört. Aber ebenso wenig habe ich jemals ein Schiff wie dieses gesehen. Sein Tiefgang war so gering, dass es bis an die Küste herangefahren werden konnte, fast bis in die Brandung hinein.«

Bonus nickte. »Ist dir aufgefallen, wie sie ablegten?«

Gisulf beugte sich zu Bonus hinunter und flüsterte mit verschwörerischer Stimme: »Sie mussten das Schiff nicht wenden. Sein Heck ist das Ebenbild seines Bugs. Nur die Ruderer müssen sich auf den Bänken umdrehen. Schon fährt es in die entgegengesetzte Richtung.«

Bonus legte eine Hand ans Kinn und tippte mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. »Du hast natürlich versucht, diese Visundur einzuholen.«

»Wie ich schon sagte: Bevor wir in den Booten waren und die Dromonen bemannt hatten, war das Schiff schon in den Wellentälern der offenen See verschwunden.«

Bonus suchte den Horizont ab. Das Schiff war nirgendwo zu sehen. Trotz seiner Demütigung fühlte er sich mit einem Mal am Ziel. »Tatsächlich, es scheint verschwunden zu sein. Aber ich glaube, ich weiß, wo es wieder auftauchen wird.« Bonus nickte, in Gedanken versunken, dann sagte er: »Kapitän Gisulf, nimm Kurs auf Ravenna. Versprich den Ruderern ein Stück Bruchsilber, wenn wir morgen zur Mittagsstunde dort eintreffen.« Zuversichtlich begann er, sich aus seinen nassen Kleidern zu schälen.

Kapitel 3

Ravenna, der Hafen

Alrik gab das Zeichen, und der zweite Eisblock krachte auf den Boden des Lagerhauses. Stöhnend schoben sich Bjor und Ingvar die nassen Riemen von den Schultern und zogen sie unter dem Block hervor. Das Leder sirrte.