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Die Olympischen Spiele stehen heute für Völkerverständigung, Frieden und Fairness. Doch die antiken Vorbilder waren keineswegs so weihe- und würdevoll, wie wir bislang dachten – im Gegenteil: Im heiligen Hain flogen die Fetzen.
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Seitenzahl: 288
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Husemann, Dirk
Spiele, Siege und Skandale
Dirk Husemann erzählt vom antiken Olympia
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E-Book ISBN: 978-3-593-40312-0
Zwanzig nackte Männer stehen in einem engen Gang. In dem Tunnel ist es kühl und still. Sie warten: darauf, dass sich das Gitter vor ihnen öffnet, dass die Kampfrichter das Signal geben, dass sie hinaustreten können in die Hitze des griechischen Sommers, dass der Beifall brandet und die Zuschauer ihre Namen schreien.
Wer durch diesen Tunnel auf die Kampfbahn Olympias tritt, geht durch eine Schleuse in ein anderes Leben. Es mag das Leben eines Gewinners sein, gefeiert in ganz Griechenland, mit einem Namen, der noch Jahrhunderte später berühmt sein wird. Auf ihn warten Sorglosigkeit, Reichtum und Luxus. Andererseits mag es das Leben eines Besiegten sein, geschmäht in der Heimat, verachtet und verspottet für den Rest seiner Tage. Denn eines gibt es in Olympia nicht: einen zweiten Platz. Nur wer vorne liegt, gewinnt. Alle anderen sind Verlierer.
Die Männer werden unruhig. Noch warten die Kampfrichter mit dem Signal. Bevor der Wettlauf beginnt, wollen sie die Spannung knistern hören – im Publikum und unter den Athleten. Einer der Läufer nimmt einen Stein auf und ritzt einen Spruch in den Muschelkalk der Tunnelwand: »Polites ist der Schnellste.« Ein anderer stößt ihn beiseite und schreibt darunter: »Der am Boden liegt.« Nervöses Lachen hallt von den Tunnelwänden. Für einen Moment fühlen sich die Männer verbunden, so, als wären sie Freunde. Aber der Augenblick verfliegt. Die Kampfrichter klatschen in die Hände, und da öffnet sich das Tor.
Ein Hexenkessel verschlingt die Athleten. 45000 Gesichter starren auf sie herab. Der Lärm ist ungeheuerlich. Angesichts der anonymen Menge schrumpft alle Hoffnung, die eigene Familie unter den Zuschauern erkennen zu können, auf Daumennagelgröße. Wer das Stadion Olympias betritt, steht inmitten von Tausenden und doch am einsamsten Ort der Welt. Zwar haben |8|die Trainer ihre Schützlinge immer wieder auf diesen Moment vorbereitet, aber jetzt setzen sich die Athleten nur zögernd in Bewegung.
Langer Weg zum Ruhm: Durch diesen Gang zogen die Athleten ins Stadion ein. Die Decke des Tunnels ist nur in einem Bogen erhalten.
Zu allem Überfluss liegen die Startschwellen für den Stadionlauf am anderen Ende der Bahn. Bar und bloß, wie es für Sportler üblich ist, marschieren sie vorbei an der Menge, grüßen die Kampfrichter, die auf der Hälfte der Strecke auf ihren Steinsitzen das Stadion überblicken wie Feldherren das Schlachtfeld, dann ist das andere Ende der Laufbahn erreicht. Pfosten mit Fähnchen ragen aus der Startschwelle. Jeder Läufer stellt sich neben einem der Pflöcke auf – und wartet.
Jetzt erreicht die Spannung ihren Höhepunkt. Die Rufe auf den Rängen werden leiser, das Geschrei verebbt. Jeder will das Startsignal hören, die Dauer des Rennens in voller Länge auskosten – zwei Minuten, die die Welt bedeuten. Viele Zuschauer haben eine wochenlange Anreise auf sich genommen, nur um diesen Moment zu erleben. Da hebt der Signalgeber die Arme. »Apite!«, schreit er, klatscht die Hände über dem Kopf zusammen und die Läufer schießen aus der Startschwelle.
|9|Sofort schwillt der Lärm wieder auf den höchsten Pegel an. Die Füße der Athleten trommeln über den Sand, der Puls hämmert und der Applaus donnert. Obwohl die Läufer so schnell wie möglich rennen, scheint die Strecke länger geworden zu sein, als sie es eben noch beim Abschreiten war. Aber alles, was jetzt noch zählt, ist der Abstand zu den Gegnern, das Rasseln ihres Atems, ihr Schweißgeruch in der Nase. Die Tribüne der Kampfrichter fliegt vorbei, der Altar der Demeterpriesterin bleibt zurück, die Gesichter verwischen. 40 Beine rasen auf die Zielschwelle zu. Als der erste Fuß den kühlen Stein berührt, toben die Zuschauer wie die Barbaren. Olympia hat einen neuen Sieger.
Wo die Fans in der Antike johlten, zwitschern heute Vögel und zirpen Zikaden. Wo Läufer um die Wette keuchten, liegen Ruinen. 1700 Jahre ist es her, seit im antiken Olympia zum letzten Mal jemand »Apite!« rief, ins Starthorn blies oder mit einem Kranz aus Olivenzweigen gekrönt wurde. Auch wenn es die Spiele der Antike nicht mehr gibt, der Ruhm Olympias ist unvergänglich.
Schriftsteller und Maler, Könige und Generäle, Forscher und Philosophen besuchten den Ort in Westgriechenland. Der unschlagbare griechische Feldherr und Herrscher Alexander der Große war hier, der verrückte römische Kaiser Nero und der weise Herodot, der »Vater der Geschichtsschreibung«. Riefen die Olympischen Spiele, ließen die griechischen Denker Sokrates, Platon und Aristoteles den Schreibgriffel fallen und sich in Olympia sehen, der Gelehrte Pythagoras kam und sogar der Urvater der Medizin, Hippokrates, verfolgte das Spektakel im Stadion, wohl nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse.
Wer nach Olympia reiste, suchte die Sensation. Würgen, Quetschen, Knochenbrechen waren im Stadion an der Tagesordnung. Gegen Regeln zu verstoßen fiel den Athleten schwer – es gab kaum welche. Nur im Notfall züchtigten die Kampfrichter die Sportler kurzerhand mit dem Stock. Die Athleten selbst rangen keinesfalls demütig im Namen der Götter, sondern prügelten sich um Preisgelder, deren Höhe heutige Ablösesummen beim Profifußball in den Schatten gestellt hätte. Olympia war schon immer das große Geschäft.
Das Licht der Spiele fiel noch viel später und fernab von Griechenland auf Läufer, Springer, Wagenlenker: In Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, kämpften Sportler noch nach Jahrhunderten im Namen Olympias um den Sieg, während sich am ehemaligen Ort des Geschehens längst Stadion, Tempel und Altäre in Trümmer verwandelten. In Großbritannien rief der Rechtsanwalt Robert Dover im 17. Jahrhundert die »Olimpick Games« ins Leben, |10|1850 gründeten Engländer die »Olympian Society« und feierten Sportfeste unter dem Namen Olympias und den schweren Wolken Großbritanniens. Der Franzose Pierre de Coubertin rief 1896 die Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen aus. Olympia ging um die Welt.
Das Jubeln der Zuschauer ist bis heute dasselbe, aber die Arenen der modernen Olympischen Spiele sind Tempel der Technik und stehen in Weltstädten wie Los Angeles, Sydney, Tokio und Athen, wo 2004 das Sportfest nur eine Tagesreise von seinem Ursprungsort gefeiert wurde. Nach Olympia selbst aber pilgern nur noch Forscher und Touristen.
Vom Zeustempel, einst eines der mächtigsten Bauwerke Europas, ist nur noch der Sockel erhalten. Kundige Wissenschaftler haben eine einzige Säule nachbauen lassen, um die damalige Größe des Tempels zu demonstrieren. Zwischen den Ruinen suchen Archäologen nach den Bruchstücken umgestürzter Säulen, Hunderttausende Steine von Gebäuden und Mauern warten darauf, am rechten Fleck eingepasst zu werden. Olympia ist das größte Puzzle der Welt.
Durch den Tunnel, der zum Stadion führt, gehen die Besucher vorsichtigen Schrittes. Nicht, weil der Untergrund rutschig wäre, sondern weil der Ort so alt ist, dass Ausgelassenheit zunächst nicht aufkommen will. Die Inschrift des Polites, der von sich behauptete, er sei der Schnellste, hat der Zahn der Zeit abgenagt. Die Hänge des Stadions sind wieder aufgeschüttet, aber die Zuschauer kommen nie mehr in Massen. Vereinzelte Touristen spazieren durch das Gras, das hier nun in Seelenruhe wachsen kann, ohne von einer Menschenmenge zertrampelt zu werden. Viele stehen bewundernd vor der Startschwelle, die noch immer an Ort und Stelle erhalten ist, abgewetzt von unzählbaren Füßen. Diese Kalkblöcke waren einmal Prüfstein der besten Sportler der antiken Welt. In ihre Fußstapfen zu treten ist ein so großer Reiz, dass noch heute die Wagemutigsten einer Reisegruppe ihre Fersen in die Rillen stemmen und auf das Startsignal warten. Spätestens jetzt ist es vorbei mit zaghaftem Schreiten und ehrfurchtsvollem Staunen. Von irgendwoher ruft jemand »Apite!« und die Läufer schießen aus den Schwellen, die Füße trommeln über den Sand, der Puls hämmert und der Applaus donnert.
Olympia ist unsterblich.
Olympia schlägt Weltrekorde. Der Winkel in Westgriechenland ist der sportlichste Ort der Erde. 1100 Jahre lang zog Olympia Athleten an. Kein Sportplatz der Geschichte war länger geöffnet, keiner sah mehr Schweiß und Tränen, nirgendwo tauchten so viele Prominente auf, waren Sport, Kunst und Politik so dicht miteinander verwoben. Wenn im Sand der Kampfbahn die Stärksten und Schnellsten um den Sieg rangen, saßen die Götter auf den Tribünen.
Wie alt die Olympischen Spiele sind, weiß niemand. Eine Inschrift erwähnt das Jahr 776 vor Christus. Zwar ist kein Dokument überliefert, das noch frühere Zeiten nennt, aber Archäologen haben Spuren gefunden, die weiter in die Vergangenheit zurückreichen, bis ins 2. Jahrtausend vor Christus, eine wilde Zeit, in der fremde Völker durch Griechenland zogen und Krieg und Verwüstung brachten.
Als Beginn der offiziellen Zählung aber gilt das Jahr 776 vor Christus. Wie weit dieser Zeitpunkt zurückliegt, ist für den modernen Menschen schwer vorstellbar. Zweitausendsiebenhundertdreiundachtzig Jahre – schon das Wort macht die Zunge schwer und das Auge müde – sind seither vergangen. In diesen Zeitraum passt ein Großteil der europäischen Geschichte hinein, mitsamt allen Königen, Kirchen, Kunstwerken und Kriegen. Gäbe es eine Familie, die seit 776 vor Christus eine Chronik ihrer Vorfahren führte, könnten die heutigen Familienmitglieder auf einen Ahnen stolz sein, der 150 Mal die Vorsilbe Ur- vor dem Großvater stehen hätte.
Geschichte aber ist eine Frage der Perspektive. Was einem heutigen Menschen mit einer Lebensspanne von 70 Jahren groß wie ein Leuchtfeuer erscheint, wirkt im Angesicht der Weltgeschichte nur wie ein Funke. Die Griechen der Antike tragen heute den Beinamen »die Alten«, aber sie standen keineswegs am Beginn der Zivilisation, sondern nutzten Erfindungen, die schon 2000 Jahre früher gemacht worden waren. Die Schrift war um 3500 vor Christus |12|im heutigen Irak entstanden, die erste Großstadt um 3000 vor Christus in Ägypten gebaut geworden. Die Mesopotamier brachten Texte wie das Gilgamesch-Epos hervor, die Chinesen handelten mit Münzen statt mit Naturalien, die Ägypter bauten eine Pyramide nach der anderen. Auf dem Mittelmeer kreuzten Flotten von Handelsschiffen zwischen Kulturen und Reichen und brachten ägyptische Vasen nach Kreta und italienisches Eisen nach Griechenland. Es gab Abwasseranlagen und Bierbrauereien, Parfüm und Emaille, Glaskunst und den Fackeltelegrafen, Brücken und Blitzableiter. Als in Olympia die ersten Athleten gegeneinander antraten, errichteten die Menschen bereits seit Jahrtausenden Tempel und schufen Skulpturen und Malereien mit einer Kunstfertigkeit, die noch im 20. Jahrhundert Picasso erstaunte.
Die Olympischen Spiele begannen spätestens 776 vor Christus und endeten 393 nach Christus, als sie der römische Kaiser Theodosius verbieten ließ – dem christlichen Herrscher waren die Wettkämpfe zu Ehren der alten Götter zu heidnisch, als dass er ihnen weiterhin den Segen geben wollte. Damit hatte Olympia 1169 Jahre Bestand. So lange hielt sich kein Reich der Geschichte. Sogar die zähen Römer, Rekordhalter im Dauerherrschen, brachten es nur auf knapp 1000 Jahre. Kein Heiligtum Europas war kontinuierlich so gut besucht: Wer heute voller Ehrfurcht zu den gotischen Kathedralen des Mittelalters aufschaut, sieht 700 Jahre alte Bauwerke – die Tempel und Altäre Olympias aber standen mehr als 400 Jahre länger in Dienst. Wenn Erfolg an Stehvermögen gemessen werden kann, schlug das antike Olympia alle Rekorde der Geschichte.
Blaue Augen für die Götter
Sagenumwoben waren die Olympischen Spiele schon in grauer Vorzeit. So gibt es gleich mehrere Legenden, die sich um den Ort Olympia und die Entstehung der Spiele ranken. Der gängigen griechischen Vorstellung zufolge sollen Helden und Götter die Drahtzieher bei der Erschaffung Olympias gewesen sein.
Für gewöhnlich thronten die Unsterblichen auf dem Gipfel des Olymp, dem griechischen Götterberg im 300 Kilometer entfernten Thessalien. Wenn aber die Spiele begannen, zogen Zeus und seine Göttersippe in die Landschaft Elis. Das glaubten jedenfalls die Griechen. Der Legende nach hatte sich |13|in Olympia einst das Schicksal der Welt entschieden. Zwischen den Flüssen Alpheios und Kladeos soll es zu einem Kampf der Giganten gekommen sein. Auf der einen Seite: Kronos, ein Titan mit wenig rühmlicher Vergangenheit. Seinen Vater hatte er mit einer Sichel entmannt, seine Kinder aufgefressen. Auf der anderen Seite: Zeus, der einzige überlebende Sohn des Kronos, durch eine List seiner Mutter vor dem Vater verborgen. Jetzt sann er auf Rache. In Elis prallten die Gegner aufeinander. Es sollte der erste Wettkampf Olympias sein.
Zeus besiegte seinen Vater. Details des Ringens sind nicht bekannt, aber da Zeus auch »der Blitzeschleuderer« hieß, ist vorstellbar, wie es an jenem Tag in Elis zugegangen sein muss. Der bezwungene Kronos musste die Geschwister des Zeus wieder ausspeien und wurde in den Tartaros verbannt, den tiefsten Teil der Unterwelt. Von den Geretteten bejubelt, bestieg Zeus den Götterthron – ein Grund zum Feiern.
Das Fest der Götter war die erste Siegerehrung in Olympia. Zeus schien das Treiben auf der Ebene gefallen zu haben. Anlässlich seines Sieges rief er Wettspiele aus. Die Götter selbst gingen an den Start. Hermes, der Gott der Reisenden, trat gegen Apollon, den Heil- und Musengott, zum Wettlauf an – und verlor. Apollon soll auch Ares, den Kriegsgott, im Faustkampf besiegt haben. Die Geschichte vom Wettkampf der Unsterblichen in Olympia ist der älteste Sportbericht der Welt.
Wo die Götter spielen, ist kein Platz für Menschen. Die Sterblichen kamen erst später nach Olympia. Bis dahin blieb der Ort verlassen. Aber eines Tages tauchte ein seltsamer Bursche dort auf, wo Zeus einst den Kronos bezwungen hatte. Mit ihm begann die Geschichte der Olympischen Spiele.
Supersportler Herakles
Er war der stärkste Mann der Welt und der größte Held der Griechen. Nicht einmal die Kampfmaschine Achilles und der Pfiffikus Odysseus, beide Hauptfiguren des trojanischen Krieges, waren beliebter. Wer sich in Griechenland Geschichten erzählte, der erzählte von Herakles.
Sein Name ging um die Welt. Bei den Römern hieß er Hercules, später bei den Deutschen Herkules. Könige wie Alexander der Große nannten ihre Kinder nach ihm, Komponisten wie Georg Friedrich Händel schufen |14|Opern in seinem Namen, Motorradmarken, Kaufhausketten und Transportflugzeuge vergleichen sich noch heute mit dem großen Vorbild aus der Antike. Sogar eine Pflanze erinnert an den Kraftprotz aus Griechenland: die Herkulesstaude, die auch Riesenbärenklau heißt und 3 Meter groß werden kann.
Einen Nachnamen trug Herakles nicht. In der Antike hatte niemand einen. Man begnügte sich damit, Menschen beim Vornamen zu rufen. Selbst Führungskräfte wie Gaius Julius Cäsar waren davon nicht ausgenommen – Cäsar war kein Nachname, sondern ein Beiname der Familie, so wie ihn später Karl der Kahle, Iwan der Schreckliche oder Friedrich der Gebissene trugen. Herakles konnte auf solche Anhängsel verzichten. Wer diesen Namen hörte, der wusste, wer gemeint war.
Herakles war kein Kind von schlechten Eltern. Sein Vater war Zeus, der oberste Griechengott, und das bedeutete Ärger. Dem Sprössling des Zeus schwebte keinesfalls ein Heiligenschein über dem Haupt. Im Gegenteil. Zeus hatte den Nachkommen mit Alkmene gezeugt, einer Sterblichen, deren Reizen selbst ein Gott nicht widerstehen konnte. Der Seitensprung aber hatte Folgen.
Hera, der Gattin des Zeus, blieben die Eskapaden ihres Mannes nicht verborgen. Zunächst hatte Athene, Göttin des Friedens und des Krieges, selbst eine Tochter des Zeus und damit die Halbschwester des Jungen, es mit der ihr eigenen Raffinesse geschafft, Hera den Knirps unterzujubeln. Die Göttin erkannte nicht, wer in ihrem Schoß lag, empfand aber Mitleid mit dem Knaben und säugte ihn an ihrer Brust. Damit ging der Plan Athenes auf. Mit der Milch bekam das Kind die übermenschliche Stärke der Götter und seinen Namen: Herakles, der von Hera Gerühmte. Danach brachte Athene den Jungen zurück zu seiner sterblichen Mutter.
Die getäuschte Hera, machtlos gegenüber dem ungetreuen Obergott, ließ das Kind ihre Wut spüren. Sie legte ihm zwei Schlangen in die Wiege und schickte ihm Wahnsinnsanfälle. Der kräftige Knabe aber erwürgte die Schlangen mit seinen eigenen Händen.
Auch der erwachsene Herakles war ein Kraftprotz, wie er im Buche steht. Für den König Eurystheus musste der Halbgott zwölf Aufgaben lösen, jede einzelne davon absurd schwierig. Dank seiner Kraft aber überstand Herakles jede Gefahr. Er kämpfte mit Untieren wie dem Nemeischen Löwen, einer Raubkatze mit unverwundbarem Fell, die Herakles kurzerhand erwürgte. |15|Er rang mit der Hydra von Lerna, einer Schlange mit mehreren Köpfen. Er zerrte den Höllenhund Kerberos aus der Unterwelt herauf und hetzte ein Jahr lang hinter der Hirschkuh der Artemis her. Als jedoch Herakles die Aufgabe bekam, die Ställe des Augias zu reinigen, war ein großer Bizeps nicht genug und guter Rat teuer.
Augias war König von Elis, jener Landschaft in Westgriechenland, in der Zeus und Kronos ihre folgenschwere Begegnung hatten. Berühmt war Augias vor allem wegen seines Reichtums an Rindern. 3000 Tiere soll er besessen haben, kein Pappenstiel. Selbst heute bringt es ein großer europäischer Züchter nur auf 700 Rinder. In der Antike mögen zwei Dutzend Tiere bereits Reichtum bedeutet haben. Mit einer Herde von 3000 war der Herrscher von Elis auch König der Kühe.
Wer reich ist, muss nicht reinlich sein. In den Ställen des Augias war seit 30 Jahren nicht ausgemistet worden. Hier aufzuwischen erforderte Fachpersonal – eine Aufgabe für Herakles.
Augias muss verzweifelt gewesen sein. Er versprach dem Halbgott den zehnten Teil seiner Herde für die Reinigung der Ställe. Eurystheus aber knüpfte noch eine Bedingung an die Arbeit: Herakles musste sie binnen eines Tages erledigt haben. Dem Halbgott schien das nicht zu schwierig. Während Eurystheus sich bereits händereibend auf das Scheitern des Herakles freute, warf dieser einen Blick in den Stall und einen in die Landschaft. Dann brach er das Fundament des Gebäudes an einer Seite auf, grub mit seinen Bärenkräften einen Kanal und leitete die Flüsse Peneios und Alpheios um, die nun mitten durch den Saustall hindurchflossen – ein Glanzstück antiken Ingenieurwesens.
Die Aufgabe war erledigt, doch König Augias wollte nicht zahlen. Um den Lohn geprellt, wurde Herakles überdies aus dem Land gejagt. Augias aber hätte wissen müssen: Wer einen Fluss aus dem Bett reißt, der stürzt auch einen König vom Thron. Herakles kehrte zurück.
Augias’ Tage waren gezählt. An der Spitze eines Heeres eroberte Herakles das Reich. Da er am Königstitel offenbar nicht interessiert war, übergab er die Herrschaft an Pyleus, den Sohn des Augias, der beim Streit um seinen Lohn für Herakles gesprochen hatte. Hier hätte die Geschichte enden können, aber Herakles war ein Sohn des Zeus – das Feiern lag ihm im Blut.
Zum zweiten Mal war ein außergewöhnlicher Kampf in Elis entschieden worden, zum zweiten Mal rief der Sieger anlässlich der Feiern Wettkämpfe |16|aus. Herakles persönlich soll sich um den Bau des Sportplatzes gekümmert haben. Er legte jene Grenzen der Wettkampfstätte fest, die später den heiligen Bezirk ausmachten, den Kern Olympias. Sogar die Maße der Laufbahn sind ein Markenzeichen des Herakles, der jene Strecke absteckte, die er laufen konnte, ohne Luft zu holen. Bei einem Halbgott waren das 192 Meter. Das Maß machte Geschichte. Über 1000 Jahre lang gaben die Menschen der Antike Entfernungen in Stadien an, so wie heute in Kilometern. Noch immer erinnert das Wort »Stadion« an das ausrangierte Längenmaß.
Der lange Atem des Herakles ist nur eine der Geschichten über die Herkunft des Stadions. Eine andere Legende berichtet, der Halbgott habe 600 Mal einen Fuß vor den anderen gesetzt, um die Laufbahn festzulegen. Auch das Abschreiten ergab eine Strecke von 192 Metern. Demnach müssen die Füße des Herakles 32 Zentimeter lang gewesen sein – Schuhgröße 52.
Der Halbgott pflanzte noch einen Ölbaum mitten in Olympia an, aus dem bei den Spielen die Zweige für die Sieger geschnitten wurden. Das Gelände rundum erklärte er zum Platz für Tafelfreuden. Fertig war die Arena. Sogar Kronos, den alten Widersacher seines Vaters, ehrte Herakles – das war üblich in der Antike, denn je beachtenswerter der Feind, desto größer die Ehre, ihn zu bezwingen. So erhielt der Titan ein Denkmal in Olympia, den höchsten Hügel des Ortes. Bislang war niemand auf die Idee gekommen, der Höhe einen Namen zu verleihen. Herakles taufte den Höcker »Staubhügel des Kronos«, weil seine Kuppe mit Schnee bedeckt war. Er ging als »Kronoshügel« in die Geschichte Olympias ein.
Und Herakles? Sein Leben endete, wie es begonnen hatte: mit einem Eifersuchtsdrama. Nach Heldentaten in Hülle und Fülle heiratete er die Königstochter Deianeira. Als sich der Gatte nach einiger Zeit der hübschen Iole zuwandte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die wütende Deianeira tränkte ein Festgewand mit dem Blut eines toten Kentauren, einem Fabelwesen mit Pferdeleib und menschlichem Oberkörper. Nicht nur war der Lebenssaft des Kentauren ein tödliches Gift, er bewirkte zudem, dass der Stoff nicht mehr von der Haut zu lösen war. Als Herakles das Geschenk seiner Ehefrau anlegte, wurde er von Höllenqualen erfasst. Halb wahnsinnig vor Schmerz warf er den Überbringer des Gewandes die Klippen hinab und tobte, dass sich die Balken bogen. Als es keinen anderen Ausweg mehr zu geben schien, ließ er sich auf einen Berg tragen und dort auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Hier könnte die Geschichte traurig enden. Aber zum Glück sind Götter unsterblich|17|. Athene führte den Geist des Herakles auf den heiligen Berg, wo er die ewige Jugend als Belohnung für seine Taten erlangte. Sogar mit Hera söhnte sich Herakles aus. Happy End auf dem Olymp.
Pelops – fiese Tricks beim Wagenrennen
Die Idee, dass der erste Startschuss in Olympia von den Göttern ausgelöst worden sei, wie es die Legende besagte, gefiel den Eleern ganz und gar nicht. Die Bewohner der Landschaft Elis glaubten nicht an die Legende vom Kampf des Zeus und Kronos vor ihrer Haustür. Sie hatten eine andere Geschichte auf Lager. Ihr Held hieß Pelops, ein Hochleistungssportler in den Disziplinen List und Betrug.
Wie Herakles war auch Pelops Sohn eines Gottes. In diesem Fall hieß der Vater Tantalos. Tantalos war wiederum ein Sohn des Zeus, aber anders als sein rechtschaffener und mutiger Halbbruder Herakles war Tantalos das schwarze Schaf der Familie. Er missbrauchte das Vertrauen der Götter, stahl deren Speise Ambrosia von ihrer Tafel und gab den Sterblichen davon zu essen. Er stahl einen goldenen Huf aus dem Tempel des Zeus. Auch die Geheimnisse der Götter soll er auf der Erde ausgeplaudert haben. Verständlich, dass die Unsterblichen von diesem Tunichtgut wenig begeistert waren. Dennoch duldeten sie ihn in ihrer Mitte – bis Tantalos den Bogen überspannte.
Eines Tages lud Tantalos die Götter zum Essen ein. Als Hauptspeise reichte der Hausherr seinen Gästen ein blutiges Gericht: seinen Sohn Pelops, den er zuvor getötet und nach Rezept hatte zubereiten lassen. Nicht, dass Tantalos seinen Sohn gehasst hätte. Ihm war daran gelegen, die Götter auf die Probe zu stellen. Waren sie wirklich allwissend? Erkannten sie, die so gern schlemmten, auch diesen Betrug? Sie erkannten ihn, und das Maß war voll. Zeus verbannte Tantalos in den Tartaros, jene Unterwelt, in der auch Kronos seine Zeit absaß. Für Tantalos aber dachten sich die Götter eine raffinierte Strafe aus. Sie stellten ihn in einen Teich, dessen Wasser immer dann versiegte, wenn sich Tantalos bückte, um davon zu trinken. Über seinem Kopf hingen Zweige voller Früchte, doch sobald er danach langte, wirbelte ein Wind sie in die Höhe. Zu schlechter Letzt hing ein Felsblock über Tantalos’ Kopf, der drohte, herabzustürzen und ihn zu erschlagen. Noch heute sprechen Menschen, die ein Ziel vor Augen haben, es aber nicht erreichen können, von Tantalosqualen.
|18|Pelops überlebte. Die Götter machten es möglich. Sie warfen den zu einer Mahlzeit verarbeiteten Sohn in einen Kessel, rührten kräftig um und zogen Pelops in neu erstandener Schönheit daraus hervor – Kochen rückwärts. Nur die Schulter fehlte. Von ihr hatte die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter vorwitzig genascht, bevor der Betrug aufgeflogen war. Pelops bekam eine Prothese aus Elfenbein.
Mit neuem Leib und dem Segen der Götter machte sich der Sprössling des Tantalos auf nach Pisa. Im Goldenen Zeitalter Griechenlands lag Pisa nicht in Italien, sondern in der Nähe der Stadt Elis. Hier herrschte Oinomaos, ein König mit einem Problem. Oinomaos war prophezeit worden, dass ihm die Vermählung seiner Tochter den Tod bringen werde. Prinzessin Hippodameia aber zog die Männer an wie Olympia die Athleten. Der König musste zudem für einen Thronfolger sorgen, einen Sohn hatte er nicht. Also schmiedete er einen Plan.
Oinomaos spannte die Pferde an. Jeder Freier seiner Tochter musste gegen den König auf der Rennbahn gewinnen. Die Strecke war beachtlich, sie ging von Pisa bis nach Korinth, quer durch Griechenland. Wer die Herausforderung annahm, bekam einen Vorsprung und durfte mit Hippodameia in seinem Wagen davonfahren. Dann nahm Oinomaos die Verfolgung auf. Gelang es ihm, den Freier einzuholen, durchbohrte er ihn von hinten mit dem Speer, schlug ihm den Kopf ab und nagelte das Haupt über das Tor seines Palastes. Was die Bewerber nicht wussten: Das Wagenrennen hatte einen Pferdefuß. Die Rosse des Oinomaos waren keine gewöhnlichen Rennpferde, sondern ein Geschenk des Kriegsgottes Ares und so schnell, dass der König immer gewann.
Dann kam Pelops. Über dem Palasttor Pisas baumelten bereits ein Dutzend Köpfe, als der Sohn des Tantalos vor Oinomaos erschien und den König herausforderte. Pelops hatte eine List im Gepäck. Er bestach den Wagenlenker des Königs, damit dieser die bronzenen Achsnägel durch solche aus Wachs tauschte. Das Rennen begann, das Wachs schmolz, Oinomaos stürzte sich zu Tode. Olympia hatte den ersten Sieger und den ersten Sportunfall.
In einer anderen Version der Geschichte ließ Pelops seine Beziehungen zu den Göttern spielen. Poseidon, Gott des Meeres, rüstete Pelops für das Wagenrennen mit vier geflügelten Pferden aus und sorgte überdies dafür, dass Oinomaos tödlich stürzte. Zugleich warf Zeus Blitze auf den Königspalast, der bis auf die Grundmauern niederbrannte. Wem die Götter zur Seite stehen, dem helfen sie gründlich.
|19|Geschichte hinterlässt Spuren. So wie heute die Ruinen des antiken Olympia noch immer aus der Landschaft ragen, soll auch vom Palast des Oinomaos eine einzige Säule erhalten geblieben sein. Sie war noch jahrhundertelang als Teil der Pferderennbahn zu sehen und wird von dem römischen Reiseschriftsteller Pausanis detailliert beschrieben. Hier soll auch ein Schulterblatt aufgetaucht sein. Die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte verschwammen. Bis heute konnten Archäologen weder Säule noch Körperteil finden. Solange sich das nicht ändert, bleibt die Geschichte von Pelops und Hippodameia ein Traum.
Es mag Diplomatie gewesen sein, die Pelops dazu bewog, Festspiele zu Ehren des toten Königs abzuhalten. Vielleicht versuchte er so, jeden Betrugsverdacht von sich abzuwaschen. Olympia jedenfalls erlebte nach dem sagenhaften Wagenrennen die ersten Sportwettkämpfe.
Platz ist in der kleinsten Geschichte. Um dem beliebten Herakles nicht die Leistung abzusprechen, bauten ihn die Eleer in die Handlung ein. So soll der halbstarke Halbgott die Wettkämpfe auch in dieser Version der Legende wiederbelebt haben, aber dieses Mal nicht zu Ehren seines Vaters Zeus, sondern im Namen des Pelops. Das Ergebnis war dasselbe: Eine tausendjährige Tradition begann.
Hattrick für König Iphitos
In Olympia kämpften selbst die Legenden um den Sieg, dessen Prämie der Anspruch auf Wahrheit war. Während mancher Zuschauer in Olympia auf Zeus als Begründer der Spiele pochte, beharrten andere auf Pelops. Herakles-Fans konnten sich dieser wie jener Seite zuwenden. Die Rollen aber waren noch nicht alle verteilt.
Auf der Bühne der Gründungslegenden war noch Platz für einen weiteren König von Elis. Iphitos regierte das Land im 8. Jahrhundert vor Christus. Er muss mit Oinomaos verwandt gewesen sein: So wie der frühere König forderte auch Iphitos jeden Mann zum Wettkampf heraus, der seine Schwester heiraten wollte. Spezialität des Iphitos und seines Vaters Eurytos war das Bogenschießen. Niemand traf das Ziel so exakt und schnell wie die beiden Herrscher – bis Herakles auftauchte. Der Halbgott hatte ein Auge auf die Königstochter geworfen. Es war Iole, jene Liebelei des Herakles, für die er sich die tödliche Eifersucht seiner Frau einhandeln sollte.
|20|Wie zu erwarten gewann Herakles den Wettbewerb, aber Eurytos und Iphitos verweigerten ihm den Preis. Der Betrug sollte Folgen haben.
Zunächst aber hatte Iphitos andere Sorgen. Pest und Krieg wüteten im Land. Soldaten aus Pisa bedrängten die Grenzen auf der einen und Krieger aus Sparta auf der anderen Seite. Elis stand vor dem Kollaps. Was tun? War ein Held oder König in der Antike ratlos, wandte er sich an die Götter. Die Unsterblichen gaben jedoch keine Privataudienzen, sondern sprachen durch Orakel zu den Menschen. Das berühmteste stand in Delphi.
Wie die Zukunft im Ungewissen liegt, lag das Orakel von Delphi im Nebel. Am Berg Parnassus in Mittelgriechenland stand ein Heiligtum des Gottes Apollon – jenes Musenkönigs, der bereits bei den ersten Olympischen Spielen der Götter seine Geschwister in die Knie gezwungen hatte. Mitarbeiterin des Gottes war die Pythia, eine Priesterin, die zeitlebens im Tempel die Meinung ihres Vorgesetzten übermittelte. Wurde das Orakel befragt, setzte sich die Pythia über eine Erdspalte, aus der Dämpfe stiegen. Die Schwaden sollen die Priesterin in Trance versetzt haben, einen rauschhaften Zustand, in dem sie den Willen des Apollon empfing und verkündete. Das mag fauler Zauber gewesen sein oder schlichtweg erfunden. Archäologen haben Delphi auf den Kopf gestellt, von einer Erdspalte aber bis heute keine Spur gefunden. Auch Geologen sind davon überzeugt, dass hier niemandem heiße Dämpfe zu Kopf gestiegen sind. Dennoch ist Delphi mehr als ein Hirngespinst der Vergangenheit.
|21|Immerhin kam in Delphi der Jetset der Antike zusammen. Könige aus der heutigen Türkei reisten an, der berühmte Midas und der berüchtigte Krösus sollen in Delphi gewesen sein, Alexander der Große setzte einen Erobererfuß ins Apollonheiligtum, ebenso wie später fast jeder römische Kaiser. Sie waren nicht allein. So viele Ratsuchende strömten zusammen, dass die Öffnungszeiten des Orakels verlängert werden mussten. Konnte die Pythia anfangs nur einmal jährlich im Frühjahr befragt werden, ließ sie sich später monatlich aufsuchen. Dennoch stand vor dem Tempel immer eine Warteschlange. Aber Ungeduld kostete bereits damals mehr als Nerven. Wer reich genug war, rückte gegen Spenden einige Plätze nach vorn. Der ganze Ort mag vom Orakeltourismus gelebt haben. Schummelshow oder göttlicher Willen – das Beratungsgeschäft war schon in den Tagen Delphis ein lukratives Unternehmen.
Heiratspläne und Blutfehden, Kriegszüge und Kochrezepte, Ärger mit der Nachbarschaft und die Affäre des Ehepartners – Delphi war zugleich Unternehmensberatung und Kummerkasten. Die Antworten Apollons aber fielen meist so rätselhaft aus, dass die Fragenden sie nach Belieben auslegen konnten. Der Molosserkönig Pyrrhus wollte vom Orakel wissen, ob er die Römer besiegen könne. Darauf erhielt er die lateinische Antwort:
»Aio te, Æacida, Romanos vincere posse. Ibis redibis nunquam per bella peribis.«
Das ließ sich auf zwei Arten lesen. »Ich sage, Aeacide, du kannst die Römer besiegen. Du wirst gehen und zurückkehren und niemals in Kriegen umkommen.« (Die Anrede der Pythia bezog sich auf die Herkunft des Pyrrhus; er war ein Nachkomme des Aiakos, des Großvaters von Achilles.) Aber die Pythia war eine Virtuosin der Doppeldeutigkeit und der aufmerksame Lateiner konnte die Grammatik ebenso gut folgendermaßen verstehen: »Ich sage, dass die Römer dich, Aeacide, besiegen können. Du wirst gehen und niemals zurückkehren; in Kriegen wirst du umkommen.« König Pyrrhus entschied sich für die erste Version der Prophezeiung und machte gegen Rom mobil. Leider traf er die falsche Wahl.
In Delphi entschieden sich die Schicksale von Bauern, Herrschern und Königreichen. Das war der Ort, an dem auch König Iphitos in seiner Bedrängnis Rat suchte. Von Elis aus schickte er einen Boten zur Pythia, der |22|mit der Botschaft heimkehrte, der König möge Opfer an den Tempeln der Götter bringen und Feste feiern. Während der Zeit der Feste sollte Iphitos mit den anderen Griechen im Frieden leben. Zwar erwähnte das Orakel mit keinem Wort ein Sportspektakel oder den Namen Olympia, für Iphitos aber lag der Fall klar. Immerhin hatten die Götter einst auf dem Boden von Elis miteinander gerungen – ein Ereignis, aus dem sich nun Kapital schlagen ließ. Iphitos pochte auf die sagenhafte Vergangenheit, rief die ersten Olympischen Spiele aus und lud seine Feinde aus Pisa und Sparta ein, sich im Wagenrennen zu messen. Selbstverständlich vereinbarten die Gegner einen Waffenstillstand für die Dauer der Wettkämpfe. Elis war gerettet, die Spiele waren ins Leben gerufen, der Olympische Friede war geboren – Iphitos gelang ein Hattrick.
Aber die Vergangenheit holte den König ein. Noch einmal begegnete Iphitos Herakles. Obwohl der Halbgott um seinen Preis beim Bogenschießen betrogen worden war, zürnte er Iphitos nicht. Beide machten sich auf die Suche nach einer Herde gestohlener Rinder. In einem ungünstigen Augenblick |23|aber erlitt Herakles einen Wahnsinnsanfall – hier hatte Hera ihre Hand im Spiel – und warf Iphitos von einer Stadtmauer. Der König fand ein unsportliches Ende. Die Spiele aber sind für immer mit seinem Namen verbunden.
|22|Homers Magie für Harrys Zauber – der Beginn der Literatur
Olympia ist ein heiliger Ort mit einer Handvoll Legenden. Kaum vorstellbar, dass heute ein Sportstadion einen ähnlichen Gründungsmythos besitzt – oder gleich mehrere. Wer die olympischen Sagen auf die Münchner Fußballarena überträgt, der müsste erzählen, wie der bayerische Ministerpräsident (Oinomaos) gegen Michael Schumacher (Pelops) beim Großen Preis auf dem Nürburgring verliert, weil ihm der Gegner die Bremsleitungen sabotiert hat. Schumacher würde anschließend das Münchner Stadion gründen, um an seinen Sieg zu erinnern. Absurd? Nicht für die Griechen. Mit ihren Geschichten legten sie das Fundament der europäischen Literatur.
Ein blinder Grieche schrieb die ersten Bestseller der Welt. Homer war Autor der Ilias und der Odyssee. Die Geschichten um den trojanischen Krieg und die Irrfahrten des Odysseus entstanden im 8. Jahrhundert vor Christus, zu jener Zeit, in der in Olympia die ersten datierbaren Wettkämpfe liefen. Das Besondere daran: Homer schrieb als erster Europäer einen längeren Text, und was für einen! Allein für die Ilias füllte der Dichter 15000 Verse – die heute gängige Erzählsprache blieb noch 300 Jahre lang unbekannt. Damit ging er als Urvater abendländischer Literatur in die Geschichte ein. Alle späteren Autoren berufen|23|sich auf ihn. Die Werke Shakespeares und Goethes, die Romane Stephen Kings und Joanne K. Rowlings wären nicht möglich ohne die Erfindung Homers, Texte in epischer Form aufzuschreiben. Was aber gab es vor Homer?
Die Menschen erzählten sich Geschichten. Wie heute Kinobesucher in einem Saal sitzen, um sich von Bild und Ton verzaubern zu lassen, kamen in den Dörfern und Städten die Leute zusammen, um sich eine Geschichte erzählen zu lassen. Großväter hockten still nickend im hinteren Winkel des Hauses, Enkelkinder knieten vorn und kauten auf den Nägeln, während der Erzähler mit Gesten, Mimik und Gesang seine Geschichten zum Leben erweckte. Das können Neuigkeiten gewesen sein über den Diebstahl einer Ziege im Nachbardorf oder Kriegsberichte aus einem fernen Land – Zeitungen gab es noch nicht, Nachrichten aber konnten lebenswichtig sein. Hatte jeder die guten und schlechten Meldungen verdaut, war die Zeit reif für gute Unterhaltung: die Abendvorstellungen der Antike begannen.
Damals wie heute braucht eine gute Erzählung einen Helden. Schönheit, Stärke, Intelligenz und Edelmut gehören zur Standardausrüstung jedes Publikumslieblings, darin sind sich Herakles und Spiderman gleich, ähneln sich Iphitos und Indiana Jones. Damals wie heute führte der Held eine außergewöhnliche Waffe, den wunderbaren Bogen des Odysseus oder den technischen |24|Schnickschnack des James Bond. Aus der Antike überliefert sind auch rasante Fortbewegungsmittel wie die geflügelten Pferde des Pelops, die sich in PS-Boliden und schnieken Schlitten moderner Serienhelden wiederfinden lassen. Gute Geschichten sind so unsterblich wie echte Helden.
Aber die Heroen des Altertums unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt von den Hauptfiguren heutiger Filme und Romane: Stets sind sie göttlicher oder königlicher Abstammung. Niemals hätte ein Zuhörer der Antike einer Geschichte gelauscht, deren Held nicht ein Gott, Sohn eines Gottes oder wenigstens ein Königsspross war. Normale Sterbliche waren langweilig, weder waren sie reich noch schön, weder konnten sie Bäume ausreißen noch Pferde stehlen. Die Geschichten der Antike sind Berichte aus der Welt der Götter. Wer ihnen lauschte, den befiel der Schauer der Mythologie. Ein kleiner Grusel und ein bisschen Ehrfurcht gehörten dazu wie das Happy End zum Schnulzenfilm.