Die Windsor-Akte - Dirk Husemann - E-Book
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Die Windsor-Akte E-Book

Dirk Husemann

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Beschreibung

Ein junger Schotte, ein König, der um der Liebe willen abdankt, und die letzten Geheimnisse der Windsors

Ein rätselhafter Besucher stellt das Leben des Studenten Ajax Doggerton auf den Kopf. Ein Agent des britischen Geheimdienstes verlangt von ihm, als Bediensteter für den abgedankten König Edward zu arbeiten. Der genießt mit seiner bürgerlichen Frau Wallis das Leben in Paris und an der Côte d’Azur. Doch über dem Glamour liegt ein Schatten, denn Edward steht im Verdacht, sich mit Adolf Hitler verbünden zu wollen. Mit Ajax’ Hilfe versuchen die Briten herauszufinden, ob der Ex-König England an die Nazis verraten will. Als Ajax in Paris einen fatalen Fehler begeht, beginnt ein Tauziehen um Edward, das zu einer Zerreißprobe für ganz Europa zu werden droht ...

Hochspannende, temporeiche Geschichte mit einem sympathischen Helden, der über sich hinauswächst

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Seitenzahl: 450

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumPrologTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Teil 2Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Teil 3Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41NachwortDank

Über dieses Buch

1939: Kaum hat der junge Schotte Ajax Doggerton das College von Oxford verlassen, bekommt er die Chance, Kammerdiener von Edward VIII. zu werden. Der musste als englischer König abdanken und genießt mit seiner bürgerlichen Frau das Leben auf dem Kontinent. Ajax kann sein Glück kaum fassen. Ihm winken nicht nur eine gut bezahlte Anstellung, sondern auch rauschende Feste in Paris und Madrid und Segeltörns an der Côte d'Azur. Da tritt der britische Geheimdienst an ihn heran und verlangt, dass er Edward ausspioniert. Der Ex-Monarch steht im Verdacht, sich mit Adolf Hitler verbünden zu wollen. Ajax ahnt nicht, dass er damit die Gelegenheit erhält, in den Lauf der Weltgeschichte einzugreifen …

Über den Autor

Dirk Husemann gräbt als Wissenschaftsjournalist, Archäologe und Schriftsteller Geschichten aus. Er studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Münster. Neben historischen Romanen schreibt er Sachbücher und Reportagen, zum Beispiel über die rosaroten Steine von Stonehenge, Fische in der Sahara oder den Sternenhimmel unter den Pyramiden Mexikos. DIE ROMANFABRIK VON PARIS war Gewinner der Abstimmung zum »Buch des Jahres 2020« bei WDR 2. 2022 bekam er den Kulturpreis der Stadt Lünen verliehen.

DIRK HUSEMANN

DIE

WINDSOR

AKTE

HISTORISCHER ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Susanne George, Bergisch Gladbach

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

Einband-/Umschlagmotiv: © ysbrandcosijn – stock.adobe.com;

Alexey Fedorenko – shutterstock.com; © Lee Avison – trevillion.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4217-7

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

IM HARZ, APRIL 1945

Wenn du aussprichst, was du dir wünschst, wird es niemals eintreten.

Corporal Lance Ennis erinnerte sich an diese Worte seines Vaters, als er durch den Wald stapfte. Seine Armeestiefel waren schwer vom Schlamm, der bei seinem Marsch quer durch das vom Krieg verwüstete Europa daran kleben geblieben war. Auf dem mit Kiefernnadeln bedeckten Waldboden machten sie nur leise knisternde Geräusche. Ennis hielt das Gewehr mit beiden Händen umklammert und packte noch fester zu, als Colonel Pickett seinen Aberglauben erneut herausforderte.

»Bald sind wir da!«, rief ihm Pickett über die Schulter zu. »Dann ist der Krieg für uns vorbei.«

Nur zu gern hätte Ennis seinem Vorgesetzten gesagt, er solle den Mund halten. Kannte Pickett denn die alte Regel nicht? Oder war sie ihm gleichgültig?

Tief unter den beiden Männern, an den Hängen des Brocken, donnerten die Geschütze im Kampf um die letzten Stellungen der Wehrmacht. Ging dieser Krieg denn nie zu Ende? Wohl nicht für ihn, für Corporal Lance Ennis. Er hatte das Pech, zur verfluchtesten Einheit der britischen Streitkräfte zu gehören: zur Kompanie Wiltshire Yeomanry, die den Auftrag hatte, die Akten der Deutschen zu sichern, bevor der Feind sie vernichten konnte. Leben gegen Papier. Ennis hatte nie verstanden, warum die britische Armee so einen Nonsens zum Missionsziel erklärte. Städte erobern, Konzentrationslager befreien, Frauen und Kinder beschützen – das waren Aufgaben für Soldaten, das war der Sinn und Zweck seines Hierseins. Das Sammeln von Unterlagen war etwas für Bürokraten.

Colonel Pickett war anderer Ansicht. »Da vorn!«, rief er und deutete zwischen den Bäumen hindurch. »Das muss die Stelle sein.« Es war kaum zu glauben, doch obwohl es schon seit einer halben Stunde bergauf ging, lief der Offizier schneller. In der einen Hand hielt er seinen Webley Revolver, in der anderen schwenkte er einen Klappspaten.

»Vorsicht, Colonel!«, rief Ennis und blieb stehen. Pickett wusste doch genau, dass die Wehrmacht den Wald vermint hatte, um Verfolger aufzuhalten. Ungeachtet dessen stürmte der Colonel weiter. Sollte er doch! Ennis hatte genug. Er streifte sein Marschgepäck von den Schultern und ließ es zu Boden fallen. Kurz überlegte er, ob er sich einfach an einen Baum setzen, die schmerzenden Beine ausstrecken und warten sollte, bis Pickett zurückkehrte. Aber dieser Verrückte brachte es fertig und hängte ihm noch einen Prozess wegen Befehlsverweigerung an – nachdem sie so viel gemeinsam durchgemacht hatten.

Ennis versetzte seinem Rucksack einen wütenden Tritt, hängte ihn sich wieder um und ging weiter. Dabei bemühte er sich, genau in den Fußspuren Picketts zu bleiben, den feinen Abdrücken im Waldboden, weil sie garantierten, dass dort keine Mine auf ihn wartete. Nach etwa hundert Metern fand er den Colonel vor einer Gruppe seltsam geformter Felsen wieder. Er grinste Ennis entgegen und stellte einen Fuß auf einen Stein wie ein Großwildjäger, der über einem Elefantenkadaver posiert.

»Die Hexensteine«, rief der Colonel. »Das müssen sie sein.«

Die Felsen sahen auf geradezu unheimliche Weise aus wie drei aufrecht stehende Gestalten, die sich aneinanderschmiegen. In ihrer Mitte klaffte ein Hohlraum, eine Art Höhle. Danach hatte der Trupp gesucht, denn in Goslar hatten sie den Hinweis erhalten, dass unter den Steinen etwas vergraben worden sei. Diesen Hinweis hatten zwei von Ennis’ Kameraden mit dem Leben bezahlt: Millner und Shaftsbury waren auf dem Weg hier hinauf von einem Heckenschützen getötet worden. Nun waren nur noch der Colonel und er übrig.

Pickett warf Ennis den Spaten vor die Füße. »Graben Sie!«, befahl er. »Dafür bekommen wir einen Orden.«

Mit »wir« meinte der Colonel nur sich selbst, aber das war ohnehin egal, denn auch in diesem Fall galt: Was man aussprach, ging niemals in Erfüllung.

Ennis legte das Lee-Enfield-Gewehr beiseite und klappte den Spaten auseinander. Er sicherte die Scharniere. Bevor er sich an die Arbeit machte, schaute er sich noch einmal nach Verfolgern um, dann rammte er das Blatt der Schaufel in den Boden.

Es war sofort klar, dass erst vor Kurzem jemand unter den Hexensteinen etwas vergraben hatte. Eigentlich hätte der Boden von Baumwurzeln durchzogen sein müssen, aber der Spaten in Ennis’ Hand drang tief ein und ließ sich mühelos wieder herausziehen, mit einem Pfund lockerer Erde beladen. An dieser Stelle hatte zuvor schon jemand die Wurzeln weggehackt, ihre hellen Stümpfe waren in dem größer werdenden Loch zu sehen.

Pickett begleitete die Arbeit, indem er sich gegen einen Felsen lehnte und seine Pfeife stopfte. Als er sie anzündete und paffte, stieß er eine Wolke Rauch aus, die von der Zugluft zu Fähnchen zerteilt wurde. Deutlicher kann man einen Scharfschützen wohl nicht auf sich aufmerksam machen, dachte Ennis. Wahrscheinlich wurde dem Colonel gleich die Pfeife aus dem Mund geschossen.

Vielleicht lag es daran, dass er den Spaten immer wieder voller Wut ins Erdreich gerammt hatte, vielleicht war die Kiste nur oberflächlich verscharrt worden. Schon nach wenigen Minuten stieß er auf etwas Hartes. Das Geräusch der Schaufel auf einer metallischen Oberfläche kannte er gut von anderen Aktionen, die ihn und seine Truppe durch deutsche Städte wie Frankfurt, Hannover, Göttingen geführt hatten.

Gemeinsam holten die beiden Männer etwas hervor, das in den dunkelgrünen Regenmantel eines Wehrmachtsoffiziers eingewickelt war. Pickett schlug den Mantel zurück und legte eine Blechkiste mit Vorhängeschlössern an den beiden Klappen frei. Ennis brauchte lange, um die Schlösser mit dem Gewehrkolben aufzubrechen, aber ein Schuss wäre verräterisch gewesen.

»Treten Sie zurück, Corporal«, befahl Pickett und paffte Ennis dabei Wolken aus der mit seinem Mundwinkel verwachsenen Pfeife ins Gesicht.

Ennis blinzelte gegen den Rauch an. »Warum?«, fragte er. »Wird schon kein Sprengstoff in der Kiste sein.«

»Vielleicht doch«, sagte Pickett und lächelte vielsagend. »Aber ein anderer, als Sie vermuten. Los jetzt! Sichern Sie das Gelände.«

Ennis wich einige Schritte zurück. Dass sich der Colonel in die vorderste Linie stellte, sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Hier war etwas faul, Ennis konnte es riechen, trotz des Duftes von Kiefernnadeln, Moos und Erde.

»Mehr Abstand, Corporal!«, bellte Pickett. »Gehen Sie auf die andere Seite der Felsen und observieren Sie den Bereich unter uns. Ich brauche hier ein wenig Zeit. Sobald ich fertig bin, rufe ich Sie.«

Was führte Pickett im Schilde? Ennis warf misstrauische Blicke über die Schulter, als er die Hexensteine umrundete. Schließlich konnte er den Offizier nicht mehr sehen. Die Granitformation zwischen den Männern sorgte überdies dafür, dass er auch nicht hören konnte, was Pickett trieb.

Ennis bezog seinen Posten, stützte sich auf sein Gewehr und schaute über das Land. Tiefgrüne Wälder und Schlüfte – die Ausläufer des Harzes lagen zu seinen Füßen. An einigen Stellen stieg Rauch zwischen den Wipfeln empor. Fast hätte man meinen können, die Wälder dampften vor Feuchtigkeit. Doch Ennis wusste es besser: Diese Rauchfahnen waren Spuren der Zerstörung. Die Kämpfe gegen die Deutschen dauerten an. Er konnte sogar den Qualm der Geschütze riechen.

Ennis schnupperte. Der Geruch war zu intensiv, um von dort unten zu kommen. Er fuhr zusammen. Es brannte auf der anderen Seite der Hexensteine. Pickett!

Vor Schreck hätte er beinahe das Gewehr fallen lassen. Er lief um die Felsen herum und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Colonel vor der geöffneten Kiste kniete, die Hände schützend um ein kleines Feuer gelegt, das darin loderte, und hineinpustete.

Ennis überlegte nicht lange. Er versetzte Pickett einen Tritt. Der Colonel fiel zur Seite, und Ennis rammte den Stiefel, der gerade noch Picketts Schulter getroffen hatte, in die Kiste. Unter seiner genagelten Sohle erlosch das Feuer. Schlammbrocken fielen von ihr ab und bröselten auf die Dokumente, die jetzt in der Kiste zu erkennen waren. In das Deckblatt der oberen Akte war ein schwarz umrandetes Loch hineingebrannt.

»Was haben Sie getan?«, schrie Ennis.

»Corporal …«, hob Pickett an, aber Ennis ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er baute sich breitbeinig über dem Offizier auf und legte das Gewehr auf ihn an.

»Für die Dokumente in dieser Kiste sind Millner und Shaftsbury gestorben. Und Sie stecken den Preis für den Tod meiner Kameraden einfach in Brand?« Ennis sah den Colonel wie durch einen roten Nebel. »Sie sind ein Verräter. Sie arbeiten für die Nazis. Ich sollte gleich hier kurzen Prozess mit Ihnen machen.« Er ballte die Fäuste um den Lauf und den Schaft seines Gewehrs.

In Picketts Gesicht mischte sich Zorn mit Verzweiflung. »Ich befehle Ihnen beiseitezutreten, Corporal. Weg mit Ihnen, Sie dummer Idiot. Sie verstehen überhaupt nichts. Und ich dürfte es Ihnen selbst dann nicht erklären, wenn ich wollte.«

»Versuchen Sie es, bevor ich Ihnen eins auf den Pelz brenne«, verlangte Ennis.

Pickett leckte sich die Lippen, seine Zunge war spitz und beinahe farblos. »Die Dokumente in dieser Kiste werden, wenn Sie in die falschen Hände geraten, das Vereinigte Königreich in den Grundfesten erschüttern, vielleicht sogar zerstören. Diese Papiere müssen vernichtet werden. Je früher, desto besser.« Er schluckte, wechselte den Tonfall. »Helfen Sie mir, Corporal! Helfen Sie mir, diese Beweise zu vernichten.« Damit streckte er Ennis eine Hand entgegen.

Ennis schaute auf Picketts Finger. Irgendwie hatte der Offizier mitten im Krieg Zeit gefunden, seine Nägel zu schneiden und rund zu feilen. Sie sahen aus wie etwas, das nicht hierhergehörte, nicht an diesen Ort, nicht in diese Zeit. Ennis ließ das Gewehr sinken und griff nach der Hand.

Zu spät bemerkte er die Pistole in Picketts anderer Hand. Er lag schon auf dem Boden, da erst registrierte sein Gehirn den Knall. Mit dem Gesicht war er in den Kiefernadeln gelandet, er keuchte und saugte die trockenen Nadeln ein. Husten schüttelte ihn. Dann spürte er durch das Aroma von Baumharz den metallischen Geschmack von Blut.

Er rollte sich herum. Die Bewegung dauerte lange. Immerhin jagte ihm Pickett nicht sofort eine zweite Kugel in den Kopf. Der Colonel hatte sich erhoben.

»Verräter!«, keuchte Ennis. Er spürte sein Herz mit der Wucht von Paukenschlägen hämmern.

»Sie kapieren es nicht«, sagte Pickett und klopfte sich den Dreck vom Hosenbein, »nicht mal jetzt, nachdem ich Ihnen alles erklärt habe. Sorry, Corporal Ennis. Aber die Sicherheit unseres Landes hängt von mir ab. Ich kann nicht riskieren, dass Sie mich an der Vernichtung dieser Akten hindern oder jemandem von ihrer Existenz erzählen.« Pickett hob die rechte Hand mit der Pistole, stützte sie in der linken ab und kniff ein Auge zu, als er durch Kimme und Korn in Lance Ennis’ totenbleiches Gesicht blickte. »Ich werde Sie jetzt erschießen, Ennis.« Er machte einen Schritt auf sein Opfer zu. »Vergeben Sie mir.«

Die Detonation der Tretmine zerfetzte Pickett auf der Stelle und schleuderte Ennis gegen einen Baumstamm. Er brach sich drei Rippen und das linke Handgelenk. Dreck und die Überreste von Colonel Pickett spritzten ihm ins Gesicht, und die Explosion machte ihn für Stunden taub. Aber er überlebte. Das Pfeifen in seinen Ohren sollte er zeit seines Lebens nicht mehr loswerden. Noch in hohem Alter erinnerte es ihn daran, dass man niemals laut aussprechen sollte, was man sich wünscht. Denn dann, das wusste Ennis dank Colonel Pickett besser als jeder andere, würde es niemals in Erfüllung gehen.

Teil 1

Kapitel 1

CAMBRIDGE, APRIL 1992

»Und was wünschen Sie von mir?«, fragte die Archivarin. Ihr graues Haar war zu einem Zopf geflochten, dessen Ende ihr über die Schulter fiel. Eigentlich war die Frisur zu jugendlich für ihr Alter, aber auf eine eigentümliche Weise passte sie zu ihrem wachen Blick. Ihre Augen schillerten wie Ölflecken in einer Regenpfütze. Die Haut ihres Gesichts war noch straff, nur ihre Hände ließen ihr Alter erahnen. Es waren die Hände von jemandem, der in seinem Leben schwer zu tragen gehabt hatte, nicht nur im wörtlichen Sinn.

»Was ich von Ihnen wünsche?«, wiederholte er und schmunzelte. »Wenn Sie mir gerade zugehört haben und mein Großvater Lance Ennis mit seinem Aberglauben auch nur ansatzweise recht hatte, dann sollte ich diese Frage besser nicht beantworten. Aber ich werde trotzdem …«

»Dann befinden Sie sich in einer Zwickmühle«, unterbrach sie und schenkte ihm ein Lächeln. Ihre Zähne waren ebenmäßig und weiß. An dieser bemerkenswerten Frau war alles glänzend, vor allem ihr Verstand, und mit dem musste er es aufnehmen, wenn er ans Ziel gelangen wollte.

»Was für eine Zwickmühle?«, fragte er und versuchte, seine verkrampften Schultern zu lockern.

Sie legte ihren Bleistift auf die weinrote Schreibtischunterlage, die leer war bis auf Rogers Visitenkarte. Er fragte sich, ob er damit Eindruck machte. »Roger Ennis. Chefreporter. Evening Standard. London«

»Ihre Zwickmühle«, erklärte die Archivarin, »besteht darin, dass Sie mir schon sagen müssen, was Sie hier wollen, sonst werde ich Ihnen nicht helfen können. Nach der Logik der Geschichte, die Sie mir gerade erzählt haben, dürfen Sie das aber nicht, da das Schicksal Sie sonst nicht ans Ziel kommen lässt.« Ihre Miene war ernst, als sie schlussfolgerte: »Sie werden also unverrichteter Dinge wieder gehen müssen, Mister Ennis. Es sei denn, Sie haben mir einen Bären aufgebunden. Nur in diesem Fall können Sie Ihre Fragen stellen, aber ich wäre beleidigt, denn dann hätten Sie meine Zeit mit einer Anekdote verschwendet.«

Roger räusperte sich, um seine Sprachlosigkeit zu verbergen. Diese Miss Imbert ließ sich nicht so leicht in die Karten schauen. Er musste sich eingestehen, mit jemandem gerechnet zu haben, den Jahrzehnte im Archiv in einen menschlichen Aktenordner verwandelt hatten, den er, der Chefreporter, aus einem Regal ziehen und aufschlagen konnte. Aber nun stellte sich heraus, dass dieser Aktenordner ein Panzerschrank war. Und er kannte die Kombination für das Schloss nicht.

»Vielleicht lassen wir die alten Geschichten besser ruhen«, sagte er. »Was ich eigentlich von Ihnen möchte, ist eine Auskunft. Mehr nicht.«

»Und Sie dachten, die Erlebnisse Ihres Großvaters während des Krieges würden Sie in meinen Augen legitimieren, diese Auskunft zu erhalten.« Bei dem Wort »Auskunft« hatte Miss Imbert bedeutungsschwer die Augenbrauen gehoben. Dabei geriet ihre Brille mit der dünnen Goldfassung ins Rutschen, und sie musste sie wieder zur Nasenwurzel hochschieben. Selbst diese Geste gelang ihr mit perfekter Grazie.

Roger beschloss, es so aussehen zu lassen, als würde er sich geschlagen geben. »Ja, genau. Sie haben es erfasst. Mein Großvater Lance Ennis hat am Ende des Krieges diese Dokumente gefunden und sie vor der Zerstörung bewahrt. Er hat mir nie erzählt, was drinstand. Nur, dass er sie abgeliefert hat. Sie befinden sich hier in Cambridge. In diesem Archiv. Ich würde sie gerne sehen.« Er beugte sich vor, suchte nach einem vertraulichen Ton. »Mein Großvater hat für diese Dokumente sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er hat sie schwer verwundet durch den Harz geschleppt. Schließlich haben ihn GIs gefunden und in ein amerikanisches Lazarett gebracht. Die Kiste ist von den Amis nach Washington transportiert worden. Mein Großvater hat sich bestätigen lassen, dass er den Inhalt vollständig abgeliefert hat.« Roger zog ein Papier aus seiner Aktentasche und schob es Miss Imbert zu. »Ich habe die Empfangsbestätigung von US-General McCammon.«

Die Archivarin hielt das Schreiben in die Höhe und las es durch. Sie schien es intensiv zu studieren, denn sie brauchte lange für die zehn Zeilen. Anschließend drehte sie es um, stellte fest, dass es auf der Rückseite unbeschrieben war, und blickte Roger über den Rand des Papiers an. »Ich verstehe nicht, wieso Sie dann hier sind und nicht in Washington?«

Mit dieser Frage hatte Roger gerechnet. »Dort war ich bereits. In der Library of Congress in Washington D.C. bin ich auf Briefe gestoßen, die Winston Churchill als damaliger Premierminister an den amerikanischen Präsidenten geschickt hat. Darin bittet Churchill Eisenhower um die Herausgabe gewisser Dokumente. Eisenhower hat daraufhin etwas nach London geschickt, für das sich Churchill überschwänglich bedankt hat. Ich weiß nicht, was da den Atlantik überquert hat. Aber offenbar war es den Amerikanern lieber, nicht selbst weiter für die Sicherheit dieser Unterlagen verantwortlich zu sein. Ich konnte die Spur von Washington nach London verfolgen, und von dort führte sie hierher, ins National Archive of Government Obligations during World War II. Ich möchte diese Dokumente sehen.«

»Sie machen mich neugierig«, sagte die Archivarin leise. »Geheime Dokumente. Und sie waren Churchill persönlich wichtig. Was vermuten Sie dahinter? Und warum wollen Sie darüber berichten?«

Roger wurde es warm. Jetzt würde sich zeigen, ob die sechs Monate Arbeit, die er in diese Geschichte investiert hatte, umsonst gewesen waren oder ob der Drache ihm Zugang zum Hort gewährte. Am liebsten hätte er seine Krawatte gelockert und den oberen Knopf seines Hemds geöffnet, aber er riss sich zusammen. Wenn er unsicher wirkte, würde ihn das in ihren Augen nur fragwürdig erscheinen lassen.

»Ich glaube, dass es historisch bedeutsame Papiere sind, Miss Imbert. Und die Geschichte unseres Landes geht alle an. Sie, mich, den Mann auf der Straße …«

»Und Ihren Verleger, der Ihr Salär für eine Auflage steigernde Räuberpistole erhöhen wird. Das ist es doch, was Sie sich erhoffen.« Sie wartete Rogers Reaktion nicht ab, sondern schnippte mit den Fingern gegen das Papier, dass es knallte. »Vielleicht ist an der Geschichte etwas dran«, sagte sie. »Vielleicht gibt es eine solche Kiste mit geheimnisvollen Dokumenten. Und vielleicht«, sie hob einen Zeigefinger, »sind Sie dazu berechtigt, einen Blick hineinzuwerfen.« Sie schob Roger das Papier hin, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und formte die Finger beider Hände zu einem Dach. »Aber um diese Unterlagen zu finden, brauche ich eine Signatur. Haben Sie eine?«

Roger runzelte die Stirn. »Was für eine Signatur?«

»Wir sind ein Archiv«, erklärte Miss Imbert. »Bei uns lagern zwei Millionen vierhundertachtundvierzigtausend Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg. Damit wir uns bei dieser Menge zurechtfinden, arbeiten wir mit Signaturen. Von so etwas haben Sie bestimmt schon gehört.«

»Natürlich weiß ich, was eine Signatur ist.« Rogers Blick flog durch den Raum, in einem kurzen Moment jenseits des vernünftigen Denkens glaubte er, die gesuchten Buchstaben und Ziffern würden an der Wand hinter Miss Imbert aufleuchten wie ein Menetekel. Dann hatte er sich wieder gefasst und bekämpfte die Empörung in seinem Innern. Hatte sie allen Ernstes geglaubt, ihn mit einem fadenscheinigen Vorwand ins Leere laufen lassen zu können? »In den meisten Archiven ist es doch so, dass die Angestellten die Signaturen kennen und den Besuchern helfen, das Gewünschte zu finden.«

Miss Imbert nickte. »Wir sind hier nicht ›die meisten Archive‹. Ich wäre aber trotzdem bereit, Ihnen diese Signatur zu besorgen. Doch zu diesem Zweck müssten Sie mir mitteilen, wonach genau ich suchen soll. Geht es um die Abteilung ›Großbritannien‹ oder ›Deutsches Reich‹? Stammen diese Dokumente aus dem Jahr 1945, oder sind sie in diesem Jahr aufgefunden worden?«

»Das … das weiß ich nicht.« Sein eigenes Stottern ließ Roger nun doch die Fassung verlieren. »Deshalb bin ich ja hier. Damit Sie mir helfen.« Die Eindringlichkeit seiner Stimme ließ Miss Imberts Augenbrauen wieder in die Höhe wandern. Ihre Miene zeigte jetzt Überheblichkeit. Roger konnte nicht länger an sich halten. Er hob seine Aktentasche in die Höhe und ließ sie auf Miss Imberts Schreibtisch knallen. »Hören wir doch endlich auf mit diesem Theater! Ich glaube, Sie wissen ganz genau, was ich will. Und die Leute, die der Inhalt der Dokumente betreffen könnte, sind aller Wahrscheinlichkeit nach längst tot. Es wird Sie schon niemand verklagen, wenn Sie mir einen kleinen Gefallen tun.«

Ihr kühler Blick genügte, um Roger verstummen zu lassen. »Tot, sagen Sie? Ob Sie es glauben oder nicht: Auch ich gehöre zur Kriegsgeneration. Und ich fühle mich noch ausgesprochen lebendig. Oder sind Sie etwa anderer Ansicht?« Sie wirkte äußerlich ruhig, doch an ihrem Hals pochte eine Ader. Mit gespreizten Fingern schob sie die Aktentasche über den Schreibtisch, bis sie zu Boden fiel.

Roger spürte, wie die Haut an seiner Stirn und seinen Wangen heiß wurde. »So habe ich das nicht gemeint.«

»Tatsächlich?«, sagte die Archivarin. »So habe ich es aber verstanden. Auf wessen Perspektive kommt es an?«

Roger sah ihr stumm in die Augen, suchte darin nach einem Flackern, einem Zucken der Lider, irgendetwas, das einen wunden Punkt verriet. Aber ihr Gesichtsausdruck war so starr vor Überzeugung, dass er ebenso gut mit einer Fotografie hätte reden können.

»Also gut«, sagte Roger, bückte sich und hob die Aktentasche auf. Das schwarze Leder mit den brüchigen Stellen an den Rändern fühlte sich kalt und leblos an. Er schlug die Lasche über die Öffnung und klickte den Verschluss zu. »Wenn Sie mir nicht helfen wollen, werde ich den offiziellen Weg gehen und einen Anwalt einschalten. Ich habe mich bereits über meine Möglichkeiten informiert.« Das war ein Bluff, und vermutlich wusste sie es. Aber die Drohung half Roger, erhobenen Hauptes aus dem Ring zu steigen.

Er stand auf, nahm seinen altmodischen Hut vom Haken und setzte ihn auf.

Auch Miss Imbert erhob sich, ging an ihm vorbei und öffnete die Tür. »Auf Wiedersehen, Mister Ennis«, sagte sie. »Und noch viel Erfolg mit Ihrer Reportage.« Ein Lächeln flackerte in ihrem Gesicht auf, ein Zucken um die Mundwinkel.

Roger verließ das Büro. Im Korridor hörte er, wie die Tür hinter ihm mit einem leisen Klicken ins Schloss gedrückt wurde, und danach das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels.

Kapitel 2

CAMBRIDGE, APRIL 1992

Das »Coat & Arms« lag am Ufer des River Cam. Im Obergeschoss des Wirtshauses waren die Zimmer für Gäste. Sie zeichneten sich durch unsinnliche Kargheit aus. Roger wusch sich das Gesicht an einem Becken voller unangenehmer Gerüche und warf sich danach auf die durchgelegene Matratze des Bettes. Das Licht aus dem farbigen, mit Glasperlen behangenen Lampenschirm drängte Schatten in die Ecken. So schäbig und trostlos alles war, so gut passte es doch zu diesem Tag, zu dieser ganzen Geschichte. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und verfolgte mit seinem Blick eine Spinne, die damit beschäftigt war, an dem Lampenschirm ein bizarres Netz zu weben.

Neben dem Bett stand das Telefon und wartete darauf, dass Roger den Hörer abhob und Jennings anrief. Er wusste bereits, wie das Gespräch ablaufen würde. Der Chef seines Ressorts würde ihn fragen, wie es mit der Reportage lief, jener Story, mit der Roger vom Boulevardschreiber zum investigativen Journalisten aufzusteigen hoffte. Jennings hatte ihn nur widerwillig von seinen üblichen Aufgaben freigestellt, dem Verfassen von Artikeln auf den Klatschseiten, in denen es vor allem um die Skandale aus dem Königshaus ging. Roger hatte seinem Chef die Geschichte seines Großvaters Lance Ennis erzählt und ihn überzeugt, dass er hinter das Geheimnis der Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg gelangen könnte. Jennings hatte angebissen. Offenbar geheim gehaltene Schriften, um deren Herausgabe Churchill den amerikanischen Präsidenten Eisenhower gebeten hatte, versprachen Zündstoff. Daraus konnte eine Titelstory beim Evening Standard werden. Jennings hatte sogar die Spesen für die Reise nach Washington bewilligt. Wenn Roger jetzt mit leeren Händen in die Redaktion zurückkehrte, würde er nicht mal mehr über den Klatsch der Royals berichten dürfen. Dann war er geliefert.

Er richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante und schloss die Augen Er atmete schwer. Was nutzte es, noch länger zu warten? Früher oder später würde er dieses Telefonat ja doch führen müssen. So langsam, als würde der Hörer aus glühendem Eisen bestehen, streckte er eine Hand zum Telefon aus. Im Geiste sah er bereits Jennings’ zorngerötetes Gesicht vor sich, wenn er von der geplatzten Geschichte erfuhr. Aber: Wer schwieg, kämpfte nicht.

Roger ließ die Hand schwer auf den Hörer fallen. In diesem Moment klingelte es. Er zuckte zusammen und sah den braunen Apparat verwundert an. War Jennings ihm zuvorgekommen? Niemand sonst hatte diese Nummer, nicht einmal Sarah.

Rogers Finger krampften sich um den Hörer, als er abhob und versuchte, souverän zu klingen. »Jennings, ich bin ganz dicht dran. Geben Sie mir noch ein, zwei Tage. Ich muss eine Archivarin weichkochen.«

»Hier spricht Miss Imbert«, kam es aus der Hörmuschel. Es folgte ein Räuspern. »Mister Ennis, Sie waren heute Morgen bei mir im Archiv.«

Wie elektrisiert riss Roger den Hörer vom Ohr weg und starrte ihn an. Ihre Stimme drang jetzt dünn und nasal daraus hervor. »Mister Ennis? Sind Sie da?«

Roger hielt den Hörer wieder ans Ohr. »Ja«, sagte er nach einigem Zögern, »ich bin hier.« Er hüstelte. »Woher haben Sie diese Nummer?«

»Treffen Sie mich um drei Uhr im Stourbridge Common. Betreten Sie den Park über die Green Dragon Bridge und halten Sie sich links. Am Fluss steht eine alte Trauerweide, der größte Baum weit und breit. Auf der Bank darunter werde ich sitzen.«

»Was? Warum? Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« Roger lauschte, aber die Archivarin hatte bereits aufgelegt. Immer noch den Hörer in der Hand, schaute er aus dem Fenster. Sonnenlicht glänzte wie Messing auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser. Er hatte das Gefühl, wieder freier atmen zu können, den Kopf wieder über Wasser zu haben. Vielleicht würde er Jennings doch noch eine gute Nachricht übermitteln können.

Die Green Dragon Bridge überspannte den Cam und führte an die von Miss Imbert beschriebene Stelle im Park. Roger blieb einen Moment auf der Brücke stehen. Unter ihm glitt ein Ruderboot hindurch, ein schnittiger Achter. Die Sportler trugen hautenge Trikots und waren trotz der Kälte schweißgebadet, sie tauchten die Ruder mit erstaunlicher Synchronizität ins Wasser. Die Mannschaft bewegte sich wie ein einziger Organismus.

Die Trauerweide auf der anderen Seite des Flusses war tatsächlich nicht zu übersehen. Der große Baum stand herrschaftlich am Ufer. Roger erblickte zwei Beine unter den herabhängenden Zweigen. Miss Imbert wartete auf ihn.

Er überquerte die Brücke und fragte sich, ob sie absichtlich den Weg über die Green Dragon Bridge für ihn ausgewählt hatte, weil sie wusste, dass er sie in Gedanken als Drachen bezeichnet hatte.

Als er den Vorhang der Zweige teilte, sah er sie in einem blauen Mantel, der an einen Uniformmantel der Marine erinnerte, vor ihm auf der Bank sitzen. Große Messingknöpfe an den Aufschlägen blitzten wie Orden in der Frühlingssonne. Ihre Füße steckten in hohen braunen Lederstiefeln, die unter dem Saum ihres Tweedrocks verschwanden. Sie war außerordentlich gut gekleidet.

»Sie sitzen ja im Schatten«, sagte Roger. »Wollen wir nicht lieber eine Bank in der Sonne nehmen? Da ist es wärmer.«

Miss Imbert klopfte auf die Holzlatten neben sich. »Setzen Sie sich, junger Mann. Sie werden schon nicht erfrieren, nicht mal neben einer eiskalten Schreckschraube wie mir. Glauben Sie, ich habe diesen Platz ausgesucht, um mich zu sonnen?«

Roger ließ sich neben ihr nieder. Sofort spürte er die Kälte des grün lackierten Holzes. Außerdem stellte er fest, dass man von hier aus alles überblicken konnte, selbst aber nahezu verborgen war.

Der Geruch von Bergamotte drang in seine Nase. »Schauen Sie, die Ruderer!« Die Archivarin deutete auf den Fluss, keine zehn Fuß von ihnen entfernt. Ein weiterer Achter rauschte vorbei. Das Wasser trug das schnelle Atmen der Sportler zu ihnen hinüber, untermalt vom Aufklatschen der Riemenblätter.

»Auf dem Cam geht es zu wie auf dem Motorway«, sagte Roger.

»Sie sollten mal in der Frühe hier sein«, erwiderte sie. »Vor Arbeitsbeginn trainieren so viele Ruderclubs, da gibt es regelrechte Staus auf dem Wasser.« Miss Imbert zog die Nase kraus. »Riechen Sie das?«

Roger schnüffelte. Da war ihr Parfüm, der Geruch des Flusses und …

»Gänsekacke«, sagte sie. »Die kann einem in dieser Jahreszeit als Thermometer dienen. Wenn sie stinkt, dann ist es warm genug zum Trainieren. Riechen Sie hingegen nichts, ist es kalt auf dem Wasser. Dann steigen nur die Tapfersten ins Boot.«

Er schaute sie an. »Sie scheinen sich im Rudersport auszukennen. Ich dachte immer, das sei eine Männerdomäne.«

Sie lächelte den Fluss an, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus.

Jetzt war es aber genug mit dem Small Talk. Roger brannte vor Neugier. »Warum bin ich hier? Haben Sie es sich anders überlegt? Wollen Sie mir nun doch erzählen, was in der Kiste, die mein Großvater gefunden hat, verborgen war?«

Sie schaute ihn aus großen Augen an, mit demselben funkelnden Blick, den er schon am Vormittag bewundert hatte. »Nein«, sagte sie. »Da muss ich Sie enttäuschen, Mister Ennis. Von einer Kiste weiß ich nichts.«

Roger runzelte die Stirn. Hielt sie ihn zum Narren? »Warum treffen wir uns dann hier? Damit wir uns über Rudersport unterhalten können?«

Sie lächelte, ein warmes Lächeln. »Gewissermaßen ja. Aber ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Wie sagt ein altes Sprichwort? Nur wer zuhört, kann verstehen. Wollen Sie verstehen, Mister Ennis?«

Ihr Blick traf den von Roger. Sie sahen sich schweigend an. Einen Atemzug lang, zwei, drei. Dann griff Roger in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Kugelschreiber und sein Notizbuch hervor, einen in safranfarbenem Leder gebundenen Stamford. »Schießen Sie los.«

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Stecken Sie das weg.« Als er zögerte, setzte sie nach: »Ich werde jetzt mit Ihnen in der Zeit zurückreisen, und das gelingt nur mit dem Verstand.«

Roger ließ die Mine des Kugelschreibers mehrmals klickend ein- und ausfahren, dann klappte er das Notizbuch zu. »Hoffentlich ist diese Geschichte nicht allzu lang. Mein Gedächtnis ist nicht das Beste.«

»Gute Geschichten zeichnet aus, dass man sich wünscht, sie mögen niemals enden«, gab sie zurück. »Diese hier ist eine davon.«

Kapitel 3

CAMBRIDGE, MÄRZ 1940

Gänsekacke. Dieser beißende Gestank, dazu der Geruch von Wasserpflanzen und die Schweißfahne des Vordermanns. Ajax atmete tief ein und zog die Riemen durch. Das Boot schoss über den Fluss, als würde es fliegen. Eintauchen. Er suchte den Widerstand und verankerte das Ruder präzise im Wasser. »Backbord überziehen.« Das Kommando des Steuermanns wurde von allen acht Ruderern in derselben Sekunde befolgt. Ajax spürte sein Herz im Rhythmus der Ruderschläge klopfen. Dieses Team war einzigartig – und er war ein Teil davon.

Da er wie seine Mitstreiter mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, konnte er sehen, wie die Konkurrenz zurückblieb. Der Achter aus London verschwand gerade hinter einer Flussbiegung, etwa dort, wo der Park von Stourbridge Common begann. Nur Oxford blieb dran. Die Ruderer klebten am Heck des Bootes aus Cambridge. Ein einziger Fehler würde genügen, und die Erzrivalen würden vorbeiziehen und das Rennen für sich entscheiden. Aber einen solchen Fehler würde sich sein Team niemals erlauben.

»Wuff! Wuff! Wuff!« Am Ufer reihten sich Zuschauer, einige hatten Stühle mitgebracht, andere standen auf Obstkisten, um besser sehen zu können. Ajax schmunzelte über die Anfeuerungsrufe. Sie galten ihm, nahmen seinen Nachnamen aufs Korn. Doggerton. Anfangs hatte er sich über Spötteleien mit Hunden geärgert und mehr als einmal einem Mitstudenten zu verstehen gegeben, dass man einen echten Schotten besser nicht verhöhnen sollte. Doch dann hatte er gelernt, dass er die Welt und die Menschen mit seinen Fäusten nicht würde ändern können. Er war Ajax Doggerton, Dog für seine Freunde und seine Feinde gleichermaßen. Und er war als einer der besten Ruderer von Cambridge geachtet und gefürchtet.

»Frei weg!«, rief der Steuermann. Die Kurskorrektur war beendet. Das Boot hielt auf das Ziel zu. Für Ajax war dies der einzig unbefriedigende Moment beim Rudern: nicht sehen zu können, wie das Ziel näher kam.

»Wuff! Wuff!« Die Rufe vom Ufer folgten jetzt einem rascheren Rhythmus. Der Wettkampf näherte sich dem Höhepunkt. »Cambridge! Cambridge!«, tönte es von allen Seiten. Nur wenige Stimmen für Oxford und London waren zu hören. Das hielt die Gegner aber nicht davon ab, sämtliche Kräfte zu mobilisieren. Erschrocken sah Ajax, wie sich die Spitze des gegnerischen Bootes heranschob, im nächsten Moment erreichte sie schon die Höhe ihres Steuermanns.

Ein Mann. Zwei Arme. Eine Bewegung. Der Achter aus Cambridge legte noch einmal an Geschwindigkeit zu. Dabei war das fast unmöglich. Normalerweise zog die Mannschaft fünfunddreißig Mal in der Minute durch. Nun aber lagen sie vermutlich schon bei vierundvierzig. Ajax versuchte, nicht mehr auf die Rufe vom Ufer zu hören. Ihr Rhythmus war ein anderer als der, dem er folgen musste. Er stellte sich taub und hoffte, dass seine Mitstreiter das ebenfalls taten. Das kleinste Zögern würde sie den Sieg kosten.

Wie es kam, dass er das Geschrei der Katzen trotzdem hörte, wusste er später nicht zu sagen. Es war ein helles Kreischen, kräftig und verzweifelt, aber so zart, dass er im selben Moment wusste, dass es von jungen Tieren stammte. Er wollte es ignorieren, redete sich ein, spielende Kätzchen im Park zu hören. Doch in dem Rufen lag eine Dringlichkeit, die ihm durch Mark und Bein ging. Er erlaubte sich, den Blick von den Verfolgern zu nehmen.

Ajax drehte sich um. Hinter ihm saß Ben und schaute ihn unter seinem verschwitzten Haar verständnislos an. Und hinter Ben, mitten im Fluss, schäumte das Wasser. Es schien, als würde der Cam an einer winzigen Stelle kochen. Da war ein Stück Sackleinwand, braune, engmaschige Jute. Und sie bewegte sich wild.

Ajax erfasste die Situation sofort. Er sah den älteren Herrn in der forstgrünen Strickjacke am Ufer stehen. Er sah den auf der Wasseroberfläche tanzenden Sack. Der Alte da vorne versuchte, einen unerwünschten Wurf Katzen zu ersäufen.

Das Boot hielt genau auf den Sack zu. Das Bündel ging gerade in diesem Moment unter. Ajax’ Gedanken rasten wie Roulettekugeln durch seinen Kopf. Er schaltete ihn aus wie einen Motor, der zu laut röhrt, und drehte sich wieder gegen die Fahrtrichtung. An seiner linken Seite ließ er den Riemen los und klemmte ihn unter sein Knie, damit das Blatt nicht ins Wasser hing und bremste. Dann lehnte er sich backbord über den Rand des Boots und tauchte seinen Arm bis zur Schulter ins Wasser.

»Doggerton!« Er hörte nicht, wer da seinen Namen brüllte. So laut und voller Hysterie war der Ruf, dass die Identität desjenigen darin absoff. Nur einen Augenblick, antwortete er in Gedanken. Er spürte den nassen Sack zwischen den Fingern, hievte ihn hoch und warf ihn ins Boot zwischen seine Füße. Dort zuckte und kreischte es aus der Jute hervor. Aber mehr konnte Ajax nicht tun. Er nahm das Ruder wieder in die Hand, wartete auf den richtigen Moment und drosch es in perfekter Gleichzeitigkeit mit seinen Mitkämpfern ins Wasser.

Oxford gewann. Immerhin fuhr Cambridge noch vor London ins Ziel. Aber das war kein Trost. Erst als er die betretenen Gesichter seiner Teamkameraden sah und ihre hängenden Schultern, als sie aus dem Boot stiegen, wurde Ajax bewusst, wie eigenmächtig er gehandelt hatte. All die Stunden harten Trainings hatte er im Bruchteil einer Sekunde über Bord geworfen, hatte zunichtegemacht, wofür neun Sportler ihre ganze Kraft gegeben hatten – neun Sportler und eine ganze Stadt. Er blieb im Boot sitzen.

Am Anleger hatten sich kaum Menschen versammelt. Wenn Cambridge gewonnen hätte, wäre das Bootshaus hinter geschwenkten Hüten und Taschentüchern verschwunden. Jetzt aber mied das Publikum den Ort der Schande. Nur die Ruderer waren da, Handtücher um die muskulösen Schultern geschlungen, und schauten verständnislos vom Anleger zu Ajax herunter.

»Willst du dein Geschenk nicht öffnen?«, fragte Ben und deutete auf den nassen Sack, der noch immer zwischen Ajax’ Füßen lag und zuckte.

Natürlich wollte Ajax das nicht. Nicht vor allen anderen. Aber er konnte die jammervollen Tiere nicht länger in ihrem Gefängnis lassen. Er suchte nach dem Strick, der den Sack zusammenhielt. Das Wasser hatte den Hanf glitschig gemacht, und er brauchte eine Weile, bis er den Knoten gelöst hatte. Schließlich schüttelte er sechs junge Katzen auf den Boden des Bootes. Die winzigen Körper waren klitschnass, das Fell klebte an Beinen und Köpfen. Die Tiere waren schon einige Wochen alt. Erschöpft krabbelten sie übereinander. Eins fiel auf Ajax’ Schuh. Alle lebten.

»Danke, Dog«, sagte Ben. »Das hast du fein hinbekommen. Das gesamte Team ist dir dankbar.«

»Wir sollten ihn aus dem Club ausschließen«, schlug Frank, der Bootsführer vor. Ihm kam dieses Debakel gelegen, denn er war schon immer eifersüchtig auf die Popularität, die Ajax im Ruderclub genoss.

»Willst du dich nicht wenigstens entschuldigen?«, fragte Ben. »Dein dummes Manöver hat uns den Sieg gekostet, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.«

Ajax sah die anderen an. Eine Reihe zorniger Gesichter leuchtete zu ihm herab wie eine Reihe grell eingestellter Scheinwerfer auf eine Bühne. »Entschuldigen?«, fragte er. »Wofür? Was hättest du denn getan, wenn du an meiner Stelle gewesen wärst? Ich hatte halt das Pech, die Tiere als Einziger zu bemerken.«

Ben schloss den Mund und presste die Lippen zusammen. Carl, Drew, Abbot und Henry drehten sich um und gingen weg. Für sie war der Fall anscheinend erledigt, Doggerton war abgeschrieben.

Frank stieg ins Boot zurück, beugte sich hinunter und griff nach einem der strampelnden Körper. Für einen Moment befürchtete Ajax, der Steuermann wolle die Katze zurück ins Wasser werfen. Doch Frank hielt ihm das nasse Bündel Leben demonstrativ vors Gesicht und schüttelte es. »Du hast es immer noch nicht kapiert, oder? Der Sack mit den Katzen war nicht zufällig da, ausgerechnet in dem Moment, als wir vorbeigefahren sind.«

Ajax spürte, wie sein Gesicht den Ausdruck großer Unbedarftheit annahm, aber er konnte nichts dagegen tun. »Was willst du damit sagen?«

»Dass jemand die Katzen in den Fluss geworfen hat, um uns abzulenken. Die Chancen standen hoch. Neun Mann in einem Boot. Da muss ja einer ein gutes Herz haben und den Sieg seines Teams gegen einen Sack voller Katzen eintauschen. Stochastik, Dog. Wie hoch liegen da die Chancen?«

Ajax fuhr sich durchs Haar und biss sich auf die Unterlippe. Ihm fiel der Mann ein, der am Ufer gestanden hatte. Wenn Frank mit seinem Verdacht richtig lag, stammte der Kerl sehr wahrscheinlich aus Oxford.

»Verdammt«, sagte er und nahm Frank das Kätzchen aus der Hand. Die Kräfte des Tiers waren erschöpft. Es bewegte sich nur noch schwach. Wenn die Katzen nicht bald ins Warme kamen, war die Rettungsaktion umsonst gewesen.

»Genau: verdammt!«, blaffte Frank. »Das nächste Mal denkst du erst nach, bevor du dich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingst. Wenn es nach mir geht, wird es dieses nächste Mal allerdings nicht geben.« Damit wandte er Ajax den Rücken zu und stapfte davon.

»Der beruhigt sich schon wieder«, sagte Ben. »Ich gehe dann auch mal. Wir können das Boot später einholen. Henry bringt den Anhänger.« Er folgte den anderen. Immerhin winkte er Ajax noch einmal zu.

Ein kühler Wind riffelte das Wasser des Cam. Ajax begann zu frösteln. »Also los«, sagte er zu dem nassen Wurf. »Zurück mit euch in den Sack. Einmal muss es noch sein. Danach gibt es einen warmen Ofen und eine Schale Milch. Oder besser gleich ein ganzes Fass.« Nur wo, überlegte er, während er die Kätzchen in den Beutel bugsierte.

Er wollte gerade aufstehen, da streckte sich ihm eine Hand entgegen. Ajax schaute auf. Über ihm, auf dem Anleger, standen zwei Männer. Der eine, etwa vierzig Jahre alt und mit schütterem sandfarbenem Haar, trug einen ausgebeulten grauen Anzug, der an den Ellbogen ein wenig glänzte. Der andere war älter, wie seine silbrigen, streng zurückgekämmten Haare verrieten, und war in einen mausgrauen Mantel mit schwarzem Kragen gekleidet. »Dürfen wir Ihnen aus dem Boot helfen?«, fragte der Jüngere der beiden.

Ajax ergriff die Hand und ließ sich hochziehen. Den Sack hielt er fest in seiner Linken. »Danke. Das war ein ziemliches Debakel gerade«, sagte er in entschuldigendem Ton. »Sollten Sie extra wegen des Rennens hergekommen sein, kann ich Ihnen nur …«

»Wir sind wegen Ihnen hier«, sagte der Ältere. Dann stellte er sich mit dem Namen Cowell vor und den anderen als Mister Cook. »Wir möchten Ihnen ein Angebot machen.«

Ajax durchfuhr es heiß. Er hatte schon davon gehört, dass Talentscouts zu den Vorrunden des großen »Boat Race« kamen, jenes weltberühmten Wettbewerbs, bei dem die besten Ruderer aus Oxford und Cambridge auf der Themse in London gegeneinander antraten. Standen ihm zwei solche Scouts gegenüber? Das wäre eine einmalige Chance. Nur hatte er sie dummerweise verspielt. Um was für ein Angebot also konnte es sich handeln?

»Das besprechen wir besser an einem anderen Ort«, sagte Cook. Oder war das Cowell? »Nicht hier, wo so viele Leute zuhören.«

Ajax sah sich um. Der Steg war leer. Einige Radfahrer waren unterwegs. Im Park auf der anderen Seite des Flusses ging ein älteres Paar spazieren. »Welche Leute meinen Sie?«, wollte er wissen.

»Sie haben anscheinend noch das ein oder andere zu erledigen.« Cowell ignorierte seine Frage und warf stattdessen einen abschätzigen Blick auf Ajax’ Trikot und den Sack. »Wir warten im Trinity College auf Sie, in der Vorhalle der Kapelle.«

»Wenn Sie binnen einer Stunde nicht dort sind, gehen wir davon aus, dass Sie kein Interesse haben«, ergänzte Cook.

»Interesse woran?«, fragte Ajax. Aber diese beiden Männer waren offenbar nicht bereit, seine Fragen zu beantworten.

Cook und Cowell stießen die Hände tief in die Taschen und gingen den kleinen Pfad am Fluss entlang.

Ajax fühlte sich mit einem Mal, als sei er aus der Realität gerissen worden. Er stand allein und in einem durchnässten Trikot auf dem Anleger und war in wenigen Minuten von einem hochgerühmten Sportler zum schlimmsten Versager von Cambridge abgestiegen. Und dann waren diese Gestalten mit einem dubiosen Angebot zu ihm gekommen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden so etwas wie Aaskrähen waren, die aufpickten, was auf der Strecke blieb. Natürlich, dachte er. So musste es sein. Das waren keine Talentscouts. Die wollten einem jungen Mann keine Träume erfüllen. Sie wollten ihn verheizen, weil er gerade von der steilen Leiter des öffentlichen Ansehens in eine Jauchegrube gefallen war. Er war nicht länger Ajax, der härteste Hund auf dem Cam. Er war ein Narr in einer Jauchegrube.

Sie werden mich doch nicht zwangsrekrutieren und zum Militärdienst schicken? Seit über sechs Monaten herrschte Krieg auf dem Kontinent, und England war an der Seite Frankreichs angetreten, um die deutschen Faschisten aufzuhalten. Aber dass Engländer in Waffen gegen Deutsche kämpften, davon hatte Ajax bislang noch nichts gehört.

Was also sollte schon geschehen? Er beschloss, rechtzeitig am verabredeten Ort zu erscheinen. Das Trinity College lag nur einen kleinen Fußmarsch entfernt. Vielleicht offenbarte sich ihm in dem altehrwürdigen Gemäuer eine glänzende Zukunft? Er griff nach dem Sack und hielt auf das Bootshaus zu.

Kapitel 4

CAMBRIDGE, MÄRZ 1940

Ajax brachte die Katzen ins Bootshaus. Er hatte Glück: Charlie, der Hausmeister, bereitete den Tieren einen Platz mit den herrenlosen Socken aus den Umkleidekabinen, er polsterte damit eine Stelle im Keller aus, neben dem Kohleofen. Ajax überzeugte sich, dass sie genug Milch bekamen. Als er auf die sechs jungen Katzen herabschaute, die erschöpft zu einem Haufen zusammenkrochen und, sich gegenseitig wärmend, augenblicklich einschliefen, hatte er keinen Zweifel mehr, richtig gehandelt zu haben. Dann brach er, in eine helle Hose und einen Fair-Isle-Pullover gekleidet, in Richtung Trinity College auf.

Die Gleichgültigkeit des Sonntags lag über den Straßen von Cambridge. Die Frühlingssonne gleißte durch den Nachmittag, seit Monaten war es nicht so hell gewesen, Ajax hatte das Gefühl, das Licht mit den Händen greifen zu können. Die Menschen auf den Bürgersteigen schienen wie ausgewechselt, selbst die Geschäftigsten wirkten gelöst. Der Frühling veränderte die Stadt und ihre Bewohner.

Wie gut hätte es da gepasst, wenn das lokale Ruderteam an diesem Tag gewonnen hätte. Ajax bog in die Bridge Street ab, passierte die alte Parish Church of St Clement – hinter der Kirche hatte er zum ersten Mal Christine geküsst, die inzwischen Bens Freundin war –, ging über die St-Johns-Street und hielt auf das Trinity College zu. Der helle Sandstein der Universitätsgebäude bestimmte das Erscheinungsbild von Cambridge und verlieh der Stadt einen leuchtenden Charakter. Da machte es auch nichts, wenn es – wie jetzt – leicht zu regnen begann und sich feine Tropfen auf den Fasern seines Wollpullovers niederließen. Ajax erreichte das Torhaus des Trinity. Um den Apfelbaum daneben hatte sich eine Gruppe von Touristen versammelt. Die Frauen und Männer lauschten den Ausführungen eines Stadtführers. Viele hielten den Baum für denjenigen, unter dem Isaac Newton die Schwerkraft entdeckt hatte – nachdem ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war. Tatsächlich war dieser Baum nur ein Ableger. Das Original, so hatte Ajax einmal gehört, sollte vor Newtons Geburtshaus in Lincolnshire stehen. Echt oder nicht: Unter den Ästen des Baums vor dem Trinity College ließ sich immer wieder jemand nieder und wartete auf eine Eingebung, wie sie der große Denker einst gehabt hatte. Manch einer schlief vor lauter Erwartung ein.

Ajax durchquerte das Torhaus. Obwohl er hier studierte – Englische Literatur bei Professor Sami – und diesen Weg schon Hunderte Male gegangen war, fühlte er sich wieder überwältigt von der Weite des Great Court und den historischen Bauwerken ringsum. Die Rasenfläche war so grün, dass es in den Augen stach, umso mehr, da nun wieder die Sonne durch die Wolken schien und die Regentropfen auf dem Gras zum Glitzern brachte.

Warum wollten Cook und Cowell ihn ausgerechnet hier treffen, wo sich Ajax auf seine Zukunft vorbereitete? Er würde doch nicht für seinen Fehler auf dem Fluss Konsequenzen im Studium zu befürchten haben?

Aber dann hätte man ihn ins Büro des Masters bestellt, nicht in die Vorhalle der Kapelle. Master Thomson, das wusste Ajax genau, war ein großer Freund des Reitsports, er liebte nichts mehr, als sich beim Polo zu verausgaben. Für Ruderer in ihren lächerlichen Booten hatte Thomson nicht mal ein herablassendes Lächeln übrig. Dementsprechend war es ihm gleichgültig, wer auf dem Cam gewann oder verlor. Nein, dachte Ajax, der Master konnte nicht dahinterstecken.

Cook und Cowell standen links und rechts der Tür zur Kapelle und sprachen mit einem Mann, der einen Reiseführer in der Hand hielt und mit einem Finger auf den Umschlag tippte.

»Tut uns leid, Sir«, sagte Cowell gerade, »aber die Kapelle ist geschlossen.«

Ajax wartete in einigem Abstand. Warum war die Kapelle geschlossen? Das wollte auch der Besucher wissen, der jetzt die Öffnungszeiten der Sehenswürdigkeit aus dem Reiseführer vorlas. Unterdessen erblickte Cook Ajax und winkte ihn heran. Cowell öffnete die Tür und schob Ajax mit sanftem Druck ins Innere. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss und schnitt den Protest des Touristen ab. Eine tiefe Stille, wie man sie nur in alten Gotteshäusern erlebt, empfing Ajax. Er hatte den Eindruck, dass sich das Schweigen von Generationen von Gläubigen unter den Gewölbebögen gesammelt und verdichtet hatte.

Warum waren Cook und Cowell ihm nicht gefolgt? Das wurde ja immer merkwürdiger. Er wanderte an den Statuen berühmter Trinity-Absolventen entlang, er kannte sie alle. Schließlich kam er jeden Sonntag her, um am Gottesdienst teilzunehmen. Einmal, das war ihm noch in beschämender Erinnerung, hatte er, statt für seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester zu beten, Gott um Hilfe angefleht, um die nächste Prüfung bei Professor Sami zu bestehen. Anschließend war er zur Beichte gegangen. Der Priester hatte Verständnis. Er sei nicht der erste Student, der versucht habe, Prüfungsfragen von Gott zu erfahren.

Ajax schüttelte den Kopf über sich selbst. Vermutlich hatten auch die Genies, vor deren Statuen er jetzt stand, einmal solche Ängste ausgestanden. Und sich in ihrer Not an Gott gewandt. Da, links von ihm, schickte Isaac Newton seinen Blick visionär in die Ferne. Neben Newton saß Alfred Lord Tennyson auf seinem Dichterthron, und Sir Francis Bacon stützte den von Gedanken schweren Kopf auf eine Faust. So wie der ausschaut, fand Ajax, hat er wohl Zweifel, ob seine fünfhundert Jahre alten, bis zu den Knien reichenden Melonenhosen heute, im Jahr 1940, noch zeitgemäß waren.

»Haben Sie schon mal daran gedacht, dass eines Tages Ihr Ebenbild neben diesen Giganten der Geschichte stehen könnte?« Die Stimme hatte einen heiseren, kehligen Klang. Ajax fuhr herum. Unter der Orgelempore war ein Mann aufgetaucht, er musste dort im Schatten gestanden und ihn eine Zeit lang beobachtet haben.

Er kannte den Mann. »Sie?«

»Sie erkennen mich wieder? Dabei haben Sie mich nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, vom Boot aus.« Der Mann blieb unter der Empore stehen. Die forstgrüne Strickjacke, der runde Kopf, der schmale Oberlippenbart. Es gab keinen Zweifel.

»Warum haben Sie die Katzen ins Wasser geworfen?«, fragte Ajax, obwohl ihm Ben und Frank das ja schon erklärt hatten.

Die Augen des Unbekannten waren dunkel, beinahe schien es, als bestünden sie nur aus Pupillen, so wenig Weiß war darin zu sehen. Die Lider zogen sich zusammen, wenn er sprach. »Ich wollte Sie treffen, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten, Mister Doggerton.«

Der Mann musste zu Cook und Cowell gehören, denn er schien dieselbe Abneigung zu haben, Fragen zu beantworten. Mit einem Mal fühlte sich Ajax wie eine Gitarre, deren Saiten zwei Oktaven zu hoch gestimmt waren. Er hatte genug von dem seltsamen Verhalten dieser Leute. Dieser Kerl da war dafür verantwortlich, dass sich Ajax vor seinen Ruderkameraden blamiert hatte. Und er hatte das Leben unschuldiger Kreaturen aufs Spiel gesetzt.

»Gehen Sie bei Ihren Anwerbungsgesprächen immer so vor?«, blaffte Ajax. »Erst bringen Sie Ihre Kandidaten in Verruf, blamieren sie, und dann kommen Sie mit einem Angebot, von dem Sie glauben, dass man es nicht ausschlagen kann.« Er ging auf den Mann zu, die Sohlen seiner Schuhe quietschten auf den spiegelnden Fliesen. »Ich sage Ihnen jetzt, was Sie mit Ihrem Angebot machen können. Sie können es in einen alten Sack stecken, selbst hineinklettern und mich dann fragen, ob ich so freundlich wäre, den Sack zuzubinden und in den Fluss zu werfen.«

»Mister Doggerton …«

»Oxford kann mir gestohlen bleiben. Ich rudere für Cambridge. Nur für Cambridge. Und wenn Sie mich jetzt nicht in Ruhe lassen, werde ich Sie melden und von hier entfernen lassen. Damit ist die Zeit unserer Bekanntschaft beendet. Sie war ohnehin schon viel zu lang.« Ajax wandte sich zur Tür. Er war ein wenig stolz darauf, das vermeintlich aussichtsreiche Angebot abgelehnt zu haben. Vielleicht würde er für Cambridge nie wieder an den Start gehen, aber immerhin hatte er seine Seele nicht an den Teufel verkauft – einen Teufel, dessen Hölle in Oxford lag.

Er wollte die Tür aufreißen, doch die Klinke ließ sich nicht herunterdrücken. Zugesperrt! Ajax fuhr herum. »Was erlauben Sie sich?«

»Mein Name ist Gallagher.« Er streckte eine Hand aus und ging auf Ajax zu.

»Öffnen Sie sofort die Tür!«, verlangte Ajax.

Gallagher zog die Hand zurück. »Ich bin von der britischen Regierung beauftragt, Sie um einen Gefallen zu bitten.«

Ein Gefallen? Gerade noch war es ein Angebot gewesen, etwas, für das man eine Gegenleistung erwarten konnte. Ajax stutzte. »Die Regierung? Sie kommen nicht aus Oxford?«

»Hören Sie mir bitte zu«, versuchte es Gallagher noch einmal.

»Erst, wenn Sie mir beweisen, dass Sie wirklich nicht aus Oxford kommen«, verlangte Ajax. »Woher soll ich wissen, dass Sie und die beiden Trottel vor der Tür nicht irgendwelche Schauspieler sind, die meine Rudermannschaft engagiert hat, um mir eins auszuwischen?« Das wäre der Studentenstreich des Jahres, dachte Ajax, und ein kleines bisschen hoffte er, dass gleich Ben, Henry, Frank und die anderen in die Vorhalle stürmen und ihn lauthals auslachen würden.

Doch die Türklinke bewegte sich nicht, und alles blieb still.

Gallagher schaute Ajax vom Grund seiner dunklen Augen an. Dann sagte er mit beinahe tonloser Stimme: »Ihr Name ist Ajax Doggerton. Sie sind einundzwanzig Jahre alt und studieren Literatur hier am Trinity College.«

Ajax wollte den Mann unterbrechen, doch etwas in Gallaghers Stimme ließ ihn abwarten. Er fühlte sich wie der einzige Zuschauer einer Magiershow. Er wusste, dass das Kaninchen noch aus dem Hut gezaubert werden würde. Was er nicht wusste, war, welche Farbe es haben würde.

»Sie sind sechs Fuß und zwei Inches groß«, fuhr Gallagher fort, »ein Schotte von der Westküste. Ihr Körpergewicht betrug heute Morgen hundertvierundvierzig Pfund. Sie sind Rechtshänder, können aber auch mit der linken Hand schreiben. Manchmal machen Sie das, damit Ihre Handschrift undeutlich wird, zum Beispiel, wenn Sie Prüfungsergebnisse fälschen. Sie haben ein Talent für das Kopieren von Handschriften und finanzieren Ihr Studium, jedenfalls zum Teil, damit, die Originaldokumente aus dem Museum des Colleges zu kopieren und zu verkaufen, natürlich mit der Behauptung, es handele sich um die Originale. Ihre Eltern, Bert und Doris Doggerton, ahnen nichts davon. Ihr Vater war Krabbenfischer, bis er bei einem Schiffsunglück ein Bein verlor. Seither lebt Ihre Familie von seiner kleinen Invalidenrente. Ihre Mutter, deren Familie aus Deutschland stammt, verdient mit Deutschunterricht etwas dazu. Oft muss sie sich in den Familien, deren Söhne und Töchter sie unterrichtet, auch um die Wäsche und das Essen kümmern. Ihre Schwester Enid ist siebzehn und seit drei Monaten schwanger, was die prekäre finanzielle Lage der Familie noch erschweren wird. Das Geld, das Sie Ihren Eltern anbieten, lehnen diese ab.«

Ajax sprang auf Gallagher zu und packte ihn am Saum der Strickjacke. Unter seinem Griff riss ein Knopf ab und sprang über den Marmorboden. »Halten Sie den Mund. Wenn Sie meine Familie noch ein einziges Mal erwähnen, werde ich Ihnen zeigen, dass ich tatsächlich Links- und Rechtshänder bin.«

Gallaghers Gesicht war jetzt ganz nah. Auf der hellen Haut des Mannes glitzerten Speicheltropfen aus Ajax’ Mund. Trotzdem blinzelte Gallagher nicht, er versuchte nicht einmal, Ajax’ Hände zu lösen. Er hing wie ein Sack in seinem Griff, ein Sack, in dem etwas Gefährliches steckte. »Sie wollten doch einen Beweis dafür, dass ich mir keinen Scherz mit Ihnen erlaube«, sagte er mit tonloser Stimme. »Soll ich weitersprechen?«