Die Bibel - Christian Nürnberger - E-Book

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Christian Nürnberger

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Beschreibung

Die Bibel ist das Buch, ohne das man nichts versteht – nicht die Grundlagen unserer Kultur, nicht die Schöpfungen der Kunst und Literatur. Und die Bibel steckt voller phantastischer Geschichten, vom Sündenfall bis zur Auferstehung Christi. Wir müssen sie nicht glauben, aber wir kommen nicht umhin, sie zu kennen: Wer war Hiob? Was geschah mit Josef in Ägypten? Wie rettete Moses das Volk Israel? Warum musste Jesus sterben? Und was bedeutet das Kainszeichen? Christian Nürnberger erzählt die wichtigsten Geschichten des Alten und des Neuen Testaments und erklärt, worin die revolutionäre Botschaft des biblischen Geschehens liegt, damals und heute, für Christen und Nichtchristen zugleich. Eine ebenso anschauliche wie unterhaltsame Einführung in den Klassiker namens Bibel – lebensnah und überraschend aktuell.

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Christian Nürnberger

Die Bibel

Was man wirklich wissen muss

Wieder bei Adam und Eva anfangen

Vor ungefähr viertausend Jahren hatte Gott es wieder einmal satt, sich über die Menschen zu ärgern. Diesmal aber wollte er sie nicht durch eine neuerliche Sintflut ausrotten, sondern ein anderes Experiment wagen: Er guckte sich einen einzelnen Menschen aus, Abraham, und plante, aus dessen Kindern und Kindeskindern– Isaak und Jakob – ein Volk heranwachsen zu lassen, Gottes Volk. Es sollte aller Welt zeigen, wie er sich das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten vorstellt. Die ewig ungelösten Probleme der Menschen sollten eine Lösung finden, ihr falscher Gebrauch der Freiheit ein Ende haben.

Aber Abraham, war das nicht dieser sklavisch gehorsame Mensch, der auf «Befehl von oben» beinahe seinen eigenen Sohn, Isaak, geschlachtet hätte? In ihm sollen wir einen Problemlöser erkennen? Jakob war ein kleiner Gauner, der seinen Bruder ums Erstgeburtsrecht gebracht hat. Was könnte die Menschheit von so einem lernen? Oder Petrus, der «Fels», auf dem Jesus seine Kirche bauen wollte – in der Nacht seiner Gefangennahme war er windelweich und hatte Jesus verraten, noch ehe der Hahn krähte.

Merkwürdig und fremd, nicht selten erschreckend, muten uns viele Geschichten der Bibel an. Dass sie trotzdem, oder gerade deshalb, den Menschen des 21.Jahrhunderts noch viel zu sagen haben, soll in diesem Buch bewiesen werden.

Die Bibel sei «Gottes Brief an jeden Menschen», hat der Theologe Philipp Jakob Spener geschrieben. Er teilt mit, was Menschen tun müssen, damit ihr Leben gelingt. Aber dieser Brief ist vermittelt durch das Wort von Menschen, die vor zweitausend Jahren und noch längerer Zeit gelebt haben – für Menschen von heute nur schwer verständlich. Darum soll dieses Buch als Übersetzungshilfe dienen. Es ist der Versuch, den roten Faden freizulegen, der sich durch diese alten Geschichten zieht.

Damals, als sich Gott ein Volk erfand, gab er ihm auf dem Berg Sinai sein Gesetz, die Sozialordnung Gottes. Aus ihr wuchs eine neue Kultur, unsere Kultur. Die europäischen Standards und Werte – das, was heute «westliche Wertegemeinschaft» genannt wird – haben dort, am Sinai, ihre älteste Wurzel.

Davon erzählt das Alte Testament. Die Christen teilen es mit den Juden. Das letzte Viertel der Bibel, das Neue Testament, erzählt von Jesus. Sein Gott war der Gott der Juden und ist später zum Gott der Christen geworden. Darum bedeutet das Neue keine Aufhebung des Alten Testaments, sondern dessen Fortsetzung. Darum gehört beides zusammen.

Die Bibel ist «das Buch, ohne das man nichts versteht». (Jan Roß). Über ein Jahrtausend lang war sie der grundlegende Text des christlichen Abendlandes. Ohne ihre Kenntnis ist nicht zu begreifen, wie Europa wurde, was es ist. Auch die großen Schöpfungen der europäischen Literatur, Musik und Malerei erschließen sich kaum, wenn man nichts von der Bibel weiß.

Sie enthält Antworten auf die ewigen Fragen: Worin besteht der Sinn meines Lebens? Der Sinn dieser Welt? Was sollen wir tun? Warum müssen Menschen leiden? Was kommt nach dem Tod? Wer die Antworten sucht, wird nicht selten erschrecken über den radikalen Unbedingtheitsanspruch, den der Gott der Bibel an seine Gläubigen stellt, und staunen über noch nie gehörte oder längst vergessene Geschichten.

Man kann diese Geschichten für reine Fiktion halten, also für bloße Literatur aus versunkener Zeit. Kennen sollte man sie trotzdem, denn selbst wenn es bloße Literatur wäre, handelte es sich immerhin um Weltliteratur. Um weltverändernde Literatur.

Die Kraft zur Weltveränderung steckt noch immer in diesem Buch. Viertausend Jahre nach Abraham ist diese Geschichte noch nicht zu Ende. Es könnte sich erweisen, dass der Schriftsteller Franz Werfel Recht hat, der im letzten Jahrhundert die Ereignisse vom Sinai als «das allergrößte Ereignis der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte» bezeichnete und erklärte: «Diese Geschichte steckt doch noch in den Kinderschuhen.»

Noch radikaler drückt es der englische Dichter Gilbert K.Chesterton aus: «Sie sagen, dass das Christentum versagt hat. Ich sage, dass es noch gar nicht versucht worden ist.» Um es wirklich ernsthaft zu versuchen, um noch einmal mit Adam und Eva anzufangen, bedürfte es der Kraft, die in der Bibel steckt. Aber dieses Kraftwerk ist über die Jahrtausende tief verschüttet worden. Der Schatz müsste erst gehoben werden.

Dieses Buch ist ein Versuch, sich auf die Schatzsuche zu begeben und die Leserinnen und Leser dabei mitzunehmen.

Schöpfung: Die Welt wird aufgeklärt

Der Kosmos – ein Götterdrama

Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. So lauten die ersten Worte des ersten Kapitels der Bibel. Aber zwischen dem Ereignis und dem Bericht darüber liegen unvorstellbare fünfzehn Milliarden Jahre.

Die meiste Zeit davon verschlang der Bau des Himmels, der Planeten und Galaxien. Eine Milliarde Jahre lang musste die Sonne auf die Erde scheinen, bevor erste primitive Lebensformen entstehen konnten. Nochmal fünfhundert Millionen Jahre waren nötig, um Vielzeller hervorzubringen, aus denen alles weitere Leben entsprang. Dieses Leben musste Eiszeiten, Vulkanausbrüche und Kometeneinschläge überstehen, um jenes Wesen hervorzubringen, das eines Tages schrieb Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen nach unserem Bild.

Wie sich die Menschen verständigten, die vor anderthalb Millionen Jahren Werkzeuge gebrauchten und Feuerstellen hinterließen, das wissen wir nicht. Über eine Lautsprache verfügten sie erstmals vor 300000Jahren, vermuten Anthropologen. Andere Forscher meinen, der Mensch habe erst vor etwa vierzigtausend Jahren zu sprechen begonnen.

Hatte er schon Religion? Knochenfunde, die von Bestattungsriten zeugen, sind ungefähr fünfzig- bis siebzigtausend Jahre alt; die ersten Höhlenzeichnungen, die auf religiöse Vorstellungen schließen lassen, dreißigtausend. Irgendwann dazwischen werden also die Jäger und Sammler begonnen haben, einander Geschichten zu erzählen, vermutlich über ihre Abenteuer bei der Jagd, ihre Vorväter, über Tiergötter und die Anfänge der Welt.

Jahrtausendelang haben unsere Ahnen diese Geschichten ausgeschmückt, verändert, vergessen, neu erfunden, mit anderen Geschichten kombiniert. Wir wissen nichts davon, denn nichts wurde aufgeschrieben, weil es noch sehr lange dauerte, bis die Schrift erfunden wurde, von den Sumerern. Das war vor fünfeinhalbtausend Jahren.

Jetzt hätte man die Erzählungen aufschreiben können. Falls dies geschah, ist das Geschriebene für immer verloren gegangen oder noch nicht gefunden. Was wir haben, sind zwei in Ton gemeißelte Geschichten über die Herkunft der Götter, die Entstehung der Welt und der Menschen: das Gilgamesch-Epos, das bereits eine Sintflut-Geschichte enthält, die der biblischen Erzählung ähnelt, und das babylonische Schöpfungsgedicht «Enuma elisch».

Diese von den Babyloniern nach den Anfangsworten «Enuma elisch». («Als droben») bezeichnete Dichtung wurde in ihrer ursprünglichen Fassung vermutlich vor 3900Jahren geschrieben und dürfte die Vorlage für zahlreiche Schöpfungsmythen anderer Völker zwischen Griechenland, Mesopotamien und Ägypten geliefert haben.

Als droben der Himmel noch nicht existierte

und unten die Erde noch nicht entstanden war –

gab es Apsu, den Ersten, ihren Erzeuger,

und Schöpferin Tiamat, die sie alle gebar.

So beginnt ein langes, feierliches Gedicht, das viele Seiten verschlänge, wollte man es hier vollständig wiedergeben. In Babylon wurde es zu Beginn jedes neuen Jahres gesungen. Nach diesem Mythos entstand die Welt aus der Vermischung von Süß- und Salzwasser. Ein Götterpaar, Apsu und Tiamat, taucht plötzlich aus dem Nichts auf, vermählt sich, und der Süßwassergott Apsu zeugt nun in einem fort mit der Meeresgöttin Tiamat weitere Götter. Dann kommt es zum Streit, und aus einem nichtigen Anlass entspinnt sich ein kosmisches Drama.

Der alte Apsu fühlt sich von den jungen Göttern gestört: «Am Tage habe ich nicht Ruhe, nachts schlafe ich nicht. Ich will sie verderben, ihre Wege will ich zerstreuen, Stille soll hergestellt werden, wir wollen schlafen.» Aber die jungen Götter kommen ihm zuvor. Ea, «der Gewaltige an Weisheit, der alles versteht», verzaubert den Apsu und erschlägt ihn im Schlaf.

Dafür übt Tiamat, die alte Witwe, nun grausame Rache. Angestachelt von einem Gott namens Kingu, erscheint sie als Urweltdrache, um die jungen Götter zu töten. Sie gebiert Riesenschlangen, füllt ihren Leib mit Gift, richtet ihre tödliche Wut gegen die Mörder ihres Gatten. Meerdrachen begleiten sie, Hunde und Löwen bilden ihr Gefolge. Mit Sphinxen, Zentauren, Dämonen und gewaltigen Stürmen verbreitet sie Panik und Entsetzen unter den jungen Göttern.

Da aber erscheint plötzlich Marduk, der eigentliche Held. Ihm übertragen die Jungen die Herrschaft, und er zieht unter Blitz und Donner in den Kampf, tötet Tiamat, spaltet ihren Schädel, durchschneidet ihre Adern, schlägt am Ende den Leichnam entzwei und macht aus der einen Hälfte den Himmel und aus der anderen die Erde. Seine göttlichen Mitstreiter belohnt er mit Himmelspalästen, weist jedem eine Aufgabe zu und macht sich schließlich daran, Wesen zu erschaffen, die den Göttern das Leben erleichtern. Dazu braucht Marduk ein zweites Opfer. «Wer hat Tiamat zur Revolte aufgereizt?», fragt er. Und die anderen sagen: Kingu war’s! «Seine Adern durchschnitten sie, aus seinem Blute schuf er die Menschheit.»

Dieses Urmodell eines Schöpfungsmythos wird in ähnlicher Gestalt noch lange das Weltbild der antiken Menschen bestimmen, auch das griechische. Rund ein Jahrtausend nach der ersten Niederschrift des «Enuma elisch» schreibt der Dichter Hesiod die griechische Variante.

Die Götter heißen anders, ihre Zahl ist größer, ihr Treiben bunter, aber was immer über sie erzählt wird, es folgt dem vertrauten Muster. Aus einem Urgrund, dem Chaos, entsteht die Ursprungsgöttin Gaia, die Erde, aus deren Schoß Götter wie Tartaros, Eros, Erebos, Nyx, Uranos, Kronos hervorgehen und noch weitere, bis genug Stoff für ein großes Drama beisammen ist. Jetzt kann das große Hassen und Lieben, Morden und Rächen unter den Göttern losgehen. Kronos schlägt dem Uranos mit einer Sichel das Glied vom Leib. Aus den Blutstropfen, die in die Erde rinnen, gebiert Gaia die wilden Erinnyen, die Rachegöttinnen, und die Giganten. Um das ins Meer geworfene Glied des Uranos bildet sich Schaum, und diesem entsteigt die wunderschöne Aphrodite.

Am Ende bezwingt Zeus, der jüngste Sohn des Kronos, die Titanen und schleudert sie in den Tartaros. Damit ist Zeus der Herr der Götter, er herrscht über den Himmel und teilt seinen Brüdern die anderen Räume zu: Poseidon das Meer, Hades das Totenreich.

Solche Geschichten waren in der gesamten antiken Welt im Umlauf, als das junge Volk der Juden vor 2500Jahren seine eigene Version dagegensetzte, den großen Widerspruch eines kleinen Volkes gegen den Glauben der ganzen Welt. Es war ein Donnerschlag der Weltgeschichte.

Schöpfung – die Entrümpelung des Himmels

In den Schöpfungsmythen jener Völker, welche später von den Juden als Heiden bezeichnet werden, sind Mensch und Welt das Ergebnis gewaltiger Zeugungsorgien und bluttriefender Götterausschweifungen. Diese Götter der Heiden stehen für Himmel und Erde, den Ozean und die Naturgewalten. Mit ihren Fähigkeiten und ihrer Kraft sind sie den Menschen zwar turmhoch überlegen, doch charakterlich zum Verwechseln ähnlich: Hass und Neid, Gier und List – nichts Menschliches ist den Göttern fremd.

Aber einen Plan für die Welt und ein Ziel für die Menschen haben die Götter nicht. Allenfalls als Sklaven dürfen sie ihnen dienen. So etwas wie Zuneigung oder gar Liebe zu den Menschen ist nicht vorgesehen. Die Götter sind stets nur mit sich selbst beschäftigt, das menschliche Treiben interessiert sie bestenfalls am Rande.

Wie anders ist das im folgenden Text und allen weiteren, die ihn fortsetzen:

Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über dem Urmeer, und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht, und es ward Licht. Gott aber sah das Licht, und sah, dass es gut war. Dann schied Gott zwischen dem Licht und der Finsternis. Das Licht nannte Gott Tag, die Finsternis Nacht. So ward Abend und so ward Morgen, der erste Tag.

Dann sprach Gott: Es entstehe ein Firmament in den Wassern, das bilde eine Scheidewand zwischen den Wassern, und es geschah so. So machte Gott das Firmament und schied zwischen den Wassern unter dem Firmament und dem Wasser über dem Firmament. Und Gott nannte das Firmament Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.

Gott erschafft die Welt, indem er seinen Willen ausspricht und die Dinge voneinander scheidet. Das Wasser trennt er vom Land, die Ozeane und Kontinente sind da, und aus der Erde wachsen Pflanzen. Ins Firmament hängt er Leuchten für den Tag und für die Nacht: Sonne, Mond und Sterne. Die Zeit ist da und kann nun in Tagen, Monaten und Jahren gemessen werden.

Und Gott sprach: Das Wasser soll wimmeln von einer Fülle lebender Wesen, und es sollen Vögel dahinfliegen über die Erde an der Himmelsausdehnung. Und Gott schuf die großen Meerestiere und alle lebenden Wesen, die sich regen, von denen das Wasser wimmelt, nach ihrer Art, dazu allerlei Vögel mit Flügeln nach ihrer Art. Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt das Wasser in den Meeren, und die Vögel sollen sich mehren auf der Erde.

Als Nächstes sind die Landtiere an der Reihe, und danach ist die Zeit reif für den Höhepunkt, die Krone der Schöpfung: Wir wollen Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über alle Landtiere und über alle Kriechtiere. So schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde, nach Gottes Bilde schuf er ihn, als einen Mann und ein Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, füllet die Erde und macht sie euch untertan.

Der sechste Tag der Schöpfung ist damit aber noch nicht beendet. Eine Passage, über die man leicht hinwegliest, handelt davon, dass Gott den Tieren und Menschen sagt, was sie essen sollen: Hier gebe ich euch alles Kraut.… Allen Tieren des Landes… gebe ich alles Grüne des Krautes zur Nahrung. Es herrscht der paradiesische Zustand: Menschen und Tiere fressen sich noch nicht gegenseitig auf, sondern ernähren sich von Pflanzen. Dies wird sich erst nach der Sintflut ändern. Jetzt aber, am sechsten Tag, ist die Welt noch ein Paradies, und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

Zuletzt kommt jene Errungenschaft, die kein anderer Schöpfungsmythos kennt, der göttliche Ruhetag: Und Gott vollendete am siebenten Tage sein Werk und ruhte am siebenten Tag und heiligte ihn.

So also klingt der große Widerspruch eines kleinen Volkes. Schon die Form ist anders: Prosa statt Poesie. Eine schöne, gewiss auch feierliche Prosa, aber alles andere als ein Gedicht oder Gesang. Knapp und nüchtern wird gesagt, was zu sagen ist. Kein kosmisches Drama entfaltet sich, keine Göttersippen trachten einander nach dem Leben.

Drachen, Halbgötter, Dämonen oder Kopfgeburten müssen nicht mehr die Erzählung in Gang halten. Götter, Sphinxe, Zentauren, Stürme, Donner, Blitz: Das ganze mythologische Personal samt zugehörigem Fundus ist wie altes Gerümpel auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.

Fast ist man versucht, sich auszumalen, wie ein paar junge, etwas blasiert aussehende jüdische Intellektuelle im sechsten Jahrhundert vor Christus planen, die Weltgeschichte neu zu schreiben, und dabei Hohn und Spott ausgießen über jene altehrwürdigen Geschichten, die bei den mächtigen alten Völkern ringsum immer wieder feierlich verkündet werden. Die jungen Rebellen müssen gotteslästerliche Reden geführt haben. In heutige Sprache übersetzt waren für sie die alten Mythen nichts weiter als in die Länge gezogene Actionthriller, die durch ihre unaufhörliche Aneinanderreihung von Mord und Totschlag, Katastrophen und Groß-Zaubereien auf Dauer doch etwas ermüden.

Dagegen setzten sie ihre ganz eigene Version der Schöpfung, und das las sich dann wie das Manifest einer revolutionären Künstlertruppe, die sich vorgenommen hat, ein neues Zeitalter einzuläuten. Geschrieben haben auch sie noch in der Sprache der Mythen. Erzählt aber wird ein Gegenmythos.

Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne, Wasser und Meer, die Naturgewalten und die Schicksalsmächte – in den alten Mythen stets heilig und unantastbar, weil identisch mit den jeweiligen Göttern, die eifersüchtig wie Ressortleiter ihr jeweiliges Revier hüten – sind entgöttlicht und entweiht. Die Erde ist die Erde und nicht zugleich auch noch die Göttin Gaia, vor der man sich fürchten muss. Die Sonne ist die Sonne und nicht zugleich auch noch der Sonnengott Re, den man anbeten muss. Die Sterne sind keine Götter, denen man opfern muss, sondern Lampen, die einem gefälligst zu leuchten haben. Himmel und Erde sind für die Menschen da, nicht umgekehrt.

Eine Revolution hat stattgefunden.

Aus ist’s mit der Vielgötterei, vorbei die Vermenschelung der Götter, verschwunden die Angst vor göttlicher Willkür. Droben im Himmel ist es übersichtlich geworden. Drunten auf der Erde fällt es jetzt leichter, sich zu orientieren. Die Köpfe werden frei, seit man nicht mehr genötigt ist, die jeweils neuesten Nachrichten über das Beziehungschaos der Götter zu verfolgen und ihnen zu Diensten zu sein.

Ein neues Zeitalter kann beginnen. Es wird heller sein, verständlicher, humaner, und man wird weniger Angst haben müssen. Der neue Herr im Himmel ist kein Despot mehr, sondern einer, der sich um sein Volk kümmert.

Und die neuen Herren auf der Erde sind nicht mehr die Naturgötter, die pausenlos durch menschliche Opfergaben milde gestimmt werden müssen. Die neuen Herren sind jetzt die Menschen. Sie sollen Gott dienen, indem sie über die Erde herrschen. Ihnen sagt Gott: Es gibt keine Götter über, neben und unter mir. Kümmert euch nicht um die hölzernen Götzen der anderen. Der Holzwurm, den ich geschaffen, wird mit den Schabezähnchen, die ich ihm verliehen habe, all diese Götzen früher oder später zu Sägemehl zerreiben. Die Welt ist Welt. Von ihr habt ihr nichts zu befürchten, aber alles zu bekommen.

Die Nutzung der Natur für menschliche Zwecke ist freigegeben, der Grundstein für die planmäßige Erforschung der Welt gelegt. Ihre Beherrschung kann beginnen und ist kein Frevel, sondern göttliches Gebot. Und der Mensch hat eine von Gott verliehene und darum unantastbare Würde. Jeder Mensch hat sie, nicht nur Könige und Kaiser.

Welt und Natur sind weltlich, sagt der biblische Schöpfungstext. Göttlich ist allein Gott. Er, dem niemand dreinreden kann, erschafft die Welt nach seinem Plan. Er muss nicht zeugen und gebären oder, wie der altägyptische Gott Re-Atum-Chepri, masturbieren oder spucken, um aus sich selbst weitere Götter zu generieren. Der neue Gott ist ein wirklicher Souverän, der durchs Wort regiert. Was er will, spricht er aus. Was er spricht, geschieht. Niemand kann es ihm verwehren. Und außerdem ist er den Menschen herzlich zugetan.

Eine gewisse Arroganz derer, die das schrieben, ist nicht zu übersehen. Als kleiner unbedeutender Newcomer unter großen alten Völkern einfach deren heilige Texte zu verschmähen und kurzerhand die ganze Weltgeschichte umzuschreiben, dazu braucht es ein großes Selbstbewusstsein. Das hatten sie. Aber der Ärger war programmiert. Für ihre Blasphemien wurden die Juden von den anderen Völkern gehasst.

Mehrheitsfähig war die jüdische Sicht der Dinge natürlich nicht. Ein typisches Minderheitenprogramm. Die Massen bevorzugten daher weiter die guten alten Regenbogen-Mythen mit ihrer bunten Mischung aus Sex and Crime und Götterklatsch.

Das hatte Vorteile für alle Seiten. Die Göttergeschichten waren so kompliziert, dass es einer eigenen Kaste, der Priester, bedurfte, um sie zu verwalten und den Überblick zu behalten. So hatten die Priester ihr Auskommen. Die Willkür und Unberechenbarkeit der Götter gefiel den Herrschern. So hatten sie eine Legitimation, wenn sie selber mal zur Willkür griffen. Und das Volk war zufrieden, solange man ihm Brot und Spiele gab und dazwischen immer mal wieder einen Ausschnitt aus den Gruselgeschichten.

Diese unterhaltsamen Clips stellten keine besonderen Ansprüche an die Hörer. Man konnte sie bequem konsumieren und die Schauer genießen, die einem bei der Vorstellung göttlichen Gemetzels und marodierender Sphinxe und Zentauren über den Rücken liefen.

Dagegen der dürre Text der Bibel. Nur noch ein einziger Gott im Himmel, das war wenig unterhaltsam. Der konnte ja nicht mal sündigen. Für großes Kino ungeeignet. Minimalistisch. Und gerade deshalb in der Lage, die Welt zu verändern.

Von den Mythengläubigen, den Sumerern, Ägyptern, Babyloniern, Assyrern, Hethitern, Phöniziern, Griechen und Römern, zeugen heute nur noch Gräber und Ruinen. Die Minimalisten vom Sinai sind immer noch da. Und ihre jüngeren Schwestern und Brüder, die Christen, auch.

Eden – kein Garten der Lüste

Die Schöpfung ist vollendet. Aber fehlt nicht etwas? Hatte Gott nicht zuerst Adam aus einem Erdenkloß geformt und ihm den göttlichen Odem eingeblasen? Und hatte er nicht Eva aus Adams Rippe geschnitten?

Was uns als «Schöpfungsbericht» im Gedächtnis geblieben ist, besteht in Wahrheit aus zwei verschiedenen Berichten, einem älteren und einem jüngeren. Das ist für die Bibel nicht ungewöhnlich.

Lange bevor die biblischen Texte aufgeschrieben, ausgewählt und in ihre endgültige Form gebracht wurden, sind sie aus ältesten Erzählungen, Sagen und Legenden gewachsen, mündlich weitererzählt, variiert und mit anderen Texten kombiniert worden. Manches ist dabei wieder ausgeschieden worden oder verloren gegangen, Neues hinzugekommen.

Genau wie einzelne Gesteinsschichten Informationen aus verschiedenen Erdzeitaltern enthalten, so bergen biblische Textschichten unterschiedliche Erzähltraditionen. Manchmal stehen die Schichten unverbunden nebeneinander, manchmal werden sie kunstvoll verwoben. Daher kommt es öfter vor, dass dieselben Vorgänge mehrfach, aber oft sich scheinbar widersprechend, erzählt werden.

Alle Texte des Alten Testaments berichten von den Erfahrungen des Volkes Israel mit seinem Gott. Es ist also gedeutete Geschichte, die hier in vielfältigen Erzählungen durch die Jahrhunderte wuchs und verdichtet wurde. Die ersten Lieder, Sprüche, Rechtssätze und Sagen sind ungefähr zwischen 1200 und 1000 vor Christus entstanden, die jüngsten Texte, etwa das Buch Daniel oder manche Psalmen, erst um 150 vor Christus, das Buch der Weisheit sogar erst um 30 nach Christus. Und dann hat es noch einmal siebzig Jahre gedauert, bis jüdische Theologen eine endgültige Auswahl trafen und sagten: Das ist nun die Heilige Schrift der Juden.

Es liegen also mehr als tausend Jahre zwischen den jüngsten und ältesten Texten des Alten Testaments. Zwischen dem ersten und zweiten Schöpfungsbericht ungefähr vierhundert Jahre. Der erste Bericht aus dem vorigen Kapitel ist der jüngere, modernere, abstraktere. Der ältere, populärere, dem wir uns jetzt widmen, erzählt die Geschichte viel anschaulicher und farbiger. Die christlichen Maler schöpften ihre Bilder hauptsächlich aus dieser älteren Geschichte. Daher haben wir sie lebendiger vor Augen.

Im ersten Bericht schafft Gott aus dem Chaos den Kosmos und zuletzt den Menschen. Hier ist der Mensch die Spitze einer Pyramide. Im zweiten schafft Gott zuerst den Menschen und baut um ihn herum aus der Wüste einen Garten. Hier ist der Mensch der Mittelpunkt eines Kreises und wird so zum Mittelpunkt der Welt.

Es war noch kein Strauch des Feldes gewachsen auf der Erde, noch irgendein Kraut auf dem Feld, denn Gott hatte es noch nicht regnen lassen, und es war kein Mensch da, um das Land zu bebauen.

Da machte Gott den Menschen aus einem Erdenkloß und blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.

Gott erschafft noch nicht durchs bloße Wort, er braucht für den Menschen einen Rohstoff, Erde, die auf Hebräisch «adama» heißt. Ihr bläst er seinen göttlichen Odem ein, und erst dadurch entsteht aus adama Adam, der Mensch, die Menschheit.

Der Erzähler des zweiten Berichts kümmert sich noch nicht um die Entstehung von Himmel und Erde und den Fortschritt von der unbelebten zur belebten Materie. Ihn interessiert nicht die Erschaffung der Welt, sondern die Erschaffung des Menschen. Und ganz besonders die Beziehung des Geschöpfs zu seinem Schöpfer.

Er, der Schöpfer, erscheint in dieser zweiten Erzählung menschlicher und zärtlicher als in der ersten. Wie ein Töpfer formt er Mensch und Tier. Wie ein Gärtner pflanzt er einen Garten. Wie ein Vater sorgt er für seine Geschöpfe, indem er sie in den Garten setzt, und lässt aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Wir sehen Gott bei der Arbeit zu.

Wie ein Großvater seinem Enkel ein Spielzeug schnitzt und neugierig beobachtet, was er damit anstellt, so bringt Gott all die Tiere, die er nun erschafft, zu Adam, dass Gott sähe, wie Adam sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen.

Es ist eine Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch, die sich hier anbahnt.

Zur Liebe gehören Freiheit und Vertrauen, aber auch die Respektierung bestimmter Grenzen. Dies wird deutlich, wo es heißt, von jedem Baum dürfe der Mensch nach Belieben essen, nur vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen nicht. Tut er’s aber doch, muss er sterben.

Dieses Verbot kommt für moderne Menschen so überraschend, wirkt so schroff, unbegründet und durch die Todesdrohung so überzogen, dass es den Zauber dieses Anfangs fast vollständig unter sich begräbt. Kopfschüttelnd fragen wir uns: Was hat Gott dagegen, dass wir uns um Erkenntnis bemühen? Will er uns dumm und naiv halten wie Sklaven? Steht das Verbot nicht im Widerspruch zum göttlichen Auftrag, sich die Erde untertan zu machen?

Noch die letzten päpstlichen Zensoren hatten möglicherweise diesen «Baum der Erkenntnis» im Sinn, wenn sie besten Gewissens bestimmte Bücher auf den Index setzten und ganz unschuldig glaubten, das gemeine Volk vor bestimmten Erkenntnissen schützen zu müssen. Der Kampf der Kirche gegen die Aufklärung wurde vermutlich auch von der verbotenen Frucht des Erkenntnisbaums gespeist. Zu viel Wissen frommt dem Frommen nicht, dachten die Kleriker.

Alles in uns lehnt sich dagegen auf. Schon hier, gleich zu Beginn der Bibel, scheint sich deren Nutzlosigkeit für unsere heutige Welt zu erweisen. Warum soll das Streben nach Erkenntnis ein Verbrechen sein, das mit dem Tode geahndet werden muss?

Es ist sinnlos, solche modernen Fragen an einen vormodernen Text heranzutragen. Die Verfasser solcher Texte dachten anders als wir. Für sie steht der verbotene Baum hier einfach als Gottes Grenzstein in der Welt, und als solchen sollten auch wir ihn zunächst nehmen. Welches Gebot damit gemeint sei, wird Gott später auf dem Berg Sinai über Mose den Menschen ausrichten lassen.

Hier, im Garten Eden, muss der Mensch jetzt einfach glauben, dass Gott es gut mit ihm meint, wenn er ein Verbot ausspricht. Adam muss darauf vertrauen, dass das Vorenthaltene nicht erstrebenswert ist, sondern zerstörerische Wirkungen entfaltet, wenn er dennoch danach greift.

Menschen brauchen Grenzen. Sie sollen die von Gott gesetzte Grenze respektieren, auch die zwischen Schöpfer und Geschöpf. Nichts weiter ist damit gesagt. Wir sind frei, ja oder nein zu sagen zu Gottes Gebot. Aber alles hängt daran, dass wir in freier Entscheidung ja sagen und Gott vertrauen.

Immer, zu jeder Zeit, hängt alles daran, dass Gottes Gebot gilt. Wo es angetastet wird, herrscht Lebensgefahr. Und die Größe dieser Gefahr wächst mit den technischen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

Gott setzte den Menschen in einen Garten, damit er ihn bebaue und bewahre, erzählt die Geschichte weiter. Bebauen und bewahren – also nicht ausbeuten, auch nicht verwahrlosen lassen, sondern ihn menschenfreundlich gestalten und ihn so erhalten, dass auch künftige Generationen gerne darin leben.

«Eden» heißt zwar «Wonne», ein schlaraffenlandartiger sinnenfreudiger Garten der Lüste ist Eden aber nicht. Nüchtern wird die Arbeit als eigentliche Bestimmung des Menschen bezeichnet. Das Wort Paradies kommt hier nicht vor, es gelangt erst später durch die griechische Übersetzung in die Bibel.

Nicht im Genuss und Freisein von Leid liegt der Sinn des Lebens im Garten Eden, sondern in der Arbeit und, noch viel mehr, im Vertrauen auf Gott. Die «Wonne» des Gartens besteht in seiner Schönheit, in der Teilhabe an der göttlichen Ordnung, in der Nähe zu Gott und in der Erhaltung und Pflege dieses Gartens in Freiheit und Muße.

Gott sieht dem Menschen zu, wie er einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen gibt, aber dabei merkt Gott: Adam ist ja ganz allein auf der Welt. So schön die Tiere sind, ebenbürtige Partner sind sie dem Menschen auf Dauer wohl nicht.

Also spricht Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, Adam braucht Eva, und Gott beschließt: Ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Daher lässt er Adam in einen tiefen Schlaf fallen, entnimmt ihm eine seiner Rippen und formt daraus die Frau. Wie ein Brautführer bringt er nun Eva zu Adam, und dieser blickt auf Eva und sagt: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum dass sie vom Manne genommen ist.

Das sind seltsame, in unseren Ohren ungewöhnlich klingende Worte, aber wir liegen wohl nicht falsch, wenn wir sie als Ausdruck der Begeisterung nehmen. Es gab noch kein Fernsehen, keinen Roman, keinen Minnesang, die vorgeben, was ein Mann in so einer Situation zu sagen hat.

Adam ist auf sich selbst angewiesen und tut etwas, das er schon bei den Tieren geübt hat: Er eignet sich etwas an, indem er ihm einen Namen gibt. Und dass nicht überliefert wurde, wie eigentlich Eva auf Adam reagierte, ist ein Jammer, aber dem Umstand zuzuschreiben, dass es frühantike Männer waren, die diese Geschichte formten. Sie waren dem Patriarchat verhaftet. Sie konnten gar nicht anders, als selbstverständlich vorauszusetzen, dass Eva von ihrem Adam einfach hingerissen war.

Der Erzähler schließt mit dem Satz: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch. Damit ist nun für ihn erklärt, woher diese Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht kommt und warum ihre Bindung stärker ist als die an die leiblichen Eltern. Weil Gott das Weib vom Manne genommen hat, weil sie ja eigentlich ursprünglich ein Fleisch waren, darum müssen sie wieder zusammenkommen und können erst wieder zur Ruhe finden, wenn sie im Kinde wieder zu einem Fleisch geworden sind.

Die Ehe ist gestiftet, und später wird Jesus sagen: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Das erste Paar der Weltgeschichte tritt ins Dasein und wird über Jahrtausende die Phantasie von Malern und Dichtern beschäftigen. Es wird Theologen und Philosophen dazu verleiten, aus jedem einzelnen Satz und jedem einzelnen Wort «Erkenntnisse» über das Verhältnis von Mann und Frau, das Wesen des Menschen, die Ordnung der Welt und die Ordnung der Dinge herauszulesen, die so niemals im Text gestanden haben.

Das Paar wusste nichts davon, sonst hätte es sicher manches anders gemacht. Oder wäre unter der Last seiner Verantwortung zusammengebrochen.

Sündenfall – die Schlange war’s!

Nun könnten Adam und Eva es sich einrichten im Garten Eden. Sie könnten einander nahe sein. Sie könnten Gott nahe sein, der jeden Tag in der Abendkühle im Garten spazieren geht. Oder den Tieren.

Da nähert sich ausgerechnet das listigste aller Tiere, die Schlange. Sie wurde später von der Kirche mit dem Teufel gleichgesetzt, dem großen Versucher, aber davon steht hier noch nichts. Es ist nur von der Schlange die Rede, ihrer infamen Lust an der Zwietracht und ihrer List, die sich in der Frage zeigt, mit der sie Eva in ein kurzes, folgenschweres Gespräch verwickelt: Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von diesen Bäumen nicht essen dürft?

Die Schlange weiß, dass Gott keineswegs den Genuss der Früchte aller Bäume verboten hat, und mit dieser als Frage getarnten Verdrehung der Tatsachen ermöglicht sie Eva die Richtigstellung. Und lenkt sie zum Thema.

Eva antwortet also: Nein, nein, von den Früchten aller Bäume im Garten dürfen wir essen, nur von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbt.

Eva verteidigt Gott gegen die Unterstellung, aber in ihrem Eifer übertreibt sie ein wenig die Strenge des göttlichen Verbots. Dass der Baum nicht einmal berührt werden darf, hat Gott nie gesagt. Die Schlange wittert ihre Chance und spritzt ihr Gift in das Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Eva: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben, sondern Gott weiß, dass, wenn ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

«Wissen, was gut und böse ist» hat in der Sprache des Alten Testaments eine umfassendere Bedeutung als in unserer Sprache. Die Erkenntnis von Gut und Böse meint hier Allwissenheit und zugleich Allmacht. Die Schlange hat also in Eva den Wunsch erweckt, allwissend und allmächtig zu werden wie Gott. Noch könnte Eva die Wirkung des Schlangengifts neutralisieren, indem sie einfach nein sagt.

Eva aber sagt nichts, schaut auf den Baum, sieht, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann auch davon, und er aß. In Sekundenschnelle hat das Gift seine Wirkung entfaltet, und die christlichen Maler werden später diesen weltgeschichtlich bedeutsamen Augenblick immer wieder malen, immer wieder anders, aber stets mit einem Apfel, obwohl nirgendwo gesagt wurde, dass es sich bei der verbotenen Frucht um einen Apfel handelte.

Wie selbstverständlich, ohne innere Erschütterungen oder Zweifel, ist das Furchtbare einfach geschehen. Und wie selbstverständlich wird Adam in den Vertrauensbruch einbezogen. Kein Wort der Widerrede von ihm, nicht einmal eine Warnung.

So wie Eva nach der verbotenen Frucht griff, hineinbiss, sie an Adam weiterreichte, der sie annahm (in der Hoffnung, dass die Folgen so schlimm schon nicht sein würden), so übertreten die Menschen seither Gottes Gebot und machen damit die menschliche Geschichte zu einer Folge von Katastrophen.

Deshalb setzt der Erzähler den Baum der Erkenntnis mitten in den Garten Eden. Er lebt in einem Land, das auf eine mehrtausendjährige Kulturgeschichte zurückblickt. Sumerer, Babylonier, Ägypter, Perser, Philister, Hethiter haben dort ihre Spuren hinterlassen und Geschichte geschrieben. Er fragt sich, woher es kommt, dass die Geschichte des Menschen eine unaufhörliche Folge von Katastrophen ist.

Hass, Neid und Rivalität beherrschen die Menschen. Mord und Totschlag begleiten sie. Völker fallen übereinander her, Heere verwüsten bei ihren Raubzügen die Häuser und das Land, brandschatzen, vergewaltigen die Frauen, foltern und quälen Männer, Frauen und Kinder, immer wieder, von Anfang an, und immer weiter.

Heute, dreitausend Jahre nach der Niederschrift der Sündenfall-Erzählung, erscheint uns die Geschichte der Menschheit nicht viel anders, sondern nur als Verlängerung des Vergangenen. Wenn wir fragen, warum, sind unsere Antworten vielleicht komplizierter, aber kaum klüger als die des biblischen Erzählers, der sagt: Der Mensch ist nicht abgrundtief böse, er geht mit Gottes Gebot nur leichtfertig um, aber aus ebendieser Leichtfertigkeit entwickelt sich das Böse.

Die nächste Geschichte nach dem Sündenfall, dieser ersten Grenzverletzung aus Leichtfertigkeit, wird von Kain und Abel erzählen und vom ersten Mord in der Menschheitsgeschichte.

Menschen brauchen Grenzen, das klingt banal, aber nie war diese Grenzsetzung aktueller als heute, da wir im Begriff sind, technische Mittel zu entwickeln, die es uns ermöglichen, Menschen zu klonen und künstlich herzustellen. Gottes Gebot, uns die Erde untertan zu machen, haben wir erfüllt, so weit, dass wir jetzt in der Lage sind, jene Grenze zu überschreiten, jenseits deren wir sein können wie Gott. Die Versuchung, es auszuprobieren, ist gewaltig.

Unser Wissen und Können ist seit Adam und Eva exponentiell gewachsen. An unserem leichtfertigen Umgang damit hat sich seit Adam und Eva nichts geändert. Mit der gleichen Leichtfertigkeit, mit der Eva nach der verbotenen Frucht griff, werden künftig Menschen einfach deshalb genetisch manipuliert, weil es eine Nachfrage dafür gibt. Was sich rechnet, wird gemacht. Was der Mensch kann, tut er. Die nächsten Katastrophen sind programmiert.

Von der Schlange ist im weiteren Verlauf der biblischen Erzählung nicht mehr die Rede. Sie kann sich jetzt laben an dem Elend, in das sich Adam und Eva selbst manövriert haben: Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und bedeckten sich mit Feigenblättern.

Die Schlange sprach also die Wahrheit: Die Menschen mussten nicht sterben. Stattdessen wurden ihrer beiden Augen aufgetan.

Und die Schlange sprach die Unwahrheit: Adam und Eva sind nicht gottgleich geworden, sondern finden sich als gewöhnliche Menschen wieder, nackt und bloß. Lügen mit Hilfe von Halbwahrheiten ist stets die wirkungsvollste Form der Lüge.

Konnte man erwarten, dass Adam und Eva Reue zeigen, beichten, um Vergebung bitten? Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen sind stets das Wahrscheinlichere. Wir erleben es im Fortgang der Geschichte.

Gott macht seinen Abendspaziergang im Garten. Adam und Eva verstecken sich.

Adam, wo bist du?, ruft Gott. Und Adam antwortet: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich, denn ich bin nackt.

Nun weiß Gott Bescheid, und er stellt Adam zur Rede. Dessen Antwort ist typisch menschlich: