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Die Bildhauerin E-Book

Pia Rosenberger

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Beschreibung

„Ich fordere lautstark die Freiheit!“ – Camille Claudel.

Paris, 1881. Die siebzehnjährige Camille Claudel weiß schon früh, was sie will: Bildhauerin werden. Doch als Frau bleibt ihr ein Studium an der École des Beaux-Arts verschlossen. Gemeinsam mit drei Freundinnen mietet sie ein Atelier und stürzt sich in ein Leben der Bohème. Schon bald erregt sie mit ihren Plastiken die Aufmerksamkeit des viel älteren Auguste Rodins. Dieser protegiert und unterrichtet sie, Camille wird zu seiner unentbehrlichen Mitarbeiterin – und schließlich auch zu seiner Geliebten. Doch sie wünscht sich mehr, als nur eine seiner Musen zu sein ... 

Die Geschichte einer der bedeutendsten Künstlerinnen des Fin de Siècle – kenntnisreich und emotional erzählt.

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Über das Buch

»Ich fordere lautstark die Freiheit!« – Camille Claudel.

Paris, 1881. Die siebzehnjährige Camille Claudel weiß schon früh, was sie will: Bildhauerin werden. Doch als Frau bleibt ihr ein Studium an der École des Beaux-Arts verschlossen. Gemeinsam mit drei Freundinnen mietet sie ein Atelier und stürzt sich in ein Leben der Bohème. Schon bald erregt sie mit ihren Plastiken die Aufmerksamkeit des viel älteren Auguste Rodins. Dieser protegiert und unterrichtet sie, Camille wird zu seiner unentbehrlichen Mitarbeiterin – und schließlich auch zu seiner Geliebten. Doch sie wünscht sich mehr, als nur eine seiner Musen zu sein.

Die Geschichte einer der bedeutendsten Künstlerinnen des Fin de Siècle – kenntnisreich und emotional erzählt

Über Pia Rosenberger

Pia Rosenberger wurde in der Nähe von Osnabrück geboren und studierte nach einer Ausbildung als Handweberin in Stuttgart Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Pädagogik. Seit über 20 Jahren lebt sie mit ihrer Familie im mittelalterlich geprägten Esslingen und arbeitet als Autorin, Journalistin, Museumspädagogin und Stadtführerin. Wenn sie keine historischen Romane oder Krimis schreibt, beschäftigt sie sich mit ihrem Garten, der Natur, Yoga und ihrer Querflöte.

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Pia Rosenberger

Die Bildhauerin

Mit Rodin begeht Camille Claudel neue Wege,doch ihre Liebe droht zu scheitern

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

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Kapitel 12

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Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Impressum

Kapitel 1

Paris, Mai 1881

Paris lag unter der sonnigen Verheißung eines Frühlingsmorgens. Die Seine schimmerte, und entlang der Alleen streckten die Kastanien ihre weißen Blütenkerzen ins Licht, als wollten sie diesen Tag feiern. Beschwingt folgte Camille Claudel dem Boulevard du Montparnasse und verbarg dabei wie immer ihr leichtes Hinken. Dieses Blau, dachte sie. Der Himmel über Paris leuchtete heller als in ihrem Heimatdorf Villeneuve. Camille hatte es eilig. Die Stadt bot so viele Möglichkeiten. Heute würde sie anfangen, Paris zu erobern. Und ihre erste Station dabei war die Académie Colarossi.

Sie war siebzehn Jahre alt und kam frisch vom Land. Mit allen Mitteln hatte sie darum gekämpft, in die Metropole gehen zu dürfen. Obwohl Camille seit ihrer Kindheit modellierte, glaubte in ihrer Familie nur ihr Vater an ihr Talent. Ihr Lehrer Alfred Boucher hatte ihn davon überzeugt, seine eigensinnige Älteste zu unterstützen und den Umzug gegen den Willen seiner Frau in die Wege zu leiten. Camille atmete tief durch und nahm sich fest vor, sie alle von ihrer Kunst zu überzeugen.

Fast hätte sie die Abzweigung in die Rue de la Grande-Chaumière verpasst. Doch da war sie bereits, die Gasse, in der sich, der engen Häuserschlucht wegen, Schatten über den Frühlingsmorgen legten. Hier würde sie Gleichgesinnte treffen. Nirgendwo gab es so viele Künstlerateliers wie im Viertel Montparnasse, das noch ländlich geprägt und relativ günstig war. Aufmerksam ließ sie ihre Augen an den Hausfassaden entlangschweifen. Wo genau befand sich die Akademie?

Die Gasse quoll über von Passanten, von denen viele mit Malutensilien bewaffnet waren. Eine Gruppe Engländerinnen überholte sie zielstrebig. Sicher hatten sie das gleiche Ziel wie Camille. Doch bevor sie den Studentinnen folgen konnte, stolperte sie über den Schubkarren eines Marktweibs und verlor sie aus dem Blick. Das Marktweib zeterte, Camille wischte sich den Staub von ihrem Rock und sah sich fasziniert um. Ein Junge spannte ein Pferd vor einen Kohlewagen. Ruß färbte sein Gesicht so schwarz wie seine Ware. Ein Mädchen trieb einen Reifen vor sich her durch den Gassendreck. Paris war manchmal schockierend, aber immer besonders. Ich könnte sie alle modellieren, dachte Camille, und mit ihnen die Wirklichkeit, die sich in ihren Gesichtern und Gesten spiegelt.

Gerade hatte sie sich wieder aufgerichtet, als sie erneut mit jemandem zusammenstieß. So viel Trubel war sie aus Nogent-sur-Seine nicht gewohnt. Diesmal jedoch war ein Fremder so heftig in sie hineingelaufen, dass ihr Zeichenblock und Stifte aus der Hand flogen und in hohem Bogen in der Gosse landeten. Bravo!

Camille bückte sich, um ihre Sachen einzusammeln, doch der junge Mann war schneller. Schon lag er auf den Knien, klaubte alles auf, was sich erreichen ließ, und putzte Stifte und Block umständlich mit seinem Taschentuch sauber.

»Entschuldigen Sie bitte.« Er erhob sich schwungvoll und drückte ihr die Zeichenutensilien in die Hand.

Sie bedankte sich, woraufhin er in eine vollendete Verbeugung fiel. »Zu Ihren Diensten, Mademoiselle.« Er hatte eine dunkle Tolle und nachdenkliche braune Augen. »Dürfte ich Sie nach Ihrem Namen fragen, wenn wir uns schon auf diese unkonventionelle Weise begegnen?«

»Camille Claudel.« Sie deutete einen Knicks an und setzte ihren Weg fort. Der Fremde folgte ihr unaufgefordert.

»Claudel? Ich heiße Claude. Achille-Claude Debussy. Was für ein sonderbarer Zufall. Mit Verlaub, sind Sie auf dem Weg zur Académie Colarossi?«

»Sieht man das?«, fragte sie spöttisch. Wohin sonst sollte sie mit den Zeichensachen unterwegs sein, als zu einer der beiden privaten Kunstschulen in Paris, die Frauen aufnahmen?

»Aber natürlich«, sagte er. »Also gehören auch Sie zu den blutjungen Träumerinnen, die sich zur Künstlerin berufen fühlen. Die meisten von ihnen bleiben auf halbem Wege stecken und heiraten.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber was soll man schon erwarten? Frauen sind eben unbeständig.«

»Mitnichten«, entgegnete Camille empört. Und wenn sie die Erste wäre. Sie würde allen zeigen, dass eine Frau als Künstlerin Karriere machen konnte.

Sie sah ihn genauer an. Er konnte kaum älter als sie sein und schwang so große Reden.

»Also wollen Sie um jeden Preis durchhalten?«, fragte er. »Ihr Weg wird steinig sein.«

»Sie müssen es ja wissen.« Camille hatte keine Lust, sich gleich am ersten Tag die Laune von einem solchen Miesepeter verderben zu lassen. Und dennoch. Als er sie zu sich heranwinkte, konnte sie nicht widerstehen.

»Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Siebzehn«, antwortete sie. »Ich sollte mich beeilen. Man erwartet mich.«

»Mein Gott, so jung und schon eines dieser Malweiber. Obwohl, es gibt einige wenige …«

»Ich bin kein Malweib. Ich bin Bildhauerin.«

Der junge Mann starrte sie an. »Das nenne ich mutig. So mit Ton und großen Steinblöcken zu hantieren.«

»Oh ja«, sagte Camille spröde. Es mangelte ihr weder an Durchsetzungsvermögen noch an Körperkraft. Das wussten ihre Eltern und ihre Geschwister Louise und Paul nur zu gut. Sie behaupteten sogar, Camille habe sie jahrelang mit ihrer Kunst tyrannisiert und den Backofen in Beschlag genommen, um ihre Tonmodelle zu brennen. Camille verstand das nicht. Klar hatte sie den Backofen benutzen müssen. Abgesehen davon hatte sie sie nur gebeten, ihre Entwürfe mit feuchten Tüchern abzudecken, was ja wohl kaum zu viel verlangt war.

Debussy betrachtete sie ungeniert. »Und dabei sind Sie so wunderschön. Ein Engel kreuzt meinen Weg und wirft mir seinen Zeichenblock vor die Füße.« Er verbeugte sich und deutete auf die Fassade des Hauses, vor dem sie standen. »Voilà. Sie sind angekommen. Die Académie Colarossi. Viel Glück auf Ihrem Weg, Mademoiselle. Sie werden es brauchen.«

»Und Sie, was ist Ihr Beruf?«, fragte Camille. Ein paar Informationen war er ihr schuldig, nachdem sie so viel von sich preisgegeben hatte.

Er neigte ein weiteres Mal den Kopf. »Ich bin Pianist und bewege mich in den himmlischen Sphären der Musik. Dafür wird es mich demnächst nach Russland ziehen, wo ich den Gören meiner Auftraggeberin beizubringen gedenke, die Tastatur ihres Klaviers zu misshandeln.«

Nach einer galanten Verbeugung verschwand er in der Menge. Camille sah ihm nach. Er hatte Charme, das musste sie ihm lassen. Aber das tat jetzt wirklich nichts zur Sache. In ihrem Rücken erhob sich das Haus Rue de la Grande-Chaumière 10. Die Académie Colarossi.

Sie stand vor dem Eingang und konnte kaum glauben, dass sie es geschafft hatte. Endlich, dachte sie. Jahrelang hatte sie von diesem Tag geträumt. Entschlossen zog sie ihre Jacke glatt, schob die massive Tür auf und trat in ein Foyer, in dem die Stimmen vieler Menschen widerhallten. Von hier aus führte eine Treppe mit einem schmiedeeisernen Geländer in die oberen Stockwerke.

Camille fragte sich durch, bis sie den Zeichensaal erreichte. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass kein Anlass zur Besorgnis bestand, atmete gegen ihren hämmernden Herzschlag an und trat ein.

In dem großen Raum herrschte konzentrierte Stille. Eine Klasse von rund zwanzig Studentinnen und Studenten portraitierte einen jungen Mann mit Kniehose, roter Weste und schwarzem Hut. Einen Torero, der einen sichtlich gelangweilten Eindruck machte. Als die Tür aufsprang, wandten sich zwanzig Augenpaare Camille zu, die einen neugierig, die anderen verärgert, weil sie sie in ihrer Konzentration störte. Der Torero nutzte die Unterbrechung, um sich an der Nase zu kratzen. Der Dozent sah von seiner Zeitung auf. Camille dachte sehnsüchtig an ihren Hauslehrer Monsieur Colin, der immer Zeit für sie gehabt hatte.

»Was führt Sie zu uns, Mademoiselle?«

»Ich bin angemeldet. Camille Claudel.« Ihre Stimme war heiser vor Anspannung.

Der Lehrer durchstöberte seine Liste nach ihrem Namen. Vermutlich wollte er sichergehen, dass ihr Vater die 40 Francs Gebühren pro Monat im Voraus bezahlt hatte. Louis-Prosper Claudel hatte sich über den Betrag beschwert, dann aber eingelenkt, weil er immer noch weniger zahlte, als in der Académie Julian fällig gewesen wäre. Die hatte zwar einen besseren Ruf, verlangte weiblichen Studenten aber das Doppelte wie ihren männlichen Kommilitonen ab.

»Ah ja, da sind Sie. Suchen Sie sich einen Platz und fangen Sie einfach an. Mein Name ist Monsieur Leblanc.«

Während er sich wieder seiner Zeitung zuwandte, drängte sich Camille durch die Menge und belegte den letzten freien Stuhl. Das Gemurmel verklang und wich andächtiger Stille, als die Studenten sich erneut auf ihre Zeichenblöcke und den stolzen Torero konzentrierten, der seine Pose wieder einnahm. Modell zu stehen war nicht jedermanns Sache. Nach einer halben Stunde wurden alle Haltungen unerträglich, das wusste Camille von ihren Geschwistern, die schon für sie posiert hatten.

Sie packte ihren Zeichenblock aus und stellte fest, dass sie über die Köpfe ihrer Mitstudenten hinweg kaum etwas sehen konnte. Ja, sie musste halb aufstehen, um einen passablen Blick auf den Torero zu haben. Vor ihr saß ein junger Mann, dessen breiter Rücken ihr die Sicht verdeckte. Ich könnte einfach ihn zeichnen und nicht gleich zu Anfang negativ auffallen. Ein Hals wie ein Bulle kann auch entzücken. Nein, dachte sie, stand auf, griff entschlossen nach ihrem Stuhl und drängte sich in die erste Reihe durch. Ihre Kommilitonen rückten zur Seite. Das Knarren der Stühle wurde von unwilligem Gemurmel begleitet.

»Excusez-moi.« Vorn gab es zwischen zwei jungen Frauen eine kleine Lücke. Camille rang sich ein Lächeln ab, als sie ihren Stuhl dort hineinschob.

»Avec plaisir«, sagte eine von ihnen mit britischem Akzent.

Sie machten ihr bereitwillig Platz. Die junge Frau zu Camilles Rechten hatte ihre blonden Locken zu einem modischen Tuff auf dem Vorderkopf gesteckt, die andere trug ihre rötlichen Haare im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Camilles Hände wanderten an ihren kastanienbraunen Zopf, der nie besonders ordentlich war. Ihn zu glätten war vergebliche Liebesmüh, weil ihre Haare sich ebenso wenig um Anordnungen scherten wie ihre ganze Person. Modisch gekleidet waren die Engländerinnen auch. Notgedrungen saßen sie auf der Tournüre, die sich auf Höhe des Gesäßes an der Rückseite ihrer Röcke bauschte. Zu diesem Accessoire gehörte eine atemberaubend eng geschnürte Taille. Wie unbequem, dachte Camille. In ihrer weißen Bluse und dem dunklen Rock fühlte sie sich ihren Sitznachbarinnen unterlegen, und das als Pariserin, wenngleich als funkelnagelneue.

Reiche Nichtstuerinnen, dachte sie. Wahrscheinlich beschäftigten sie sich gar nicht ernsthaft mit ihrem Studium, sondern gehörten zu jenen sorglosen jungen Frauen aus Übersee, deren wohlhabende Familien ihnen eine Bildungsreise vor der Hochzeit spendierten. Oh nein, fuhr es Camille durch den Kopf, jetzt teile ich schon die Vorurteile des Monsieur Debussy.

Trotz ihres ersten Eindrucks war sie von der Freundlichkeit ihrer Kommilitoninnen beeindruckt. Außerdem hatte sie endlich freie Sicht auf den gut gebauten Torero. Als sie ihm ihren Blick zuwandte, zwinkerte er ihr lässig zu. Camille verbarg ihr Erröten, öffnete ihren Block und begann, seine Gestalt so großformatig abzuzeichnen, wie es das Blatt erlaubte. Kurze Zeit später war sie so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nichts anderes mehr wahrnahm als den kratzenden Stift auf dem Papier. Sie korrigierte, wischte ein paar Striche aus und merkte nicht, dass sie nebenbei die Kohle auch in ihrem Gesicht verteilte. Die Zeit verging wie im Flug. Camille war in ihrem Element.

Schließlich schloss Monsieur Leblanc raschelnd seine Zeitung, um die Reihen der Studenten abzulaufen. Nachdem er dem einen oder anderen flüsternd zu Korrekturen geraten hatte, blieb er hinter Camille stehen und sah ihr über die Schulter. Ihr nächster Strich ging gehörig daneben. Sie zwang sich zur Ruhe.

»Kühn«, kommentierte er.

Sollte das ein Lob sein? »Ja?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Sie treffen das Modell sehr gut. Seine Proportionen. Von der achtteiligen Proportionslehre haben Sie schon gehört?«

»Natürlich«, entgegnete sie entrüstet.

»Aber Sie zeichnen wie ein Mann, Mademoiselle, naturalistisch, großformatig. Ein wenig klobig. Ohne die Details zu beachten.«

Camille wusste nicht, was sie von seinen Worten halten sollte. Die Engländerinnen neben ihr lauschten gespannt, ebenso wie der Rest der Klasse. Stille senkte sich über den Raum, als Camille zum zweiten Mal an diesem Morgen im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.

Sie hörte den Lehrer in ihrem Rücken lautstark einatmen. »Sagen Sie, was versprechen Sie sich von einem Studium an der Académie Colarossi, Mademoiselle?«

»… Claudel«, sagte Camille. »Ich bin Bildhauerin.«

Ein Raunen ging durch die Reihen. Sie hatte nicht gesagt, dass sie Bildhauerei studierte, denn sie war keine Anfängerin. Sie war mit ganzem Herzen Bildhauerin, Sculptrice, und würde nie etwas anderes sein. Die Bildhauerei war ihr Ursprung und Lebensquell. Wenn sie nicht modellierte, hörte sie auf zu existieren.

Aber das würde Monsieur Leblanc niemals verstehen. Stattdessen sprach er mit sanfter Stimme weiter, als sei sie ein Kind, das er beschwichtigen musste. Wenn er dachte, er könne ihr den Kopf zurechtstutzen, irrte er sich gewaltig.

»Ach wirklich? Überlegen Sie es sich noch einmal. Dieser Schuh ist zu groß für Sie. Es gibt keine Kunst, die der Frau an sich so widerspricht wie die Bildhauerei. Sie sollten das dekorative Moment nicht außer Acht lassen. Ich meine das Sentimentale, Mademoiselle, das ist die Stärke des schwachen Geschlechts. Modellieren Sie, wenn Sie es nicht lassen können, Früchte und Blumen als Dekoration. Das lässt sich auch besser verkaufen. Oder malen Sie weiche, duftige Landschaften in Aquarelltechnik. Das gereicht auch Ihrem künftigen Ehemann zur Ehre.«

Die Engländerin an Camilles rechter Seite prustete in ihre geöffnete Hand.

Camille nahm sich vor, nichts weniger zu tun als das. Monsieur Leblanc würde sich wundern, wenn er ihre Arbeiten in der Jahresausstellung, dem »Salon«, zu sehen bekäme und sie Preise und Belobigungen einheimste. Irgendwann würde sie als erste Frau überhaupt den Prix de Rome gewinnen, der ihr alle Türen öffnen konnte.

Kurz darauf war die Stunde zu Ende. Das Modell, ein großer junger Mann mit einem braunen Lockenkopf, den die anderen Umberto nannten, sprang erleichtert vom Sockel. Camille packte zusammen und verließ im Gedränge den Raum. Als die Menge sich gelichtet hatte, stellte sie fest, dass ihre englischen Nachbarinnen im Gang auf sie warteten.

»Da sind Sie ja endlich«, sagte die mit der blonden Lockenfrisur. Ihr Französisch klang ein wenig hölzern, als müsse sie sich auf jedes einzelne Wort konzentrieren.

»Wir würden Sie gern näher kennenlernen.« Sie streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Amy Singer, und das da ist Emily Fawcett.«

Camille begrüßte die Mädchen mit jener peinlichen Schüchternheit, die sie immer erfasste, wenn es nicht um die Kunst ging.

»Sie haben uns – wie sagt man? – imponiert«, sagte Amy lächelnd.

»Sie waren so ambitious und boten Monsieur Leblanc die Stirn«, fügte Emily hinzu. »While he was talking so much nonsense.«

Camille, die kein Englisch verstand, fand sich plötzlich von beiden Seiten untergehakt wieder. Sie ließ sich bereitwillig mitziehen, während die beiden Britinnen weiterplauderten. Kaum zwei Minuten später saßen sie in einem kleinen Café neben der Académie Colarossi und bestellten Wein, Käse und Baguette. Der Torero Umberto gesellte sich zu ihnen und legte seine Beine erschöpft auf einen Stuhl.

Camille sah sich um. Durch die ungeputzten Fensterscheiben fiel trübes Licht, die Tische waren klebrig von verschüttetem Wein. Am Nachbartisch saß ein alter Mann in einem verschlissenen Anzug und kippte sich einen Absinth nach dem anderen hinter die Binde, bevor er zur Tür torkelte. Weitere Plätze waren von Künstlern belegt, die sich mit liederlichen Frauenzimmern vergnügten. Von einer sah Camille sogar das Strumpfband, als sie ihren Rock bis zum Oberschenkel hochschob. Du lieber Himmel!

Camille rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Wenn ihre Mutter wüsste, dass sie sich in Cafés herumtrieb, wenn auch mit respektablen englischen Bürgertöchtern, würde sie ihr auf der Stelle jeglichen Ausgang verbieten. Heute Morgen hatte Camille ihr kaum abringen können, den Weg zur Akademie allein gehen zu dürfen. Jeder wusste, dass sich in der Rue de la Grande-Chaumière ein Etablissement ans andere reihte, darunter sogar ein Bal Jardin, in dem sich die Künstler und ihre Modelle zum Tanzen trafen. Cancan, den Namen des verpöntesten aller Tänze, hatte Madame Claudel nur flüsternd ausgesprochen.

Dem Vorwurf, dass diese Umgebung ebenso unschicklich war wie die Gesellschaft eines fremden jungen Mannes, hatte Camille nichts entgegenzusetzen. Dennoch, wo sie schon einmal da war, konnte sie den anderen auch zuprosten. »À votre santé«, verkündete sie, und sie stießen miteinander an.

»Wir wollen auch sculptors werden«, erklärte Amy. Ihre Stupsnase und ihre leichten Pausbacken ließen sie noch unbeschwerter wirken.

»Tatsächlich?«, fragte Camille überrascht.

»Ha«, mischte sich Umberto ein. »So eine unweibliche Profession.« Camille wünschte sich plötzlich inständig, seine markanten Züge in einer Büste einfangen zu können. Die vielen Linien und den kühnen Gesichtsausdruck.

»Yes«, antwortete Amy lachend. »Wir waren gemeinsam in der National Art Training School in South Kensington. Meine Familie hat eine Fabrik, wo man …« Sie sah zu Emily hinüber, die besseres Französisch sprach. »Kunstwerke in Bronze gießt«, ergänzte diese nach kurzem Nachdenken.

»In Frome«, sagte Amy. »Ich muss also lernen, wie es funktioniert. My father is John Webb Singer.«

Camille betrachtete sie ungläubig. Konnte es sein, dass die beiden Mädchen ebenso wie sie selbst für diese eine Sache brannten? Sie hatte gedacht, sie wäre damit allein auf der Welt. Und Amy würde ihr Wissen irgendwann sogar professionell einsetzen. Ihr Vater betrieb eine Kunstgießerei und schickte sie in die weite Welt, damit sie sich die notwendigen Kenntnisse aneignete.

Amy, Emily und sogar Umberto wirkten so selbstsicher. Camille spürte einen Anflug von Neid über so viel Weltoffenheit. Warum war sie nur immer so schüchtern? Wenn sie hier mithalten wollte, musste sie es wenigstens versuchen. Ein Glas billigen Wein später hatte sie alle Bedenken beiseitegeschoben und kostete das Zusammensein mit den anderen nach Strich und Faden aus. »Ich dachte, wir würden nach Aktmodellen arbeiten.«

Umberto legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Du bist kompromisslos, ragazza.«

»Wir werden Aktstudien betreiben«, erklärte Amy. »Obwohl Monsieur Leblanc es uns am liebsten verbieten würde. In der Abendklasse. So notorious.«

»Da muss ich hin«, sagte Camille.

»Frauen zeichnen in Paris nur an den Akademien Julian und Colarossi nach lebenden Aktmodellen«, meinte Umberto. »Die Männer an der Staatlichen Akademie, der École des Beaux-Arts, halten das für skandalös. Sie finden es schon schlimm genug, wenn die Frauen die Antikenabteilung im Louvre belagern.« Er streckte sich voller Selbstbewusstsein. »Ich arbeite nämlich überall als Modell und kenne jeden Künstler in Paris.«

»Umberto ist vor allem das größte, wie sagt man, blabbermouth«, sagte Amy.

»Klatschmaul«, übersetzte Umberto gutmütig, dem anders als Camille die englische Sprache vertraut zu sein schien.

Sie hatte von ihren Kommilitoninnen erfahren, dass er aus Neapel stammte. Unbeirrt schüttelte sie den Kopf. »Aktzeichnen ist notwendig, wenn man die Anatomie eines Menschen verstehen will. Bekleidet kann man nur vermuten, wie sein Körper wirklich aussieht.«

»Exactly«, pflichtete ihr Emily bei. »Aber sag das mal den Männern. Die finden Frauen vor nackten Modellen so impossible, dass sie es verbieten wollen. For ever.«

»Die Reaktion bei den männlichen Modellen ist ja auch deutlich abzulesen«, warf Umberto ein. Die Mädchen, Camille eingeschlossen, prusteten in ihr Weinglas.

»Especially yours«, sagte Amy trocken. »Wie sagt man zu dir? Tagedieb? Aber du, Camille. You don’t have any other opportunities. Auch die Anatomieräume der Universität sind dir verschlossen. Du musst dich mit dem billigen Ersatz in der Académie Colarossi begnügen. Und das alles nur, weil du eine Frau bist.«

»Aber dann kann ich mich nicht weiterentwickeln, und meine Kunst bleibt für immer unbewegt«, stellte Camille missmutig fest. »Stumm, steif und starr. Und das nur, weil die Männer Angst vor uns haben.«

Umberto legte seine raue Hand auf ihre. »Damit das nicht passiert, gibt es unseren Abendkurs für das Aktzeichnen. Du wirst doch kommen, oder? Dann wird deine Kunst zu sprechen beginnen.«

Entschlossen nickte ihm Camille zu. Ihre Mutter würde kopfstehen, wenn sie davon erführe. Camille wusste noch nicht, wie sie ihr die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung abringen sollte. Notfalls würde sie heimlich gehen.

Außerdem vermisste sie das Plastizieren schmerzlich. Die Mietwohnung in der Rue Notre-Dame-des-Champs war rappelvoll und bot keinen Platz, um dort ein Atelier einzurichten. Weil ihr Vater die meiste Zeit in Rambouillet arbeitete, teilte Camille sie mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, ihrem dreizehnjährigen Bruder Paul und zwei Hausangestellten. Seit Tagen hatte sie über dieses leidige Problem nachgedacht. Plötzlich stand ihr die Lösung vor Augen. Natürlich! Warum war ihr das nicht schon eher eingefallen?

Kapitel 2

Die Tür fiel hinter Camille ins Schloss.

»Mach nicht so einen Krach, Camille! Deine Schwester übt.« Die nörgelnde Stimme aus dem Salon gehörte ihrer Mutter Louise-Athanaïse.

»Schlimm genug«, murmelte Camille.

Sie legte ihre Zeichensachen auf dem Vestibül ab und betrat den Salon. Ihre Mutter saß mit Pauls löchrigem Strumpf und einem Stopfpilz bewaffnet auf der Chaiselongue, vor ihr die Teekanne und zwei Tassen. Von ihrer fünfzehnjährigen Schwester sah Camille nur den Rücken und die lockigen dunkelblonden Haare. Virtuos flogen ihre Hände über die Tasten, sie spielte irgendetwas von Chopin, Tonkaskaden, deren unaufhörliche Wiederholung Camille auf die Nerven ging. Sie goss sich eine Tasse Tee ein und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihre Mutter hob die Augen. »Verhalt dich still, deine Schwester übt. Sie ist so begabt.«

»Nur durchschnittlich«, entgegnete Camille, aber Louise-Athanaïse hörte ihr nicht zu. Stattdessen musterte sie voller Entsetzen Camilles Gesicht. »Du siehst ja aus, als hättest du dich im Kohlenkasten gewälzt. Geh dich sofort waschen!«

Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu streiten. Camille stand auf und rieb sich mit dem Rest Wasser aus der Schüssel im Mädchenzimmer die schwarzen Streifen aus dem Gesicht. Mit keinem Wort hatte ihre Mutter sie nach dem Verlauf ihres ersten Tages an der Akademie gefragt. Es war, als ob sie und Paul gar nicht existierten. Die einzig wichtige Person in dieser Familie war für Madame Claudel ihre mittlere Tochter Louise; ein Umstand, an dem auch ihr Umzug nach Paris nichts geändert hatte. Camille war es gewohnt, nicht beachtet zu werden. Immer noch besser, als wenn ihre Mutter sich lauthals mit ihr stritt. Sie kehrte zurück und angelte sich ebenfalls einen löchrigen Strumpf aus dem überfüllten Stopfkorb.

»Wie Paul das nur immer macht.« Louise-Athanaïse schüttelte tadelnd den Kopf. »Niemand schafft es so schnell, Socken zu durchlöchern wie er. Und dabei ist er immer noch so ein mickriges Bürschchen.«

»Er wächst eben doch, der kleine Paul«, sagte Camille. »Seine Füße zuerst.«

Pauls Schulbildung war der Vorwand für ihren Umzug nach Paris gewesen. Seit April besuchte er das renommierte Lycée Louis-le-Grand. Auch Louise hatte ihre heiß ersehnten Klavierstunden bekommen. In erster Linie aber wollte ihr Vater mit dem Umzug Camilles Ausbildung als Bildhauerin fördern. Louis-Prosper Claudel war als Steuereinnehmer und Hypothekenverwalter an häufige Versetzungen gewöhnt. Auf seine Weisung hin hatte die Familie vor einem Monat die Provinz gegen diesen Moloch von einer Stadt getauscht und drängte sich nun in der beengten Etagenwohnung im zweiten Stock des Mietshauses. Ihre Mutter hatte Camille das nicht verziehen. Madame Claudel hatte sich auch in Nogent-sur-Seine und in Bar-le-Duc nicht wohlgefühlt, wohin es sie zuvor verschlagen hatte. Im Grunde ihres Herzens sehnte sie sich nach ihrem Geburtsort Villeneuve im Tardenois, wo das Stammhaus ihrer Familie stand und sie regelmäßig die Sommermonate verbrachten.

Camille warf ihrer Mutter einen verstohlenen Blick zu. Der große Mund, dessen Winkel missmutig geneigt waren, der strenge Haarknoten, der ihre Stirn nach hinten zu ziehen schien. Camille hatte sie nie tatenlos erlebt. Ihre Hände waren knotig von der vielen Arbeit. In der Küche in Villeneuve knetete sie Brotteig oder verwandelte Wannen voller Johannisbeeren in Marmelade und Saft, als wollte sie allen zeigen, dass eine Frau in der Sorge um ihre Familie aufgehen musste. Madame Claudels Vater Athanase Cerveaux war Arzt und Grundbesitzer. In Villeneuve zählte die Familie Claudel zur besseren Gesellschaft, während sie in Paris in der Masse unterging. Die Einheimischen ließen sie spüren, dass sie Lothringer waren, die von Lebensart keine Ahnung hatten.

Nachdenklich steckte Camille den Pilz in den Socken, fädelte einen Faden ins Nadelöhr und begann, das Loch mehr schlecht als recht zu stopfen. Ihre Mutter hob den Blick. »Ach, Camille«, seufzte sie. »Wie wirst du je einen Ehemann finden, wenn du die einfachsten Dinge nicht beherrschst? Nähen musst selbst du können. Oder soll ich dir bis in alle Ewigkeit deine Strümpfe stopfen?«

Das Klaviergeklimper verstummte, als sich Louise mit Schwung zu ihnen umwandte. »Aber Camille ist doch mit ihren Figuren verheiratet.« Louise ließ keine Gelegenheit aus, um ihren Dauerstreit anzuheizen.

Kopfschüttelnd nahm Madame Claudel Camille den Strumpf aus der Hand und zog die Stopfstelle wieder auf. »In Nogent hätten wir dich auf die Hauswirtschaftsschule geschickt. Dann hätte ein geeigneter Bewerber um deine Hand anhalten können. Nicht wahr, Louise?«

Ihre Schwester nickte zustimmend. »So wie es mir eines Tages gelingen wird.«

Camille verdrehte die Augen gen Himmel. Louise träumte immer noch von einem Prinzen auf einem weißen Pferd, der sie in sein Reich entführte.

Ich werde niemals heiraten, dachte sie. Ich lasse nicht zu, dass mir einer meine Freiheit raubt und mir verbietet, mich meiner Kunst zu widmen.

»Ich habe noch zu tun.« Sie machte sich auf die Suche nach ihrem Dienstmädchen Eugénie Plé. Die Familie Claudel hatte für die grobe Arbeit zwei Mägde mit nach Paris gebracht, die betagte Elsässerin Victoire Brunet und die blutjunge Eugénie, mit der sich Camille blendend verstand. Sie ahnte, dass ihr Vorhaben ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen würde.

Camille fand die junge Frau in der geräumigen Küche am Tisch, wo sie ein Huhn fürs Abendessen rupfte. Federn flogen durch die Luft. Eugénie wischte sich erschöpft den Schweiß von der Stirn. »Wie war dein erster Tag an dieser Akademie, wie heißt sie gleich?«

»Colarossi.« Camille biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihr nicht leicht, weiterzusprechen, doch es musste sein. »Ich habe nach einem Modell gezeichnet. Ich muss aber auch modellieren können.«

»Ich weiß«, sagte die Magd unbehaglich. Sicher ahnte sie schon, was Camille vorhatte. Dienstmädchen durfte man herumschubsen. Wie oft hatte Camille ihr mit ihren Wünschen in den Ohren gelegen. Jetzt würde sie zu weit gehen und war sich dessen vollständig bewusst.

»Ich brauche ein Atelier«, erklärte sie. »Du weißt, dass ich mir mit Louise das Mädchenzimmer teile. Es reicht vom Platz her nicht aus. Deshalb musst du mir deine Kammer überlassen. Stattdessen kannst du zu Victoire in die Mansarde unterm Dach ziehen.« Die Stadtwohnung war teuer. Um sie finanzieren zu können, hatte ihr Vater extra einige Wertpapiere verkauft. Dennoch bot sie nicht genügend Platz, um darin auch noch ein Atelier für Camille unterzubringen.

Eugénie schnaubte empört. »Ich habe euch nur unter der Bedingung begleitet, dass ich eine eigene Kammer bekomme. Victoire schnarcht. Das weißt du sehr gut.« Sie sah Camille mit gerunzelten Brauen an. Tränen traten in ihre Augen.

Sie legte das halb gerupfte Huhn in die Schüssel, ging zur Tür und wandte sich noch einmal um. »Dir ist kein Preis zu hoch für deine Kunst, oder? Du bist bereit, sogar deine Freunde dafür zu opfern. Pass auf, dass du nicht irgendwann allein dastehst.«

Sie verließ den Raum, ohne Camilles Antwort abzuwarten, die nachdenklich zurückblieb. Sie hatte Eugénie gemalt, ihr großflächiges Gesicht, das so viel Platz für Interpretationen ließ. Nein, dachte Camille. Sie ist nicht großflächig. Sie ist großmütig. Und dennoch konnte Camille nicht auf ihr Atelier verzichten.

Im Laufe der nächsten halben Stunde räumte Eugénie die Mägdekammer, die nichts weiter als ein schmaler Schlauch mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einer Fensterluke war. Während Camille wartend in der Tür stand, stopfte sie ihre spärlichen Habseligkeiten, einen Ersatzrock, eine warme Jacke, ein paar Hemden und ein Gebetbuch in ihren zerschlissenen Koffer, den sie mit einem Knall in den Gang stellte.

Camille wurde immer mulmiger zumute. »Versteh doch«, begann sie. »Ich muss in Ruhe modellieren können. Ohne Louise, die mir die Ohren vollquasselt, und Paul, der sich an meine Röcke hängt. In der Akademie, da war so ein Modell, ein Junge mit einem besonderen Gesicht. Umberto. Ich sehe schon seine Büste vor mir. Und Victoire. Wie lange will ich schon ihren Kopf in Ton abbilden?«

Eugénie schwieg hartnäckig, verließ den Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Beklommen räumte Camille ihr Material in die Mägdekammer. Neben einem Sack Gips und Ton besaß sie sogar einen kostbaren Marmorblock, dessen innere Verheißung sich ihr noch nicht erschlossen hatte. Nachdenklich strich sie über die harte Oberfläche, die irgendwann zu ihr sprechen würde.

Dann packte sie die Figurengruppen und Büsten, die sie in der Scheune in Nogent angefertigt hatte, aus. Inmitten dieser Wesen aus der Mythologie und der Bibel fühlte sie sich zu Hause. Sie waren eine tröstliche Menagerie. Die Zweiergruppe mit David und Goliath, die ihrem Lehrer Alfred Boucher so gut gefiel, erhielt einen Ehrenplatz auf dem Tisch. Ihre Finger strichen über ihre gewölbten Formen, Goliaths zerfurchten Rücken, den triumphierenden David, der so viel von Paul hatte. Ich bin gut, dachte sie, und ich werde noch besser werden, auch wenn der Preis dafür hoch ist. Obwohl sie sich Mut machte, wollte das ungute Gefühl nicht weichen.

»Wo ist Eugénie?« Camille betrat die Küche. Vielleicht war sie doch zu voreilig gewesen, die Magd aus ihrer Kammer zu vertreiben. Entschuldigen musste sie sich auf jeden Fall. Statt Eugénie stand Victoire am Herd, rührte im Topf und hielt sich den schmerzenden Rücken. »Ich weiß es nicht.«

Camille näherte sich und legte Victoire den Arm um die Schultern. Sie hatte das Huhn fertig gerupft und in den Topf gesteckt, wo es vor sich hin köchelte. »Oh, Camille«, seufzte Victoire. »Du hast sie aus ihrer Kammer geworfen. Künftig muss sie mit einem altem Weib wie mir vorliebnehmen. Sie sagt, dass ich schnarche. Und das hält sie partout nicht aus.«

»Ich möchte mich bei ihr entschuldigen.« Auf einmal fühlte sich Camille schrecklich.

»Tu das«, sagte Victoire. »Warum bist du nur immer so starrköpfig?«

Darauf hatte Camille keine Antwort. Sie wusste nur, dass alles hinter ihrem Schaffen zurücktreten musste.

Ihr Magen knurrte, und sie beschloss, ihre Aussprache mit Eugénie auf später zu verschieben. Zum Abendessen traf sich die Familie um den Küchentisch. Es gab Hühnersuppe, Frikassee, gemischtes Gemüse und Baguette. Der dreizehnjährige Paul schneite herein und beschwerte sich über seine neuen Lehrer am Louis-le-Grand, woraufhin ihm Madame Claudel Undankbarkeit vorwarf und Camille für ihn in die Bresche sprang. »Das ist deine Chance, Paul.« Er starrte in seinen Suppenteller, eigensinnig wie ein Maulesel.

»Das weiß er nicht zu schätzen«, sagte Madame Claudel verbittert. »Sieh dir nur seine Noten an.«

»Gib nicht so schnell auf, Paul«, beschwor ihn Camille. Als sie auf den Umzug gedrängt hatte, hätte sie wissen müssen, dass sich der kleine Träumer in Paris schwertun würde.

»Ich will nach Villeneuve zurück oder ans Meer«, maulte Paul. »Ich brauche Weite, in der ich atmen kann. Zwischen all diesen Häusern ersticke ich.«

»So ein Unsinn«, schimpfte Madame Claudel. »Sei lieber dankbar, dass wir dir das Louis-le-Grand ermöglichen. Du weißt, dass wir das Schulgeld nur mühsam aufbringen können.«

Paul ignorierte sie. Wie immer legte er vor allem auf Camilles Antwort Wert. Ich bin seine Sonne, dachte sie unbehaglich. Er kreist um mich, ist mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dabei hatte sie doch schon so viel mit sich selbst zu tun.

»Aber Paul«, sagte sie. »Wir Claudels stammen vom Land. Vielleicht sind wir ungehobelt und reizlos, aber wir haben Wurzeln. Wir haben die Kraft, sehr viel auszuhalten, sogar, wenn 59 Klassenkameraden über uns herfallen.«

Louise kicherte so sehr, dass sie sich an der Suppe verschluckte und Mutter ihr auf den Rücken klopfen musste. Sie aßen ohne ein weiteres Wort zu Ende.

Auch nach dem Mahl blieb Eugénie dem Esszimmer fern. Victoire musste das Geschirr mithilfe der Mädchen abtragen. Camille dachte sich nichts dabei. Sicher richtete sich Eugénie ihren Teil der Mansarde gemütlich ein, zog vielleicht einen Vorhang zwischen den beiden Betten, und würde danach ins Mädchenzimmer kommen, um mit ihr über ihren Streit zu lachen.

Sie wartete vergeblich. Louise schlief schon süß und selig in ihrem Bett am Fenster, und Camille hatte sich gerade bis aufs Hemd ausgezogen, als ein Schrei durch die Wohnung gellte.

»Was ist passiert?« Erschrocken stürzte sie aus dem Zimmer und stolperte ihrer Mutter in die Arme, die im Gang stand. In ihrer Hand hielt sie einen Zettel, auf dem einige ungelenk geschriebene Worte standen.

»Du!« Aufgebracht stieß Madame Claudel Camille vor die Brust.

Sie war schon lange nicht mehr handgreiflich geworden, das letzte Mal, als Paul und Camille als Kinder die ersten Weihnachtsplätzchen aus der Küche gestohlen hatten.

»Eugénie hat uns verlassen«, fuhr sie fort. »Sie hat den Zug genommen und wird nicht mehr zurückkehren. Du allein bist daran schuld. Warum musst du nur immer so rücksichtslos sein?«

Camille schwieg schockiert. Das hatte sie nicht gewollt. Über die Konsequenzen ihres Handelns hatte sie gar nicht nachgedacht.

»Da staunst du, Fräulein Hochmütig«, sagte Madame Claudel mit ätzendem Spott.

Camille schrumpfte unter der Kälte ihres Blicks zusammen.

»Wie soll ich jetzt mit der vielen Arbeit klarkommen?«, rief ihre Mutter vorwurfsvoll. »Wie jemals aus dem Haus gehen ohne Begleitung? Victoire ist zu alt und zu krumm. Das hast alles du zu verantworten. Mit dir ist nichts anzufangen. Du willst unsere Familie nur zerstören mit deiner Kunst. Aber das werde ich nicht zulassen.« Louise-Athanaïse schimpfte noch vor sich hin, als sie im Schlafzimmer verschwand.

Camille floh in ihr neues Atelier und knallte die Tür hinter sich zu. Schwer atmend wuchtete sie die Kiste auf den Tisch, in der sie ihr Material aufbewahrte. Sie war prall gefüllt mit Gips, weißem Lehm und rötlichem Ton, alles sauber verpackt. Dazu kamen ihre Werkzeuge, mehrere Messer, eine Gabel, verschiedene Hölzer und Spatel und eine Flasche klares Wasser.

Was sollte sie nehmen? Sie schnitt ein Stück ihrer kostbaren Stange Ton ab, feuchtete es an, klatschte es mehrmals auf den Tisch und begann es zu kneten, wobei sie in Kauf nahm, dass der Lärm ihre Mutter beim Einschlafen störte. Die Bewegungen gingen ihr automatisch von der Hand. Camille konnte bis zu vier Kilogramm Ton gleichzeitig zu einer homogenen Masse verarbeiten. Heute war die Menge nicht so groß. Sie drückte ihre Daumenballen in den Ton, spürte seiner feuchten Kühle nach, die sich beruhigend auf sie übertrug. Das hier ist mein Atelier, dachte sie. Hier werde ich arbeiten. Nach und nach würde sich der Raum mit einer Staubschicht überziehen, so wie sie selbst beim Modellieren unter weißem Gipsstaub verschwand, bis sie kaum noch von ihren Plastiken zu unterscheiden war.

Bildhauerinnen schleppten schwere Säcke ins Atelier, schwitzten wenig damenhaft und putzten mit ihren Kleidersäumen unfreiwillig den Boden. Dennoch war Camille bereit, alles für diesen Beruf aufzugeben. Es lohnt sich, dachte sie, während unter ihren Händen der Entwurf eines Kopfes entstand. Einmal würde er die eingefallenen Züge, das vorstehende Kinn und die gütigen Augen ihrer alten Magd Victoire zeigen, deren Zuwendung Camille durch ihre Kindheit getragen hatte. Gestalt gewordene Wirklichkeit, dachte sie, eingefangen für die Ewigkeit. Victoire hatte ihr verboten, ihren Namen zu verwenden, also würde sie sie anders nennen müssen. Wie wäre es mit Die alte Hélène?

Während sie modellierte, vergaß sie ihren Kummer. Wenn ihre Hände Ton zu greifen bekamen, gelang es Camille, alles Weitere auszublenden.

Gegen Mitternacht saß sie schließlich mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett im Mädchenzimmer. Anders als Louise, die von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen hatte, konnte sie nicht schlafen. Ihre Schwester drehte sich unruhig und plapperte unverständliches Zeug vor sich hin. Sie träumte wahrscheinlich von der großen Liebe.

Camilles Gedanken trugen sie weit fort. In Villeneuve, in der herben Landschaft des Tardenois, unweit von Reims mit seiner Kathedrale voller Wunder, blühte um diese Jahreszeit leuchtend gelb und duftend der Ginster. Camille träumte sich an jene heißen, trägen Tage in ihrem Heimatort zurück, an denen die Johannisbeeren wie Blutstropfen an den Büschen hingen. Im Garten wuchsen Bohnen und grüne Erbsen. Obwohl die Familie wegen der Versetzungen ihres Vaters oft umgezogen war, hatten sie die Sommer immer in dem verschlafenen Dorf zugebracht. Hier war Camilles Mutter als Tochter des Arztes Athanase Cerveaux geboren. Er hielt die Hände über die Familie und schenkte vor allem Paul die Zuwendung, die er zu Hause nicht bekam. Auch Louise-Athanaïse blühte in der dörflichen Umgebung auf, wo man die Claudels als Grundbesitzer und angesehene Leute schätzte.

Villeneuve war von Wäldern, Wiesen und Feldern umgeben, soweit das Auge reichte. Wolken ballten sich über der Landschaft wie großzügig verteilte Ölfarbe auf einer riesigen Palette. Unförmige Gebilde in Violett, Grau, Schwarz und Weiß. Es regnete oft. Das Haus war ein zugiger Kasten neben der Friedhofsmauer. In der Kirche führte Camilles Onkel, der Pfarrer Père Nicolas, ein hartes Regiment. Camille konnte nicht sagen, ob sie Villeneuve liebte, wo die Dorfjungen sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten, weil sie tagein, tagaus mit lehmverschmierten Stiefeln herumlief. Dort lag der Hund begraben, während Paris das Leben und die Freiheit verhieß. Nur hier konnte sie mit ihrer Kunst vorankommen.

In der Heidelandschaft bei Villeneuve gab es ein Felsmassiv aus der Urzeit, den Geyn, der wie eine Ansammlung grimmiger Riesen anmutete. Die Riesen waren gütige Geister. Zu ihren Füßen fand man den besten Lehm. Sie überließen Camille ihren Urgrund, damit sie daraus etwas schuf. Mit Paul und Louise verbrachte sie ganze Nachmittage zwischen den bizarren Felsformationen. Dort ließ sie sich von Victoire die Sage vom Teufel erzählen, den ein schlauer Bauer an genau diesem Ort übers Ohr gehauen hatte. Die Kinder kletterten auf den Rücken des Dinosauriers, streichelten den Bären und kamen dem Teufel so nahe, wie sie sich trauten. Camille, die nicht nur die Älteste, sondern auch die Mutigste war, näherte sich ihm, bis sie ihm ihre Hand ins Maul stecken konnte.

Es gab den Elefanten, die Schildkröte, den Berglöwen, Geister und Dämonen, in deren Höhlen man für immer verschwinden konnte.

Es gab aber auch finstere Geschichten. Wenn es dunkel wurde und das Feuer im Ofen glühte, raunte ihnen Victoire verstohlen die Sage von den Aussätzigen ins Ohr, die man an diesen trostlosen Ort verbannte, damit sie Buße tun und einen gottgefälligen Tod finden konnten. Ihre Worte verfolgten Paul und Camille bis in ihre Träume. Sie gruselten sich beide, wenn Camille die Schauermärchen für den atemlos lauschenden Paul mit weiteren Details ausschmückte.

Camille wusste nicht, wann sie zu modellieren begonnen hatte. Vielleicht im Alter von sechs Jahren? Es musste ein Regentag gewesen sein, denn der feuchte Lehm formte sich in ihren Händen willig zu einer schlafenden Taube, als hätte er nur auf sie gewartet. Seither sah sie die Gestalten, die in den unförmigen Klumpen wohnten, schon vor sich, bevor sie den Lehm in die Hand nahm. Ohne die Felsen des Geyn hätte sie vielleicht nie mit dieser Tätigkeit begonnen, für die ihr Vater sie lobte, die ihre Mutter aber als nutzlose Tändelei abtat. Vielleicht hatten die Felsen ihr ja die Namen der Figuren, die sie modellieren sollte, ins Ohr geflüstert?

»Camille?«

Sie fuhr zusammen und blickte ihrer Schwester Louise in die Augen, deren lockige, dunkelblonde Haare sich wie ein Fächer auf dem Kopfkissen ausbreiteten. Wie lange lag sie schon wach und beobachtete sie?

»Es tut mir leid«, sagte Louise. »Wegen Mutter.«

Camille ging zu der schmalen Pritsche, auf der Louise schlief. Die Familie war nicht wohlhabend genug, um sich in Paris standesgemäß einzurichten. Sie strich ihrer Schwester über die Haare. »Schon gut.«

»Ich bin ihre Gefangene, weißt du. Sie hat niemanden außer mir«, murmelte Louise, bevor sie wieder einschlief.

Kapitel 3

Villeneuve-sur-Fère, Sommer 1876

Es war Juli und unglaublich heiß. Der Himmel war weiß vor Dunst. Im Westen brodelte hinter schwarzen Wolken ein Gewitter.

»Paul, komm raus, sonst holt dich der Teufel!«, rief Camille.

Sie sah sich nach ihrem kleinen Bruder um, dessen blonder Schopf wie ein Irrlicht zwischen den Felsen herumgeisterte. Normalerweise hatte er zu viel Angst, um ohne sie mit den Riesen zu spielen. Aber manchmal bekam er diesen abwesenden Blick, der darauf hindeutete, dass er in seinen Träumen versank. Dann verwandelten sich die Steine in stolze Ritter und Feuer speiende Drachen, und er vergaß über Stunden seine Furcht. Der Geyn zog sie alle in seinen Bann.

Louise saß in ihrer weißen Schürze auf einem Stein und flocht eine Kette aus Margeriten und blauen Glockenblumen. Victoire hielt ein Nickerchen im Schatten. Neben ihr stand ein Korb mit einer Flasche Saft und einem Kuchen, von dem sie alle nach getaner Arbeit ein Stück bekommen würden. Nach und nach füllte Camille die Schubkarre mit Lehm. Er war das Material, aus dem sie ihre Welt erschuf.

Nirgendwo gab es besseren Lehm als zu Füßen der Riesen. Er war unvergleichlich feinkörnig und ließ sich zu einer glatten Masse verkneten, aus der man die wunderbarsten Gebilde formen konnte. Bei dieser Arbeit war sie vollständig im Reinen mit sich selbst.

Sie schrak zusammen, als ihr kleiner Bruder hinter dem Rücken des Riesen hervorsprang, auf und ab hüpfte und mit einem Stock auf den Stein einhieb. »Paul!«, rief Camille verärgert.

»Ich geb’s dir, egal wie stark du bist! Ich, Lancelot, der Ritter der Königin!«, brüllte er. »Bis du aufgibst, schwarzer Ritter. Und dann schlag ich dir den Kopf ab. Wumm!«

Der Felsbrocken scherte sich nicht um diese Drohungen, Louise aber schon, die zufällig den nächsten Hieb abbekam. Sie sprang kreischend auf, während Paul nicht aufhörte, auf sie einzuschlagen. »Paul, lass das, du kleines Monster!«

Camille legte ihre Schaufel beiseite und trat auf sie zu. Sie hasste es, wenn sie zwischen ihren Geschwistern vermitteln musste.

»Schau mal, was der kleine Unhold angerichtet hat!« Louise deutete auf den Blütenkranz, der zertrampelt zu ihren Füßen lag. »Immer macht er alles kaputt.«

»Ach, Louise, sei nicht so zimperlich«, gab Camille zurück. »Du kannst tausend neue Blumen pflücken. Außerdem könntest du mir mal helfen. Schließlich sind wir hier, weil wir Lehm holen wollen.«

»Du willst Lehm holen«, sagte Louise feindselig. »Wir nicht!«

Paul senkte sein Schwert und sah betreten zu Boden, wo der zerstörte Kranz lag, die Blumen ein einziges welkes Durcheinander.

»Entschuldigung«, murmelte er.

»Das hat er nicht gewollt«, sagte Camille. »Wenn er in sein Spiel vertieft ist, vergisst er alles um sich herum.«

»Immer hältst du zu ihm.« Louise stampfte mit dem Fuß auf. »Überhaupt habt ihr euch gegen mich verschworen. Papa ist auch immer auf eurer Seite.«

Camille wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie schwieg betreten, denn Louise hatte recht.

Victoire erwachte nicht von dem Gezänk, sondern von der plötzlichen Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete. Sie streckte sich gähnend und stand auf. »Gebt Ruhe, Kinder!«

Louise rannte auf sie zu. »Guck mal, Victoire! Paul hat meinen Blütenkranz kaputtgemacht. Wenn ich das Maman erzähle …«

Jetzt reichte es Camille. Sie konnte es nicht leiden, wenn Louise petzte. »Wir sind hier, um Lehm zu holen. Du hättest überhaupt nicht mitkommen müssen, wo du doch bloß herumjammern willst.«

»Alles dreht sich immer nur um dich«, rief Louise. »Dich und deinen blöden Lehm. Camille hier und Camille da. Maman gefällt sowieso nicht, dass du immer so viel Dreck ins Haus schleppst. Wieso bist du nicht wie andere Kinder?«

Das war zu viel. Erfüllt von einer Wut, die sie selbst erstaunte, griff Camille in die Schubkarre, füllte beide Hände mit Lehm und warf ihn ihrer Schwester ins Gesicht, die ungläubig nach Luft schnappte und zu weinen begann. Paul betrachtete sie fasziniert. »Du hast ihr das Maul gestopft.«

Louise wischte sich heulend den Dreck aus dem Gesicht. »Warum bist du so?«

Auch wenn sie es später bereuen würde, musste Camille noch ein wenig nachlegen.

»Weil ich mit Lehm zaubern kann, du verwöhntes Gör. Meine Vögel und Tiere sind lebendig. Und was glaubst du, mache ich mit dir?«

Erschrocken hielt Louise inne. Es wurde so still, dass sie einen Raben auffliegen hörten, der sich wie ein schwarzer Scherenschnitt vor die Wolken schob. In der Ferne grollte der Donner.

»Was?«, fragte Louise. Camille sah, dass sie Angst hatte. Sollte sie nur.

»Ich mach dich neu aus Lehm«, drohte sie. »Viel hübscher, als du jetzt bist. Ich hauche dir Leben ein, und dann bist du keine Zimperliese mehr, sondern meine beste Freundin.«

Louise betrachtete sie mit großen Augen. »Das erzähle ich Maman.«

»Petze!«, rief Camille.

»Lasst uns gehen, Kinder«, mischte sich Victoire ein. »Das Gewitter zieht heran.«

Louises Furcht war wie fortgeblasen. Zielbewusst steuerte sie den Weg nach Hause an.

Camille wusste, was ihr blühte, wenn ihre Mutter von ihrem Streit erfuhr, und versuchte, die ihr bevorstehenden Konsequenzen mit Fassung zu tragen. War sie nicht schon immer der Zankapfel ihrer Familie gewesen? Ihre Mutter hatte sie von Anfang an abgelehnt, weil sie kein Junge war, der ihren verstorbenen Erstgeborenen Charles Henri ersetzen konnte. Wenn ihr Vater sie nicht hin und wieder aus der Wiege gehoben hätte, wäre sie sicher verhungert. Ich schaffe es allein, dachte sie. Ich bin auf niemanden angewiesen. »Komm«, sagte sie und griff nach Pauls Hand.

Victoire stemmte die Hände in die Hüften. »Soll sich Madame doch selbst um ihre missratenen Gören kümmern.« Sie wickelte den Kuchen in ein Geschirrtuch, bevor sie ihn zurück in den Korb legte. Camille seufzte, denn aus ihrem schönen Picknick würde nun nichts werden.

Kaum lag das Haus in Sichtweite, rannte Louise los, klopfte ans Küchenfenster und informierte Mutter, die in der Tür erschien, die Hände voller Brotteig. Camille wusste nicht, ob ihr Gesicht vor Zorn oder vom angefachten Backofen glühte. »Was du zu Louise gesagt hast, Camille … Das wirst du büßen. Und überhaupt. Was bist du nur für ein Schmutzfink? Schau, wie du wieder aussiehst! Louise kann nichts dafür, wenn ihre Schürze nicht mehr weiß ist, aber du schon.«

Das stimmte. Der Kittel, den Camille über ihrem Kleid trug, war über und über mit Dreck bespritzt, und die alten Stiefel starrten vor Lehm. Sie sah ihre Mutter trotzig an und schwieg.

»Nicht mal entschuldigen kannst du dich«, rief Madame Claudel. »Geh mir aus den Augen, du verstocktes Ding! Und bleib in deiner Kammer bis morgen!«

Camille zog sich in ihr Zimmer zurück und setzte sich auf die Bettkante. Stubenarrest. Diese Strafe kannte sie schon. Das Schlimmste daran war, dass sie nicht modellieren durfte, obwohl ihr Herz danach verlangte, die Rätsel zu entschlüsseln, die im Lehm auf sie warteten.

Sie saß da, die Hände untätig im Schoß gefaltet, bis sich die Dämmerung über Villeneuve senkte. Als es dunkel war, begriff sie, dass sich heute niemand mehr um sie kümmern würde. Sie zog ihre Kleider aus, legte sich ins Bett, zog die Decke über den Kopf und versuchte, ihren knurrenden Magen zu vergessen.

Sobald Ruhe im Haus eingekehrt war, begannen ihre Eltern zu streiten. Camille erwachte nicht von dem Geschrei, das durchs Haus hallte, sondern von Paul, der die Klinke drückte und mit dem Daumen im Mund im Türrahmen stand. Verschlafen richtete sie sich auf. »Keifen sie schon lange herum?«

»Ja. Ich kann nicht schlafen.«

Rührung erfasste sie, weil er so verloren wirkte. Sein blonder Haarschopf war vom Schlaf zerzaust, und seine Beine ragten unter dem Saum des Nachthemds hervor, das ihm schon wieder zu kurz wurde.

»Komm!«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er sprang ins Bett und schmiegte sich in die Beuge ihres Körpers. Camille legte fest den Arm um ihn und sog den Duft ein, der von seinem Kopf ausging, wie Butter und Karamell. Es war schon eine Weile her, dass er nachts zu ihr gekommen war.

Innerhalb von Minuten beruhigten sich seine Atemzüge, und er schlief ein. Dafür lag jetzt Camille wach und lauschte. Ihre Eltern stritten sich in der Küche so lautstark, dass sie immer wieder einzelne Worte verstand. Vor allem ihren Namen. Camille und nochmals Camille. Camille hier, Camille da. Dieses unmögliche Kind. Diese schwer erziehbare Göre. Nicht, dass sich ihre Eltern sonst nicht zankten. Ihre Mutter machte ihrem Vater zum Vorwurf, dass er ihre Stellung in Villeneuve geringschätzte, und er spottete über ihre mangelnde Bildung. Camille jedoch, die Eigensinnige, die Undankbare, die niemand bändigen konnte, geriet immer wieder zwischen die Fronten. Ihre Mutter hatte ihre ersten Figuren zerstört – den Hund mit dem wedelnden Schwanz, ihre schlafende Taube und die Katzenfamilie – und sie wegen ihrer Faulheit ausgeschimpft. Als ihr Vater Louise-Athanaïse deshalb tadelte, verbannte sie Camille mit ihrem Lehm in den Schuppen, wo sie ihre Taube neu erschuf. Damit hätte sie ihr keinen größeren Gefallen erweisen können, denn hier störte sie nur Paul, der die Nachmittage bei ihr verbrachte, mit seinem hölzernen Schwert gegen die Wände schlug und sich in Welten träumte, in denen er der Held war.

Camille wollte wissen, worüber ihre Eltern sprachen. Vorsichtig schob sie ihren Bruder zur Seite und stand auf. Der Holzboden war kalt unter ihren bloßen Füßen, als sie in Richtung Küche schlich. Die Stimmen klangen resigniert und müde, als hätten sich ihre Eltern damit abgefunden, dass sie einander nichts mehr zu sagen hatten.

»Wenn Camille so weitermacht, findet sie keinen Ehemann«, prophezeite ihre Mutter gerade. »Wer will schon ein Mannweib, das sich nicht fügen kann? Sie muss begreifen, dass die höchste Aufgabe einer Frau darin besteht, ihrer Familie zu dienen.«

»So wie Sie, Louise-Athanaïse«, sagte ihr Vater leise.

»Würden Sie es doch nur einsehen, Louis-Prosper. Wir sollten sie auf die Haushaltsschule schicken. Und Ihr Sohn. Er macht mir ebenfalls Sorgen. Er ist ein Träumer und den Anforderungen der Welt nicht gewachsen. Wenn Sie ihn nur mehr beachten würden. Von Louise will ich ja gar nicht reden. Ihre Begabung fürs Klavierspiel zeigt sich immer stärker.«

Schon wieder ging es um Louise. Was könnte Camille mehr langweilen? Ihr fielen beinahe die Augen zu. Weil sie gähnen musste, bekam sie die nächsten Worte ihres Vaters nicht mit. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen.

»Camille!« Louis-Prosper stand da, die Nachtmütze verrutscht, der Backenbart gesträubt.

Louise-Athanaïse drängte ihn beiseite und zog Camille am Arm in den Raum. »Hab ich es doch gewusst. Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand.« Sie hob die Hand, um Camille eine Ohrfeige zu verpassen.

»Nein!« Louis-Prosper hielt den Arm seiner Frau fest.

Camilles Magen knurrte, weil es hier so verlockend nach dem Kuchen duftete, der ihr nachmittags entgangen war. Standhaft erwiderte sie den unerbittlichen Blick ihrer Mutter. Sie würde nicht nachgeben und zuerst zu Boden schauen. Morgen jedoch, das wusste sie, würde sie ihren Trotz bitter bereuen.

»Dieses halsstarrige Kind«, brummte Louise-Athanaïse kopfschüttelnd.

»Geh ins Bett, Camille«, sagte ihr Vater nachsichtig und wandte sich an seine Frau. »Camille ist eine Künstlerin. So genial, dass sie Unterricht benötigt.«

»Was?« Ihre Mutter schnappte entsetzt nach Luft. »Sie unterstützen ihren Eigensinn auch noch?«

»Ja«, erwiderte er schlicht, »wenn es notwendig ist. Geh schlafen, Camille!«