Die Künstlerin der Frauen - Pia Rosenberger - E-Book
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Die Künstlerin der Frauen E-Book

Pia Rosenberger

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Beschreibung

»Schon früh beschloss ich, eine Heldin zu werden.« Niki de Saint Phalle.

New York, 1947. Die siebzehnjährige Niki de Saint Phalle ist das Enfant terrible ihrer Familie. Als sie von einem Fotografen entdeckt wird, scheint ihr die Welt offenzustehen. Sie befreit sich aus ihrem goldenen Käfig und brennt mit dem Navy-Soldaten Harry durch. Das Glück des jungen Ehepaares wird jedoch allzu schnell getrübt, denn selbst als Niki mit Harry und ihrer Tochter nach Frankreich zieht, kann sie der Vergangenheit nicht entkommen. In ihrer dunkelsten Stunde findet sie neuen Mut in der Kunst. Provokant und voll zerstörerischer Kraft erregt ihr Werk die Welt der Kunst – aber um sich dieser widmen zu können, muss sie eine schwere Entscheidung treffen …

Die Geschichte einer Künstlerin, die gegen alle Regeln aufbegehrt – kenntnisreich und emotional erzählt.

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Seitenzahl: 453

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Über das Buch

New York, 1947: Zweimal war sie von der Schule geflogen, doch jetzt hat sie es endlich geschafft. Niki de Saint Phalle feiert ihre neu gewonnene Freiheit auf dem Abschlussball im Hotel Waldorf Astoria in Manhattan und wird prompt von einem Fotografen entdeckt. Das Modeln öffnet der Siebzehnjährigen neue Türen. Heimlich heiratet sie Harry Mathews, einen Freund ihres Bruders. Doch solange sie sich in der Nähe ihrer Familien befinden, wird das junge Liebesglück von deren Ansprüchen überschattet. Kurzentschlossen ziehen Niki und Harry mit ihrer Tochter nach Frankreich, aber auch dort kann Niki der Vergangenheit nicht entrinnen. Erst in der Malerei findet sie Zuflucht – doch schon bald merkt sie, dass ihr die Kunst den Weg in Tiefen eröffnet, die sie lieber nicht entdeckt hätte. Wenn sie sie durchmessen will, muss sie ein großes Opfer bringen.

Über Pia Rosenberger

Pia Rosenberger wurde in der Nähe von Osnabrück geboren und studierte nach einer Ausbildung zur Handweberin Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Pädagogik. Seit über 20 Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Esslingen und arbeitet als Autorin, Journalistin, Museumspädagogin und Stadtführerin.

Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Die Bildhauerin« erschienen.  

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Pia Rosenberger

Die Künstlerin der Frauen

Sie träumt von der Freiheit und erobert mit ihren Nanas die Welt – Niki de Saint Phalle

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog — Toskana 1998

Kapitel 1 — New York, 3. November 1947

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4 — Frühsommer 1943

Kapitel 5

Kapitel 6 — Herbst 1948

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10 — Herbst 1952

Kapitel 11 — Sommer 1953

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 — Paris, Sommer 1954

Kapitel 15 — Deià, Frühjahr 1956

Kapitel 16 — August 1956

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19 — Frühsommer 1959

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26 — Amsterdam, 10. März 1961

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32 — Im Herbst zuvor, 1962

Kapitel 33 — Sommer 1964

Kapitel 34 — Stockholm, April 1966

Epilog — Toskana 1998

Nachwort

Impressum

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Prolog

Toskana 1998

Die Bildwerke der zweiundzwanzig großen Arkana des Tarots erhoben sich wie Riesen im Olivenhain zwischen der aufgehenden Sonne im Osten und dem blauen Streifen des Meeres im Westen. Niki konnte kaum fassen, dass ihr Traum endlich Gestalt angenommen hatte.

Heute würden sich die Tore des Gartens für die ersten Besucher öffnen. Doch vorher hatte sie alle Freunde und Mitarbeiter zum Eröffnungsfest eingeladen, das Swiss All Team, die Keramikerin Venera und die unzähligen Helfer aus der Nachbarschaft, die sich ihr nach und nach als unentbehrlich erwiesen hatten.

Noch war Niki mit ihren Figuren allein. Sehr langsam bewegte sie sich durch ihr Reich im toskanischen Garavicchio. Sie hatte es geschafft. Ihre Skulpturen waren sogar von der Ausfahrt der SS1 Aurelia sichtbar, über die sich tagsüber die Verkehrsmassen gen Rom wälzten.

Als Kind hatte sie sich gewünscht, die größten Bildwerke der Welt zu schaffen, begehbar und voller Wunder. Fast zwanzig Jahre hatte Niki in den Bau investiert; Jahre, die ihr alles abverlangt hatten. Vielleicht musste man die größten Geschenke des Lebens mit einem Gegenwert an Opfern bezahlen? Wer wusste das schon?

Niki seufzte und blieb stehen. Sie, die alle anderen vorantrieb, war müde geworden. Fast hätten die rheumatische Arthritis, die Mücken, die Hitze und der dauernde Geldmangel sie kleingekriegt. Doch nichts davon hatte sie bezwingen können. Sie hob den Kopf, um ihren Garten zu bewundern. Er war wunderschön geworden.

Aus dem Mund der Hohepriesterin ergossen sich Wasserströme, die unaufhaltsam das Rad des Schicksals antrieben. Der spiegelbesetzte Kopf des Magiers glänzte in der Morgensonne. Die Sphinx mit dem schwarzen Gesicht und dem blauen Sternenschleier grub ihre Pranken in die Erde, als sei sie aus ihr emporgewachsen.

Niki folgte dem gewundenen Pfad, den sie Zentimeter für Zentimeter mit Mosaik und Glassteinchen aus Venedig ausgelegt hatte, Spiegel waren zahlreich dabei, in denen ein jeder sich suchen und finden konnte.

Für Niki war das Tarot weit mehr als ein Kartenspiel. Die zweiundzwanzig Karten der großen Arkana waren Schicksalsbilder, die aus dem Alten Ägypten überkommen waren und den Weg der Seele spiegelten. Ihren Weg. Niki hatte ihnen mit der Kraft der Imagination Gestalt verliehen.

Voller Liebe betrachtete sie ihre Kinder aus Zement, Eisen, Farbe und Ideen. Die Nanas hatten Zuwachs bekommen. Da war der Gehängte im Stil ihrer Linienmenschen, der Skinnies, durchlässig für Licht und Luft. Er stand für die Fähigkeit, die Dinge immer neu zu betrachten. Für den Neuanfang.

Sie ging weiter und begrüßte mit Liebe und Respekt den Tod, der im Französischen weiblichen Geschlechts war. La mort war eine Reiterin mit Sense, die reiche Ernte hielt. Es gab keinen Grund, sich vor ihr zu fürchten. Nur weil sie einem die Menschen, die man liebte, vor ihrer Zeit nahm, hatte Niki ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. Wie oft war sie kurz davor gewesen, aufzugeben und sich in ihre warmen Arme zu flüchten? Aber mich kriegst du nicht. Nicht heute. Und auch nicht morgen.

Niki kreuzte den Weg des wandernden Narren, nickte den Liebenden zu und ließ ihre Hand für einen Augenblick auf dem Arm des Mädchens ruhen, das einen Drachen am Zügel führte. Sie stand für Fortitudo, die Kraft.

Der verspiegelte Turm zu Babel kam in ihr Sichtfeld, dessen Spitze von einem Rad gesprengt wurde. Der Turm war ein Zeichen der Zerstörung, das unheilvollste überhaupt. Doch Niki wusste es besser. Auch das mieseste Karma bot die Chance, es zu verwandeln. Es kam darauf an, seine ganze Kraft in diese Absicht zu stecken. Dann ließ sich sogar ein Drache am Zügel führen. Sie holte tief Luft.

Der Bau des Tarotgartens hatte ihr sowohl finanziell als auch persönlich die letzten Reserven abverlangt. Um ihr Team und die riesigen Figuren bezahlen zu können, hatte sie ihre weltweite Berühmtheit genutzt, ein Parfüm kreiert, Möbel und Multiples ihrer Werke geschaffen, darunter sogar aufblasbare Nanas. Und schließlich hatte sie für die Gestaltung der Gartenanlage auch noch Geld von Harry angenommen.

Sie betrachtete ihre verkrümmten Hände, die ihr nicht mehr gehorchen wollten. Ihr ganzes Leben lang hatten Krankheiten sie begleitet. Die rheumatische Arthritis war eine der schwersten gewesen. Immer wieder hatten die Schmerzen sie ausgebremst, so lange, bis sie die notwendigen Medikamente nicht mehr verweigern konnte. Der Preis dafür war hoch gewesen. Das Cortison hatte sie unausstehlich und noch perfektionistischer gemacht. Doch all diese Hindernisse waren unerlässlich gewesen, weil sie sich wie die Heldin im Märchen den Weg zum Schatz Schritt für Schritt erkämpfen musste.

Jeder Insektenschwarm, jede im Schmerz durchwachte Winternacht. Nichts davon war umsonst gewesen. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Der Tarotgarten im Olivenhain war fertig. Und er war wunderschön geworden.

Niki erreichte die Kapelle, über die der Engel der Mäßigkeit mit seinen lichterfüllten, blauen Flügeln wachte, den Ort des Gedenkens.

Kapitel 1

New York, 3. November 1947

Niki stand in der Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter, die an ihrem Frisiertisch saß. Ihre Augen trafen sich in dem glitzernden Spiegel, der das Lampenlicht reflektierte. Für einen Augenblick verharrten sie so, während der Regen auf die Park Avenue in der Upper East Side rauschte, dem Viertel der Reichen und Schönen in New York. Hupgeräusche drangen von unten in den zehnten Stock. Wandernde Autoscheinwerfer warfen ihren Schein an die Decke.

Mein Tag, dachte Niki. Heute würde sie ihr Abitur feiern, das sie im Sommer an der Oldfield School in Maryland bestanden hatte. Da ihre Eltern nicht so weit fahren wollten, hatten sie eine Einladung zum Ball verschiedener New Yorker Highschools ergattert. Das Fest im Hotel Waldorf Astoria war ein willkommener Anlass, um die junge Generation der Öffentlichkeit vorzustellen. Niki trug bereits ihr Kleid, schulterfrei, der Rock aus zahllosen Lagen weißem Tüll genäht. Aber es war ihr am Oberkörper zu weit. Das Bustier saß so locker, dass sie schon überlegt hatte, es mit Taschentüchern auszustopfen.

»Maman, könntest du …«, begann sie, doch ihre Mutter unterbrach sie mit einer ungeduldigen Geste.

»Komm doch herein, Niki. Warum so schüchtern? So kenne ich dich gar nicht.« Jacqueline drehte sich graziös auf ihrem Hocker, ganz die Dame von Welt. Sie trug schon ihre Pumps mit den hohen Absätzen.

Niki trat näher, mitten in die Wolke aus Puderduft und Chanel Nr. 5, stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die glatten, weißen Schultern. Im Spiegel begegneten sich erneut ihre Augen. Sie waren vom gleichen Braungrün und schimmerten durchsichtig im Licht der Lampe. Beide trugen ihr Haar dauergewellt und gepflegt frisiert. Sie sahen einander so ähnlich und waren doch so verschieden. Niki war das Enfant terrible dieser perfekten Familie. Jacqueline hingegen verstand es, ihre Launen hinter einer Mauer der Wohlanständigkeit zu verbergen.

»Was möchtest du, Kleines?«, fragte sie.

»Dieses blöde Oberteil ist mir zu weit«, erwiderte Niki mürrisch. »Könntest du es mir enger nähen? Sonst schweben meine Tanzpartner in Lebensgefahr, weil ich mit zwei Sicherheitsnadeln unterwegs bin.«

Jacqueline sah sie nachdenklich an. »Du bist sehr hübsch.«

»Du auch.« Sie liebte und hasste ihre kühle Mutter mit dem klaren Gesicht und dem tadellosen Benehmen gleichermaßen.

Jacqueline lachte leise. »Keine Angst, ich werde dir nicht die Show stehlen. Das ist dein Debüt.«

»Mach nur. Ich weiß sowieso nicht, was ich auf dem Ball soll.«

»Warum immer so aufsässig? Und Niki, zieh keinen Flunsch, sonst kriegst du viel zu früh Falten.«

Nikis Mutter trug ein Abendkleid aus blaugoldenem Brokat, ganz Matrone, aber nicht weniger glamourös als das ihrer Tochter. »Du solltest mehr essen. Dann passt auch das Oberteil. Ansonsten sitzt das Kleid perfekt.«

»Vergebliche Liebesmüh. Ich esse genug.« Bei der Unmenge an Süßigkeiten, die Niki immer in sich hineinstopfte, war es ein Wunder, dass sie ihre Gazellenfigur hielt.

»Könntest du mir helfen, meine Kette zu schließen?«, bat Jacqueline. Zwischen den Töpfen und Tiegeln auf dem Frisiertisch lag die doppelreihige Perlenkette mit dem Diamantverschluss. Sie senkte ihren weißen Nacken und strich sich die Locken zur Seite. Sorgsam legte Niki ihr die Kette um und ließ den Verschluss einrasten.

»Mein Oberteil. Es wäre ein Fauxpas sondergleichen, wenn es rutscht«, versuchte sie es noch einmal.

»Ich danke dir, Liebes.« Jacqueline setzte sich aufrecht und lächelte Niki und sich selbst im Spiegel zu. »Geh doch bitte wegen der Näharbeiten zu Nicole. Ich bin mit der Nadel so ungeschickt.«

Nicole war die Nanny von Nikis jüngeren Geschwistern und normalerweise entsprechend beschäftigt.

»Immer wenn man etwas von dir will, hast du eine Ausrede.« Niki trat verärgert einen Schritt zurück. Ich könnte zupacken und die Perlenkette zerreißen, dachte sie. Aber selbst das würde nichts nutzen, denn die Zuchtperlen waren alle einzeln verknotet, wie es sich für ein teures Schmuckstück gehörte. Keine einzige würde auf Nimmerwiedersehen unter der Kommode verschwinden. Widerstand war zwecklos.

Jacqueline griff nach Nikis schmalen Handgelenken. »Sei nicht undankbar. Ich habe fünf Kinder und gebe mir alle Mühe, für euch da zu sein, wobei du es mir wirklich nicht immer leicht machst. Nicole ist im Nähen viel besser als ich … Das muss sie auch, denn die Kleinen haben einen gewaltigen Verschleiß. Sprich sie am besten sofort an, damit du uns heute Abend keine Schande machst.«

»Na, vielen Dank auch.« Niki löste sich aus Jacquelines Griff und knallte die Tür hinter sich zu. Schwer atmend blieb sie im Gang stehen, trat mit ihren Ballschuhen gegen die scheußliche chinesische Vase neben dem antiken Holzschrank, die kurz aus dem Gleichgewicht geriet, und unterdrückte einen Fluch.

Im nächsten Moment stürzte ihr dreijähriger Bruder Richard auf sie zu, schnitt ihr eine Grimasse und versteckte sich im Schrank, während Nicole aus dem Kinderzimmer trat und sich suchend umblickte.

»Richard, où es-tu?« Sie kam aus Paris und sprach perfektes Französisch mit ihm, gerade so wie Nikis Eltern es wünschten.

Verschmitzt legte Niki ihren Zeigefinger auf die Lippen und deutete auf den Schrank. Nicole zwinkerte ihr zu und öffnete die Tür, woraufhin sich der Kleine mit lautstarkem Gebrüll in ihre Arme warf.

»Ab ins Bett!« Sie packte das sich sträubende Kind und zerrte es davon.

Niki pustete sich eine Locke aus der Stirn. Das Kindermädchen brauchte Nerven wie Stahlseile, um ihre zickigen kleinen Schwestern und den Lausejungen im Zaum zu halten. Aber eines hatte sie gewiss nicht: Zeit, um Nikis Oberteil enger zu nähen. Vielleicht wollte das Schicksal ja, dass sie sich blamierte.

Erst mal brauchte Niki eine Pause. Sie zog die Schuhe aus und schlitterte auf ihren Nylonstrümpfen über das frisch gebohnerte Parkett in Richtung der Treppe. Die noble Stadtwohnung der Familie De Saint Phalle in der Park Avenue 1088 hatte zwei Stockwerke. Es gab geräumige Flure und stuckgedeckte Räume voller Porträts, von denen ihre Ahnen missbilligend auf Niki herabstarrten. Sie waren eindeutig der Meinung, dass Kinder sich unauffällig, am besten unbemerkbar verhalten sollten.

Niki hielt sich nicht daran. Sie war zweimal von der Schule geflogen und hatte, bis ihr der Abschluss in diesem Sommer wider Erwarten doch noch gelungen war, wöchentlich Tadel kassiert. Und dabei war sie alles andere als blöd. Sie warf einen Blick in die Bibliothek voller ledergebundener Bücher, in der sie vor Kurzem die Werke Guy de Maupassants für sich entdeckt hatte. Vielleicht sollte sie ihre Zeit besser hier verbringen als auf einem Ball, den sowieso niemand interessierte?

Sie erreichte die breite Treppe zum Erdgeschoss und stieg ins Foyer mit seinem riesigen Kronleuchter hinab. Hier unten ging es nicht mehr so steif und formell zu.

Erleichtert betrat sie die Küche, den einzigen warmen Raum in der ganzen Wohnung. Kupfertöpfe hingen von der Decke, blank poliert wie rote Spiegel. Der moderne Kühlschrank summte. Ihre Köchin Cora stand am Herd und rührte in einem Topf. Am Tisch saßen Nikis jüngere Schwestern Claire und Elisabeth und löffelten eine Suppe, weil das Abendessen im Speisezimmer heute ausfallen würde. Niki setzte sich dazu, ordnete die zahlreichen Tülllagen ihres Kleides und legte ihre Füße auf dem letzten freien Stuhl ab. Ihr Magen knurrte.

»Cora …«, begann sie so liebenswürdig wie möglich.

»Ja, Miss Niki.« Die Köchin wandte sich ihr zu. Ihr dunkles Gesicht mit den leuchtenden Augen strahlte Geborgenheit aus. Niki wusste nicht, wie lange sie schon für die Familie arbeitete. Eine Ewigkeit.

»Könnte ich eine heiße Schokolade haben? Ich kann bei der ganzen Aufregung nur etwas Kakao runterbringen.«

Cora betrachtete sie stirnrunzelnd. »Im Ballkleid? Ich denke, das wird nicht gehen. Aber ich kann dir etwas Suppe geben, wenn du dir ein Geschirrtuch umlegst und sehr gut aufpasst.«

»Die schmeckt gut«, sagte ihre zehnjährige Schwester Claire. Niki stimmte seufzend zu und band sich ein kariertes Geschirrtuch um.

»Du siehst auch mit dem Tuch schön aus.« Die kleine Elisabeth war Nikis größte Bewunderin. »Wie eine Prinzessin. Aber eigentlich müsstest du ein Diadem haben, so eine Glitzerkrone.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

»Niki ist eine Prinzessin«, widersprach ihr Claire altklug. »Und du auch.«

»Nun ja, fast. Wir sind Comtessen. Von unserer Abstammung her jedenfalls.« Niki verzichtete darauf, ihr den Unterschied zwischen einer Comtesse und einer Königstochter zu erklären. »Aber das ist in den USA ohnehin irrelevant.«

»Vielleicht müssen sich Comtessen ja nicht immer so gut benehmen wie Prinzessinnen.« Elisabeth zwinkerte ihr hoffnungsvoll zu.

Niki lachte. »Das wäre ein Vorteil.« Diese Comtesse hier würde jedenfalls mit rutschendem Oberteil zu ihrem ersten Ball gehen und dadurch zum Stadtgespräch werden. Cora stellte einen vollen Suppenteller vor ihr ab.

»Iss genug, aber pass auf, dass du nicht tropfst«, riet sie ihr. »Du bist viel zu dünn. Oh nein! Was ist denn das?« Ihre kräftigen Finger glitten in den Zwischenraum zwischen Nikis Kleid und ihrem mageren Oberkörper. »Mindestens drei Zentimeter zu weit. Da hat die Schneiderin nicht richtig Maß genommen. Was sagt denn deine Mutter dazu?«

Niki zuckte mit den Schultern. »Sie hat mich an Nicole verwiesen, aber die hat keine Zeit, weil sie gerade Richard ins Bett bringen muss.« Jetzt musste sie doch schlucken, damit ihr nicht die Tränen kamen.

»So kann das nicht bleiben.« Cora erkannte sofort, wie Niki mit sich rang, und holte ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche, in das sich Niki kräftig schnäuzte. Sie würde vor ihren Schwestern nicht die Beherrschung verlieren. Vor allem Claire konnte wochenlang von einer Blamage zehren.

»Wir kriegen das schon wieder hin.« Cora räumte die leeren Teller der beiden jüngeren Mädchen ab, scheuchte sie vor die Tür und öffnete Nikis Reißverschluss. »Zieh das Kleid am besten aus. Dann kannst du auch in Ruhe essen.«

Niki streifte das Kleid ab und stand im Unterrock da, während Cora entschlossen zu Nadel und Faden griff, den Stoffwust auf ihrem Schoß bändigte und auf jeder Seite einen Abnäher anbrachte. »Es ist nicht ganz unsichtbar. Aber rutschen wird es nicht mehr. Behalte am besten so lange wie möglich dein Jäckchen an und bring das Kleid nächste Woche mit einer dicken Beschwerde zur Schneiderin.«

Niki aß auf, bevor sie sich von Cora wieder in ihr Kleid helfen ließ. »Maman hat gar nicht gesagt, dass du gut nähen kannst.«

»Sie weiß das nicht. Und wenn, würde sie sicher nicht wollen, dass sich die Hände einer schwarzen Dienstbotin an deinem weißen Kleid vergreifen. Also verpfeifst du mich besser nicht.«

»Ach, Cora«, sagte Niki beschämt. »Du hast mich so oft gerettet. Du bist meine Helferin in der Not.« Maman hatte es nicht so mit dem Muttersein, und deshalb hatte stattdessen die Köchin Niki, als sie klein gewesen war, auf ihre aufgeschlagenen Knie gepustet und gegen Fieber Wadenwickel gemacht.

»Das ist doch selbstverständlich.« Cora zog sie an ihren üppigen Busen. »Viel Freude auf deinem ersten Ball. Erobere die Welt für mich.«

Pünktlich um 19.30 Uhr kam das Taxi. Niki setzte sich neben ihre Mutter auf die Rückbank. Zu ihrem Kleid trug sie weiße Handschuhe und einen knappen kurzärmeligen Bolero. Ihr Vater André Marie Fal de Saint Phalle nahm auf dem Beifahrersitz Platz, drehte sich um und musterte sie voller Stolz. »Schön siehst du aus, Tochter.«

»Danke.« Niki war froh, dass er vorne und nicht hinten saß, und seine Komplimente konnte er sich sparen. Seltsam. Sie erinnerte sich an Zeiten, da waren sie die allerbesten Freunde gewesen.

»Hat Nicole dir geholfen?«, fragte Jacqueline. »Mit dem zu weiten Oberteil?«

»Alles in Ordnung.«

Mamans Bemerkung mit der Schande ließ Niki keine Ruhe. Insgeheim fragte sie sich, wie es ihr gelingen könnte, wenigsten einen Hauch eines Skandals über die Familie zu bringen. Gegen die Langeweile, die erstickend über allem lag, und das Gefühl, immer die falsche Person am falschen Platz zu sein. Und wenn es nur ein kleiner Schabernack wäre.

Kapitel 2

Die Limousine glitt über die Park Avenue und stoppte vor dem Hotel Waldorf Astoria, der Nummer 301. Obwohl der Weg nicht weit gewesen war, käme es nie infrage, ihn zu Fuß zurückzulegen. Nikis Augen wanderten an der Fassade empor, die sich schier unendlich in den wolkenverhangenen Himmel hob. »Wie hoch ist das? Weiß das jemand genau?«

»42 Stockwerke.« André de Saint Phalle half Frau und Tochter aus dem Taxi und spannte seinen Regenschirm über ihnen auf. Dennoch wäre Niki fast in die nächste Pfütze getreten.

»Es ist das größte Hotel der Welt«, warf Jacqueline ein.

»Es hat sogar einen eigenen Bahnsteig in der Grand Central Station, den bedeutende Gäste über einen unterirdischen Zugang erreichen können«, ergänzte André.

Niki weigerte sich, beeindruckt zu sein. Sie trat flankiert von ihren Eltern ins Foyer, wo sich diese sofort in ein Gespräch mit Bekannten verwickeln ließen, drängte sich durch die Menge und entdeckte im nächsten Raum das Büfett mit seinen Aufbauten aus Schinken, Salaten und frischen Früchten. Das sah alles so gut aus. Ihr knurrte schon wieder der Magen. Sie griff nach einem rosa glasierten Petit Four und steckte es in den Mund.

»Wie kann jemand, der so dünn ist, nur immer so hungrig sein?«

Niki kam das ausgelassene Lachen in ihrem Rücken bekannt vor. Sie fuhr herum. »Jackie! Wahrhaftig, du bist es!« Die Mädchen packten sich an den Schultern und sprangen jauchzend auf und ab. »Sag, wie lange haben wir uns nicht gesehen?«

Jackie Matisse, die Enkeltochter des Malers Henri Matisse, war Nikis Schulkameradin in Brearley gewesen. Sie hatte ein schmales Gesicht und rötlich glänzende, glatte Haare. Sie winkte ihre Freundinnen herbei, die allesamt Ballkleider aus Tüll trugen. Niki nutzte den Moment, um sich ein weiteres Petit Four in den Mund zu stopfen.

Jackie zog sie vor sich, als sie noch mit beiden Backen kaute. »Molly, Beatrix. Das ist Niki de Saint Phalle, meine Komplizin bei allen möglichen Schandtaten. Sie hat es geschafft, von Brearley zu fliegen.«

»Nein, wirklich?«, fragte Molly.

»Doch«, antwortete Niki mit vollem Mund. Es war ein Glanzstück sondergleichen gewesen, denn die Schule galt gemeinhin als progressiv und frauenfreundlich.

»Dir geht ein Ruf voraus, Darling«, flüsterte Jackie.

Die Mädchen musterten Niki mit Respekt. Sie hakten sich unter und gingen zu viert in Richtung des Grand Ball Rooms, aus dem Musik erklang.

»Wie eine Schar bunte, bauschige Flamingos«, kommentierte Niki. »Ich weiß nur nicht, was ich hier soll.«

»Ich schon«, sagte Molly. »Du setzt Maßstäbe, Mädchen. Hier wird heute hart gefeilscht auf dem New Yorker Heiratsmarkt. Für was haben uns unsere Eltern sonst durchgefüttert?«

»Eine große Fleischbeschau für die beste Partie«, stimmte ihr Jackie zu.

Niki kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Die Frage ist nur, wie wir trotzdem ein bisschen Spaß haben können.«

»Alkohol«, sagte Jackie düster. »Entweder wir verloben uns gleich oder wir ersäufen unsere Empörung in Gin.«

»Wir sind minderjährig, vergiss das nicht. Hier gibt es für uns keinen einzigen Tropfen«, merkte Beatrix an.

Seite an Seite betraten sie den Ball Room, wo sich die Absolventen mehrerer New Yorker Schulen mit ihren Eltern versammelt hatten.

»Sind das wirklich so viele?«, fragte Niki. Den Mädchen in ihren bunten Ballkleidern stand eine passende Anzahl junger Männer gegenüber. Niki entwickelte leichte Panik, während sie nach ihrem Tanzpartner Ausschau hielt.

»Wen hast du?«, fragte Jackie.

»Keine Ahnung. Maman wollte mir jemanden aus ihrem Bekanntenkreis besorgen.« Niki hob sich auf die Zehenspitzen und hielt Ausschau. Wenn Jacqueline es vergessen hatte, würde sie als Erstes vor Peinlichkeit im Boden versinken und als Zweites Maman erwürgen. Sie atmete erleichtert auf, als ein Junge auf sie zukam, der sich seine dunkelbraune Tolle aus der Stirn strich. »Miss Niki de Saint Phalle?«

Auf ihr Nicken verbeugte er sich vor ihr und hauchte einen Kuss auf ihren Handschuh. »Jeffrey Hennessy«, sagte er. »Sie können mich Jeff nennen.« Die irische Herkunft stand ihm ins Gesicht geschrieben. Neureich, dachte Niki hochnäsig.

»Whisky«, fuhr er fort.

»Aber hier gibt es keinen …« Niki verharrte eine Sekunde, bis sie begriff, dass er vom Beruf seines Vaters sprach. »Investmentbanking.«

»Ich weiß«, antwortete er. »Unsere Väter gehen zusammen golfen. Meiner ist an der Leitung einer irischen Destille beteiligt.«

Er reichte ihr seine Hand. »Kommen Sie? Wir sollten uns zum Gruppenfoto aufstellen.«

Jeff führte sie in Richtung eines Podests am Saalende, um das sich gerade Trauben von jungen Leuten scharten. Der Fotograf, ein blonder Mann im Smoking, hatte die undankbare Aufgabe, fünfzig blasierte Teenager der besseren Gesellschaft abzulichten. Geschickt dirigierte er sie auf ihre Plätze. »Ihr zwei da, hoch mit euch!«

Niki kletterte an Jeffreys ausgestreckter Hand auf das Podest. Sie fühlte sich fehl am Platz, schließlich hatte sie im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden ihren Schulabschluss weitab von den Ansprüchen der New Yorker High Society gemacht. Lächle, Niki! Die Zähne dazu hast du ja zum Glück.

»So, Moment, Ruhe miteinander … Nicht so griesgrämig! Alle grinsen bitte so professionell wie die kleine Miss in Reihe eins.« Der Fotograf nickte ihr anerkennend zu und verschwand hinter seiner Kamera. »Und jetzt sagen alle miteinander: Spaghetti!«

Das Blitzlicht flammte auf und blendete sie. Niki lächelte unverdrossen weiter, bis sich ihr Gesicht wie eingefroren anfühlte. Der Fotograf machte eine Reihe an Aufnahmen und entließ sie schließlich mit einem Wink seiner Hand.

Jeffrey zog Niki mit sich fort zur nächsten Versammlung. »Auch das noch!«, brummte er. Die Reden waren der nächste langweilige Programmpunkt, den sie hinter sich bringen mussten. Eine Reihe von Schulrektoren wünschte ihnen das Beste für ihren weiteren Lebensweg, sprach von den Möglichkeiten, die sich für sie alle nach dem Ende des Krieges eröffneten, und der Bedeutung der USA in der Welt, zu der sie betragen durften. Niki gähnte.

»Hast du schon Pläne für deine Zukunft?«, fragte Jeff.

»Irgendetwas mit Kunst.«

»Ich gehe aufs College und steige danach in die Firma meines Vaters ein«, sagte er.

»Whisky«, kommentierte sie.

»Du hast es erfasst.« Jeff fehlte der Sinn für ihre subtile Ironie vollkommen. »Aber Kunst ist toll. Frauen dürfen gern in ihrer Freizeit Aquarelle malen, wenn sie sich sonst um den Haushalt und die Kinder kümmern. Das steigert das Ansehen ihres Ehemanns. Ich finde es gar nicht schlimm, wenn sie keinen Beruf haben.«

»Ich schon«, erwiderte Niki so leise, dass er sie wahrscheinlich nicht hören konnte.

Nach dem offiziellen Teil formierten sie sich zur Polonaise, dann zum Wiener Walzer, der tänzerischen Reifeprüfung, die sie locker bestand, Jeffrey aber nur mit einigen Fehltritten auf ihre Füße. Danach folgte ein Potpourri lateinamerikanischer Tänze, das ihn komplett überforderte. Zwischendurch erhaschte sie einen Blick auf ihre Eltern, die am Rande standen und sie beobachteten, ihre Mutter ein blauer Lichtreflex in der Menge, ihr Vater ein schwarzer Fleck im Frack.

Nachdem sie sich müde getanzt und das Büfett leer geräumt hatten, setzten sie sich in die Bar ab, wo sie Jackie und ihre Freundinnen mit ihren Tanzpartnern trafen. Der kleine Raum war rappelvoll und so verraucht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Aus der Musicbox drang der Big Band Sound von Glenn Miller.

»Endlich bin ich am richtigen Platz.« Niki klatschte vergnügt in die Hände. Sie drängten sich auf die überfüllte Tanzfläche und hatten Spaß. Sogar Jeff wurde lockerer und verrenkte sich unterhaltsam.

Sie hatte sich schon fast müde getanzt, als sie den Blick eines Fremden auf sich ruhen spürte. Erstaunt hob sie den Kopf und begegnete den Augen des jungen Fotografen, der an der Bar stand, ihr zuprostete und sie mit einem affektierten Schwenk seiner Hand heranwinkte. Ein bisschen Schande, dachte sie plötzlich, nur eine Spur, die ihr das Gefühl gab, ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

»Entschuldigt mich!« Sie schob sich durch die Menge zur Theke und kam sich furchtbar verrucht vor.

»Da bin ich.«

Der Fotograf sah aus der Nähe nicht mehr ganz so jung aus. Er war mindestens dreißig, trug einen dünnen Oberlippenbart und blonde Koteletten.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich traust, Süße. Normalerweise fliegen eher die Kerle auf mich, wenn ich nach ihnen winke. Aber mit dir hab ich es trotzdem versucht.«

Niki errötete, obwohl sie keine genauen Vorstellungen davon hatte, was er meinte. »Sie könnten mir zum Trost einen Gin ausgeben.« Zu Hilfe, sie flirtete ja mit dem Mann mit den sonderbaren Vorlieben!

Seine Augenbrauen hoben sich. »Wie alt bist du, Schätzchen? Siebzehn? Du weißt schon, dass du nicht trinken darfst?«

Niki klimperte mit den Wimpern. »Wenn Sie für mich bestellen?«

»Also gut.« Er orderte den Drink, den sie auf ex hinunterkippte. Das klare Gesöff brannte ihr im Hals, landete warm in ihrem Magen und sorgte für einen angenehmen Schwindel.

»Nun denn, jetzt müssen Sie mir auch sagen, weshalb Sie mit mir sprechen wollen.«

Er grinste. »Ich habe euch eben abgelichtet, den ganzen pubertären Haufen hoffnungsvoller Großbürger. Nur eine Einzige hatte die Disziplin, sich halbwegs professionell zu verhalten. Und das warst du.«

Niki lachte ungläubig und leckte den letzten Tropfen aus ihrem Glas. »Sie meinen mein verkrampftes Lächeln? Mir tun jetzt noch die Mundwinkel weh.«

»Oh nein. Dein Lächeln war bezaubernd. Es würde sich gut auf Modefotos machen.«

In diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Jeffrey Hennessy löste sich aus der Menge der Tanzenden, um nach ihr zu suchen, und ihr Vater trat durch die Tür der Bar und sah sich um.

»Das Rettungskommando für die unschuldige Schöne?« Der Fotograf reichte ihr einen Kaugummi, das beste Mittel gegen eine drohende Fahne. Niki steckte sich den minzigen Streifen in den Mund.

»Vielleicht entscheidest du dich ja, mich mal zu besuchen. Dann versuchen wir es und machen ein paar Probeaufnahmen. Ich vermittle nämlich Fotomodelle an verschiedene Auftraggeber.« Der Fotograf steckte ihr seine Karte zu. »Und keine Angst, ich werde deine Tugend nicht gefährden. Meine Präferenzen liegen anderswo.« Er verschwand in der Menge. Niki sah ihm verdutzt hinterher und drehte die Karte in ihren Händen.

Jeffrey und André de Saint Phalle erreichten sie gleichzeitig. Als ihr junger Verehrer nach ihrem Arm greifen wollte, wich sie einen Schritt zurück.

»Der junge Mr Hennessy, wenn ich mich nicht täusche.« Ihr Vater schüttelte ihrem Tanzpartner die Hand, bevor er sich Niki zuwandte. »Das Taxi wartet. Wir wollen aufbrechen, Liebes.«

Auf der Stelle verwandelte sie sich in die gehorsame Tochter zurück. »Ich komme, Papa!«

Sie verabschiedete sich höflich von Jeff, der vergeblich versuchte, ein weiteres Date mit ihr zu vereinbaren. Erst im Taxi warf Niki einen Blick auf die Visitenkarte des Fotografen. David Montgomery, Modefotograf, Modellagentur, stand darauf, und eine Adresse in Greenwich Village. Sie versteckte sie in ihrer Clutch.

Kapitel 3

Die Nacht neigte sich schon gen Morgen, als Niki sich auf ihr breites Pfostenbett fallen ließ. Es wippte sanft nach, und die goldene Kunstseide ihrer Tagesdecke legte sich glatt und kühl an ihre nackten Schultern. Wenn nur die Blase an ihrem rechten Fuß nicht so brennen würde. Aufgeplatzt, igitt.

Sie streifte ihre Pumps von den Füßen, humpelte zur Tür und schloss sich ein. Lange hatte sie um den Schlüssel gekämpft, den ihre Eltern partout nicht rausrücken wollten. Ein katholisches Mädchen aus bester Familie hatte nichts zu verbergen. Es hatte zu dulden, dass ihr Vater sich plaudernd an ihren Bettrand setzte, und ihre Mutter spätabends ins Zimmer platzte, um Wäsche in den Schrank zu legen und subtile Kontrolle auszuüben. Sogar ihr Schlaf wurde überwacht. Lag Niki im Bett? Hatte sie ihre Hände tadellos auf der Bettdecke gefaltet wie ihre Vorfahrinnen aus den letzten dreizehn Generationen De Saint Phalle? Das war nun vorbei. Niki musste keine unerwünschten Besuche mehr erdulden. Ihr Zimmer war ihr Rückzugsort, an dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte.

Oder auch nicht. Zumindest was das Abschminken anging, siegte die eiserne Disziplin, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte.

Sie ließ ihr Abendkleid zu Boden gleiten, schlüpfte in ihren karierten Pyjama und setzte sich vor den Frisiertisch voller Tiegel und Flacons. Aus dem Spiegel blickte ihr ein Pandabär mit schwarzen Augenringen und zerzausten Locken entgegen, der sie zum Kichern brachte, bevor sie der Kriegsbemalung mit feuchten Tüchern und Babyöl zu Leibe rückte.

Danach legte sie sich ins Bett und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Sterne wären schön, dachte sie und starrte an die leere Decke, über die hin und wieder die Reflexion eines Autoscheinwerfers glitt. Die pulsierenden Lichter der Stadt und das Rauschen des Verkehrs auf der regennassen Park Avenue begleiteten sie in einen unruhigen Schlaf.

Im Traum trat sie aus dem Gartenzimmer von Schloss Huez auf die taunasse Wiese hinaus. Die Statuen auf der Terrasse leuchteten in der Morgensonne, und die Vögel sangen. Es war ein schöner Tag im Juli. Sie war frei. Niki überlegte, was sie heute alles anstellen konnte. Im See schwimmen, Boot fahren, mit ihrem um zwei Jahre älteren Bruder John spielen, der sie immer ärgerte und letztens ins Wasser geworfen hatte? Der Tag lag wie eine goldene Fläche vor ihr, in die allein sie die Muster ritzen konnte. Da nahm sie im Augenwinkel Schwaden von Rauch wahr und fuhr herum. Flammen schlugen aus den Fenstern des Schlosses. In der Tür stand Großmutter Catherine in ihrem weißen Nachthemd mit brennenden Haaren und Ruß im Gesicht. Niki schrie auf und wollte sie ins Freie ziehen, doch ihre Großmutter machte sich von ihr los, trat lächelnd ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich. Schloss Huez explodierte in einem gleißenden Feuerball.

Niki erwachte schweißgebadet und mit wild klopfendem Herzen. Dieser Traum! Warum quälte er sie immer wieder? Der Krieg, in dem Catherine bei einem Feuer in ihrem von der deutschen Wehrmacht besetzten Schloss ums Leben gekommen war, war vorüber. Catherine, die Nikis Vater auch auf seinen dringenden Wunsch hin nicht in die USA begleiten wollte.

Niki wurde das Gefühl nicht los, dass man ihr an ihrem Tod, wie auch an allen anderen Schicksalsschlägen der Familie, die Schuld gab. Sie war das Depressionsbaby. Ihre Mutter hatte sie selbst so genannt.

Nikis Vater war zwar als Sohn eines der ältesten Adelsgeschlechter Frankreichs geboren, aber Großvater Pierre de Saint Phalle hatte die Weitsicht besessen, seine sieben Söhne selbst zu unterrichten und sechs von ihnen nach New York zu schicken, wo sie als Bankiers in der familieneigenen Bank Karriere machen sollten. Doch dann waren sie durch den großen Börsencrash im Jahr 1929 pleitegegangen, und André hatte sein gesamtes Vermögen verloren. Als Niki kurz darauf geboren wurde, brodelte das Unheil unter der heilen Oberfläche ihrer Familie. Wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch erschien es unwiederbringlich, dass sie irgendwann unter glühend heißer Lava begraben werden würden.

Hinzu kam nämlich auch, dass Jacqueline während der Schwangerschaft mit Niki, die eigentlich den Taufnamen Catherine Marie-Agnès trug, von der Untreue ihres Mannes erfahren und ein Meer von Tränen geweint hatte. Schließlich machten auch die Umstände ihrer Geburt es nicht einfacher. Die Nabelschnur hatte sich zweimal um ihren Hals gewickelt. Hätte der Arzt sie nicht mit einem geschickten Griff geschützt, wäre sie erstickt.

Um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen, hatten ihre Eltern Niki und ihren Bruder John in Schloss Huez bei den Großeltern De Saint Phalle untergebracht. Erst Jahre später waren sie in die USA zurückgekehrt, wo sich ihr Vater inzwischen als Börsenmakler etabliert hatte und die Familie nach New York in die East Street und später in die Park Avenue Nummer 1088 zog.

Die Großstadt gefiel Niki. Das Rollschuhlaufen im Central Park, die weichen Milky Ways und Tootsie-Bonbons, die Cora ihr zusteckte, die Wonder-Woman-Comics, der Kinobesuch, den ihre Eltern den Kindern einmal pro Woche erlaubten; all das fand sie toll. Niki liebte Stan Laurel, Oliver Hardy, Groucho Marx und die geheimnisvolle Bette Davis mit den verführerisch umschatteten Augen. Im Hause De Saint Phalle aber herrschte Jacqueline mit hartem Regiment über ihre wachsende Kinderschar.

Bis zum Ausbruch des Krieges waren sie alljährlich mit dem Ozeanriesen über den Atlantik gefahren und hatten faule Sommertage abwechselnd auf Schloss Huez und Schloss Fillerval bei Paris verbracht, wo die Großeltern mütterlicherseits lebten. Wer erfolgreicher war, der bürgerliche Bankier Harper aus Georgia oder der Landadlige Pierre de Saint Phalle aus dem Nièvre, ließ sich am Zustand ihrer Schlösser ablesen. Das Anwesen der Familie Harper war weitaus luxuriöser als die Bruchbude der De Saint Phalles. Um Spielgefährten brauchte sich Niki allerdings nirgendwo zu sorgen. Da ihre Onkels und Tanten als gute Katholiken scharenweise Kinder in die Welt setzten, hatte sie Cousins und Cousinen in Hülle und Fülle.

Die leuchtenden Sommertage endeten mit dem Schulbeginn in New York im Konvent Sacred Heart, wo Niki die Nonnen regelmäßig zur Weißglut brachte. Die Frauen mit den weißen Flügelhauben konnten sich an verwöhnte kleine Comtessen aus Frankreich nicht gewöhnen. Weil Niki sich ihre roten Fleißbändchen selbst kaufte und beim Schönschreiben herumkritzelte, musste sie die Schule schließlich verlassen.

Mit dem Ausbruch des Krieges hörten ihre Besuche in Frankreich schlagartig auf. Ängstlich lauschte Niki bei Tisch den Zahlen der Gefallenen und den Berichten über gewonnene und verlorene Schlachten. Ihre Furcht vor Hitler und dem Naziregime ging so tief, dass John und sie sich in ihren Spielen in Bomberpiloten der Royal Air Force verwandelten und vom 10. Stock aus wassergefüllte Kartons auf den Gehweg warfen. Wenn die Passanten fluchend zur Seite sprangen, kauerten sie sich unter das Fensterbrett und konnten sich vor Lachen nicht halten.

Dann aber streckte das Grauen seine Klauenhände über den Großen Teich. Die Deutschen hatten sich in Schloss Huez verbarrikadiert und Großmutter Catherine aus ihren Räumen in ein Dienstbotenzimmer verbannt. Ohne dass eines ihrer acht Kinder ihr zur Seite stand, starb sie an den Verbrennungen, die sie sich zugezogen hatte, als ihr Morgenmantel am Ofen Feuer fing.

Frankreich und mit ihm Nikis Kindheit verglühten zu Aschefetzen, die der Wind davontrug.

Erneut faltete sie ihre Arme unter dem Kopf und blickte an die Decke ohne Sterne. Warum machte sie sich solche Sorgen? Der Krieg war vorüber. Die Deutschen waren besiegt, Hitler hatte sich in den Kopf geschossen, und sogar im kriegsgebeutelten Frankreich herrschte Frieden. Letztes Jahr war sie mit ihrer Mutter nach Paris geflogen, vierundzwanzig Stunden über dem Meer in einer rumpelnden Maschine, was allein schon aufregend genug gewesen war. Sie hatte die Stadt der Katzen und der Liebe kennengelernt, die nach der deutschen Besatzung langsam aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte. Über die Champs-Élysées rollten kaum Autos, und die Frauen malten sich die Nähte ihrer nicht vorhandenen Seidenstrümpfe auf die nackten Waden. Niki schockierte ihre Cousinen, die Halbschuhe mit Socken trugen, mit ihrem schicken Blazer und ihren schmalen, hohen Absätzen und übte das Küssen mit ihrem Cousin Jacques.

Zu viele Erinnerungen strömten auf sie ein. Sie konnte nicht wieder einschlafen und lauschte ihrem schnellen Herzschlag, der laut der Meinung der Ärzte auf eine Überfunktion der Schilddrüse zurückzuführen war. Niki litt auch unter Asthma und war als Kind oft krank gewesen. Wenn es hart auf hart kam, hatte sie ihre Gedanken und Träume in ihre Magic Box gepackt, die als imaginäre Schatzkiste unter dem Bett stand und ihr Zuflucht bot.

Während draußen der Tag erwachte, fragte sie sich, wohin der Weg sie führen würde. John würde studieren und Erfolge nach Hause bringen. Von Niki erwarteten Maman und Papa nach dem bestandenen Schulabschluss nur, dass sie standesgemäß heiratete. Sie erschrak, als ihr der junge Ire einfiel, der ihr auf dem Ball so unmissverständlich den Hof gemacht hatte. Katholisch und gut situiert, wäre er ein durchaus passabler Bewerber. Dass seine Familie ihr Geld mit Hochprozentigem verdiente, war in diesen Zeiten zu verschmerzen. Nicht mit mir, dachte sie. Sie würde sich nicht in einen goldenen Käfig sperren lassen wie ihre Mutter.

Stattdessen würde sie weiter Theaterstücke schreiben. Ultramodern und so verrucht, dass ihre Eltern vor Scham vom Stuhl fallen würden, wie bei Nikis erstem Versuch. Mit elf Jahren hatte sie ein Stück geschrieben, in dem ein Gastwirt seine Frau ermordete und als Fleischeinlage im Eintopf servierte. Stolz hatte Niki die Nachbarskinder und ihre Eltern zu ihrer Aufführung eingeladen, bei der sie selbst den kannibalischen Mörder spielte. Ihr Vater hatte sich kaputtgelacht, aber ihre Mutter hatte behauptet, eine kleine Teufelin an ihrem Busen genährt zu haben. Für Niki genügend Ansporn, um weiterzumachen.

Ich werde Regisseurin und Dramaturgin, vielleicht auch Malerin oder Bildhauerin. Auf jeden Fall würde sie ihre Liebe, ihre Angst und ihren Schmerz artikulieren und die Welt verändern. Die Macht, die sich Niki erträumte, wurde Männern in die Wiege gelegt. Frauen mussten sie sich erkämpfen. Aber sie war kampfbereit.

Nikis Clutch lag auf dem Nachttisch. Sie rollte sich aus dem Bett und kramte fieberhaft nach der Visitenkarte des Fotografen. David Montgomery liebte Männer und hatte sich nicht geweigert, ihr ein Glas Gin auszugeben, obwohl sie erst siebzehn war. Niki war sich unglaublich erwachsen vorgekommen. Was, wenn sie sich als Model versuchte und ihr eigenes Geld verdiente? Damit wäre der erste Schritt in die Unabhängigkeit getan.

Kapitel 4

Frühsommer 1943

Es war nach Schulschluss. Die dreizehnjährige Niki lungerte mit ihrer Freundin Jackie Matisse im Hof der Brearley School herum. Sie trugen die Schuluniform, einen dunkelblauen Faltenrock mit einer hellblauen Bluse. Hinter ihnen ragte die hohe Ziegelwand des Schulgebäudes empor und strahlte Hitze ab. Über den East River glitten träge Schleppkähne.

Vordergründig nutzten sie die Situation, um zu rauchen. In Wirklichkeit aber schmiedeten sie finstere Pläne. Jackie sah sich um, als könne jederzeit ein Lehrer hinter einer Mauer hervorspringen wie der sprichwörtliche Teufel aus der Kiste.

»Und du willst das wirklich durchziehen?« In ihrer Stimme lag eine Mischung aus Bewunderung und Abscheu.

»Aber sicher.« Niki war froh, in Brearley ihre Freundin Jackie wiedergetroffen zu haben. Niki hatte das vorwitzige Mädchen vor dem Krieg auf dem Ozeandampfer nach Europa kennengelernt.

Sie pustete Jackie blauen Rauch ins Gesicht. »Hier ist niemand außer uns. Es droht keine Gefahr.« Es hatte lange gedauert, bis sie nach einem Zug nicht mehr husten musste. Sie drückte ihre Zigarette in einem Blumenkübel aus und kam sich sehr erwachsen vor. »Ich mache mich unsterblich damit.« Das hier würde ihr Meisterstück als Bühnenbildnerin werden.

»Und ich?« Jackie strich sich nervös die roten Haare hinter die Ohren.

»Du musst nur Schmiere stehen. Ist die Luft rein?«

Jackie sah sich nach allen Seiten um. »Niemand da.«

»Gut so.« Niki kniete sich neben ihren Farbkübel, zog den Deckel ab und rührte die leuchtend rote Farbe um, bis sie genau die Konsistenz hatte, die sie brauchte, dickflüssig wie Blut. Sie roch nach Lösungsmittel und Freiheit. Genüsslich tauchte Niki ihren Pinsel ein und strich ihn am Rand des weißen Kanisters ab.

Jackie beobachtete sie ungläubig. »Wie kannst du dich nur trauen?« So frech sie auch tat, ihre Streiche gingen über einen klingelnden Wecker im Unterricht und eine tote Maus in der Tasche der Rektorin nicht hinaus. Nikis Untaten schon.

»Warum nicht?« Heute würden die Statuen der griechischen Göttergestalten im Hof dran glauben müssen. »Apollo wird mit einem roten Feigenblatt vor dem …« Sie konnte nicht mehr aufhören zu kichern.

»Schwanz?«, vollendete Jackie errötend.

»Genau! Er wird viel besser aussehen.« Niki nahm ihren Kübel und ging auf die marmornen Götterbilder zu, die in Pose auf ihren Sockeln standen. Kontrapost und so, alle in ebenso herausfordernder wie langweiliger Nacktheit. Ihnen fehlte es eindeutig an Farbe. Und das Beste war, dass sie sich nicht wehren konnten, weil sie aus Stein bestanden. »Du versteckst dich am besten hinter einer Mauer, Jackie.«

»Aber was, wenn sie dich rauswerfen?«

Niki biss sich nervös auf die Lippe. »Das werden sie schon nicht. Sie wollen doch, dass wir progressiv sind.«

»Und wenn doch …?«

»Na wenn schon.« Langsam bekam Niki Angst vor ihrer eigenen Courage. Aber zugeben würde sie das nicht. Sie wollte ihrer Freundin zwar imponieren, die sich hinter einem Vorsprung neben dem Eingang versteckt hatte und wahrscheinlich zitterte wie Espenlaub. Doch ihr wurde klar, dass sie sie nicht noch tiefer in ihre Schandtaten hineinziehen durfte.

»Aber wir lieben Brearley«, rief Jackie mit ihrer glockenhellen Stimme über den Hof.

»Das tun wir.«

Nach ihrem Rauswurf aus der Klosterschule Sacred Heart hatten ihre Eltern Niki auf der renommierten Privatschule für Mädchen angemeldet. In Brearley legte man Wert auf die Erziehung von Frauen und machte ihnen Mut, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. »We believe in girls’ intellect« lautete das Motto der Schule. Niki schätzte sehr, dass man hier nicht ständig beten und seine Sünden bereuen musste.

In Brearley ging man auf ihre Begabung für die Kunst und das Theater ein. Sie schrieb ein Stück über die Hexen von Endor und spielte in »Agamemnon« von Euripides die Königin Klytämnestra. Dennoch provozierte sie, wo immer sie konnte. Sie lachte zu laut, um ihre Schüchternheit zu verbergen, zappelte herum und hatte allerhand Ticks, mit denen sie die Lehrer in den Wahnsinn trieb. Es kam vor, dass die Schulleitung ihre Eltern zweimal in der Woche einbestellte, weil sie es nicht lassen konnte, im Unterricht Unsinn zu treiben. Niki wusste selbst nicht, warum sie sich nicht benehmen konnte.

Und dennoch würde sie heute die Feigenblätter bemalen, weil sie sonst so langweilig waren. Zuerst kam Apollo an die Reihe. »Guten Abend, schöner Mann.« Niki kleckste Farbe auf die entsprechende Stelle. Danach war Merkur dran, an dessen Fersen Flügel klebten. Zuletzt widmete sie sich Dionysos und Mars. Die Farbe, leuchtend und lebendig, tropfte auf den Boden. Niki war so in ihre Arbeit versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sich jemand lautlos von hinten näherte.

»Hab ich dich!« Es war die Schulleiterin Miss Prescott selbst, die Niki an den Ohren auf die Beine zog.

»Aua!«

Niki, die groß und dünn für ihr Alter war, kämpfte verbissen. Sie schlug um sich, strampelte wie eine Katze und trat, so dass Miss Prescott Mühe hatte, sie festzuhalten. Schließlich standen sie sich atemlos und zerzaust gegenüber, Niki und die Schulleiterin mit ihrem nicht mehr ganz so tadellosen blonden Knoten, den blauen Augen, der Perlenkette und dem Twinset aus hellgrüner Merinowolle. Niki mochte sie; ja, Jackie und sie schwärmten sogar ein bisschen für sie.

»Warum hast du das getan, Niki?« Miss Prescott machte eine große Geste, die die ganze Bescherung umfasste.

Niki errötete, als sie sah, dass nicht nur die Feigenblätter vor den edelsten Teilen der Statuen in einem leuchtenden Himbeerrot erstrahlten. Die Farbe hatte auf den Götterbeinen hässliche Streifen hinterlassen und sogar den Fliesenboden beschmutzt. Das würde Ärger geben, gewaltigen Ärger. »Sieht doch eigentlich ganz prima aus.«

Sie sah sich verstohlen um. Von Jackie keine Spur.

Die Schulleiterin schüttelte den Kopf. »Bei der Beschädigung fremden Eigentums hört der Spaß auf. Was soll ich nur mit dir machen, Niki?«

»Nichts.« Sie zog sich an den sicheren Ort in ihrem Innern zurück, der ihr Schutz bot, und schwieg.

Die Lehrerin schüttelte den Kopf und musterte sie. »Doch. Das wird Konsequenzen haben. Es tut mir sehr leid, denn du bist wirklich begabt. Aber du musst doch einsehen, dass ich ein solches Verhalten nicht dulden kann. Du hast keine Komplizin gehabt, oder?«

Niki schüttelte den Kopf.

»Warte hier!«

Niki rührte sich nicht vom Fleck, bis Miss Prescott Hut und Mantel geholt hatte, um sie nach Hause zu begleiten. Der Weg war nicht weit. Im Nu standen sie vor ihrem Wohnblock. Niki sah seufzend an der Fassade empor und versuchte zu verbergen, dass ihr das Herz in die Hose rutschte. Mr Walter, der Portier in seiner blauen Uniform, zog die Augenbrauen hoch, als er sie erkannte. Sie durchquerten das Foyer und stiegen in den Aufzug, der sich ratternd in Bewegung setzte. Um Miss Prescott nicht ins Gesicht sehen zu müssen, starrte Niki auf das Gehäuse aus Metall, das sie in den 10. Stock transportieren würde.

»Diese Zerstörungswut … Warum erfasst sie dich immer wieder?«, versuchte es die Schulleiterin von Neuem. Der Aufzug hielt klappernd an.

»Ich habe nichts zerstört.« Niki stieg aus und blieb sogar stur, als sie sah, dass ihre Mutter sie an der offenen Wohnungstür erwartete.

»Treten Sie ein, Miss Prescott. Und du, Niki, gehst sofort auf dein Zimmer!«

Niki tat, was sie verlangte. Stundenlang lag sie da, drückte ihren Plüschaffen an sich und dachte an ihre imaginäre magische Box, die unter dem Bett stand. In ihr sammelte sie alles, was sie aufheben wollte. Aus den Erinnerungen baute sie sich einen Schutzwall aus Glück, den Schmerz und Leid nicht durchdringen konnten.

Sachbeschädigung. Warum war ihr nicht klar gewesen, dass sie mit ihrer Aktion zu weit ging? Weil jede Grenze dazu da war, dass man sie durchbrach? Sie hatte etwas Bleibendes schaffen wollen, bunt und schön und schrecklich zugleich. Es geschieht mir recht, dachte Niki. Sie war an allem schuld.

Nach einer Weile merkte sie, dass sie nur noch mit Mühe atmen konnte. Oh nein, nicht auch noch das! Es war keine Einbildung und keine Metapher für den goldenen Käfig, in dem sie feststeckte. Es war der erste Asthmaanfall seit Langem. Sie spürte, wie sich ihr langsam Kehle und Brust zuschnürten, bis sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Niki setzte sich aufrecht, zog die Knie heran und versuchte zu atmen. Aber sie schaffte nur noch winzige Atemzüge, Japser, rang nach jedem bisschen Luft. Panik erwachte in ihr. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, um nach unten zu gehen und ihre Mutter um Hilfe zu bitten.

Eine Ewigkeit später klopfte es. Cora trat mit einem Tablett in der Hand ein, auf dem das Abendessen stand. Niki lag zusammengerollt auf der Seite.

»Miss Niki!« Die Köchin stellte das Tablett ab, stürzte zum Bett und zog Niki an sich.

»Alles wird gut.« Cora strich ihr das verschwitzte Haar aus dem Gesicht, trug sie zum Fenster und stieß es auf. Es hatte geregnet. Frische Luft drang in den Raum, die sich feucht und süß auf ihre Atemwege legte.

»Atme langsam. Einatmen, ausatmen.«

Niki versuchte es. »Ich will nicht sterben.« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

»Das wirst du nicht. Warum hast du nicht gerufen?«

»Ich konnte nicht«, flüsterte sie.

Cora setzte sie auf das Fensterbrett und verständigte Nikis Mutter, die den Arzt rief. Eine halbe Stunde später gab Dr. Johnson ihr eine Spritze. Als das Ephedrin durch ihre Adern rann, holte sie erleichtert Luft und schlief ein.

Auch ohne Stubenarrest hätte Niki in den nächsten Tagen nicht aus dem Haus gehen können. Sie schlief viel, aß alles, was Cora ihr brachte, las Comics und zeichnete Monster. Am späten Nachmittag des dritten Tages fühlte sie sich kräftig genug, um an der Teestunde im Esszimmer teilzunehmen, wo sie neben Jacqueline auch ihre Großtante Joy antraf.

Die Damen saßen am gedeckten Tisch, vor sich das chinesische Geschirr mit den zierlichen Tassen und Tellern. Es gab Tee mit Gurkensandwiches und Kaffee für Niki, dem eine heilsame Wirkung bei Asthma nachgesagt wurde. Sie aß nur wenig und hoffte, dass das Donnerwetter nach ihrer Krankheit zahmer ausfallen würde.

Nachdem das Dienstmädchen die leeren Platten und Tassen abgetragen hatte, brach es dennoch über sie herein. »Was soll ich nur mit dir machen?« Jacqueline hob verzweifelt die Hände. »Du weißt, dass Brearley als liberale Schule gilt. Es gibt so viele kreative Möglichkeiten dort, und die Rektorin fand dich zuerst so vielversprechend und begabt. Aber genau diese Liberalität ist der Grund, warum sie so deutliche Grenzen setzt. Die hast du mit deinem Streich gesprengt.«

Dagegen gab es nichts zu sagen. Niki sank auf ihrem Stuhl zusammen und schwieg. Warum waren sie nicht in der Lage, sie zu verstehen?

»Aber Jacqueline. Siehst du nicht, wie umwerfend komisch Nikis Streich ist?« Tante Joy zwinkerte Niki ermutigend zu. »Sie hat die Feigenblätter der griechischen Statuen rot bemalt. Das wird in die Annalen der Schule eingehen.«

»Ein fragwürdiges Glanzstück.« Jacqueline schüttelte den Kopf. »Die Komik hält sich in Grenzen, da wir für die Reinigung des Schulhofs und der Figuren aufkommen müssen.« Sie seufzte. »Ach, Niki. Warum kannst du nicht wie andere Mädchen sein? Warum musst du dich immer danebenbenehmen?«

»Werfen sie mich raus?« Niki bereute zutiefst, was sie getan hatte. Sie wollte Brearley nicht verlassen, wo sie zum ersten Mal Freundinnen gefunden hatte und man sie nicht gleich kritisierte, wenn sie im Kunstunterricht immer den gleichen Baum in die gleiche Ecke ihres Blattes malte.

Jacqueline hob den Blick. »Miss Prescott empfiehlt uns, einen Psychiater zu konsultieren.«

Angst erwachte in Niki. »Haltet ihr mich für verrückt?«

»Aber nicht doch, Mädchen.« Tante Joy blickte von Tochter zu Mutter. Ihre ondulierten grauen Locken saßen wie festgeklebt an ihrem Kopf. »So ein Unsinn.«

Jacqueline brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wir waren zu lax mit dir, Niki. Aber jetzt wollen wir dir helfen.«

Also stimmte es. Ich bin für sie ein Dämon, den sie austreiben müssen. Niki wollte nicht verrückt sein. »Und? Lasst ihr mich wegsperren? Das macht man doch mit Irren.«

»Davon kann keine Rede sein«, schnappte Tante Joy.

Jacqueline schüttelte den Kopf. »Nein. Papa möchte das nicht an die große Glocke hängen und die Idee mit dem Psychiater am liebsten vergessen.«

»Na klar«, sagte Niki höhnisch. Der gute Ruf der Familie stand auf dem Spiel. Verrückte brachten Schande, darum hielt man sie am besten unter Verschluss. »Und was stellt ihr euch stattdessen vor?«

Ihre Mutter holte tief Luft. »Am besten wäre es, wenn du für kurze Zeit verschwinden würdest, bis Gras über die Sache gewachsen ist. In Brearley ist für dich nach dem Vorfall jedenfalls kein Bleiben mehr. Wir werden dich auf einem Klosterinternat anmelden.«

»Aber das kannst du doch nicht machen, Jacqueline«, protestierte Tante Joy.

»Und ob ich kann.« Wenn Jacquelines Blicke hätten töten können, wäre es für ihre Tante in diesem Moment übel ausgegangen.

»Darf ich aufstehen?« Niki rutschte vom Stuhl.

Als Jacqueline nickte, verließ Niki den Raum so stolz und aufrecht sie konnte. Ihre Eltern wussten, wie sehr sie Sacred Heart gehasst hatte, und setzten sie ein weiteres Mal dem Schrecken einer kirchlichen Erziehung aus, noch dazu im Internat. Nicht mit ihr. Sie würde sich nicht beugen und die Nonnen das Fürchten lehren.

Nach den Sommerferien begann für Niki das Schuljahr im Kloster in Suffern, New York. Es kam, wie es kommen musste. Sie eckte an. Sie schaffte es zwar mühelos, mit ihren verrückten Ideen zur Königin ihres Dreibettzimmers aufzusteigen, doch im Unterricht erging es ihr weniger gut. Nach einigen Wochen warfen ihr die Nonnen eine lange Liste von Verfehlungen vor, darunter Todsünden, die ihr die ewige Verdammnis einbringen konnten, wenn sie sie nicht ordentlich abbüßte. Gelächter und Streiche, Anmaßung, Hochmut, Ungehorsam, Eitelkeit und Völlerei, weil sie gerne aß, obwohl man es ihr nicht ansah. Die Nonnen widmeten sich ihr mit Geduld und Strenge. Sie gehörte zu den Kindern, die als hoffnungsloser Fall und Prüfung Gottes für den Konvent galten. Die Strafen waren Extraküchendienst und Hiebe auf die Handflächen, um die bösen Geister auszutreiben.

Es war ein sonniger Novembertag, als Schwester Ermintrud Niki in die Kirche zerrte und auf die Kniebank vor dem Marienfenster drückte. »Drei Rosenkränze betest du für die unkeuschen Liebesbriefe, die du auf den Fensterbänken deponiert hast. Untersteh dich, vorher aufzuhören!«

Niki grinste. Die Liebesbriefe hatte sie selbst geschrieben. Es war fast zu leicht gewesen, die Schwester mit der Erwähnung des Wortes »Penis« gehörig auf die Palme zu bringen.

Aber drei Rosenkränze waren eindeutig zu viel. Schon ein einziger zog sich über eine Dreiviertelstunde hin. Das machte? Niki zählte die Dauer an ihren Fingern ab und erschrak. Es war so kalt in der Kirche, dass ihr der Atem weiß vor dem Gesicht stand. Bevor sie mit den verlangten hundertfünfzig Ave-Marias fertig sein würde, war sie entweder erfroren oder an einem Asthmaanfall erstickt.

»Am besten, du fängst sofort an.« Schwester Ermintruds Gesicht war gerötet, die Haube festgezurrt. Obwohl Niki die Schule seit mehreren Monaten besuchte, wusste sie nicht, welche Haarfarbe sich darunter verbarg.

»Bitte den Heiland um Vergebung für deine Sünden, Marie-Agnès. Tue Buße. Du hast es nötig. Und rühr dich nicht vom Fleck.« Nachdem sie ihr einen Rosenkranz in die Hand gedrückt hatte, flog Schwester Ermintrud davon wie ein großer, schwarzer Vogel.