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Auf einem entlegenen Bergbauernhof im norwegischen Gudbrandstal wächst Edvard mit seinem wortkargen Großvater Sverre auf. An seine Mutter hat er nur eine vage Erinnerung – an einen Duft, ein Gefühl von Wärme, einen blauen Rock. Lars Mytting erzählt die Geschichte einer verzweifelten Suche nach der Mutter, dem Vater, den eigenen Wurzeln – und einer Reise, die Edvard durch fremde Länder führt und dessen Familiengeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst: das Jahrhundert der großen Tragödien.
Edvards Eltern sind ums Leben gekommen, als er drei Jahre alt war. Um ihren Tod wird ein Geheimnis gemacht, und auch um den Ort, an dem sie starben. Zu diesem Geheimnis gehört auch das Schicksal Einars, des Bruders des Großvaters. Edvard weiß nur, dass er ein Meistertischler war und als junger Mann zur Ausbildung nach Paris ging. Dass er seine Werkstatt mitsamt dem Wald von Flammenbirken zurückließ. Dass für den Großvater ein Sarg geliefert wurde, lange vor dessen Tod – ein Stück Kunsttischlerei, wie es noch nie jemand gesehen hat –, und dass Einar womöglich gar nicht tot ist, wie es der Großvater behauptete …
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Seitenzahl: 618
Veröffentlichungsjahr: 2016
Auf einem entlegenen Bergbauernhof im norwegischen Gudbrandstal wächst Edvard mit seinem wortkargen Großvater Sverre auf. An seine Mutter hat er nur eine vage Erinnerung – an einen Duft, ein Gefühl von Wärme, einen blauen Rock. Denn die Eltern sind ums Leben gekommen, als Edvard drei Jahre alt war. Um ihren Tod wird ein Geheimnis gemacht, und auch um den Ort, an dem sie starben.
Zu diesem Geheimnis gehört auch das Schicksal Einars, des Bruders des Großvaters. Edvard weiß nur, dass er ein Meistertischler war und als junger Mann zur Ausbildung nach Paris ging. Dass er seine Werkstatt mitsamt dem Wald von Flammenbirken zurückließ. Dass für den Großvater ein Sarg geliefert wurde, lange vor dessen Tod – ein Stück Kunsttischlerei, wie es noch nie jemand gesehen hat –, und dass Einar womöglich gar nicht tot ist, wie es der Großvater behauptete.
Als dieser gestorben ist, macht Edvard sich auf die Suche nach dem Geheimnis seiner Familie. Es wird eine lange Reise, an deren Ende er mehr als ein Geheimnis kennt.
Die Geschichte einer verzweifelten Suche nach der Mutter, dem Vater, den eigenen Wurzeln – und einer Reise, die die Waise Edvard durch fremde Länder führt und deren Familiengeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst: das Jahrhundert der großen Tragödien.
Lars Mytting, geboren 1968, stammt aus Fåvang im Gudbrandsdalen in Norwegen. Zuletzt erschien der Bestseller Der Mann und das Holz. Vom Fällen, Hacken und Feuermachen, eine kleine Kulturgeschichte des Holzes. Die Birken wissen's noch ist sein dritter Roman.
Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.
Lars Mytting
Die Birken wissen's noch
Roman
Aus dem Norwegischen vonHinrich Schmidt-Henkel
Die norwegische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Svøm med den som drukner bei Gyldendal, Oslo. © Lars Mytting 2014. Published by agreement with agentur literatur Gudrun Hebel, Germany.
Der Verlag dankt NORLA – Norwegian Literature Abroad für die Förderung der Übersetzung.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© Insel Verlag Berlin 2016
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH
Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagabbildung: The Story Tree, Tammy Liu-Haller, Greenville, New York
Then take me disappearin' through the smoke rings of my mind
Down the foggy ruins of time, far past the frozen leaves
The haunted, frightened trees, out to the windy beach
Far from the twisted reach of crazy sorrow
Bob Dylan, Mr. Tambourine Man
Für mich war Mutter ein Duft. Mutter war Wärme. Sie war ein Bein, an das ich mich klammerte. Der Atem von etwas Blauem; ein Rock, den sie manchmal trug, so meinte ich mich zu erinnern. Mir selbst sagte ich, dass sie mich wohl mit einer Bogensehne ins Leben geschossen hatte, und wenn ich die Erinnerungen an sie in mir suchte, wusste ich nicht, ob sie zutrafen, ich erschuf meine Mutter eben so, wie ich dachte, dass ein Sohn sich an seine Mutter erinnern sollte.
An Mutter dachte ich, wenn ich die Sehnsucht in mir auskostete. Selten an Vater. Manchmal fragte ich mich, ob er wäre wie andere Väter aus dem Dorf. Männer, die ich in Reservistenuniform sah oder mit Fußballschuhen beim Alte-Herren-Training, Männer, die am Wochenende für die Freiwilligeneinsätze im Jäger- und Anglerverein Saksum früh auf den Beinen waren. Aber ich ließ ihn ohne Reue verblassen und nahm das, jedenfalls viele Jahre lang, als Beweis dafür, dass Großvater versuchte, alles zu tun, was Vater getan hätte, und dass es ihm wirklich gelang.
Großvaters Messer war ein abgebrochenes Russen-Bajonett. Der Schaft aus Flammbirke war die einzige feine Schreinerarbeit, die er je angefertigt hatte. Die obere Schneide war stumpf, mit ihr schabte er Rost ab oder bog Stahldraht. Die andere schliff er immer so, dass er mit ihr Pflaster abschneiden oder Zehnzentnersäcke mit Kalk aufschlitzen konnte. Mit einem Hieb, so dass die weißen Körner herausrieselten, ohne dass etwas danebenging, und ich den Kalk mit dem Traktor auf den Acker fahren konnte.
Die scharfe und die stumme Schneide liefen zu einer dolchartigen Spitze zusammen, mit der er die kiloschweren Forellen tötete, die wir im Saksumsee fingen. Er machte sie vom Haken los, kräftige Fische, die heftig zappelten, wütend darüber, dass sie an der Luft ertranken. Dann legte er sie auf das Dollbord, stach die Spitze des Messers hinter dem Schädel ein und prahlte, wie breit ihr Rücken sei. Ich hob dann immer die Ruder und beobachtete, wie das Blut dick und langsam über die Klinge tropfte, während das Wasser rasch und dünn von den Rudern rann.
Doch dann mischten die Tropfen sich in demselben Bergsee. Die Forellen bluteten aus und wurden unser Fisch aus unserem See.
Am ersten Schultag entdeckte ich meinen Namen auf einem Pult und setzte mich dorthin. Das Blatt Papier war in der Mitte gefaltet und stand von selbst, in einer fremden Filzstiftschrift stand er auf beiden Seiten darauf, als müsste auch ich selbst, nicht nur der Lehrer, daran erinnert werden, wer ich war.
Ich drehte mich die ganze Zeit nach Großvater um, obwohl ich wusste, dass er da stand. Die anderen Kinder kannten einander schon, und so starrte ich auf die Europakarte und die breite Wandtafel, die leer war und grün wie ein Weltmeer. Ich spitzte noch einmal über die Schulter und bemerkte, dass Großvater doppelt so alt war wie die anderen Eltern. Er stand da, unverrückbar in seinem groben Islandpullover, und war alt auf dieselbe Weise wie Fridtjof Nansen auf den Zehnkronenscheinen. Sie hatten beide den gleichen Bart, die gleichen Augenbrauen, und die durchlebten Jahre beschwerten ihn nicht, sondern schienen dem Gesicht jedes für sich Lebenskraft zu verleihen. Denn Großvater konnte nie alt werden. Das sagte er auch. Dass ich ihn jung hielt und er sich selbst jung machte, für mich.
Mutters und Vaters Gesichter wurden nie älter. Sie lebten auf einem Foto auf der Kommode, gleich neben dem Telefon. Vater lehnt sich an den Mercedes, er trägt Schlaghosen und eine gestreifte Weste. Mutter sitzt in der Hocke und streichelt Pelle, unseren Buhund. Es ist, als wollte er ihr den Weg versperren und verhindern, dass wir wegfahren.
Tiere haben vielleicht Vorahnungen.
Ich selbst sitze auf dem Rücksitz und winke, das Bild dürfte also vom Tag unserer Abreise sein.
Ich bilde mir immer noch ein, ich würde mich an die Fahrt nach Frankreich erinnern wie an den Geruch der heißen Kunstledersitze oder an die Bäume, die hinter den Seitenfenstern vorbeizogen. Lange meinte ich auch, ich würde mich an Mutters Geruch an diesem Tag erinnern und an die Stimmen meiner Eltern über dem Fahrtwind.
Wir haben noch die Negative zu dem Foto auf der Kommode. Großvater sandte den Film nicht gleich zum Entwickeln ein. Erst dachte ich, er täte das aus Sparsamkeit, denn bevor dieses letzte Foto von Mutter und Vater kam, hielt er erst noch Weihnachten, das mittsommerliche Netzfischen und die Kartoffelernte auf dem Film fest.
Aber woran sparte er eigentlich, das versteht sich nicht von selbst. Ich glaube, er wartete mit dem Entwickeln, weil man bei einem Negativfilm nicht weiß, wie die Bilder werden, bis sie aus dem Labor kommen. Man hat eine Ahnung, eine Erwartung, wie die Motive sich gestalten, und so lebten Mutter und Vater länger, in der Emulsion, bis das Entwicklerbad sie endlich werden ließ.
Ich glaubte es Großvater, wenn er gegen Ende meiner Tobsuchtsanfälle wiederholt sagte, er habe mir alles erzählen wollen, wenn ich erst mal »groß genug« sei. Aber vielleicht bemerkte er gar nicht, wie ich heranwuchs. Und so entdeckte ich die Wahrheit zu früh, und da war es zu spät.
Es war zu Beginn der dritten Klasse. Ich fuhr mit dem Rad runter zum Lindstadthof. Die Tür stand offen, ich ging hinein und rief hallo. Das Haus war leer, sie waren wohl im Stall, und so ging ich bis ins Wohnzimmer. Im dunklen Bücherregal stand eine Stereoanlage, der Deckel des Plattenspielers war zugestaubt. Landkartenbücher des Automobilvereins, Romane in Kurzfassung von Readers Digest und eine Reihe burgunderroter Bände mit Goldschrift auf dem Rücken: Es geschah … Auf jedem Buch eine Jahreszahl, ich begriff, dass es sich um Jahrbücher mit den jeweils wichtigsten Ereignissen handelte.
Durchaus nicht zufällig nahm ich den Band für 1971 aus dem Regal, und es war, als wollte das Jahrbuch selbst, dass ich es öffnete, denn es klappte bei den Einträgen für September auf. Die Seiten waren blank von Fingerabdrücken, die Ecken waren abgegriffen, und im Falz lagen Tabakkrümel.
Mutter und Vater, jeder auf einem Foto, zwei schlichte Porträts. Darunter ihre Namen und in Klammern Reuters. Ich wunderte mich, wer Reuters sein mochte, ich fand, ich müsste es wissen, schließlich ging es um meine Eltern.
Dabei stand, ein französisch-norwegisches Touristenpaar, beide mit Wohnsitz im Gudbrandsdal, sei am 23. September in Authuille in Nordfrankreich ums Leben gekommen. Sie hatten ein eingezäuntes Schlachtfeld aus dem Ersten Weltkrieg aufgesucht, man hatte sie tot in einem Fluss aufgefunden. Die Obduktion hatte erbracht, dass sie Kampfgas von einer alten Granate eingeatmet hatten, ins Wasser gefallen und dann nicht mehr rechtzeitig herausgekommen waren.
In dem Jahrbuch hieß es weiter, es befänden sich entlang dem früheren Frontverlauf immer noch mehrere Millionen Tonnen Explosivkörper, manche Gebiete gälten als nicht beräumbar. In den Jahren davor seien bereits mehrere Hundert Touristen und Bauern durch solche Blindgänger umgekommen.
All dies wusste ich schon aus Großvaters sparsamen Äußerungen. Doch in Es geschah … stand auch das, was er nicht erzählt hatte.
Anhand von Fundstücken im Wagen konnte die Polizei darauf schließen, dass die Verunglückten ihren dreijährigen Sohn dabeigehabt hatten. Von dem aber keine Spur zu finden war, also setzte man eine Suchaktion in Gang. Hunde suchten das Schlachtfeld ab, ohne Erfolg, Taucher untersuchten den Fluss, Helikopter unterstützten die Aktion aus der Luft.
Dann las ich den Satz, der in mir die Kindheit ausbrannte. Es war, wie wenn ich Zeitungspapier in den Kamin tat, die Schrift war deutlich zu lesen, während das Papier in Flammen aufging, doch bei der geringsten Berührung zerfiel es zu Asche.
Vier Tage später wurde das Kind 120 Kilometer entfernt in dem Hafenstädtchen Le Crotoy in einer Arztpraxis gefunden. Intensive polizeiliche Ermittlungen blieben ergebnislos. Man nahm an, der Junge sei entführt worden. Abgesehen von kleinen Wunden war er unversehrt.
Ab da war mir wieder alles bekannt; es hieß, meine Großeltern in Norwegen hätten mich in Obhut genommen. Ich stand da und starrte auf das Buch, blätterte um, weil ich sehen wollte, ob danach noch etwas kam, blätterte zurück, um zu sehen, ob es davor etwas gegeben hatte. Pulte die Tabakkrümel aus dem Falz. Die Leute hatten über mich geredet. Hatten Es geschah 1971 hervorgenommen, wenn die Nachbarn zum Kaffee da waren, sich daran erinnert, wie jemand aus der Familie Hirifjell in der Zeitung gestanden hatte.
Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut. Großvater sagte, er wisse auch nicht mehr, also trug ich meine Fragen mit in einen Flammbirkenhain oberhalb des Hofs. Warum hatten Mutter und Vater mich an einen Ort voller Granaten mitgenommen? Was suchten sie da überhaupt?
Die Antworten waren weg, Mutter und Vater waren weg, weg wie Asche, vom Wind verweht, und ich wuchs auf dem Hirifjell-Hof heran.
Hirifjell liegt auf der Abseite von Saksum, die Großbauernhöfe hingegen auf der anderen Seite des Flusses, wo der Schnee zeitig schmilzt und der Sonnenschein die Holzwände der Häuser und den Landadel darin liebkost. Jener Hang wird nie die gute Seite genannt, nur manchmal die Sonnseite, meist wird sie gar nicht benannt. Nur die Abseite hat einen Namen für das, was sie ist, die Schattenseite. Zwischen beiden fließt der Lågen. Der Dunst über dem Fluss ist die Grenze, die wir überschreiten, wenn wir zum Einkaufen in den Ort müssen.
Die Abseite liegt die meiste Zeit des Tages im Schatten. Die Leute scherzen, wer hier wohnt, würde mit altertümlichen Flinten auf das Fischauto schießen und den Trunkenbolden, die unter unseren Heustadeln schlafen, die Schuhbänder zusammenknoten. Allerdings kann auch, wer von einem wahren Großbauernhof in Saksum kommt, nicht behaupten, er würde Pariser Manieren an den Tag legen, kaum welche aus Hamar. Die Landesschau im Fernsehen hat noch nie etwas aus Saksum gebracht. Hier findet man nichts anderes als in anderen Dörfern auch. Einkaufsgemeinschaft, Fabrik, Postamt und der Laden der Handelsgenossenschaft. Eine unasphaltierte Straße über dem Dorf, auf der sich der Krankenwagen regelmäßig festfährt. Ärmliche Häuser, deren Bewohner per Steuerschätzung zur Kasse gebeten werden.
Nur der Fernsehmonteur und das Bauamt wussten, dass bei uns in Wahrheit ganztägig die Sonne schien. In Hirifjell neigt sich der Hang noch einmal gen Süden, wird also eine Art Sonnseite auf der Innenseite der Abseite. Ein Garten im Wald, eine Schranke an der Zufahrt, hier blieben wir unter uns.
Großvater blieb nachts gern lange auf. Ich lag auf dem Sofa, er rauchte Zigarillos und beschäftigte sich mit seinen Büchern und Schallplatten. Bach-Kantaten, Boxen mit den Sinfonien von Beethoven oder Mahler unter Furtwängler oder Klemperer. Im Bücherregal zerlesene und neue Bücher durcheinander. Aus Andrees Weltatlas und Meyers Konversationslexikon schauten viele Zettel heraus, es sah aus, als würden neue Seiten sprießen.
So schlief ich allabendlich ein, in einem Dämmer, in dem das Klicken seines Feuerzeuges dann und wann die Musik unterbrach, bis er den Spiegel aus der Hand legte und ich im Halbschlaf seine Arme spürte, Wände und Dach drehten sich um mich, wenn ich die Augen halb öffnete, als wäre ich eine Kompassnadel, dann legte er mich wieder hin, schob meine Arme und Beine zurecht und deckte mich zu. Und jeden Morgen war sein Gesicht da, die Flurlampe warf ihr Licht auf die Bartstoppeln und den schiefen, tabakgelben Schnurrbart, so stand er da und betrachtete mich mit einem Lächeln, an dem ich erkannte, dass er mich länger angesehen hatte, bevor er mich weckte.
Es gab eine einzige Sache, wo er unangemessen streng war: Ich durfte die Post nicht holen. Wenn sie zu spät kam, brachte ihn das aus dem Rhythmus, jeden Tag ab elf spähte er nach dem roten Postauto oben auf der Bezirksstraße. Später wechselte er zu einem Postfach unten im Dorf, er erklärte, irgendwer hätte den Briefkasten aufgebrochen.
Ich bestellte Kataloge, legte Rückporto bei, und die Kataloge kamen. Lautsprecher-Bausätze, Schous Jagdwaffen, der Anglerkatalog, Fotoausrüstung, Material zum Fliegenbinden; die Kataloge kamen, und ich lernte mehr aus ihnen als aus Schulbüchern. Die Außenwelt kam zu mir mit ihm, meinem Großvater, schwere Umschläge auf einem warmen Autositz nach seinen Fahrten ins Dorf hinunter. So ging es eine Ewigkeit, bis er eines Tages von einer Versammlung des Schafs- und Ziegenzüchtervereins zurückkam und verkündete, ab jetzt gebe es wieder einen Briefkasten, es sei ihm zu mühsam, alles aus Saksum zu holen.
Wieder lange davor verkürzten wir mit der Säge den Kolben an der Flinte meines Vaters und gingen auf Entenjagd. Es handelte sich um eine Sauer & Sohn-Doppelflinte, Kaliber 16. Vater hatte sie zur Konfirmation bekommen, aber wohl niemals benutzt. Während ich größer wurde, leimten wir den gekürzten Kolben scheibenweise wieder an, und als ich selbst konfirmiert wurde, zeigte das orange-braune Walnussholz Rillen, die mein Aufwachsen mit Großvater abbildeten.
Das waren meine Jahresringe.
Aber ich wusste nur zu gut, dass Tannen, die zu schnell wachsen, breite Jahresringe aufweisen, und wenn sie so groß sind, dass sie in den Wind ragen, brechen sie.
Mein ganzes Leben lang hatte ich das Wispern aus dem Flammbirkenhain gehört. Und eines Nachts im Jahre 1991 wuchs es sich zu einem Sturm aus, der mich selbst ins Wanken brachte. Denn etwas aus der Geschichte um Mutter und Vater rührte sich immer wieder, sachte, wie eine fette Natter im Gras.
In jener Nacht kam der Tod zurück zum Hirifjell-Hof. Es war klar, wen er holen würde, viel Auswahl gab es nicht. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, und wenn ich später an jenen Sommer dachte, wurde mir klar, dass der Tod nicht immer ein blinder und grausamer Schlächter ist. Es kommt vor, dass er die Schlüssel ordentlich wieder hinlegt, bevor er geht.
Dennoch ist er ein Gast, der alles umstürzt. Zumal der Tag, an dem es geschah, kein gewöhnlicher Tag war, keiner mit Arbeitsschweiß und Abendsonne, an dem Furtwängler seinen Taktstock still beiseite legt. Im Gegenteil. Am Tag vor Großvaters Tod sprühte ihm jemand ein Hakenkreuz an den Mercedes.
Seit einer Woche wartete ich auf ein Nachnahmepäckchen aus Oslo, endlich lag der Abholzettel im Briefkasten. Schnell nahm ich die Abkürzung zum Haus hinunter, an den Brennnesseln vorbei und über den Vorplatz. Schob die Tür zum Werkzeugschuppen einen Spalt weit auf und sagte, ich führe kurz in den Ort, etwas holen.
Er richtete sich von der Werkbank auf, legte die Kneifzange hin, meinte, wir beide müssten zum Einkaufsverband.
»Lass uns den Stern nehmen«, sagte er und klopfte sich die Sägespäne von der Jacke. »Das spart Benzin.«
Ich drehte mich weg und schloss die Augen. Einer von diesen Tagen war das also. An denen er fand, wir sollten nicht mit zwei Wagen fahren.
Steifbeinig ging Großvater über den Vorplatz, um sich für den Besuch im Laden umzuziehen. Die Leute im Ort sahen es nicht gern, wenn er mit dem Messer an der Seite herumlief, also zog er für diese Gelegenheiten eine halblange Jacke an.
Dann saßen wir in dem schwarzen, schweren Prachtmercedes, den er 1965 fabrikneu gekauft hatte. Die Äste vom Weg zur Weide hoch hatten den Lack an den Seiten zerkratzt, und neben dem Kofferraumschloss gab es rostige Hackser, aber wenn der Wagen im Ort auf dem Parkplatz stand, stach er immer noch hervor. Langsam fuhren wir an den Kartoffeläckern vorbei und schauten jeder auf seiner Seite, wie weit die Blüte war.
Denn wir waren Kartoffelbauern, Großvater und ich. Ja, wir hatten auch Schafe, aber ganz eigentlich waren wir Kartoffelbauern. Wenn er darauf wartete, dass die neu gesetzten Kartoffeln keimten, nahm er regelmäßig vor lauter Sorge ab. Dabei lagen die Äcker des Hirifjell-Hofs 540 Meter über dem Meer, und die Insekten, von denen die Krankheiten verbreitet wurden, kamen nur selten so hoch.
Großvater war ein Teufelskerl mit Kartoffeln, und mich machte er auch dazu. Wir lieferten Pflanzkartoffeln, und wir lieferten Speisekartoffeln. Mandelkartoffeln brachten am meisten Geld, obwohl die Ringerikskartoffel besser war. Beate war eine Kartoffel für Idioten. Dick und geschmacklos, aber es bestand Nachfrage. Wir selber hielten uns an die Pimpernell, Abend für Abend. Spät reifend, aber festfleischig, und keine andere Sorte war schöner zu ernten als sie mit ihrer rotvioletten Schale in der fruchtbaren Erde.
Die Räder ratterten über das Viehgitter, und er bog auf die Bezirksstraße ein, ohne nach eventuellem Verkehr zu schauen. Bein Lindstadhof öffnete sich der Wald, und wie immer musterten wir den Fluss weit da unten.
»Niedriger geworden, der Lågen«, sagte er. »Unten beim Campingplatz könnte man fischen.«
»Die Äschen beißen aber nicht, wenn das Wasser so grün ist«, sagte ich.
Dann schlossen sich die Tannen wieder um uns, und wir sahen den Fluss erst, als wir auf Asphalt fuhren. Dann dröhnten wir die steilen Hänge hinunter, und ich spürte das Zittern im Bauch wie jedes Mal, wenn wir nach Saksum kamen. Der Bahnhof, die Mittelschule, die Sägemühle, die Ställe auf der Sonnseite. Die anderen.
Kalte Luft vom Fluss her kam durch die geöffneten Fenster, als wir über die Plankenbrücke fuhren.
»Also erst zur Einkaufsgemeinschaft?«, fragte er.
Wenn es erst dorthin ging, konnte das dauern. Großvater machte keine kleinen Einkäufe. Jedes Mal wenn wir dort wegfuhren, war der Mercedes hecklastig und der Kassenzettel halbmeterlang.
»Oder nein«, sagte er, »wir holen erst dein Päckchen ab. Genau.«
Kaum kamen wir aus dem Postamt, da sah ich auch schon die Bescherung.
Eigentlich studierte ich die an mich adressierte braune Pappschachtel, aber Großvaters Schrittrhythmus stockte auf einmal ungewohnt, und als ich aufblickte, sah ich das von ungeschickter Hand mit roter Farbe auf die Tür seines Mercedes gesprühte Hakenkreuz.
Und mir fiel gleich auf, dass ich genau das dachte. Mercedes, jetzt mit dem Hakenkreuz, dabei war der Stern bislang, all die Jahre hindurch, Mercedes gewesen.
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