Die Blütenfrau - Sandra Lüpkes - E-Book

Die Blütenfrau E-Book

Sandra Lüpkes

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Beschreibung

Komm zu mir, kleine Blume In der ostfriesischen Kleinstadt Norden wird eine Schülerin ermordet aufgefunden. Alles deutet auf ein Sexualdelikt hin. Die ganze Region verdächtigt den pädophil veranlagten Gernot Huckler, der erst vor wenigen Monaten aus der Haft entlassen wurde und nun unauffindbar ist. Hat er diesmal gemordet? Als auch auf Spiekeroog ein Mädchen verschwindet, scheint sich der Verdacht zu bestätigen. Kommissarin Wencke Tydmers will sich von der allgemeinen Hysterie jedoch nicht anstecken lassen. Auch Esther Vanmeer glaubt an die Unschuld ihres neuen Lebensgefährten. Bis ihre Tochter Griet nicht mehr nach Hause kommt … «Sandra Lüpkes kann es – und sie kann es gut.» Caren Miosga, Kulturjournal, NDR Fernsehen

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Seitenzahl: 377

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Sandra Lüpkes

Die Blütenfrau

Ostfrieslandkrimi

 

 

 

Über dieses Buch

Komm zu mir, kleine Blume

In der ostfriesischen Kleinstadt Norden wird eine Schülerin ermordet aufgefunden. Alles deutet auf ein Sexualdelikt hin. Die ganze Region verdächtigt den pädophil veranlagten Gernot Huckler, der erst vor wenigen Monaten aus der Haft entlassen wurde und nun unauffindbar ist. Hat er diesmal gemordet? Als auch auf Spiekeroog ein Mädchen verschwindet, scheint sich der Verdacht zu bestätigen. Kommissarin Wencke Tydmers will sich von der allgemeinen Hysterie jedoch nicht anstecken lassen. Auch Esther Vanmeer glaubt an die Unschuld ihres neuen Lebensgefährten. Bis ihre Tochter Griet nicht mehr nach Hause kommt …

Vita

Sandra Lüpkes, geboren 1971, aufgewachsen auf der Nordseeinsel Juist, lebt in Münster, wo sie als Autorin und Sängerin arbeitet.

 

«Typisch für Lüpkes sind sinnesgewaltige Beschreibungen, so plastisch, dass man gleich mitten im Geschehen ist.» (Westdeutsche Allgemeine)

 

«Die Mikrokosmonautin!» (taz Hamburg)

 

«Sandra Lüpkes kann es – und sie kann es gut.» (Caren Miosga, Kulturjournal, NDR Fernsehen)

 

Mehr zur Autorin und zu ihrer Arbeit unter: www.sandraluepkes.de

 

Weitere Veröffentlichungen:

Fischer, wie tief ist das Wasser

Halbmast

(In der Serie um die Kommissarin Wencke Tydmers:)

Die Sanddornkönigin

Der Brombeerpirat

Das Hagebutten-Mädchen

Die Wacholderteufel

Das Sonnentau-Kind

Sowie ihr erster historischer Roman:

Die Inselvogtin

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009

Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-41221-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1.

Am schönsten sind sie, wenn sie keine Ahnung haben, wie schön sie sind. Wenn sie sich keine Gedanken darüber machen, wie sie aussehen.

Diese schlanken, braunen Beine strumpflos in weißen Stoffschuhen treten in die Pedale, reiben weiter oben über den schwarzen Kunststoff ihres Fahrradsattels. So viel Energie in dieser Bewegung, wunderbar, so ein fließender Rhythmus, auf und ab, der nur dem unschuldigen Zweck dient, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. Damit die Eltern sich nicht sorgen.

Wie wunderschön.

Sie trägt ihre Haare offen, halblang und glatt, eine unspektakuläre Farbe, wahrscheinlich verbieten die Eltern, dass sie sich knallige Strähnchen machen lässt. Man sieht ihr an, dass sie wohlbehütet ist. Nichts an ihr wirkt abgeklärt oder frühreif. Sie ist noch ein Kind. Zu süß, wie sie vorhin mit den Kätzchen gespielt hat. Ganz vertieft in den Anblick der tollpatschigen Fellknäuel. Weltversunken. Sicher hat sie dabei die Zeit vergessen. Mir ist es nicht anders ergangen.

Auf einmal hält sie an. Breitbeinig steht sie über dem Rahmen ihres Sportrads – der gelbe Rocksaum liegt auf dem Metallicpink der Mittelstange – und dreht sich um. Sie sieht mich an, lächelt schief, dann greifen ihre schmalen Finger nach dem bunten Helm, der bislang nichtsnutzig in ihrem Fahrradkorb gelegen hat. Ich verstehe. Sie ist gleich zu Hause. Ihren Eltern zuliebe tut sie so, als habe sie die ganze Zeit den Kopfschutz getragen. Doch in Wirklichkeit ist ihr das Ding wahrscheinlich schrecklich peinlich. Alle anderen fahren ohne. Nur sie muss sich damit blamieren und sich das luftige Haar platt drücken. Vielleicht ist sie doch nicht so unschuldig, denke ich.

«Was gibt es da zu gucken?»

«Ich bin von der Polizei. Zivilfahnder. Du weißt schon, dass das Tragen eines Helms Pflicht ist?»

Ihr Gesicht färbt sich tief rot. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und blickt zu Boden. «Mein Vater sagt mir ständig, ich soll ihn aufsetzen. Aber …»

«… der Helm ist uncool», vervollständige ich den Satz. Sie nickt.

«Und wenn ich dich jetzt verhafte?»

Sie traut sich nicht gleich. Erst drei Atemzüge später fragt sie: «Machen Sie Witze?»

Ich weiß, ich sehe nicht gefährlich aus. Das ist mein Vorteil. Wie gut, dass man nicht in die Menschen reingucken kann. Würde sie sehen, was in mir wütet, wäre sie schon längst davongefahren, ohne Helm, das wäre ihr egal gewesen. Aber sie erkennt es nicht. Für ein Mädchen, das noch keine schlechten Erfahrungen gemacht hat, ist ein Lachen immer noch ein Lachen. Also lache ich. «Ja, du hast recht. Ich mache Witze.»

Erleichtert setzt sie den Helm auf und will weiterfahren.

Ich kann sie daran hindern, denn ich schlage meine Jacke zur Seite und zeige, was ich darunter versteckt mit mir herumtrage. «Schau doch mal!»

Sie ist hingerissen von dem süßen Tier und kommt nah an mich heran. Ohne Katze hätte ich sie nie so weit gekriegt.

«Du kannst das Kätzchen haben, wenn du willst. Ich schenke es dir.»

«Ich darf das nicht. Mein Vater ist dagegen.»

«Suchen wir einen Geheimplatz, wo du es verstecken kannst. Wo es niemand findet. Du kannst es dann jeden Tag besuchen, ohne dass jemand davon erfährt. Ich werde es bestimmt niemandem erzählen.»

«Aber ich bekomme Asthma davon.»

«Das redet dein Vater dir nur ein. Weil er dir alles verbieten will. Er ist streng mit dir, oder?»

«Na ja, er meint es nur gut …»

«Aber er verdirbt dir jeden Spaß, stimmt’s?»

Sie nickt.

Wie schön sie ist. Ihr Gesicht wirkt ganz weich und glatt. Ich stelle mir ihre Adern darunter vor, ihre Muskeln, ihr Gewebe, ihre Knochen. Ich merke, dass es sich in mir ausbreitet. Es presst von innen gegen meine Haut. So schlimm war es noch nie. Es will raus. Es will endlich raus.

Weiß sie denn nicht, dass man sich nicht mit fremden Männern unterhalten soll? Hat ihr das niemand gesagt?

Ich fühle das Glas in meiner Jackentasche. Gleich werde ich es öffnen.

2.

Cerato (Bleiwurz oder Hornkraut)

Botanischer Name:CERATOSTIGMA WILLMOTTIANA

Die Blüte gegen mangelndes Vertrauen in die eigene Intuition

Als habe sie es geahnt. Gestern Abend hatte Wencke Tydmers das erste Mal seit Menschengedenken ihren Schreibtisch richtig aufgeräumt, sodass kein einziger Schnipsel mehr herumlag. Sie hatte sich sogar von Meint Britzke eines dieser praktischen Staubtücher ausgeliehen, welches den Dreck der letzten Monate per statischer Aufladung von der Arbeitsfläche eliminiert hatte.

Fast konnte sie ihr Spiegelbild auf der blanken Schreibtischunterlage ausmachen: Ihre kurzen roten Haare, das breite Grinsen (wenn sie denn einen Grund zum Grinsen gehabt hätte), die mädchenhafte Nase.

Im Nachhinein konnte sie nicht mehr nachvollziehen, was sie zu dieser, für sie völlig untypischen Aktion veranlasst hatte. Und heute Morgen kam ihr der Verdacht, dass es vielleicht so etwas wie eine Vorahnung gewesen war. Vielleicht hatte ihr ein Orakel zugeflüstert, dass sie Platz brauchen würde. Platz für zwei Briefe. Zwei Briefe, die so wichtig zu sein schienen, dass es nicht gepasst hätte, sie auf den Kuddelmuddel zu legen, welcher bis gestern noch auf ihrem Schreibtisch angehäuft gewesen war.

Der erste steckte in einem länglichen Umschlag in neutralem Weiß, mit Adressfenster, auf dem man ihren Namen lesen konnte: Kriminalhauptkommissarin Wencke Tydmers – persönlich –, 1. Fachkommissariat Polizeibehörde, Fischteichweg 1–5, 26603 Aurich. Die Absenderzeile war im Umschlag zu weit nach oben gerutscht, man konnte nichts entziffern, doch die Stempel auf dem Kuvert verrieten, dass der Brief in Hannover seine Reise angetreten hatte. Amtliche Briefe aus der Landeshauptstadt waren immer wichtig.

Aber Wenckes Aufmerksamkeit richtete sich auf den zweiten Brief. Ein Kuvert aus schwerem Papier in Hellblau, mit angerauten Kanten. Handschriftliche Schnörkel bildeten ihren Namen. Sie fand keine Briefmarke, dafür eine silberne Prägung: «Einladung».

Nebenan erschallte Gelächter. Greven machte einen Witz, und Hannah Weigert, die neue Kollegin, die für den pensionierten Strohtmann gekommen war, kreischte übertrieben. Wencke hatte eben beim Hereinkommen gesehen, dass auf jedem Schreibtisch der Abteilung so ein hellblauer Umschlag lag. Sie drehte ihn langsam um. Der Absender war ebenfalls in silberner Schrift:

Kerstin Spangemann & Axel Sanders.

Er hätte es mir persönlich sagen müssen, dachte Wencke. Ein Satz unter vier Augen hätte gereicht. Doch im gleichen Moment fiel ihr auf, dass es schon seit Wochen keine Gelegenheit mehr gegeben hatte, bei der sie mit Axel Sanders allein und ungestört gewesen wäre. Um genau zu sein, seit er vor sechs Monaten die Koffer gepackt hatte und aus ihrer gemeinsamen Zweck-WG gezogen war. Oder hing es damit zusammen, dass sie nun, da ihr Sohn Emil zufrieden und glücklich in den Kindergarten ging, wieder Vollzeit in ihr altes Büro zurückgekehrt und Axels Zeit als ihr Vertreter abgelaufen war? Jetzt wurde Wencke klar, dass er ihr gezielt aus dem Weg gegangen sein musste. Dieser Feigling. Tat so, als wären sie nur Kollegen und mehr nicht. Er hätte es ihr wirklich persönlich sagen können. Nach alledem …

Nebenan war es wieder still. Oder waren sie alle zum Feiern in die Cafeteria verschwunden, ohne ihr ein Wort zu sagen?

Zaghaft klopfte jemand an der Tür. Das kann nur Axel sein, dachte Wencke, niemand hier klopft sonst zaghaft, und er tut es nur, weil er einen triftigen Grund dazu hat. Schnell schob sie den hellblauen Brief unter den anderen. «Herein.»

Es war Hannah Weigert. Alle nannten die neue Kollegin Pal – die Abkürzung für Palindrom –, weil man ihren Namen vorwärts und rückwärts lesen konnte. Meint Britzke, der immer alles wusste, hatte dieses Wortspiel bemerkt, die anderen hatten den Begriff auf drei pfiffige Buchstaben reduziert. Sehr kreativ für eine Polizeibehörde, fand Wencke. Außerdem passte der Spitzname viel besser zu der Frau mit dem seltsam asymmetrisch geschnittenen Weißhaar, der bunt geflochtenen Strähne und dem Nasenpiercing. «Wencke, die haben das vermisste Mädchen», sagte Pal leiser, als es sonst ihre Art war.

Wencke erinnerte sich: Gestern, nach einer langen Schicht, kurz vor Feierabend hatte sie noch einen Anruf aus der Nachbarstadt Norden hereinbekommen. Es war zwanzig vor acht gewesen. Ein Vater hatte – stotternd und stammelnd vor Aufregung – seine pubertierende Tochter als vermisst melden wollen. Wencke hatte ihm vorgeschlagen, noch ein bisschen zu warten, vielleicht bis neun oder so, schließlich sei das Wetter so schön, und im Juni bliebe es noch lange hell draußen. Gegebenenfalls solle er sich dann nochmal bei den Kollegen in Norden melden. In jedem Fall sei diese Sache aber noch keine Angelegenheit für die Kripo. Zwei Stunden zu spät kommen – das passiere bei Teenagern schon mal.

Vor einem halben Jahr hätte Wencke wahrscheinlich noch anders reagiert, hätte sich vielleicht auch Sorgen gemacht und eine Meldung an die Streife losgeschickt. Aber seit bekannt geworden war, dass der vor Jahren im Weserbergland gefasste Kinderschänder Gernot Huckler wieder auf freiem Fuß war und sich ausgerechnet im malerischen Küstenstädtchen Norden niedergelassen hatte, war die Hysterie groß, wenn einer der Sprösslinge nicht pünktlich am Abendbrottisch saß. Eine Initiative aufgebrachter Eltern hatte versucht, diesen «Unmenschen» zu vertreiben. Vergeblich. Gernot Huckler hatte seine Strafe abgesessen und war von einem Gutachter für gesellschaftstauglich erklärt worden. Es gab keinen Grund, ihm seinen neuen Wohnsitz zu verbieten, zumal er inzwischen verheiratet war und sogar einem geregelten Job nachging. Als Pizzakurier, aber warum nicht. Dennoch kursierte hier in Ostfriesland seit geraumer Zeit das «Gernot-Huckler-Phänomen», GHP abgekürzt – irgendwie hatten sie es in der Abteilung momentan mit diesen Abkürzungen. Die Polizeidienststellen in Norden, Emden und Aurich, sogar in Leer und Esens hatten vermehrt Anrufe von überbesorgten Eltern erhalten, die immer wieder Sätze beinhalteten wie «Normalerweise bin ich ja nicht so ängstlich, aber seitdem dieser Huckler …»

Wencke versuchte, sich an den Wortlaut des gestrigen Telefonats zu erinnern. «Allegra war der Name, nicht wahr?», fragte sie Pal. «Allegra – die Muntere, die Lebendige. Und? Ist sie wieder munter und quietschlebendig bei Papa daheim angekommen?»

«Nein», antwortete Pal einsilbig.

«Vielleicht bei der Mutter? Die Eltern leben doch getrennt, oder nicht?»

«Ein Rentnerpaar hat sie gefunden.»

«Gefunden?»

«In einem Teich.»

Wencke sagte nichts. Ihr rauschte so einiges durch den Kopf. In einem Teich? Dann war es doch eine Angelegenheit für die Kripo … Der Vater. Der arme Vater. Was hatte er am Telefon gesagt? Seine Tochter käme nie zu spät, sie wisse genau, dass er Probleme damit habe, wenn er nicht wusste, wo sie war. Hätte Wencke etwas ahnen können, ahnen müssen? Das Handy des Mädchens war außer Betrieb gewesen. Wo hatte gestern ihre ach-so-viel-gepriesene Intuition gesteckt? Sie erinnerte sich, der Vater hatte nicht ein Wort über Gernot Huckler verloren, er hatte den Kinderschänder mit keiner Silbe erwähnt, seine Angst war also nicht dem GHP entsprungen. Das hätte ihr auffallen müssen! Hatte sie tatsächlich all ihr Bauchgefühl dafür verschwendet, einen verdammten Schreibtisch aufzuräumen, während zur selben Zeit das Kind vielleicht …

«Wencke, soll ich die Truppe zusammentrommeln? Sitzungszimmer?»

«Ja, Pal. In zehn Minuten. Alle Mann. Wir haben keine Zeit zu verschenken.» In Gedanken fügte sie noch hinzu: Ich glaube nämlich, das habe ich gestern bereits getan.

3.

Agrimony (Odermennig)

Botanischer Name:AGRIMONIA EUPATORIA

Die Blüte für Menschen, die quälende Gedanken und innere Unruhe hinter vorgespielter Sorglosigkeit zu verstecken versuchen

Die Blutegel waren jetzt groß genug, fand Esther Vanmeer. Voll gesogen wirkten sie wie zwei Stücke Rinderleber am Bein des Patienten. Eines der dicken Tiere löste sich langsam. Doch der Mann kümmerte sich nicht darum, er las ein Nachrichtenmagazin. Auch als Esther mit dem Handtuch kam, blieb er unbeeindruckt. Es war nunmehr seine fünfte Sitzung, und er fühlte sich schon viel besser. Der Hausarzt hatte seine Werte ausdrücklich gelobt, auch wenn sich der Kollege aus der Schulmedizin weiterhin schwer damit tat, den Erfolg auf die Blutegel zurückzuführen. Alles Ignoranten, fand Esther, aber sie hatte es aufgegeben, bei den Studierten noch weiter Überzeugungsarbeit leisten zu wollen.

«So, kurz stillhalten, Herr Oltmanns.» Esther hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da löste sich der erste Blutsauger schon mit leise schmatzendem Geräusch von der faltigen Haut. Die Wunde blutete stark, im Nu war das Handtuch rot. Auch der zweite Blutegel hinterließ wenige Minuten später deutlich sichtbare Spuren auf dem Frottee. Aber Esther musste ihrem Patienten nicht mehr erklären, dass dies an der gerinnungshemmenden Substanz lag, die die Tiere absonderten.

«So, das war’s.» Esther ließ die schleimigen Tierchen wieder in ihr kleines Aquarium gleiten, ein ehemaliges Marmeladenglas mit Löchern im Schraubdeckel. Morgen schon kämen die beiden Kerlchen wieder in den Wasserbottich zu den anderen Kollegen, die bereits im Einsatz gewesen waren. Diese beiden prallen Exemplare würden erst in einigen Wochen wieder neuen Appetit verspüren. Aber bis dahin würde Esther sie schon längst in irgendeinem Graben oder Teich ausgesetzt haben.

«Wenn Sie ein paar Jahre jünger wären, würde ich Ihnen einen Lolli schenken, weil Sie so tapfer gewesen sind.»

Oltmanns zog sich die Hose an. «Wissen Sie, bevor ich jeden Tag auf geschwollenen Füßen stehen oder ein kleines Pillenarsenal verputzen muss, lasse ich lieber ab und zu mal zwei Mini-Vampire ihren Durst löschen.» Mit lässiger Handbewegung fischte er einen Zwanzigeuroschein aus der Hose und legte ihn neben das Glas mit den Blutegeln. «Sonst bin ich übrigens längst nicht immer so mutig. Meine Frau sagt immer, ich sei ängstlicher als unser Enkelsohn, wenn es um Gespenster und Gruselgeschichten geht.» Er grinste schüchtern. «Jetzt halten Sie mich sicher für ein Weichei.»

«Wir haben alle unsere Ängste …» Esther Vanmeer nahm auf ihrem Beratungsstuhl Platz und fischte ein dickes grünes Buch aus dem Regal hinter sich. «Aber wenn Sie wollen, können wir es gegen Ihre Angst ja mal mit Bachblüten probieren. Fürchten Sie sich im Dunkeln?»

Fast erstaunt nickte der Mann.

«Aber es sind keine konkreten Dinge, vor denen Sie sich gruseln?»

«Genau.»

«Ich könnte mir vorstellen, dass wir mit Aspen Ihre Ängste in den Griff bekommen.»

In einem Holzkasten suchte sie nach der passenden Flasche und reichte sie ihrem Patienten. Dann fasste sie nach der anderen Männerhand und ließ ihr goldenes Pendel sprechen.

«Was machen Sie da?»

«Bei der Bachblütentherapie geht man davon aus, dass jedem Unwohlsein eine seelische Gleichgewichtsstörung vorausgeht und dass die Harmonisierung von Gefühlen und Gedanken eine Heilung bewirken kann. Es gibt insgesamt achtunddreißig Bachblüten, die jede einer bestimmten Stimmung oder Charaktereigenschaft zugeordnet ist. Mit diesem Pendel finde ich heraus, ob die Essenz der Zitterpappel – im englischen Aspen genannt – Ihnen helfen könnte, wieder in einen Zustand innerer Ausgeglichenheit zu kommen.»

«Sie meinen, ich könnte mir dann mit meiner Familie auch so schreckliche Dinge wie Harry-Potter-Verfilmungen anschauen?»

Esther musste schmunzeln. Oltmanns war ein netter Kerl und einer der wenigen Patienten, die ihr treu geblieben waren, seit Gernot hier lebte.

Das Pendel fiel in eine kleine Kreisbewegung. Gegen den Uhrzeigersinn drehte es seine Runden, die immer breiter wurden. «Sieht so aus, als hätten wir hier einen Volltreffer gelandet. Ich mache Ihnen eine Flasche fertig, dann nehmen Sie viermal täglich vier Tropfen, und in ein paar Wochen können Sie sich sogar ‹Der weiße Hai› Teil eins bis hundert anschauen und danach in der Nordsee baden gehen.»

«Das wäre ja mal was», sagte Oltmanns, doch ihm war anzusehen, dass er der Sache nicht so recht traute.

Esther kannte das. Die Behandlung mit Blutegeln war etwas anderes. Es tat ein bisschen weh, es blutete, es war biochemisch zu erklären. Aber Bachblüten erschienen den meisten Menschen wie der reinste Hokuspokus. Bis sie dann tatsächlich wie durch Zauberei von ihren Problemen befreit wurden. Kleine Kinder gewöhnten sich das Daumennuckeln ab, Schülern fiel es leichter, sich zu konzentrieren, Frauen kamen besser mit den Regelbeschwerden zurecht, und Männer kauten nicht mehr an den Nägeln. Ihr Kundenstamm war groß gewesen. Und die meisten von Esthers Blüten-Patienten waren immer wieder gekommen. Bis vor einem dreiviertel Jahr jedenfalls.

Esther füllte den Blütenextrakt mit der passenden Menge Hochprozentigem in eine braune Flasche, beschriftete ein Etikett und klebte es auf das Glas. «So, da hätten wir Ihren speziellen Flachmann. Sie dürfen die Tropfen nicht mit Metall in Berührung bringen, das würde die Schwingungen kaputt machen. Ich empfehle einen Plastiklöffel oder das Träufeln direkt auf die Zunge.»

«Wenn meine Frau erfährt, dass ich mich wegen meiner Geisterphobie habe auspendeln lassen, dann kriegt sie einen Lachanfall», sagte Oltmanns und ließ das Fläschchen in seiner Jacke verschwinden. «Was bin ich Ihnen schuldig?»

Esther machte eine abwehrende Geste, ging zur Tür und hielt sie für ihren Patienten geöffnet. «Das ist reine Kundenbindung. Wenn es hilft, dann erzählen Sie es weiter, und zwar nicht nur Ihrer Frau. Bachblüten liegen mir am Herzen, müssen Sie wissen. Ich glaube, mit ein bisschen mehr Sensibilität unseren Energieschwingungen gegenüber ginge es uns allen wesentlich besser. Sie werden sehen. Beim nächsten Mal können Sie dann auch bezahlen.»

«Und wenn’s nicht hilft?»

«Das wird nicht passieren. Da bin ich mir sicher.»

Sie begleitete den Mann durch den Hausflur, bis sie vor der blauweiß bemalten Holztür standen. Im Vorgarten blühte der Klatschmohn, vom Marktplatz her hörte man das melodische Gebimmel des Ludgeri-Glockenspiels. Ein Uhr, gleich würde Griet nach Hause kommen. Wie wohl ihre Lateinarbeit verlaufen war? Hoffentlich hatten die Tropfen gegen die Prüfungsangst ihrer Tochter geholfen.

«Bis zur nächsten Raubtierfütterung», scherzte Oltmanns beim Abschied, setzte sich auf sein Rad und fuhr los. Er drehte sich noch einmal kurz um, und Esther bemerkte, wie er plötzlich stutzte. «Haben Sie die Sauerei gesehen?», rief er über die Schulter, schüttelte den Kopf und trat wieder in die Pedale.

Esther folgte seiner Blickrichtung nur zögerlich. Sie ahnte bereits, was Oltmanns gesehen haben musste. Nahm das denn nie ein Ende? Dreimal schon hatte sie ihre weiße Hauswand überpinseln müssen. «Vorsicht, hier lebt ein Kinderschänder» und ähnliche Schmierereien waren aufgesprüht worden. Und tatsächlich machte sich wieder ein blutroter Schriftzug breit.

WIR KRIEGEN DICH DU MÖRDER!!!

Esther war fassungslos. Sie hatte gehofft, die letzten ruhigen Wochen wären ein Indiz dafür gewesen, dass die Meute sich endlich beruhigt hatte. Und nun stand da eine Beschuldigung, die noch wüster und aggressiver war als alle zuvor. Es war eine Drohung und eine Lüge: Gernot war kein Mörder. Natürlich hatte er seine Vergangenheit, das wusste sie, das wusste jeder, aber er hatte niemals jemanden getötet.

Warum waren die Menschen in dieser Stadt so grausam zu ihnen? Sie machten sich alle selbst des Mordes schuldig, des Rufmordes, um genau zu sein.

Gut, den Kern der Sorge konnte Esther begreifen. Sie hatte schon damit gerechnet, dass sich die Menschen schwer damit taten, ihren neuen Ehemann zu akzeptieren. Sie kannten Gernot ja nicht, nein, kein bisschen kannten sie ihn. Sie hatten nur dieses Bild vor Augen, welches vor mehr als sechs Jahren bundesweit durch die Presse gegangen war:

Der neue Rattenfänger von Hameln

Der bereits wegen einschlägiger Delikte vorbestrafte 29-jährige Jugendgruppenleiter Gernot H. hat gestanden, bei mehreren Gelegenheiten sexuelle Übergriffe auf minderjährige Mädchen begangen zu haben. Zwei seiner ihm anvertrauten Schützlinge, Carina W. und Jennifer R. (beide 11 Jahre jung) hatte er mehrmals auf einer gemeinsamen Zeltwanderung in der Nähe der Barsinghauser Kohlegruben missbraucht …

Das Foto von Gernot war so scheußlich gewesen, dass die Leser der Sensationsblätter sich gefragt haben mussten, welche Eltern überhaupt ihre Kinder bei einem solchen «Monster» in Obhut gäben. Esther kannte auch andere Aufnahmen ihres Mannes, die etwa zur selben Zeit gemacht worden waren. Da sah er freundlich aus, lächelte offen in die Kamera, hatte eine Gitarre in der Hand oder hielt eine Bratwurst über das Lagerfeuer. Die Journalisten mussten lange recherchiert haben, bevor sie dieses misslungene Porträt von Gernot gefunden und zum offiziellen Pressefoto auserwählt hatten. Verschwommen und braunstichig war es. Gernot schaute von unten herauf, sodass man viel vom Weiß in seinen Augen sehen konnte, die Haare standen wirr vom Kopf ab, und die Mundwinkel waren nach unten gezogen. Ja, so sah ein Monster aus. Aber Esther hatte auch von sich solch entstellende Schnappschüsse in der Schublade. Gut, besonders hübsch fand sie sich ohnehin nicht, sie hatte mindestens zehn Kilo zu viel auf den Hüften, und ihre glatten, leicht grauen Haare machten nicht wirklich etwas her, aber auf den schlimmen Fotos sah sie nicht nur graumäusig, sondern direkt hässlich aus. Eines davon – auf dem sie etwas frustriert ins Nichts blickt und noch dazu die Arme verschränkt hielt – hatte vor zwei Jahren auf unerklärliche Weise den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. «Heilpraktikerin heiratet Kinderschänder hinter Gittern» lautete die Bildunterschrift. Gernot hatte sich damals einen Witz erlaubt und aus beiden Bildern am PC eine Collage gemacht. Er mit Exorzistenblick und sie mit einer Visage, die auch gut auf die RAF-Fahndungsplakate gepasst hätte. Komisch, dachte Esther jetzt, diese Fotomontage war im Grunde genommen das einzige Bild, das es von ihnen beiden gab. Bei der Hochzeit hatte niemand fotografiert. Und seit Gernot hier bei ihr lebte, waren sie nie dazu gekommen. Es hatte einfach keine Gelegenheiten für Fotos gegeben.

Esther spürte, wie sich ihr Hals verengte. Schlucken war kaum noch möglich, und auch das Luftholen fiel ihr schwer. Sie schaute sich nur halbherzig auf der Straße um, denn sie wusste, die Schmierfinken hatten sich schnellstens aus dem Staub gemacht, da würde sie niemanden mehr erwischen. Von den Nachbarn ließ sich ohnehin keiner mehr blicken, wenn sie aus der Tür trat. Früher einmal hatten sie eine gute Straßengemeinschaft gehabt. Die Rosenthallohne lag malerisch mitten in der Stadt: verwunschene Vorgärten, entzückende Jugendstilvillen, kleine Backsteinhäuschen und eine schmale Straße, die für den Durchgangsverkehr gesperrt war. Doch manchmal kam es Esther vor, als sei inzwischen eine Evakuierungsmaßnahme eingeleitet worden, von der sie als Einzige nichts mitbekommen hatte. Vielleicht, weil sie und ihr Mann der Grund für die Räumung gewesen waren.

Da prangten nun diese Buchstaben an ihrer Hauswand. Gernot würde sie zum Glück nicht zu Gesicht kriegen, er war heute Morgen mit dem Motorrad losgefahren. Das tat er neuerdings manchmal an seinen freien Tagen. Esther hatte Verständnis dafür, obwohl sie wusste, dass das ziellose Herumfahren eine Sache war, die auch ein Risiko darstellte. «Cruisen» nannte der Familientherapeut das, und man solle es auf jeden Fall vermeiden. Zumindest in der Anfangszeit. Aus dem Spazierenfahren konnte schnell etwas anderes werden – so etwas wie eine Suche zum Beispiel. Eine Suche nach jungen Mädchen.

Laut Rückfallvermeidungsplan hätte Esther es verhindern müssen, das war ihr klar. Andererseits wollte sie, dass es Gernot gut ging, dass er seine Freiheit genießen konnte. Es lag ihr nicht, den Freiheitsdrang ihres Mannes durch Verbote einzuschränken. Dazu liebte sie ihn viel zu sehr. Und waren sie nicht auch langsam über die Anfangszeit hinweg? Irgendwann mussten sie doch damit beginnen dürfen, ein eigenes Leben jenseits der Beratungsstellen zu führen. Schließlich war bislang alles gut gelaufen.

Doch gleich würde Griet heimkommen und die Schmiererei lesen. Machten sich die Leute denn überhaupt keine Gedanken, wie es ihrer Tochter bei der ganzen Sache ging? Einmal war Griet eher aus dem Gymnasium nach Hause gekommen, weil ein Mitschüler ganz ungeniert gefragt hatte, wie denn die letzte Nacht mit ihrem Stiefvater gelaufen sei.

Die Menschen sind widerlich geworden, dachte Esther. Oder waren sie es schon immer? Jedenfalls hatte Esther es paradoxerweise erst bemerkt, als sie einen vorbestraften Mann heiratete.

Gerade als sie wieder ins Haus gehen wollte, hörte sie das Scheppern von Griets altem Hollandrad, welches von der unregelmäßig geteerten Straße durchgeschüttelt wurde. Sie blickte sich um und erwischte ihre Tochter dabei, wie sie sich verschämt mit ihrem schwarzen Fledermausärmel ein paar Tränen aus dem Gesicht wischte. Hatte sie etwa schon von der neuen Schmach gehört? Oder war die Schmiererei bereits heute früh da gewesen? Nein, Oltmanns hätte sie nicht übersehen können, die Vandalen mussten ihr Werk in der Stunde vollbracht haben, als sie ihn mit den Blutegeln behandelte. Am helllichten Tag also war es ihnen gelungen, an ihrem Haus herumzuschmieren, ohne dass es jemandem aufgefallen war – oder zumindest, ohne dass jemand versucht hätte, den Anschlag zu verhindern.

Also konnte Griet von alldem hier eigentlich noch keine Ahnung haben. Trotzdem sah sie verheult aus. Ihre schwarze Wimperntusche und das dicke Kajal, das nicht nur ihre Augen, sondern auch ihr Aussehen als Grufti deutlich unterstrich, waren verwischt, durch den totenblassen Gesichtspuder zogen sich rinnsalartige Spuren.

«Grufti» war der richtige Ausdruck für Griets Erscheinung, Todessehnsucht war derzeit der Lebenssinn ihrer Tochter. Natürlich machte Esther sich Sorgen, sie hatte Bücher über Heranwachsende gelesen und sich im Internet über diese «Gothic»-Bewegung informiert. Eine Phase, beruhigten die meisten Experten, man solle nur darauf achten, dass die Teenager keine Suizidabsichten äußerten, sie aber sonst gewähren lassen. Jugendliche bräuchten manchmal die extreme Form, um sich und ihre Gefühle auszudrücken. Toleranz und Gesprächsbereitschaft seien hier die gefragten Eigenschaften, mit denen die Eltern dem Nachwuchs am meisten helfen könnten. Also versuchte Esther stets die finsteren Musikklänge aus Griets Zimmer zu überhören und akzeptierte stillschweigend, wenn dort die vormals hellblauen Wände schwarz und rot gestrichen werden mussten. Auch Gernot ließ das Kind in Ruhe, er zeigte ohnehin viel mehr Gelassenheit in diesen Dingen. Er habe im Knast einiges gesehen und gehört, sagte er, wenn die Situation mal wieder zu eskalieren drohte, dagegen wirke der Spuk im Hause Vanmeer wie ein Kinderkarussell neben der Geisterbahn.

«Was ist los?», fragte Esther ihre sich nähernde Tochter, doch Griet fuhr über den Trampelpfad am Haus vorbei in den Garten, ohne ihre Mutter oder die Schmiererei zu beachten. Esther folgte ihr und konnte ihre Tochter gerade noch abfangen, bevor sie mit der Stofftasche unter dem Arm durch die Hintertür ins Hausinnere schlüpfte. Sie bekam einen Zipfel vom Umhang zu fassen. «Was ist denn los?», versuchte sie es noch einmal.

Griet verzog lediglich den Mund und blickte trotzig in die entgegengesetzte Richtung.

«Die Lateinarbeit? Hat deine Prüfungsangst mal wieder zugeschlagen?» Griet war Klassenbeste, eigentlich hatte sie keinen Grund, derart angespannt zu sein. Was wirklich hinter diesem Problem lag? Das hätte Esther zu gern gewusst, aber ihre Tochter schottete sich neuerdings noch mehr ab. «Komm schon, das ist doch nicht so schlimm. Wir versuchen es mal mit Genzian-Essenzen, vielleicht kriegen wir es damit besser in den Griff.»

Nun traf Griets Blick sie wie ein Pfeil. «Erstens: Latein ist ausgefallen. Und zweitens: Der Grund dafür lässt sich mit keinem deiner beschissenen Heile-heile-Welt-Blümchen in den Griff kriegen.»

Immer öfter erschreckte Esther sich, wenn ihre Tochter so schaute und so sprach. Griet hatte sich verändert in letzter Zeit. Sie war zu einem bockigen und verschlossenen Mädchen geworden. Lag das wirklich nur an der Pubertät?

«Ich hatte heute den abgefucktesten Tag meines Lebens. Ich gehe nicht mehr aufs Ulrichsgymnasium, überhaupt in ganz Norden nicht. Ich gehe nie mehr zur Schule! Mama, schick mich meinetwegen auf ein Internat für Schwererziehbare. Aber ich will mit dem ganzen Mist hier nichts mehr zu tun haben!» Sie riss sich los und stampfte mit den schweren Stiefeln ins Haus. Jeder, der sie beide hier beobachtete, würde denken, dass die Idee mit dem Internat vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Es musste aussehen, als hätte Esther ihre dreizehnjährige Tochter nicht mehr im Griff. Vielleicht war es auch tatsächlich so. Immerhin musste sie Griet wie eine Bittstellerin hinterherlaufen, damit sie erfuhr, weshalb ihre Tochter verheult aus der Schule kam.

Griet hatte ihre Stiefel von den Füßen gestreift und achtlos im Flur liegenlassen. Ihre Schritte waren bereits auf den obersten Treppenstufen zu hören.

«Du bleibst jetzt mal stehen!», rief Esther, obwohl ihr dieser autoritäre Ton nur widerwillig über die Lippen kam. Tatsächlich wurde das Gepolter langsamer. Schnell setzte Esther hinterher: «Ist es wegen Gernot? Haben sie dich wieder …»

«Jein.» Griets Antwort war ungewöhnlich. Normalerweise gab es von ihr klare Widerworte oder manchmal auch eindeutige Zustimmung. Dass ein Jein im Sprachschatz ihrer Tochter vorhanden war, hatte Esther bislang nicht gewusst.

Erwartungsvoll schaute sie die Treppe hinauf. Griet hatte sich auf die oberste Stufe gesetzt und die Beine angewinkelt, sodass das ausgefranste Loch in ihrer graugestreiften Wollstrumpfhose erst richtig zur Geltung kam. Ihren Kopf hatte sie in die Hände gestützt. Ein wenig erinnerte der Anblick an das kleine Mädchen, das Griet einmal gewesen war, ein bisschen wild und ein bisschen scheu. Esther setzte sich auf die unterste Stufe. «Was heißt Jein?»

«Es hat etwas mit Gernot zu tun – und irgendwie auch nicht. Glaube ich jedenfalls.»

«Sei mir nicht böse, aber …»

«Mama, wenn du wieder mit diesem Schleimgelaber anfängst, dann gehe ich auf mein Zimmer und komme nie wieder raus. Mich kotzt das so an!»

«Ist ja gut, ist ja gut.»

«Gar nichts ist gut. Die Alli, also die Allegra Sendhorst aus meiner Klasse … Kennst du sie?»

Was für eine Frage. Esther kannte niemanden aus Griets Klasse. Ihre Tochter war schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Und wenn sie überhaupt mal etwas aus dem Schulalltag erzählte, so drehte es sich um die Lehrer oder die Inhalte des Unterrichts. «Was ist mit ihr?»

«Du hast es also noch nicht gehört? Sind sie noch nicht bei dir eingefallen? Hat niemand versucht, Gernot mit der Mistgabel aus dem Haus zu holen?»

«Nein, warum? Höchstens die Schmiererei am …»

«Also, heute Morgen sollten wir gerade mit der Lateinarbeit anfangen, und Herr Nettahn hat sich gewundert, weil Alli nicht da war. Die ist bei allen total beliebt und Daddys Schatz, soweit ich weiß. Und eigentlich ist sie auch ganz okay. Jedenfalls klopfte es an der Tür, und zwei Polizisten kamen rein. Sie fragten, ob einer von uns wüsste, wo Alli steckt, die wäre heute Nacht nicht nach Hause gekommen.»

Esthers Herz beschleunigte sich. Ein Mädchen war verschwunden. Gernot war unterwegs. WIR KRIEGEN DICH DU MÖRDER! Sie sagte keinen Ton.

«Na ja, ich hatte gleich das Gefühl, die glotzen alle in meine Richtung. Es war ekelhaft. Alle waren total durch den Wind und haben nur noch von Alli gesprochen. Und Pamela Rohloff, Allis beste Freundin, ist gleich mit den Polizisten raus. Herr Nettahn hat die Arbeit abgeblasen. Und dann, nach der zweiten großen Pause, da …»

Griet schluckte, wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Esther konnte sich denken, was dies zu bedeuten hatte. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Sie wollte es nicht hören.

«… also nach der zweiten großen Pause, da ging das Gerücht rum, Alli ist tot. Ermordet.»

Griet schluchzte auf. Wann hatte Esther ihre Tochter das letzte Mal so weinen sehen? Sie wäre gern hinaufgegangen und hätte die Arme um diese schmalen, zuckenden Schultern gelegt. Doch sie wollte keine Abwehr riskieren. Griet hatte die Treppe in ihrer vollen Länge genutzt, um ganz klar auf Distanz zu gehen. Eine von ihnen saß oben, eine saß unten, nur dann wurde gesprochen. Das musste sie respektieren, bei aller Liebe. «Und dann haben dich wieder alle so angestarrt?»

«Eben nicht», stieß Griet fast wütend hervor. «Kein Arsch hat sich um mich geschert. Und weißt du was? Das war das Allerschlimmste, dass keiner mehr geguckt hat. Da war mir klar, alle denken, Gernot hat’s getan.»

4.

Elm (Ulme)

Botanischer Name:ULMUS PROCERA

Die Blüte gegen das vorübergehende Gefühl, seiner Aufgabe oder Verantwortung nicht gewachsen zu sein.

«Krüppelwalmdach.»

«Was?» Wencke verstand ihren Kollegen nicht, obwohl Meint Britzke derjenige in der Abteilung war, mit dem sie die meiste Zeit verbrachte. Sie gaben ein gutes Team ab und ergänzten sich wunderbar, denn er füllte akribisch die Akten, während sie ihrer inneren Stimme folgte – und nie einen brauchbaren Kugelschreiber dabei hatte.

«Dieses Haus hier ist ein typisches Krüppelwalmdachhaus. Du erkennst es an dem nur halb abgeschrägten Giebel. Sehr beliebt zurzeit bei den Bauherren.» Britzke war gerade dabei, ein neues Einfamilienhaus zu planen, da seine Frau das dritte Kind erwartete. Doch Wencke Tydmers interessierte sich im Moment nicht die Bohne für Britzkes architektonische Klugfiedelei. Das Haus, in dem Allegra Sendhorst mit ihrem Vater wohnte – gewohnt hatte – war ein typischer roter Backsteinneubau in einer typischen Familiensiedlung mit niedlichen Windmühlen in den Vorgärten und bemalten Garagentoren. In der Auffahrt stand ein schnittiger Mercedes mit Oldenburger Kennzeichen. Neben der Eingangstür hing ein getöpfertes Schild, auf dem ein Knet-Mann und ein Knet-Mädchen Hand in Hand in die Gegend lächelten. Daneben waren Namen in den Ton geritzt worden: Peter und Allegra Sendhorst. Darunter wiederum Das Dreamteam. Wencke schluckte. Sie wünschte, dieses Schild übersehen zu haben, es machte den Besuch noch schwerer für sie. Wenn Peter Sendhorst ihr nun direkt ins Gesicht sagen würde, dass sie durch ihre Trägheit gestern Abend das Dreamteam auseinandergerissen hatte? Und zwar unwiederbringlich?

Britzke drückte auf die Klingel.

Eine schlanke Frau öffnete die Tür. Sie trug einen Arztkittel, ihre brünetten Haare sahen aus, als seien sie vor einer halben Ewigkeit mal zu einer Hochsteckfrisur zusammengefasst und dann einfach vergessen worden. In der Hand hatte sie eine bis zum Filter gerauchte Zigarette, die sie jetzt achtlos in einen Kugelbusch neben dem Eingang warf. «Kripo?», fragte sie knapp.

«Wir kommen aus Aurich. Mein Name ist Wencke Tydmers, ich werde die Ermittlungen in diesem Fall leiten.» Wencke streckte die Hand aus, doch die Frau mit den geschwollenen Augen reagierte nicht, also nutzte Wencke die begonnene Geste, um auf Britzke zu zeigen und auch seinen Namen zu nennen. Die Frau lehnte im Türrahmen und schwieg.

«Wir hätten ein paar Fragen, Frau … äh …»

«Ute Sendhorst. Geschiedene Sendhorst. Ich bin die Mutter.» Die Worte kamen fast tonlos über die schmalen, ungeschminkten Lippen.

«Es tut uns wirklich leid, was mit Ihrer Tochter passiert ist», sagte Britzke.

Zum Glück war ihm die Beileidsbekundung eingefallen. Wencke hatte sie tatsächlich vergessen, vielleicht, weil sie sich selbst so leid tat. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr ein Angehörigenbesuch je so an die Nieren gegangen wäre. Dies war zwar nicht der erste Teenagermord, in dem sie ermittelte – vor Jahren hatte sie auf Norderney den Tod einer Vierzehnjährigen aufklären müssen –, aber hier und heute wurde sie das Gefühl nicht los, selbst Anteil am Schicksal der Familie zu haben.

Endlich löste die Frau ihre abwehrende Haltung. «Kommen Sie doch rein.»

Sie folgten ihr durch den hell gefliesten Flur. An der Wand hingen bunt gerahmte Bilder: von einem Baby in der Badewanne, einem Kleinkind auf dem Schlitten, einer Geburtstagstorte mit sieben Kerzen und einem grinsenden Gesicht dahinter, von der Konfirmation im schwarzen Kostümchen und roter Rose am Revers. Ja, auf diesem letzten Foto erkannte Wencke das Mädchen wieder, welches sie eben dort am schlammigen Ufer des kleinen Teiches hatte liegen sehen. Es war immer noch ein kindliches Gesicht gewesen, mit dunkelblondem Haar und einer Frisur irgendwo zwischen süßem Mädchen und junger Dame. Der Anblick der toten Allegra hatte Wencke im Grunde genommen nicht so sehr schockiert. Die Leiche wirkte seltsam unbeschädigt, und wäre sie nicht nackt gewesen, hätte man auch von einem Selbstmord oder Unfall ausgehen können. Doch zu sehen, wie sie den Eltern in Erinnerung bleiben würde, als etwas angestrengt lächelnde Tochter, die nicht so recht wusste, wohin mit den Händen, wenn sie fotografiert wurde, legte Wencke einen Stein in den Magen.

Auf dem Esstisch standen neben leeren Teetassen auch einige Medikamente. Davor saß ein bleicher Mann mit Halbglatze, neben ihm ein noch blasseres Mädchen.

«Ich habe beiden etwas zur Beruhigung gegeben. Ich bin Ärztin», erklärte Ute Sendhorst ungefragt. Dann schloss sie die Terrassentür und rieb sich die Arme. Anscheinend war ihr kalt, obwohl draußen 25 Grad herrschten und die Luft in diesem Raum zum Schneiden war. Sie setzte sich neben den Mann und klopfte ihm fast mechanisch den Unterarm. Er ließ seinen Kopf auf ihre Hand sinken und weinte leise. Das Mädchen, ungefähr im selben Alter wie Allegra, putzte sich die Nase.

Wencke und Britzke standen hilflos mitten im Zimmer. Es war unerträglich. Eine bleierne Stille machte sich breit, bis endlich ein Telefon im Flur klingelte. Ute Sendhorst wollte gleich aufstehen, aber ihr Exmann schüttelte den Kopf und erhob sich. «Ist schon gut. Ich mach das.»

Erst als er hinausgegangen war, fasste Wencke endlich den Mut, ein Wort zu sagen. Sie setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl und wandte sich an das Mädchen. «Bist du die Freundin, bei der Allegra gestern gespielt hat?»

Ein Nicken und ein zitterndes Einatmen waren die Antwort.

«Ich bin Wencke Tydmers und arbeite für die Polizei. Es ist gut, dass ich dich hier treffe, denn es ist sehr wichtig, dass du uns alles erzählst, an was du dich erinnern kannst, verstehst du? Je mehr wir wissen, desto größer ist die Chance, dass wir ganz schnell herausfinden, was passiert ist. Und je schneller wir es herausfinden, desto sicherer können wir sein, dass so etwas nicht nochmal passiert.»

«Glauben Sie, es war dieser Triebtäter?», unterbrach Ute Sendhorst mit schneidender Stimme. «Denken Sie, es war Gernot Huckler?»

«Wir denken momentan erst einmal gar nichts. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob … nun ja, ob Ihrer Tochter etwas angetan wurde.»

«Etwas angetan wurde?» Sie ließ ein bitteres, verrauchtes Lachen hören. «Immerhin ist meine Tochter ermordet worden, oder nicht? Da ist doch schon mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass ihr etwas angetan wurde!»

«Sie wissen, was ich meine.»

«Klar weiß ich, was Sie meinen. Missbrauch.» Ihre zitternden Finger griffen in die Brusttasche des Arztkittels und zogen eine zerknitterte Zigarette hervor. «Und es war nötig, sie zu ermorden, damit die Alli diesen Huckler, dieses Schwein, nicht verpfeift.»

«Im Moment können wir noch keine eindeutigen Aussagen machen. Mit Verdächtigungen sollten wir alle daher vorsichtig sein.»

Die Frau zog so stark an ihrem Filter, dass sich die Glut fast bis zur Hälfte des Tabaks fraß. Während sie den dicken Rauch wieder ausatmete, sagte sie: «Hören Sie, Frau Kommissarin. Ich kenne zufällig den Kollegen, der die erste Leichenschau unternommen hat. Ich habe ihn sofort angerufen.» Sie saugte wieder an der Zigarette. «Natürlich habe ich das, weil ich wissen wollte, wie meine Tochter ausgesehen hat. Meine kleine Alli. Und er hat gesagt, dass sie nichts anhatte. Splitterfasernackt wurde sie aus dem Schwanenteich gefischt. Keinen Slip und kein Hemdchen. Und da wollen Sie mir erzählen, es gäbe keinen sexuellen Hintergrund?»

«Wenn Sie Ärztin sind, wissen Sie, dass man immer erst die Untersuchungen der Rechtsmedizin abwartet …»

«Auch wenn im selben Ort ein einschlägig vorbestrafter Pädophiler unterwegs ist?»

Britzke kam Wencke zu Hilfe: «Natürlich werden wir bei allen uns bekannten Straftätern in dieser Gegend das Alibi überprüfen.»

«Ich spreche hier ganz konkret von Gernot Huckler. Sehen Sie, ich lebe nicht in Norden, sondern in Oldenburg. Aber selbst dort ist der Name dieses Mannes ein Begriff.»

«Frau Sendhorst, ich kann Ihre Aufregung ja verstehen, aber ich bitte Sie, vorsichtig mit diesen Verdächtigungen umzugehen.»

«Nach dem, was über ihn in den Zeitungen gestanden hat, verdient dieser Mann keinerlei Rücksicht.»

Wencke holte tief Luft. «Soweit ich weiß, hat Gernot Huckler keines seiner Opfer getötet. Wenn Sie schon so viel von ihm gehört haben, sollte Ihnen diese Tatsache auch geläufig sein.»

«Vielleicht hat er ihnen nicht die Kehle zugedrückt, aber getötet hat er sie doch. Ihre Seelen hat er getötet! Mein Gott, haben Sie damals dieses Interview in der Zeitlupe gelesen, als sie ihn vorzeitig entlassen haben? Die Opfer sind inzwischen erwachsen. Und immer noch gezeichnet von dem, was dieses Monster ihnen angetan hat. Wer kleine Mädchen nötigt, perverse Dinge zu tun, der ist für mich auf jeden Fall ein Mörder.»

«Aber es gibt auch so etwas wie ein Schema, nach dem die Täter vorgehen …»

«Der Kerl hat fast sechs Jahre lang im Knast gesessen für die Sache damals in Hameln. Da hatte er doch genügend Zeit, sich ein neues Schema auszudenken, damit er beim nächsten Mal keine kleine, minderjährige Zeugin hinterlässt.»

Es hatte keinen Sinn, auf diese Unterhaltung einzugehen, entschied Wencke und wandte sich stattdessen wieder an die Freundin. «Wie ist dein Name?»

«Pamela Rohloff.»

«Wart ihr in einer Klasse?»

Sie nickte. «Wir sind beste Freundinnen. Und ich hab echt ein schlechtes Gewissen, weil ich …» Dann brachte sie kein Wort mehr hervor.

«Du hast doch nichts Schlimmes getan, Pamela. Ihr wart gestern verabredet, ihr habt miteinander gespielt …»

«Nein.»

«… und dann ist sie nach Hause gefahren, ein bisschen zu spät, aber …»

«Eben nicht!» Die Stimme des Mädchens war nun lauter.

«Was meinst du damit?», fragte Wencke.

Auf einmal stand Peter Sendhorst wieder am Tisch. Er legte dem Mädchen beruhigend die Hände auf die Schultern. «Pamela ist zu uns gekommen, weil sie uns sagen wollte, dass Alli gestern gar nicht bei ihr gewesen ist.»

Im Gegensatz zu seiner Exfrau hatte Peter Sendhorst eine weiche, ruhige Stimme, die er noch immer fest im Griff hatte, auch wenn seine Augen in Tränen schwammen.

«Aber als Sie mich gestern Abend in Aurich angerufen haben …» Tja, nun war es raus, nun wusste Peter Sendhorst, dass er der Person gegenüberstand, die es nicht für nötig gehalten hatte, sich um seine Tochter zu kümmern, obwohl es so wichtig gewesen wäre. Doch er ließ sich nichts anmerken.

Im Gegensatz zu seiner Exfrau, die direkt auf die Barrikaden ging: «Sie waren das? Von Ihnen hat sich Peter einlullen lassen?»

«Ist gut, Ute», wagte Sendhorst einen Schlichtungsversuch.

«Überhaupt nichts ist gut. Du warst mal wieder zu schüchtern oder zu dämlich, entsprechend Druck zu machen. Sonst hast du unserer Tochter immer alles Mögliche untersagt vor lauter Vorsicht, aber wenn es drauf ankommt, dich für sie einzusetzen und mal woanders auf den Tisch zu hauen, dann ziehst du den Schwanz ein.» Sie spuckte beim Reden, und jeder Satz schien ihren Exmann Zentimeter für Zentimeter schrumpfen zu lassen.

«Was hätte ich denn tun sollen?», traute er sich gerade eben noch anzumerken.

«Du hättest dich besser gleich an den Vorgesetzten weiterleiten lassen sollen!»

«Ich bin die Vorgesetzte», mischte Wencke sich wieder ins Gespräch.

«Ach!» Ute Sendhorsts Blick wurde eiskalt. «Dann werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, damit bei Ihnen in Zukunft fähigere Leute die Zügel in der Hand halten.»

Die Drohung hallte noch einen Moment im Raum nach. Niemand reagierte darauf. Zwar brannten Wencke einige schlagfertige Widerworte auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter. Diese Frau war im Ausnahmezustand. Es war sinnvoller, mit den Befragungen über den gestrigen Abend fortzufahren.

«Also, Herr Sendhorst, nochmal zu unserem Telefonat, da sagten Sie, Sie hätten bereits mit der Freundin Ihrer Tochter gesprochen und erfahren, dass Alli etwas später losgefahren sei.»

Doch statt des verängstigten Peter Sendhorst meldete sich jetzt Pamela zu Wort.

«Ich habe gelogen», sagte sie mit gesenktem Kopf. «Alli war gestern nicht bei mir, den ganzen Nachmittag nicht. Sie hat mich nur gebeten, es zu sagen, falls ihr Vater bei uns anruft.»

«Und wo war sie dann?», fragte Wencke.

«Das haben wir Pamela auch schon gefragt», erklärte Peter Sendhorst. Ihm war keinerlei Wut anzumerken. «Sie weiß es nicht.»

«Zumindest behauptet sie das», giftete Ute Sendhorst dazwischen.

«Nein, Frau Sendhorst, Sie müssen mir echt glauben. Ich würde es Ihnen sagen, und der Polizei auch!» Dem Mädchen war die Verzweiflung anzusehen. Doch während Peter Sendhorst ihr beruhigend über den Kopf streichelte, setzte seine Exfrau noch einmal nach: «Ihr Mädchen habt immer eure Geheimnisse. Meinst du etwa, ich hätte vergessen, wie es bei mir selbst gewesen ist? Meine beste Freundin hat nie gepetzt, wenn ich mich mit meinem ersten Freund getroffen habe.»

Jetzt war es Wencke zu viel. Wenn das so weiterging, wenn diese Frau – die sicher allen Grund dazu hatte, verzweifelt und außer sich zu sein – sich in Gegenwart des Mädchens weiter so benahm, dann war es nur eine Frage der Zeit, dass die verschüchterte Pamela ganz dichtmachte. Wencke spürte, nur jetzt und hier war eine wirklich gute Gelegenheit, mit der besten Freundin der Toten ins Gespräch zu kommen. Kinder und Jugendliche waren sowieso schwierige Zeugen, sie schwenkten schnell um. Ein paar Stunden später würde Pamela sich bereits viel zu lange den Kopf zerbrochen haben, was sie wohl am besten sagen sollte und was nicht. Sie tat es sicher nicht aus Berechnung, sondern weil sie sich eingeschüchtert fühlte. Es gab in Aurich zwar eine geschulte Kollegin und auch ein Vernehmungszimmer, welches extra für Zeugenaussagen von Kindern eingerichtet war, trotzdem verkrampften schon viele, wenn sie nur unten durch den Eingangsbereich laufen mussten, wo die Kollegen die Notrufe entgegennahmen und man auf Schwarz-Weiß-Bildschirmen jeden Winkel des Polizeigebäudes observieren konnte.

Wencke warf einen eindeutigen Blick zu dem bislang so wortkargen Britzke, der auch prompt reagierte.

«Frau Sendhorst, wären Sie so freundlich und würden mir das Zimmer Ihrer Tochter zeigen?»