Die Botschaft der Hoffnung - Kardinal Gerhard Kardinal Müller - E-Book

Die Botschaft der Hoffnung E-Book

Kardinal Gerhard Kardinal Müller

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Beschreibung

Gerhard Kardinal Müller, lange von den Medien als Gegenspieler zu Papst Franziskus aufgebaut, stellt sich im Interview mit Carlos Granados den aktuellen Fragen des Pontifikats Franziskus. Seine Überlegungen zur Bedeutung von Jesus Christus, zur Situation der Kirche, zum Wert der Familie und zur Barmherzigkeit als Grundlage des Handelns zeigen Wege auf zu einem gelingendem Leben in der christlichen Hoffnung. In den anregenden und teils auch überraschenden Antworten des Präfekten der Glaubenskongregation spiegeln sich immer wieder die Aussagen und das Handeln von Papst Franziskus, mit dem Müller in enger Verbundenheit steht.

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Seitenzahl: 327

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Die Botschaft der Hoffnung

Gedanken über den Kern derchristlichen Botschaft

Gerhard Kardinal Müllerim Gespräch mit Carlos Granados

In der Übersetzung von Dr. Franziska Dörr

Impressum

Die Originalausgabe ist erschienen unter dem TitelINFORME SOBRE LA ESPERANZAim Verlag Biblioteca de Autores Cristianos, 2016

Für die deutsche Ausgabe:© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Christian Langohr, Freiburg

Covermotiv: © Stefano Spaziani, action press

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-83344-1

ISBN (Buch) 978-3-451-38888-0

Inhalt

Die Botschaft der Hoffnung

I. Was dürfen wir von Christus erhoffen?

II. Was dürfen wir von der Kirche erhoffen?

III. Die Familie als Heimat der Hoffnung

IV. Die Gesellschaft, eingebunden in die Hoffnung

V. Barmherzigkeit als Schlüssel der Hoffnung

Bibelstellen

Personen

Dokumente und Texte

Die Botschaft der Hoffnung

„Lasst euch nicht die Hoffnung rauben, die uns Jesus gibt!“ Dieser Satz von Papst Franziskus ist ein starker Aufruf; die Forderung nach einer Hoffnung, die weit über den naiven Optimismus hinausgeht. Der Papst sorgt sich darum, dass wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren, jene große Hoffnung, die nur Jesus geben kann. Zunächst jedoch: Was ist die christliche Hoffnung, welchen Inhalt besitzt sie, was bedeutet sie?

Der Mensch lebt stets mit Blick auf die Zukunft: Er stellt sie sich vor, er plant und erträumt sie. Auf diese Weise hat das Leben eine immer neue Anziehungskraft, denn man erwartet die Begegnung mit etwas Neuem, mit etwas Großem, das uns erlaubt, als Menschen zu wachsen. Freilich ist die Zukunft auch der Bereich des Unbekannten und enthält auch Bedrohungen, die Angst machen. Die Hoffnung ist genau das, was uns einen Weg in Richtung Zukunft ermöglicht. Dabei vertrauen wir dem, was schon aufkeimt, was uns die Erfüllung dessen ankündigt, das wir ersehnen. So können wir unsere Ängste überwinden.

Im menschlichen Leben gibt es Bereiche, in denen Hoffnungen aufkeimen, die wir „natürliche Hoffnungen“ nennen könnten. Denken wir an die Erfahrung der Liebe, die immer eine Verheißung auf Ewigkeit in sich trägt und die es den Verliebten erlaubt, sich eine Zukunft voller neuer Möglichkeiten vorzustellen. Oder denken wir an ein Kind, das allein durch seine Geburt den Eltern und der Gesellschaft neue Horizonte eröffnet und ihren Blick in die Zukunft weitet.

Alle diese Hoffnungen greifen jedoch, für sich genommen, zu kurz. Wir können sie nur deshalb annehmen, weil in ihnen schon jetzt die große Hoffnung aufstrahlt, an die uns Papst Franziskus in dem von Ihnen vorher zitierten Satz und auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Spe salvi erinnert haben (vgl. Nr. 39). Es ist die Hoffnung auf Gott, das heißt das Vertrauen darauf, dass das Leben sein Ziel erreichen wird und alle Ängste, einschließlich der Angst vor dem Tod, überwinden kann. Diese Hoffnung ist wie ein Körnchen Gold, das am Boden einer Goldwäscherpfanne leuchtet und so den alltäglichen Hoffnungen ihr wahres Maß gibt.

Wir könnten sagen, das ganze Werk Jesu war ein Werk der Hoffnung. Er wurde geboren als die „Hoffnung Israels“ (Jer 17,13). Er säte in seiner Verkündigung Hoffnungen auf den Weg der Menschen, indem er ihnen die Augen öffnete, ihnen das Vorwärtskommen ermöglichte und sie von den Sünden befreite, die ihr Vorangehen behinderten.

Wir können uns jedoch fragen: Wie ist diese Zukunft zu erreichen? Ist sie nicht zu groß und erhaben für uns? Darin liegt der Schlüssel des Angebots Jesu: Er eröffnet uns nicht nur die Zukunft, er zeigt uns auch den Weg, sie zu erreichen. Die Begegnung mit der Liebe Jesu enthält ein Versprechen, das uns befähigt, über unsere Kräfte zu hoffen. Wenn wir uns auf Christus stützen, sind wir gewiss, dass er für die größte Hoffnung einsteht, für eine Hoffnung, die über einen bloßen Optimismus hinausgeht. Dieses echte Vertrauen gründet nicht mehr auf eine einfache positive Bewertung dessen, was wir erreichen können, vielmehr gewinnt sie ihre Kraft aus Gott in Jesus, dem Gewährsmann der großen göttlichen Verheißung.

Das ist die wahre theologische Hoffnung, denn sie hat ihren Sinn (logos) in der Güte Gottes (theos). Deshalb sagen wir, dass die Hoffnung eine übernatürliche Tugend ist, weil sie auf Gott als letztes Ziel aller Dinge ausgerichtet ist. Sie stützt sich in realistischer Weise auf Gott, um zu dem Ziel zu gelangen, das wir anerkennen als das, wofür wir gemacht und wozu wir berufen sind.

Daher ist die christliche Hoffnung auch einzig in der Lage, uns die so sehr ersehnte Sicherheit zu geben: Gott hat einen universalen Plan zu unserer Rettung, und er hat ihn in seinem Sohn Jesus verwirklicht. Dank einer solchen Hoffnung können wir uns auf Gott als absolute Zukunft stützen – nicht auf unsere eigenen Pläne und Vorhaben, die so vielen Beschränkungen unterworfen sind: Das ist die Sicherheit, die uns die Hoffnung gibt.

Leiden wir heute an einer Krise der Hoffnung, dieser großen Hoffnung, die zu Gott führt? Es sieht so aus, als hätte die Problematik des heutigen Menschen mit dem Glauben zu tun, vor allem bezüglich der Fähigkeit des Glaubens, uns der Zukunft zu öffnen; es scheint sich daher letztendlich um ein Problem der Hoffnung zu handeln. Die diversen Krisen unserer Gegenwart entwickeln sich nämlich auf dem Nährboden der Unsicherheit angesichts der Zukunft: Wirtschaftskrise, mangelnde Sicherheit im Zivilleben (zum Beispiel durch den Terrorismus), Geburtenrückgang … Ist das so?

Hoffnung und Glaube sind untrennbar miteinander verbunden und mit der Liebe vereint. Die drei theologischen Tugenden sind Ausdruck des neuen Lebens, das Jesus uns geschenkt hat, oder – was eigentlich dasselbe ist – der neuartigen, innovativen und geradezu revolutionären Art unserer Beziehungen zu Gott und zur gesamten Wirklichkeit.

In der Bibel greifen diese drei Tugenden ständig ineinander und verstärken sich. Der Glaube zielt darauf ab, Gott selbst als Fundament aller Wirklichkeit anzuerkennen: seine Existenz, sein heilbringendes Wirken in der Geschichte, seine stets treue Begleitung. Die Hoffnung richtet sich auf Gott in seiner Güte, seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als letztendliches Ziel, auf das alles hingeordnet ist. Die übernatürliche Liebe ist die tiefe innerliche Verbindung Gottes mit uns: Er lebt in uns, und wir sind seine Kinder.

Jeder von uns möchte glücklich sein: Wir alle wünschen uns echte Liebe, vollkommene Gerechtigkeit, unvergängliche Schönheit. Wenn wir hoffen, die volle Glückseligkeit in Gott zu erlangen, weil wir uns irgendwann in unserem Leben mit unserer Wirklichkeit auseinandergesetzt haben. Als wir darin eine Sehnsucht nach Unendlichkeit entdeckten, haben wir „Ja“ gesagt zu dem Einen, der unsere Sehnsucht stützen kann. In der Gewissheit seiner Treue haben wir uns freiwillig dem anvertraut, der seine Versprechen vollkommen erfüllt und uns liebt. Die Gottesfrage betrifft meine geschichtlich gegebene Freiheit. Auf wen stütze ich mein Leben? Wer ist Gott für mich?

Die wahre Hoffnung ist nur dann möglich, wenn wir uns auf Gott verlassen, der uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist geoffenbart wurde; sein trinitarisches Wesen enthüllt uns unsere trinitarische Beschaffenheit. Wir sind zur Einsicht fähig, dass alles aus dem Vater hervorgeht; dank unseres Intellekts entdecken wir unsere Wesensverwandtschaft mit dem Sohn; mit dem Geist bejahen wir die Liebesbeziehung zwischen Vater und Sohn. In Christus stellt Gott sich jedem von uns zur Seite und lässt uns sein Antlitz sehen. Wenn wir anerkennen, dass Er Urheber und providentielle Gegenwart in der Geschichte ist, und wir uns demütig zu seinem Sohn bekennen, werden wir in uns selbst eine Gabe entdecken, die uns ein furchtloses Dasein ermöglicht: Es ist der Glaube, diese befreiende und tröstende Gewissheit, die unsere Gefühle sicher macht, die uns zum Festhalten an unserer gegenwärtigen Geschichte aus Liebe befähigt und die unsere Hoffnung stützt, indem sie uns ohne Angst der Zukunft hin öffnet. Der hl. Johannes vom Kreuz, dieser große Interpret der christlichen Mystik, hat auf einzigartige Weise die Wandlung der Weltanschauung besungen, die sich in einer verliebten Seele durch die Gnade des Geliebten, des Erhabenen, des Nahen vollzieht:

„Tausend Liebreize verstreuend, schritt er eilig durch diese Haine, und als er sie im Vorübergehen anblickte, ließ er sie durch sein bloßes Erscheinen in Schönheit gekleidet zurück.“1

Die überbordende Größe dieses trinitarischen Verständnisses des Menschen und der Geschichte, ausgehend von einem Gott, der uns ins Dasein ruft, uns als seine Kinder behandelt und uns auffordert, die Welt leidenschaftlich zu lieben, steht im Gegensatz zu dem, was unsere westlichen Gesellschaften uns normalerweise anbieten. Wie viel Zukunftsangst bemerken wir in ihnen! Wie viele konkrete Ängste und wie viele unbestimmte Ängste! Wie viel Angst verbirgt sich doch hinter dem immer ausgedehnteren Götzenkult der Ideologien, des Sex, des Image oder der Nation! Das Eigenartige ist, dass der denkende Verstand – der den Glauben hinter sich gelassen hat, weil dieser angeblich obskur und schwach ist –, dass dieser modern-utopische Verstand dazu übergangen ist, dem unbegrenzten Fortschritt fast blind zu vertrauen und sich auf das irrationale Gefühl irgendeines diktatorischen Willens zu verlassen. Diese neue Epoche der Geschichte begann optimistisch und hoffnungsvoll, im sogenannten „Jahrhundert der Aufklärung“, und mündete in die gegenwärtigen Ängste. Es ging darum, sich der Zukunft zu öffnen, indem man die Erinnerung hinter sich ließ. Wir hatten die Möglichkeit, die Geschichte neu zu gestalten durch die Abkehr von der Tradition. Auch galt es, jedes Dogma zu vermeiden und die Hoffnung der Menschheit auf die vom technischen und wissenschaftlichen Fortschritt versprochenen neuen Möglichkeiten unbedingt zu unterstützen. Was haben uns aber diese Verheißungen hinterlassen?

Handelt es sich vielleicht um Glücksversprechen, bei denen wir auf Gott verzichten und nur auf den menschlichen Fortschritt bauen, sodass sie uns an Gütern gesättigt, aber ohne Hoffnung zurücklassen?

Genauso ist es. Ich stelle mit großer Traurigkeit und Sorge fest, dass viele unserer Zeitgenossen, die in einer Welt ohne Gott erzogen wurden, daran zweifeln, dass die Geschichte – einschließlich ihrer eigenen – einen Ursprung und eine Bestimmung hat. Die persönliche, familiäre oder nationale Vergangenheit wird als eine unzusammenhängende Folge von Windstößen wahrgenommen; man findet sich mit Kurzgeschichten ab, die nur wacklige Hoffnungen enthalten, strebt nicht nach einer edlen Geschichte, die einen erhebt, die dem ganzen Dasein Sinn gibt, die erklärt, warum man hier ist, für wen man lebt, warum man leidet … Das Ergebnis all dessen kann nur eine Krise der Hoffnung sein.

Wenn man den Glauben an Gott ablehnt; wenn man sich nicht mehr daran erinnert, dass seine Wohltaten in unserem Leben reines Geschenk sind, d. h. wenn wir unsere wesentliche Erinnerung verlieren und vergessen, dass Er unser Ursprung und Fundament ist, dann sind wir zu kleinen Göttern geworden; wir weigern uns, uns in uns selbst zu vertiefen und definieren unsere Identität schließlich nach eigenem Belieben neu. Diese westliche Kultur, die sich auf der Grundlage falscher philosophischer und theologischer Ansätze eingeredet hat, sie bräuchte Gott nicht als Fundament des Seins und des Menschen, hat nicht nur den Glauben, sondern auch die Hoffnung und damit ihre Größe verloren. David Goldman, Autor unter anderem des Werks How Civilisations Die, schreibt: „Die Banalität des Westens ist entmutigend“.

Ohne Gott verlieren wir den Mut zur Auseinandersetzung mit den großen existentiellen Fragen, die sich im Leben unweigerlich stellen: Tod, Krankheit, Leiden, Gewalt. Wir können sie auf tausend Weisen verdrängen, aber in Augenblicken der Klarheit werden wir feststellen, dass wir leer und verloren sind. Nur wenn wir in das Angesicht Gottes schauen, das sich uns in Christus immer klarer offenbart, und auf seine Vorsehung hoffen, dann werden wir die nötige Kraft empfangen, um uns den entscheidenden, letzten Fragen zu stellen.

Wenn wir verstehen, dass Glaube bedeutet, sich auf den verlassen, der uns die größte Verheißung gegeben hat, dann bringt er Vertrauen und daher auch Hoffnung hervor. Nur der Glaubende kann wirklich hoffen.

Ist es überhaupt möglich, die Flamme der Hoffnung, die in den Menschenherzen zu erlöschen scheint, neu zu entfachen?

Darin liegt eine große Aufgabe für die Kirche: aufzeigen, dass das Leben im Glauben eine Quelle der Hoffnung ist. Der heutige Mensch nimmt seinen fehlenden Glauben nicht als Drama wahr und – was noch schlimmer ist – er versucht ihn durch Surrogate, zum Beispiel durch einen billigen Optimismus, zu ersetzen.

Wir wenden uns, manchmal nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, an offensichtliche, von einem vagen Optimismus geprägte und absolut unnütze „Selbsthilfetechniken“; wir schminken nicht nur unser Gesicht, sondern unser ganzes Leben; wir tauchen immer wieder in die virtuellen Welten der TV-Fiktion ab, um Geschichten zu „leben“, die stets einen guten Ausgang haben; wir glauben jede Information der Medien über die Wohltaten unserer technisierten Gesellschaft; wir sind völlig von den Kampagnen überzeugt, die uns das Paradies auf Erden versprechen und von uns im Gegenzug „nur“ unsere Wählerstimme (das heißt unseren Willen) verlangen und unseren Verzicht darauf, von den Politikern eine ethisch vertretbare, das heißt eine dem Gewissen folgende, Machtausübung zu fordern. Wir zahlen einen hohen Preis, um optimistisch bleiben zu können!

Wenn wir uns ständig selbst zensieren, um das Negative im Leben zu übersehen, üben wir eigentlich eine erhebliche Gewalt aus gegen uns selbst und letztendlich auch gegen diejenigen, die „uns das Spiel verderben wollen“. Wie viel Skepsis und Zynismus verursacht doch die heute so weit verbreitete optimistische Betrachtungsweise! Wie viel Unvernunft verbirgt sich hinter dem vermeintlich rationalen Ansatz dieses „neuen Menschen“, der, um nur ein Beispiel zu nennen, dem gefährlichen Geburtenrückgang in den westlichen Ländern regungslos zuschaut, ohne Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate zu ergreifen oder eine verantwortliche Einwanderungspolitik durchzusetzen!

Wo lassen sich Zeichen der Hoffnung erkennen?

Wenn der Verstand in Einklang mit dem Glauben gebracht wird, kann er „die Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt“ (Röm 5,5) erkennen. Denken wir daran – wie es schon Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 in Regensburg betont hatte – dass die große westliche Zivilisation aus der gegenseitigen Wechselbeziehung von vier ständigen Bewegungen hervorgegangen ist: dem griechischen Fragen, dem jüdischen Prophetismus, dem katholischen Glauben und der Freiheit des modernen Gewissens. Für Papst Benedikt XVI. hat der heutige Mensch nur eine Möglichkeit: von der Frage nach Gott ausgehen und auf dieser Grundlage die Fähigkeit seiner Vernunft schärfen.

Der neue Humanismus, den wir entwickeln müssen, sieht keinen Gegensatz zwischen der Suche nach Vernunft und dem Glaubensakt, denn letzterer bestätigt uns, dass Gott die Liebe ist und dass er konkret in der Welt und vor allem in meinem Leben gewirkt hat, um mir auf diese Weise seine Liebe zu zeigen. Dieser neue Humanismus, der nicht damit aufhört, leidenschaftlich nach der Wahrheit zu suchen, lässt mich voller Hoffnung leben. Deshalb müssen wir bekräftigen, dass die Lehren der Kirche und ihre ganze Doktrin mit Hilfe des Glaubens ein tragfähiges Angebot für die Menschen von heute darstellen. Dadurch werden wir fähig zu erkennen, was das Ziel ist, das wir anstreben, und welches die Kräfte sind, auf die wir zu seiner Erreichung bauen können.

Andererseits befähigt uns nur der Glaube zur Wiederentdeckung der vielen Hoffnungszeichen, die es in der Gesellschaft gibt. Es stimmt zwar, dass es viele Anzeichen von Verzweiflung gibt, wie zum Beispiel der Egoismus, der sich in der Weltpolitik und der Weltwirtschaft immer wieder durchsetzt bzw. der fehlende Kinderwunsch vieler Menschen, aber wir können durch den Glauben die Elemente ausmachen, die unsere Hoffnung stärken: Es gibt in Politik und Wirtschaft viele Frauen und Männer, die sich um das Gemeinwohl bemühen, genauso wie – um das vorige Beispiel aufzugreifen – es viele junge, mutige und starke Paare gibt, die Kinder haben wollen und dann verantwortungsbewusst für diese Kinder, für ihre Zukunft und ihre Ausbildung sorgen. Die Erfahrung, Eltern zu werden, ist deswegen auch ein starkes Bild, um uns daran zu erinnern, dass die Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt, durchaus möglich ist. Im Staunen über die Geburt eines Kindes erfahren wir, dass am Ursprung von allem, was wir sind und tun, ein Geschenk steht, ein Du, das uns das Leben geschenkt hat, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Eine große Liebe hat uns in eine Familie aufgenommen und für uns gesorgt.

Impliziert die christliche Hoffnung stets eine optimistische Einstellung im Umgang mit Problemen bzw. eine positive Einschätzung der Dinge?

Ein Leben aus der Hoffnung beseitigt nicht die Probleme unseres Daseins. Das war immer so. Nach dem Sündenfall hat es in unserer Geschichte niemals mehr ein „Paradies auf Erden“ gegeben. Kindersterblichkeit, Kriege, Sklaverei, Unterdrückung der Armen – die Menschheitsgeschichte ist Zeuge dafür, dass diese Plagen unablässig andauern. Das ist das menschliche Elend. Das ist unsere Schwäche. Deshalb bedeutet an Gott zu glauben keineswegs, das Leid zu beseitigen, sondern dem Leid einen neuen Horizont zu eröffnen: verstehen, dass sich in jeder Situation, so schwierig und tragisch sie auch sein mag, ein fruchtbringendes Element finden lässt, denn der Schmerz kann, nachdem Christus ihn ja endgültig auf sich genommen hat, Liebe wecken und sie reifen lassen.

Ich glaube, dass unsere heutige Gesellschaft die Probleme, mit denen sie sich herumquält, weiter verschlimmert, indem sie Gott als metaphysisch unnötig betrachtet und einen Optimismus vorschlägt, der in der Wirklichkeit nicht zu halten ist. Es verbreitet sich eine skeptisch-hedonistische Lebensform, die dem Wesen des Menschen vollkommen entgegensteht, ihm unwiederbringlich schadet. Schauen wir nur auf die gegenwärtig so weit verbreitete Resignation und Verzweiflung vieler, die keinen Sinn für ihr Leben finden können. Wenn wir den Agnostizismus als allgemein gültiges Angebot (im Sinne einer Aufforderung, nicht nach der letzten Wahrheit der Dinge zu suchen) hinzunehmen, ist das Panorama wirklich trostlos, denn Hoffnungslosigkeit geht immer mit einer Eintrübung der Wahrheit einher. Ich denke, wir sollten häufiger über die Anfälligkeit vieler unserer Zeitgenossen nachdenken: Eingetaucht in eine virtuelle Realität haben sie die Hoffnung verloren, damit auch den Sinn, der über die Endlichkeit der Schöpfung hinausgeht, und die Sicherheit, die uns nur die Liebe geben kann, die sich in Seinen Werken offenbart.

Diese Formen des Nihilismus des heutigen Menschen stehen am Ursprung eines einschneidenden Verlustes seiner Würde. Sie haben ihn überzeugt, dass er selbst nur ein Augenblick in der Evolution der Materie ist, gleichsam das Ergebnis eines Blindekuhspiels in der Entwicklung der Natur. Dem Menschen wurde eingeredet, die gesamte Wirklichkeit sei reiner Materialismus und Pan-Naturalismus. Benedikt XVI. sprach die Neuheit dieser Krise an, als er sagte, der Mensch von heute lehne es ab, erschaffen worden zu sein und eine Natur empfangen zu haben; damit weise er auch von sich, dass am Ursprung seines Lebens ein Geschenk steht. Daraus ergibt sich sein Anspruch, als Grundlage seiner Existenz eine Selbst-Generierung anzunehmen oder, was dasselbe ist, eine unbeschränkte Fähigkeit, sich selbst „neu zu erfinden“ und neu zu definieren.

Unsere Gesellschaft, die mit der Demokratisierung der Kultur und Information prahlt, blickt wie erstarrt auf die Marginalisierung jener Intellektuellen, die einen anspruchsvollen Standpunkt vertreten, auf das ständige Aufkommen irrationaler und in ihrer Vulgarität verletzender Meinungen, auf die Verbreitung destruktiver Ideologien, die sich uns unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit auferlegen, auf die obskuren Manöver weniger Wirtschaftsbosse, die das Gewissen der großen Masse der Bevölkerung nach Belieben manipulieren. Nachdem die christliche Religion durch weltliches Gedankengut ersetzt worden ist, überrascht uns nicht einmal die allgemeine Verachtung der Philosophie und der Geisteswissenschaften in unseren mittleren und höheren Bildungseinrichtungen oder, schlimmer noch, die systematische Ausschließung der Möglichkeit, mit einem persönlichen Gott in unserem Gewissen zu rechnen; es wird uns nahegelegt, ihn durch Götzen zu ersetzen, die unserer Eitelkeit und Mittelmäßigkeit viel besser entsprechen. Am Ende ziehen diejenigen daraus Nutzen, die in unserer Gesellschaft kleinere oder größere Machtanteile besitzen, denn der Mensch, der aus diesem Prozess hervorgeht, ist viel leichter formbar.

Es ist traurig, diese Diagnose einer in ihrer radikalen Endlichkeit und Einsamkeit geängstigten Welt stellen zu müssen, und es tut mir weh, bekennen zu müssen, dass auch wir Theologen dazu beigetragen haben, Gott auf ein reines Instrument der Logik in den Händen der Philosophen zu reduzieren. Dabei vergaß man, dass die absolute Liebe nicht nur unser Sein begründet, sondern auch die Geschichte zur Heilsgeschichte macht. Ich würde mich jedoch in meinem Gewissen als Theologe verfehlen, wenn ich diese Wahrheit verschweigen würde.

Wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, unsere Erwartungen zurückzuschrauben, nicht zu viel von der Zukunft zu erwarten, uns mit einer mittelmäßigeren, ausbalancierten Hoffnung zu begnügen?

Wir dürfen nicht resignieren, wir dürfen nicht sagen „Die Zeiten sind halt so, wie sie sind“, „das ist halt unser Los“, „das ist das Merkmal unserer Epoche“, „wir können nichts tun“, „der Säkularismus ist unser Schicksal“. Die Haupteigenschaft der Hoffnung liegt nämlich gerade darin, dass sie sich nicht auf die eigenen Kräfte verlässt, um ihr Ziel zu erreichen. Der Glaube versichert uns, dass die Kraft Gottes stets stärker ist als die Schwäche des Menschen und die Angriffe des Bösen. Die Hoffnung lässt uns nicht zugrunde gehen (vgl. Röm 5,3–5), und sie lässt sich nicht von den Machthabern zähmen; deshalb wird sie zuweilen von der Welt als subversives Element wahrgenommen.

Wir, die wir uns dieser relativistischen Diktatur widersetzen wollen, müssen uns eher folgende großen Fragen stellen: Welche Verantwortung trage ich als Vater oder als Mutter meiner Kinder? Welche ethischen und moralischen Grundsätze möchte ich ihnen beibringen? Welche politischen Ansätze sollte ich durch meine Stimme unterstützen, um für das Gemeinwohl zu wirken? Es geht darum, jedem konkret Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15). Dieses fest gegründete Vertrauen bedeutet letzten Endes, dass die ganze Heilsgeschichte auf das endgültige Gut zugeht und dass nichts von dem, was in unserem Leben schön, gut und wahr ist, vergeblich oder umsonst sein wird.

Als die großen totalitären Ideologien zusammenbrachen, sind wir einer neuen Diktatur verfallen, nämlich der beherrschenden Leitkultur des Techno-Szientismus und des konsumorientierten Individualismus. Ich wiederhole: Unsere säkularisierten Gesellschaften werden von innen her durch Trivialität und Vulgarität ausgehöhlt. Als ein in Gott und seine Schöpfung verliebter Mensch, der sich stets um eine umfassende Bildung (paideia) bemüht hat, und durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den wesentlichen Elementen, die der Herr dem Sein und Tun des Menschen eingegeben hat (humanitas), stelle ich im Herbst meines Lebens nicht ohne Betrübnis fest, dass viele unserer Studierenden dem Studium nur wenig Zeit widmen und dass die theologische Ausbildung vieler Kleriker zu wünschen übrig lässt – um nur zwei Beispiele zu nennen. Warum das? Ich meine: Wenn die Gesellschaft erst einmal in tausende Individuen aufgesplittert ist, die nur als homo oeconomicus, als eine weitere Zahl in der Konsumstatistik betrachtet werden, dann haben wir uns damit abgefunden, nur für den Wohlstand zu leben.

Wir rechtfertigen sogar die Bosheit mit dem Vorwand des Realismus und vergessen dabei, dass der wahre Realismus gütig ist, weil er aus der Begegnung zwischen Leben und Wahrheit hervorgeht: Realistisch sein bedeutet, in die Wirklichkeit einzutauchen. Wir dürfen auch nicht aus den Augen verlieren, dass die größte Wirklichkeit, die alles trägt, Gott ist. Sein Liebes- und Heilsplan für die ganze Schöpfung übersetzt sich in eine persönliche Gabe für jeden Einzelnen von uns; sie ist uns geschenkt im Leben Jesu, der uns begleitet, unterstützt und zu einem Leben in Liebe fähig macht. Christus ist die Wahrheit und das Licht der Welt, und daher ist Er der wahre Ausdruck der Hoffnung.

Sie sprachen gerade vom „Licht“. Das ist ein wunderbares Bild für die christliche Hoffnung. In den Priscilla-Katakomben finden wir die schöne Darstellung des Sterns als Symbol der Hoffnung: ein Leuchtturm in der Nacht. Die ersten Christen erkannten die Chiffre ihrer Hoffnungen in zwei Zeichen: Anker und Stern. Papst Franziskus sagt uns: „Die ersten Christen stellten sich die Hoffnung vor wie einen Anker. Die Hoffnung war ein Anker, der im Ufer des Jenseits verankert war. Unser Leben ist so, als schritten wir über das Ankertau zu diesem Anker hin“. Der zum Kreuz umgeformte Anker wurde zu einem der wichtigsten christlichen Symbole. Auf der anderen Seite haben wir, wie schon erwähnt, den Stern, der dem Propheten Bileam das Kommen des Messias ankündigte und der die drei Weisen nach Bethlehem führte; auch er wurde ein entscheidendes Zeichen der christlichen Hoffnung. Woher kommen diese beiden Symbole des Ankers und des Sterns? Auf welche Erfahrung verweisen sie?

Der Stern ist das Licht, das in der Nacht leuchtet. Das Licht ist nämlich das große Hoffnungssymbol; es ist ein Element aus der Welt der Natur, das uns Orientierung gibt. Deshalb besitzt es seit jeher nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der Sprache der Philosophie einen übertragenen Sinn: Licht für die Augen, also für die äußeren Sinne, aber ebenso Licht für die inneren Sinne, und zwar auch in diesem Fall durch die Leiblichkeit. Ein Licht, das uns den Weg weist, jenseits der simplen physischen Orientierung, eine Aufklärung über den letztendlichen Sinn des Lebens, der Dinge und des Universums.

Jeder von uns hat schon irgendwann erlebt, dass es Menschen gibt, die uns zu orientieren vermögen und zu verlässlichen Führern auf unserem Lebensweg werden. Manchmal sind es überraschenderweise die einfachsten und bescheidensten, „denn der Herr offenbart oft einem Jüngeren, was das Bessere ist“ (Hl. Benedikt, Regel III,3). Von diesen Personen sagen wir, sie seien uns eine Leuchte, ein Abglanz dessen, der „das Licht der Welt“ ist (vgl. Joh 8,12). Jesus ist in die Welt gekommen und durch seine Liebe hat er uns gerettet und neu orientiert – im Denken genauso wie im Handeln – vor allem, wenn wir grundsätzliche moralische Entscheidungen zu treffen haben oder eine Antwort auf die Sehnsucht des Unendlichen in unserem Innern geben sollen.

Der Gottessohn richtet uns auf ein ewiges Leben hin aus, das sich uns schon hier auf Erden als Samen offenbart. Der damalige Kardinal Ratzinger erinnerte uns 2000 in seinem berühmten Werk Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, an den Ausspruch des hl. Augustinus: Conversi ad Dominum („dem Herrn zugewandt“). Damit betonte er die Notwendigkeit, dass die Liturgie, die dem pilgernden Gottesvolk eigen ist, diese Ausrichtung auf Christus voll zum Ausdruck bringt. Er kommt, uns zu begegnen und unsere Sehnsucht nach Unendlichkeit zu stillen. Das Licht des Glaubens macht uns fähig, Ihn schon jetzt zu sehen, genauso wie wir die Güte, Rechtschaffenheit, Echtheit oder Liebe eines Menschen „sehen“ können. Ist der Schleier unserer Begrenztheit in dieser Welt erst einmal gehoben, werden wir ihn eines Tages von Angesicht zu Angesicht sehen können.

Das zweite Bild, für das Sie mich um eine Erläuterung gebeten haben, ist der Anker. Dieser Gegenstand aus der Schifffahrt äußert die Gewissheit und die Überzeugung, die der christlichen Hoffnung eigen sind: In Christus hat Gott die Rettung des Menschen nicht nur beschlossen, sondern auch schon verwirklicht. Das symbolisiert der „Rettungsanker“, der Christus selbst ist. Er verhindert, dass wir ohne Kurs navigieren, dem Wellengang ausgeliefert und zum Untergang verurteilt sind: Stattdessen sind wir, mit Christus vereint, des endgültigen Sieges sicher.

Der Stern verweist auf Gott als letztes Ziel unseres Weges. Der Anker hingegen symbolisiert den Herrn, der uns während der ganzen Überfahrt beisteht und uns mit seiner Liebe unterstützt: Der Anker macht es möglich, dass ein Schiff mitten im Meer ruhig stehen kann. Das Meer – mit seinen Winden, seinen Gefahren, seinen Stürmen und seiner zuweilen zerstörerischen Kraft – ist das Bild unseres Lebens. In einem Augenblick sage ich mir: „Ich bin glücklich; ich habe alles, was ich mir wünsche“, und unmittelbar danach bricht alles zusammen und geht verloren: Es reichen wenige Sekunden, und mein Leben ändert sich für immer! Diese Sorge ist sehr menschlich, und deshalb wünscht sich jeder von uns definitive Sicherheit und Beständigkeit. Dieser Wunsch ist ein wesentlicher Teil unseres Daseins.

Durch den Glauben wissen wir, dass diese so gerechtfertigte Hoffnung nur Gott sein kann. Teresa von Jesus, die Heilige von Ávila, deren 500. Geburtstag wir 2015 begangen haben, schrieb: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles vergeht, Gott bleibt derselbe. Geduld erreicht alles; wer Gott besitzt, dem kann nichts fehlen: Gott nur genügt“2. Dieses Gebet ist nicht Ausdruck einer verfehlten Selbstgefälligkeit derer, die sich für besser halten als andere, die im Zweifel leben: In diesem – wir können sagen – „weisheitlichen Psalm“ drückt die Kirchenlehrerin die Tröstung der Seele aus, wenn sie, ohne jegliche Gegenleistung, die Glaubwürdigkeit Gottes erfährt. Die hl. Teresa lehrt uns also, dass wir jederzeit auf Gott zählen und ihm vertrauen können. Der Herr, der „sanfte, gute Jesus“, der sie in Ekstase versetzte an jenem Osterdienstag des Jahres 1571, als sie die Novizin Isabel de Jesús den Refrain Véante mis ojos („Sehen mögen dich meine Augen“) singen hörte, war ihr sicherer Anker, vor allem wenn sie in tiefer geistlicher Einsamkeit versank und die Kirche, die sie so sehr liebte, sich ihr gegenüber immer verständnisloser zeigte.

Der Gott der Christen, den die heilige Karmelitin von Ávila entdeckte, ist nie das Produkt unserer Fantasie oder der neuesten Ideologie. Genauso wenig ist er die mathematische Variable eines mentalen Konstrukts oder eine einfache Abstraktion, und noch weniger ist er eine Hypothese, die sich gut in ein System einfügt. Diese umfassend gebildete und überzeugt anti-konformistische Frau – „unruhig und rastlos“ – schlägt bis heute auch solche Menschen in den Bann, die in der Moderne verankert sind, wie auch die große Edith Stein. Teresa sagt uns: Inmitten aller unserer Schwierigkeiten, auch derer, „die Gott uns zu schicken scheint, damit wir uns in Geduld üben“ (F 28,3), ist Er das „erlittene und ausgekostete“ Mysterium, eine unmittelbar gegenwärtige Wirklichkeit, ein Freund, der uns entgegenkommt (Vida 65,1) in Bescheidenheit und Einfachheit. Nur in ihm ist unsere Hoffnung!

Gibt uns das Christentum denn tatsächlich eine Hoffnung für das „Jetzt“? Das ist ein zentrales Thema, das ich gerne ansprechen möchte. Wir laufen Gefahr, die Hoffnung als ein „noch nicht“ zu deuten. Berühmt wurde der Satz des Theologen Oscar Cullmann, der das Leben des Christen in der Welt als ein „schon jetzt, aber noch nicht“ bezeichnete. Gibt die Hoffnung denn nicht noch mehr als das? Sollten wir den Satz nicht eher umformulieren in „schon jetzt, aber (dann) noch mehr“?

Der bedeutende protestantische Theologe Oscar Cullmann brachte die Spannung zwischen zwei Wirklichkeiten zum Ausdruck. Einerseits das Heil in Christus, das unübertrefflich ist, weil wir nicht weiter gehen können als Christus: Er ist das Alpha und das Omega, die vollkommene Vermittlung und Gegenwart Gottes unter uns Menschen. Andererseits ist seine Wiederkunft, die wir noch erwarten, die ganze Vollendung, die Ankunft des Definitiven. Was wir jetzt schon haben, ist ein Heil sub signo (unter dem Zeichen). Die Sakramente sind sowohl Heilsgabe in Christus als auch Schleier, der ihn verhüllt. Hier und jetzt ist Gott nur im Glauben gegenwärtig; am Ende der Zeiten werden wir ihn schauen.

Ich meine also, dass wir Cullmanns Formel korrigieren können und müssen. Im Hintergrund des Gedankens dieses Theologen erkennen wir die protestantische Rechtfertigungslehre, das „Simul iustus et peccator“ Luthers (WA 56,269). Auf jeden Menschen angewendet, bedeutet dies, dass er zugleich und in demselben Maße „gerecht und sündig“ ist. Entsprechend dieser protestantischen Deutung wäre die heutige Geschichte, wie auch die Zukunft der Welt und der Menschen, ein stets von der Sünde kontaminiertes Noch nicht.

Was aber sagen wir als Katholiken dazu? Wir sagen, dass uns schon jetzt, nämlich in der realen Gegenwart der Eucharistie, die Gesamtheit, die ganze Wirklichkeit Christi zuteil wird – dieselbe, die sich uns in den anderen Sakramenten bereits jetzt vollständig mitteilt. Natürlich tragen wir diese „Gesamtheit“ in tönernen Gefäßen (vgl. 1 Kor 4,7–15), womit ausgedrückt werden soll, dass all dies nicht unser Verdienst ist. Aus diesem Grund haben die Christen unaufhörlich für diese Ganzheit des Heils zu danken, die uns jetzt schon gegeben ist. Wir Katholiken verstehen die sakramentale Gegenwart, die unter uns Menschen Fleisch angenommen hat, nicht im platonischen Sinne, als ob wir, in Erwartung einer idealen Zukunft, uns zufrieden geben würden mit einfachen Zeichen, die diese Zukunft ankündigen. Nein: In den Sakramenten, diesen wirksamen Zeichen der Gnade, ist uns der Schatz, das Ganze, schon gegeben. Das ist etwas radikal Neues.

Hier finden wir das wahre Fundament des christlichen Realismus. Durch seine Menschwerdung hat Christus die Grundfesten des Lebens verwandelt und hier und jetzt ein neues Leben nach dem Evangelium möglich gemacht. Das Evangelium wird nie nur ein schönes Ideal sein, das wir uns als Lebensziel setzen, wissend, dass nur wenige es erreichen werden. Im Gegenteil: Das Evangelium hat in der Kirche Fleisch angenommen, es wurde zur konkreten Daseins- und Lebensform, es hat soziale Umgangsformen, Tätigkeiten, Feste, Beziehungs- und Ausdrucksformen hervorgebracht, genauso wie Formen, um das Familienleben zu gestalten oder mit Krankheit und Unglück umzugehen, Formen, die es einem ermöglichen, voll Vertrauen den Lebensweg zu gehen.

Aus einer rein aufs Jenseits zentrierten Hoffnung könnte eine gewisse Vernachlässigung unserer diesseitigen Aufgaben und Hoffnungen erwachsen. So lautete eine der Hauptanklagen, die in der Neuzeit von eigenen Philosophen gegen das Christentum erhoben wurden, so zum Beispiel von Ludwig Feuerbach 1841 in seinem Werk Das Wesen des Christentums. Erinnern wir uns dagegen an das Gleichnis der Talente (vgl. Mt 25,14–30): Darin wird uns enthüllt, dass jeder Mensch in dieser Welt seine besondere Aufgabe bzw. Sendung hat. Gott hat uns Talente gegeben, die in Wirklichkeit die seinen sind, damit wir durch dieses Geschenk mehr haben. Gottes Mathematik ist wunderbar! Dieser Ruf bzw. diese Berufung durch Gott ist das, was man „positive Prädestinierung“ nennt, nämlich in dem Sinne, dass Er uns zu Gestaltern unseres Lebens macht und mit unserem Tun rechnet.

Beim Christen kann es nie zum Bruch kommen zwischen der irdischen Wirklichkeit und einer „im Jenseits“ befindlichen Welt. Dieser statische Dualismus ist zerstörerisch. Wir glauben und leben in einer dynamischen Einheit, in einem Spannungsfeld zwischen den Verantwortlichkeiten dieser Welt, die mit Blick auf das ewige Leben von großer Wichtigkeit sind, und dem Leben, das sich in vollkommener und definitiver Weise nach dem Tod fortsetzt. Es ist derselbe Gott, der diese beiden Dimensionen der Hoffnung umfasst: das Gegenwärtige und das Jenseitige. Die neue Schöpfung wird eine Vollendung des Himmels und der Erde sein, der ganzen Menschheitsgeschichte und aller einzelnen Dinge.

Der hl. Augustinus von Hippo hat die Lehre über die Hoffnung folgendermaßen zusammengefasst: „Ein Leben ohne Hoffnung ist traurig; noch trauriger ist es allerdings, mit einer Hoffnung ohne Fundament zu leben“. Was ist das Fundament der christlichen Hoffnung?

Die Hoffnung gibt uns nicht nur ein neues, hehres Ziel, damit wir kämpfen, um es zu erreichen. Das war die Logik der Stoiker. Sie vertraten eine Art von „Buße“, die in einer „Selbst-Beschuldigung“ wegen mangelnder Vollkommenheit bestand und daher im Aufruf zu ständig neuen Herausforderungen und Mühen. De facto war es die Idee eines einsamen und im vollen Wortsinn „gnadenlosen“ Menschen, der ständig kämpfen musste, um seine Vollkommenheit zu erlangen.

Die christliche Auffassung von Hoffnung geht von der Überzeugung aus, dass wir mit göttlicher Unterstützung rechnen können, um unser Ziel zu erreichen. Obwohl wir das nicht verdienen. Obwohl wir zerbrechlich sind und es verdient hätten, mit dieser Hilfe nicht rechnen zu dürfen. „Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe“ (Joh 21,17): Diese Aussage des hl. Petrus, als er sich vom Herrn barmherzig betrachtet weiß, ist eine Zusammenfassung seines ganzes Lebens und ebenfalls der Ausdruck seines Vertrauens in den, der sein Leben für ihn hingegeben hat.

Gott offenbart sich nicht nur als Ziel des Weges, sondern auch als Weg. Er lädt uns ein, zu Ihm zu kommen, nicht weil wir dies auf uns allein gestellt und mit unseren eigenen Kräften erreichen könnten, sondern weil Er uns seine Unterstützung auf diesem Weg anbietet. Christus, wie der hl. Augustinus sagte, ist zugleich die Heimat und der Weg dorthin: „Hoch liegt das Vaterland, niedrig ist der Weg dahin. Das Vaterland ist das Leben Christi, der Weg ist der Tod Christi. Das Vaterland ist die bleibende Wohnung Christi, der Weg ist das Leiden Christi. Wer den Weg verschmäht, was sucht der das Vaterland?“ (In Ioan. 28,5 BKV).

Christus ist das Fundament der christlichen Hoffnung. Durch die Menschwerdung hat Christus alles Menschliche auf sich genommen und es verwandelt. Seine auferstandene Menschlichkeit hat unsere ganze Hoffnung begründet: Von ihr können wir leben; an ihr können wir schon jetzt Anteil haben; aus ihr keimt die Möglichkeit unserer vollständigen Verwandlung in Ihn, während wir noch auf Erden pilgern.

Meiner Ansicht nach laufen wir im Dialog mit unserer weitgehend säkularisierten Welt Gefahr, das Christentum nur als Wertesystem darzustellen und das Wesentliche zu verbergen: die Hoffnung in den, der Schmerz, Sünde und Tod überwunden hat. Ich mache mir manchmal Sorgen, wenn ich Sätze höre wie „Ein Christ hofft immer“ oder „Ein Christ glaubt immer“. Ich denke, dass wir diese großen Worte nicht aus ihrer Verankerung in der Person, in ihrem Fundament, lösen dürfen. Wir sollten eher sagen: „Ein Christ hat stets die Hoffnung Christi“ bzw. „Ein Christ hat stets den Glauben an Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist“. Ohne die konkrete Person Jesu reduziert sich das Christentum auf eine Philosophie, auf eine Weltanschauung wie viele andere, die das ausschlaggebende Ereignis der Menschheit in eine simple soziologische Angabe einschließt. Aber nur eine Person kann zum Menschen als Person passen: Christus ist unsere Hoffnung; Er ist der einzige Vermittler zwischen dem einen Gott und der Vielzahl der Menschen. Nur durch ihre Verankerung in Christus werden die Stützen, die wir zur Verwirklichung unserer Hoffnung brauchen, wirklich standfest sein.

I.Was dürfen wir von Christus erhoffen?

Mit ihrer letzten Antwort haben Sie schon zur Frage nach Christus hingeführt. Er stellte sich als derjenige vor, der die Hoffnung des Volkes Israel zur Vollendung bringen sollte. Wie verbindet sich diese Hoffnung mit der christlichen? In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar Sätze des Oberrabbiners von Rom, Riccardo di Segni, zitieren. Er beklagte sich heftig über die Aussage der Familiensynode, mit Christi Kommen und der Erlösung „endete die von Moses eingeleitete Ära“. Riccardo di Segni erklärte: „Mit einer gewissen Härte in Form und Substanz kommen die Bischöfe daher, um heute uns, die wir der Torah des Moses folgen, zu sagen, dass wir in der Sünde wären und dass unsere Ära zu Ende ist. Wie schwierig ist doch der Dialog!“ Hat Christus der Hoffnung des Volkes Israel ein Ende gesetzt?

Die Geschichte des Volkes Israel ist die Geschichte der Offenbarung Gottes. Den Gott, der sich offenbart, bekennen die Juden als Schöpfer aller Menschen und zugleich als Urheber der Erwählung des Volkes Israel. Die Hoffnung der Juden fußt auf dem machtvollen Wirken Gottes, der über sie gewacht, sie gerettet und ihnen eine noch größere Rettung versprochen hat. Diese Hoffnung nimmt unterschiedliche Formen an. So hofft man beispielsweise auf eine volle Gottesgegenwart in einem neuen Tempel wie auch auf das Kommen eines Messias aus dem Hause Davids, welcher der Welt den vollkommenen Gottesfrieden bringen wird. Die Propheten haben außerdem verkündet, dass sein Kommen das Menschenherz verwandeln wird, sodass es dem Bund treu bleibt und zu einer neuartigen Gottesliebe fähig wird.

Wir Christen glauben unsererseits, dass dieses jahrhundertelange Warten auf unübertreffliche Weise erfüllt wurde, als der Gott Israels seinen Sohn sandte, der Fleisch annahm und Mensch wurde für uns. Der Sohn, der dem Volk Israel von Generation zu Generation versprochen wurde, ist gleichzeitig der ewige Sohn Gottes. Die volle Gegenwart Gottes, die das Volk Israel erhoffte, ist im auferweckten Leib Jesu, in diesem endgültigen Tempel Gottes, geschehen. Dennoch kann man nicht behaupten, die Messiaserwartung der Juden sei gegenstandslos, denn, wie die Päpstliche Bibelkommission einmal sagte, „sie kann für uns Christen ein starker Ansporn sein, die eschatologische Dimension unseres Glaubens lebendig zu erhalten. Wir, wie sie, leben von der Erwartung“ (Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel 21). Im Bewusstsein um das „reiche gemeinsame geistliche Erbe von Christen und Juden“ (vgl. Nostra aetate 4) wissen wir, dass sich die neue Religion im Leib eines Menschen, in Christus und in seinem Liebesopfer verwirklicht und dass das Gesetz endlich ins Menschenherz eingeprägt wurde, wie es die Propheten erwarteten. Nichts des Vorherigen wurde verworfen: Alles wurde im Licht einer überreichen Erfüllung gerettet.

So ist die Person Jesu das Kriterium der Unterscheidung des Judentums vom Christentum. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Religionen. Trotzdem ist es nötig, den fruchtbaren interreligiösen Dialog zu vertiefen, den wir Christen mit unseren jüdischen Brüdern aufrechtzuerhalten berufen sind und der beeindruckende Resultate gezeitigt hat sowohl auf unserer Seite, zum Beispiel in dem schon zitierten Text Nostra aetate, als auch auf jüdischer Seite mit dem Dokument Dabru emet