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Immer wenn der Mond scheint, zwingt etwas die junge Künstlerin Aurora, eine verstörende Folter-und-Mord-Szene zu malen. Eine Botschaft ihres Unterbewusstseins? Hilfesuchend wendet sie sich an ihren Nachbarn Levi Reid, Detective beim Oklahoma City Police Department. Er ist Experte für Verbrechen im Zwischenreich und will ihr helfen, Mörder und Opfer zu finden! Ihre Zusammenarbeit bringt sie jedoch überraschend nah zueinander - tödlich nah …
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Seitenzahl: 278
Gena Showalter
Die Botschaft
Aus dem Amerikanischen von Justine Kapeller
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Haunted
Copyright © 2012 by Gena Showalter
erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V. /S.àr. l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Tania Krätschmar
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; pecher und soiron, Köln
Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN eBook 978-3-86278-900-9
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder
auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Die Frau lag nackt auf einer kalten Metallplatte, die Hände über dem Kopf in Schellen gelegt, die Beine mit Fußeisen gespreizt. Kalte Luft, die nach Blut und Desinfektionsmittel roch, hatte ihre Haut in eine Schicht aus Eis verwandelt, die sich über Muskeln spannte, die selbst zum Zittern zu schwach waren. Der Wille zu fliehen war ihr beim tausendsten Versuch vergangen, auch wenn die Tränen, die sie vor Ewigkeiten vergossen hatte, noch als Kristalle an ihren Wangen klebten.
Es ist aus mit mir, dachte sie. Der letzte Tag meines Lebens.
Leider gab es keine Möglichkeit mehr, den Kurs zu wechseln. Das Schiff hatte bereits abgelegt, und um sie herum toste der Sturm. Sie hatte nicht um dies hier gebeten, hatte es mit Sicherheit nicht so gewollt, dennoch hatte sie es bekommen. Jetzt konnte sie nur noch kämpfen, und das würde sie tun. Mit jeder letzten Kraftreserve.
Ein gedämpftes Wimmern erklang irgendwo hinter ihr. Auch wenn sie zu fest angekettet war, um sich umzudrehen und nachzusehen, wusste sie, was das bedeutete. Ihre Nachfolgerin war gerade aufgewacht und hatte bemerkt, dass sie in einem Hundezwinger gefangen war, von dem aus sie nur eine Metallplatte und eine gedemütigte Frau sehen konnte. Sie wusste es – weil sie einst selbst in diesem Käfig gefangen gewesen war. Man hatte sie gezwungen zuzusehen, wie der Psychopath, der sie betäubt und in seinen Wagen gezerrt hatte, die andere Frau erledigt hatte, die auf der Metallplatte gefesselt gewesen war. Die Frau vor ihr, die er auf brutalste Weise ermordet hatte.
„Tu dir selbst einen Gefallen und sei still“, sagte sie zu dem Mädchen. Es war nicht der richtige Moment für Liebenswürdigkeiten. „Es ist besser, den Mund zu halten, als ihm zu geben, was er will – und er will, dass du weinst. Er will, dass du schreist und bettelst und zugibst, wie sehr es wehtut“.
Das Wimmern wurde noch lauter.
„Oder mach so weiter und ihn damit zum glücklichsten Mörder auf der Welt“, fügte sie resigniert hinzu.
Plötzlich erfüllte der Klang von Schritten in schweren Stiefeln den Raum. Ihr Herz schlug zu heftig, zu schnell. Eine Sekunde verging, dann zwei, ehe die Scharniere der einzigen Tür im Raum ächzten. Ihr drehte sich der Magen um.
Er war hier.
Würde sie es wirklich wagen?
„Guten Morgen, meine Hübschen. “ Dieser selbstgefällige Tonfall, mit Anflügen von Schadenfreude und Boshaftigkeit. „Wie geht es uns heute?“
Ja. Sie würde.
Aus dem Käfig drang lautes Schluchzen, während sie sagte: „Ich habe das Gefühl, dass es Spaß machen würde, die Rollen zu tauschen. Was meinst du? Du hier gefesselt, und ich stehe vor dir mit dem niedrigen IQ, dem winzigen Penis und – unterbrich mich, wenn ich falsch liege – dem riesigen Mutterkomplex. “
Sein Atem zischte über ihre Haut. „Du wirst meine Mutter nie wieder erwähnen, verstanden?“ Wut war an Stelle der Selbstgefälligkeit getreten, und sie hörte Messer und andere Spielzeuge scheppern, während er nach dem Instrument seiner Wahl suchte.
„Wenn du mit ‚nie wieder erwähnenʻ meinst, nie aufhören darüber zu redenʻ, dann ja, verstanden. Also, warum tun wir nicht so, als wäre ich deine Therapeutin und du zu einer Gratissitzung bei mir?“
„Das reicht! “
Noch lange nicht. „Sag doch mal. Hat deine liebe Mommy dich nicht gestillt? Oder vielleicht viel zu lange?“
Eine bedrückende Stille legte sich über den kleinen Raum.
Stich das Messer noch tiefer in die Wunde – das wird er auch gleich tun. „Komm schon, du kannst mir vertrauen. Das bleibt alles unter uns, deine dunklen Geheimnisse veröffentliche ich höchstens in meinem Blog. Na gut, vielleicht auf Twitter. Oh, und Facebook. Eventuell ein Video-Tagebuch auf Youtube. Aber abgesehen davon, sind meine Lippen versiegelt. “
Das Scheppern wurde noch lauter und nachdrücklicher. Schließlich fand er, was er gesucht hatte – eine 20 Zentimeter lange gezackte Klinge. Er hielt sie in das viel zu helle Oberlicht, sodass sie glänzte, und drehte sich dann zu ihr um, das Gesicht halb grinsend, halb vor Wut verzerrt.
„Mein Schatz“, wandte er sich jetzt an die andere Gefangene und gab vor, sie selbst zu ignorieren. Nur dass er mit den Zähnen knirschte, konnte er nicht verbergen. „Du gibst am besten gut Acht, was als Nächstes geschieht, denn wenn du mein Missfallen erregst, wirst du es am eigenen Leib erfahren. “
Das Weinen wurde zu einem unterdrückten Schluchzen, und der Käfig schepperte. Vermutlich versuchte die andere Frau, durch die Stangen zu schlüpfen.
Nie wieder werde ich ihm diese Befriedigung verschaffen. „Oh, du liebe Zeit, oh, nein“, verspottete sie ihn, „der Psychokiller hat ein Messer. Jemand muss die schaurige Musik abspielen und mir Bescheid sagen, wann ich anfangen soll zu schreien. “
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und schwenkte die Klinge hin und her, hin und her. „Hast du immer noch nicht gemerkt, welches Biest du da provozierst?“
„Uuuuh. Natürlich habe ich das. Es ist so winzig wie der Rest von dir, deswegen muss ich ja so grinsen. “
Er ließ seinen Kiefer knacken. Er war nicht einmal hässlich, im Grunde konnte man ihn sogar schön nennen mit seinen goldenen Locken, den Augen wie süßer Honig und Gesichtszügen so unschuldig und arglos wie die eines Kindes.
So eine grausame, grausame Maske.
Als sie zum ersten Mal in jenem Käfig aufgewacht war, hatte sie geglaubt, er wäre gekommen, um sie zu retten. Sie war schnell eines Besseren belehrt worden, als er sie herausgezerrt, ihr die Kleider vom Leib geschnitten und dabei mit einer Freude gelacht hatte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Ich kann es schmerzlos tun … oder dir qualvolle Schmerzen bereiten. Reiß dich also zusammen“, fuhr er sie an.
„Hab ich etwa deine Gefühle verletzt?“, fragte sie. „Böse Gefangene. Böse, böse Gefangene. “
Mit langsamen, gemessenen Schritten näherte er sich ihr. „Du glaubst, du bist mutig? Na, mal sehen, ob ich dich vom Gegenteil überzeugen kann. Ich weiß, du kannst sie nicht sehen, aber das Mädchen im Käfig ist, Trommelwirbel bitte – deine einzige richtige Freundin. Du erinnerst dich doch an sie? Natürlich tust du das. Sie ist die hübschere von euch beiden. “
Ein heißer Schmerz flammte in ihrer Brust auf, als sie versuchte, den Hals zu recken, um in den Käfig zu sehen, aber immer noch war sie zu eng gefesselt, um sich derart zu verrenken. Sie konnte nur die Wand mit den Fotos sehen. Fotos von all den Frauen, denen er Gewalt angetan hatte.
Morgen würde ihr Bild daneben hängen.
„Du lügst, du versuchst mir wehzutun, weil du ein jämmerlicher kleiner Dreckskerl bist, dessen Herz verrottet ist, und du nicht weißt, womit du mich sonst treffen kannst. “
Hass flackerte in seinen Augen auf und verwandelte sie in tiefe dunkle Tore zur Hölle. „Glaubst du? Warum fragst du das Mädchen nicht selbst und findest heraus, ob ich die Wahrheit sage oder nicht?“
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Er log nicht. Oder? Ein Lügner würde nicht so zufrieden klingen. Oder doch? „Sag etwas“, befahl sie dem Mädchen.
Stille.
Sein selbstgefälliges Lachen hallte von den kahlen Wänden wider. „Es tut mir furchtbar leid, aber sie wird kein Wort sagen. Hat eine große Klappe, deine Freundin. Du kennst sie ja. Ich fürchte, ich sah mich gezwungen, ihr die Zunge herauszuschneiden. “
Noch ein heißer Schmerz, diesmal loderte auch Wut darin. Sie wuchs … und wuchs … Ihre Freundin hatte tatsächlich eine große Klappe, und dieser Mann war bösartig genug, sie zu entführen – und grausam genug, um zu verhindern, dass sie je wieder ein Wort sagte. Alles, um die Qualen zu steigern, die er bereits entfesselt hatte.
Wie konnte er es wagen, ihre Freundin zu entführen! Wie konnte er es wagen, ein so liebes Mädchen den Schrecken auszusetzen, die sie selbst ertragen musste! Die Wut wuchs … und wuchs …
„Du kranker ekelhafter …Ahhh! “, schrie sie und rüttelte an ihren Fesseln. Keine Beschreibung war widerwärtig genug. „Ich mach dich fertig. Du wirst ihr nie wieder wehtun können. Wart’s nur ab … ich … mach … dich … fertig. “ Nicht weinen. Wage es bloß nicht zu weinen. Sie rang dennoch nach Atem und hatte Schwierigkeiten, Worte zu formen.
Mit der freien Hand strich er ihr über die Stirn, sanft, fast schon zärtlich. „Du hast dich immer für viel stärker gehalten als du wirklich bist. Das ist dein größter Fehler. Es wird mir Freude bereiten, ihn dir auszumerzen. “
Sie versuchte, ihn zu beißen.
Er lachte. „Ich kann es nicht abwarten, meinem neuen Spielzeug Bilder von unserer gemeinsamen Zeit zu zeigen. Meinst du, sie wird eifersüchtig?“
Die Wut breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, brannte, versengte, ließ jede Spuren von Tränen versiegen. „Du kannst mich umbringen, aber ich bleibe hier, das verspreche ich dir. “ Da war ihre Stimme wieder, stärker als vorher und voller Entschlossenheit.
In gespielter Angst hob er eine Augenbraue. „Oh, wie unheimlich. Und wie willst du das anstellen, hm?“
„Ich finde einen Weg. Es gibt immer einen Weg, und das Gute besiegt immer das Böse. “
„So voller Überzeugung“, sagte er und schnalzte mit der Zunge. „Ich habe gehört, dass ein starker Geist alles besiegen kann, selbst den Tod. Aber, mein Schatz, wie ich dir immer und immer wieder zu erklären versuche, du bist nicht besonders stark. “
„Das werden wir sehen. “ Jeder auf der Welt wusste: Es gab ein Leben nach dem Tod. Manche Leute gingen an einen besseren Ort, manche an einen schlechteren. Aber sie selbst ging nirgendwohin, nicht, solange ihre Freundin in Gefahr war.
„Na gut, ich hoffe, du hast recht. Überleg nur, wenn du hier auf der Erde bleibst, können wir für immer zusammen sein. “ Er hob die Klinge, grinste – und stieß das glänzende Metall tief in sie hinein.
Oklahoma City, Oklahoma
SIG Sauer: Achthundert Dollar.
Eine Packung Patronen: Dreißig Dollar.
Deinem Nachbarn das Gesicht wegschießen, weil er deinen Müll durchsucht hat, nachdem du ihn bereits gewarnt hast, dass es Konsequenzen nach sich zieht, falls er so etwas noch einmal versuchen sollte: Unbezahlbar.
Und ich tue es wirklich, schwor sich Detective Levi Reid, während er die Waffe polierte. Mein Zeug gehört mir. Auch mein Müll!
Er war vor drei Wochen in das Apartmentgebäude „King’s Landing“ gezogen, aber er wusste immer noch nicht genau, warum. Oder wie.
Na gut, er wusste, wie. Es gefiel ihm nicht, und er würde die Wahrheit vor einem anderen als sich selbst niemals zugeben, aber jeden Tag hatte er so etwas wie einen Blackout. Wenn er wieder zu sich kam, fehlten ihm mal fünf Minuten, mal fünf Stunden. Oder, wie im Fall seines Apartments, sieben Tage.
Alles, was er über die Geschehnisse wusste, die zu diesem massiven Zeitverlust geführt hatten, war: Er war einem verdächtig aussehenden Typen zum Hintereingang des Gebäudes gefolgt. Das war’s. Als Nächstes war er in genau diesem Raum aufgewacht, fertig eingerichtet mit seinen Möbeln, seinem Zeug in den Schränken. Er wusste nicht, wann er gepackt oder ausgepackt hatte, wann er das Haus, in dem er sechs Jahre lang gewohnt hatte, einem Fremden überlassen hatte, oder wann er dieses geräumige, aber abgewohnte Zwei-Zimmer-Loch gemietet hatte, das ganz bestimmt nicht für einen König geeignet wäre.
Seine Kollegen hatten ihn nicht gesucht, weil er gerade auf Zwangsurlaub war. Eine Freundin hatte er nicht, und die „Pflichtbesuche“ beim Seelenklempner hatte er bereits alle abgesagt. Also hatte er beschlossen, an Ort und Stelle zu bleiben, falls ihn ein weiterer Blackout überkommen sollte und er irgendwo aufwachte, wo es noch schlimmer war.
Zuerst hatte er sich über den vollkommenen Kontrollverlust aufgeregt – die Einschusslöcher in den Wänden zeugten noch davon. Dann war er in eine – männliche – Depression versunken. Männlich bedeutete: ohne Weinen und Rumgejammer; er hatte nur stoisch – wenn nicht sogar sexy – in die Dunkelheit gestarrt. Jetzt dachte er nach. Vielleicht hätte er sich zusammenreißen und in eine bessere Wohnung ziehen sollen, aber einem Teil von ihm gefiel es hier inzwischen, trotz allem.
Seine neue Behausung lag am Rand von Oklahoma City und brachte ihn in direkten Kontakt mit den Obdachlosen, die auf der Straße pennten, den Prostituierten, die ständig auf Beutejagd waren, und den Dealern, die in den Nebenstraßen Tag und Nacht ihre Geschäfte machten. Sein Job hatte ihn unzählige Male in diese Gegend geführt, und es hatte ihm immer eine Gänsehaut bereitet (eine männliche natürlich). Und wenn er ehrlich war, das Gebäude sah nicht so schlimm aus, wie er es in Erinnerung hatte. Irgendwer hatte es renoviert und bewohnbar gemacht.
Seine Nachbarn waren auch ganz in Ordnung, im Grunde. Sie hatten ihre Macken, aber wer hatte die nicht?
Der Typ in 211 schlich sich um die Ecken, als hätte ihn ein Serienkiller im Visier – und den Finger schon am Abzug. Jedes Mal, wenn Levi ein verdächtiges Geräusch hörte und auf dem Flur nachsah, klebte der Typ ihm an den Fersen, heulte und flehte ihn um Hilfe an, aber er beantwortete keine Fragen und gab keine Erklärungen.
Das Mädchen in 123 ging gern Tag und Nacht auf Zehenspitzen im Flur auf und ab. Manchmal blieb sie stehen und versuchte, mit ihrem Röntgenblick durch die Türen zu schauen. Jedes Mal, wenn er an ihr vorbeiging, fixierte sie ihn mit diesem Blick und sagte etwas Schauriges, wie „Ich vermisse mein Baby. Willst du mein Baby sein?“, oder seinen Lieblingssatz: „Was willst du tun, wenn du tot bist? Tot, tot, tot, du bist so was von tot. “
Und in 409 wohnte Mister Mülltonnenwühler.
Letzte Woche war eine umwerfende Rothaarige mit ihrer hübschen blonden Mitbewohnerin eingezogen. Vielleicht waren sie genauso merkwürdig wie der Rest, aber er überlegte, die Rothaarige mal zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte. Er machte sich nicht viel aus Dates, aber gegen Sex hatte er nichts einzuwenden.
Im Augenblick saß er am Küchentisch, hatte die SIG in Stücke zerlegt und neben den Reinigungsmitteln ausgebreitet. Er fettete die Schienen der Waffe, schob den Schlitten ein, zog ihn wieder heraus und wischte die Schienen ab, jede Bewegung automatisch. Er hatte es schon Tausende Male gemacht und empfand es mittlerweile als beruhigend.
Ruhe. Etwas, das er bewahren sollte. Wenn man bei der Arbeit einen angeblichen Serienmörder angriff, der Leichenteile in seiner Gefriertruhe verstaute, hatte man angeblich ein „Wutproblem“ und sollte sich eine Auszeit nehmen, um „nachzudenken und sich auszuruhen“.
Was er wirklich brauchte, war Abwechslung. Also gut. Er würde nicht mehr nur darüber nachdenken, den Rotschopf um ein Date zu bitten. Er würde es einfach tun. Hoffentlich stand sie auf raubeinig wirkende Detectives der Mordkommission, die nicht gerne teilten, aber versuchten, es zu lernen. Außerdem hielt er nichts von One-Night-Stands und war tatsächlich auf eine feste Beziehung aus. Und egal was seine Bekannten behaupteten, er wusste sehr wohl, wie man lächelte.
Ein lautes Klopfen an der Tür ließ ihn hochfahren. Wahrscheinlich bloß ein weiterer Nachbar, der wissen wollte, wie man sich vor dem Auge des Gesetzes versteckte, oder dem es ein Bedürfnis war, das Ende der Welt zu verkünden. „Verschwinden Sie, hier ist niemand. “
Noch ein Klopfen, dieses Mal noch lauter und nachdrücklicher. „Ich beiße nicht“, sagte eine Frauenstimme, „jedenfalls nicht mehr als ein paar Mal. “
Er mochte die Stimme. Sanft und süß und doch entschlossen. Dennoch, ein vernunftbegabter Mensch bot normalerweise keinem Fremden an, an ihm zu knabbern.
Mit raschen Bewegungen setzte er seine Waffe wieder zusammen und steckte sie hinten in den Bund seiner Sporthose. Das Gewicht der Waffe zog die Shorts gnadenlos nach unten, was nie gut war, aber besonders heikel, wenn man kein Oberteil anhatte. Sein ungeladener Gast würde wahrscheinlich einen Blick auf sein bestes Stück werfen dürfen, aber sobald er mit ihr fertig war, dürfte das ihre geringste Sorge sein. Sie musste lernen, die Konsequenzen für ihr Verhalten zu tragen.
Aber … dann sah er durch den Spion, dass die Mitbewohnerin der Rothaarigen, die hübsche Blondine, vor seiner Tür stand. Ihr eine Lektion zu erteilen rückte auf einmal in den Hintergrund; er musste sie loswerden. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie in ihm eine Welle aus Schuldgefühlen und Scham hervorgerufen. Warum, wusste er nicht. Es war ihm auch egal. Er wollte einfach nur nichts mit ihr zu tun haben.
Doch sobald er die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, wurde das Bedürfnis, sie abzuwimmeln, von Besorgnis verdrängt. Sie stand im flackernden Deckenlicht, kaute an ihren Nägeln und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Scharlachrote Flecken zierten ihre Wangen und ihre Hände. Blut?
Mit gerunzelter Stirn öffnete er die Tür ein Stück mehr. „Ist alles okay, Ma’am?“
Sie kniff ihre ozeanblauen Augen zusammen, ihr Blick schien sich in einen Laserstrahl zu verwandeln, der in sein Fleisch brannte. Wenigstens hörte sie auf zu kauen und herumzuzappeln. Und er verspürte diesmal auch nicht diese Schuldgefühle. „Ma’am? Haben Sie mich gerade Ma’am genannt?“
„Jawohl, Ma’am. Alles okay?“
„Wow, das tut weh! “, sagte sie und ignorierte seine Frage ein zweites Mal. „Für wie alt genau halten Sie mich?“
Eine gefährliche Frage, die er seinerseits lieber ignorierte. Mit dem Kopf deutete er auf ihre Hände und griff gleichzeitig nach seiner Waffe. „Versuchen wir es von vorn. Sind Sie verletzt?“ Er sah sich auf dem Flur um. Leer. Keine verdächtigen Schatten, Spuren oder Geräusche. „Folgt Ihnen jemand? Wurden Sie belästigt?“
„Wie kommen Sie denn …“ Sie blickte an sich hinab, kicherte und wedelte vor ihm mit den Händen. „Das ist Farbe. Ich bin Malerin. “
Farbe. Also keine Lebensgefahr. Seine Sorge verging, und er wurde wieder mürrisch. „Was wollen Sie dann hier?“ Okay, vielleicht hätte er besser einen auf nett machen sollen. Jetzt würde sie ihrer Freundin berichten, was für ein Idiot er war, und wenn er die dann endlich um ein Date bat, würde sie ihm vielleicht sagen, dass sie eher mit einem Putzlappen ausging als mit ihm.
„Keine Sorge“, fuhr sie ungerührt fort, „meine unglaubliche Kunst enthält kein …“ Ein angewidertes Schaudern überkam sie. „Sie wissen schon. “
Was? Blut? Wahrscheinlich. So viele Leute ekelten sich vor dem Zeug, aber er hatte da keine Skrupel. „Sie wissen schon?“, wiederholte er.
„Ja. Das Elixier der Lebens. “
Das soll wohl ein Scherz sein. „Und was ist das Elixier des Lebens?“ Zum ersten Mal seit seiner Suspendierung hatte er etwas, das sich verdächtig nach Spaß anfühlte. Das Mädchen war mutig genug, an der Tür eines fremden Mannes zu klopfen und zu verlangen, dass er aufmachte, aber ein bestimmtes Wort mit vier Buchstaben brachte sie nicht heraus? War das nicht niedlich?
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und flüsterte: „Okay. Ich kann das. Es ist B-L-U-T. “ Wieder durchfuhr sie ein Schaudern.
Wäre es unhöflich, sie auszulachen? Sie hatte das Wort tatsächlich buchstabiert, statt es auszusprechen.
Er stellte sich entspannter hin und nahm die Hand wieder vom Griff seiner Waffe. „Sie sind also Malerin, sagen Sie?“
„Eine unglaubliche Malerin. “
„Ob Sie unglaublich sind, kann ich nicht beurteilen“, sagte er, „aber bescheiden sind Sie schon mal. “ Und ihm fiel auf, dass sie sogar ausgesprochen niedlich war. Sie war klein und kurvig, und ihr Gesicht sah aus, als könnte es der Lieblingspuppe eines kleinen Mädchens gehören, mit großen blauen Augen, Knopfnase und herzförmigem Mund. Sie war einfach hinreißend.
„Übrigens“, fügte er noch hinzu, „wenn ich Sie, Sirʻ genannt hätte, wäre das ein Grund, sich aufzuregen., Ma’amʻ ist kein Problem. Ich sage das zu jeder Person mit …“ Er senkte automatisch den Blick, um sie von oben bis unten zu mustern, blieb aber an ihren Brüsten hängen, die den Stoff ihres Pyjama-Oberteils spannten. Es gelang ihm, seine Aufmerksamkeit wieder auf ihr Gesicht zu richten, und er presste heraus: „… Östrogen. “ Die Kleine war wirklich beeindruckend geformt.
„Guter Einwand“, sagte sie und warf sich die blonde Mähne über die Schulter, „aber ich versichere Ihnen, ich bin ganz und gar weiblich. “
Ist mir aufgefallen. Das können Sie mir glauben. Statt das laut auszusprechen – und damit zu riskieren, seine Eier in die Kehle gestopft zu kriegen –, nickte er nur bestätigend. „Wenn Sie das sagen. “
Sie atmete erleichtert auf. „Danke, dass Sie nicht verlangen, meinen Ausweis zu sehen. “
„Das ist sicher nicht nötig. “ … Flirtest du da etwa gerade?
„Na, der große böse Mann ist in Wahrheit wohl ein ganz Netter?“
„Ja, Ma’am, ist er. “
Er war nicht der Typ, der flirtete, aber ja. Ja, er flirtete gerade. Und sie flirtete zurück.
Er hatte mit der Rothaarigen ausgehen wollen und sich von der Blonden fernhalten, die in ihm nur Scham und Schuldgefühle auslöste, aber jetzt, da diese Gefühle aus dem Weg geschafft waren, änderte er seine Meinung. Er wollte diese hier.
In Frauensprache ausgedrückt bedeutete das, er wollte sie besser kennenlernen. In Männersprache wollte er mit ihr ins Bett, und zwar sofort.
Sie war jung, wahrscheinlich Mitte zwanzig, mit blondem Haar, das sich wie ein Wasserfall über ihren Rücken ergoss, blonden Wimpern und Augenbrauen, puppenhaften Gesichtszügen und der hellen Haut von jemandem, der die Sonne eher verfluchte, als sich in ihr zu aalen. Und – sie kam ihm bekannt vor. Irgendwie, auf irgendeine Weise, war er ihr schon mal begegnet. Endlich eine Erklärung, warum er diese merkwürdigen Gefühle gehabt hatte, als sie eingezogen war. Und doch hatte er keine Ahnung, woher er sie kennen könnte.
„Sie starren mich an“, sagte sie und fing an, an ihrer Unterlippe zu kauen. Eindeutig ein nervöser Tick von ihr. Einer, der ihn vermuten ließ, dass irgendetwas an ihr … zerbrochen war.
Sein Beschützerinstinkt, den er normalerweise nur von der Arbeit kannte, erwachte zum Leben. Und ja, da waren auch wieder diese Scham und die Schuldgefühle.
Warum? Warum empfand er diese Dinge bei ihr?
Nun, egal, wie die Antwort auch lautete, die Rothaarige war wieder im Rennen. Mit zerbrochenen Gestalten verabredete er sich nicht. Niemals. Er beschützte, er rächte, aber er reparierte nicht. Wie sollte er auch? Er bekam ja nicht mal sein eigenes Leben auf die Reihe. Und außerdem gefielen ihm diese seltsamen Gefühle nicht.
„Ernsthaft. Was ist los?“, wollte sie jetzt wissen.
„Ich frage mich nur, ob wir uns schon begegnet sind. “ Noch während er antwortete, wurden seine Arme schwer, seine Muskeln verspannt, als wäre eine Erinnerung darin aufbewahrt, die ihn jetzt die Zeit mit ihr noch einmal erleben ließ. Aber … das würde bedeuten, er hätte sie in den Armen gehalten. So etwas vergaß er doch nicht.
Sie rümpfte die niedliche Nase. „Soll das eine Anmache sein? Es klingt nämlich nach einer Anmache. “
„Eigentlich ist es eine Frage …“ Ich darf nicht mit ihr ausgehen, ich darf nicht mit ihr ausgehen, ich darf wirklich nicht mit ihr ausgehen, auch wenn mir ihre direkte Art echt gefällt „… und eine Antwort wäre nett. “
„Oh. “ War das Enttäuschung in ihrer Stimme? „Nun, soweit ich weiß, nicht. Ich würde mich an jemanden mit Ihrer … Einstellung erinnern. “ Sie ließ ihren Blick über ihn wandern, und dann schauderte sie, dieser kleine Plagegeist, als würden sie über B-L-U-T reden. „Und damit Sie es wissen, ich bin ganz und gar nicht bescheiden, wenn es um meine Bilder geht, weil ich das nicht nötig habe. Ich bin eine unglaublich gute Künstlerin. Unglaublich! “
Selbstbewusstsein machte ihn noch mehr an als Direktheit, und sie hatte mehr davon als die meisten anderen Frauen. Auf keinen Fall konnte sie das zerbrochene Mädchen sein, für das er sie gehalten hatte. Oder? Und so schlimm waren Scham und Schuldgefühle doch gar nicht. Oder?
„Ich habe nie gesagt, dass Sie nicht unglaublich sind. Und was stimmt mit meiner Einstellung nicht?“
„Sie ist völlig daneben, aber das hören Sie bestimmt ständig. “ Wieder hob sie die Hand und nahm einen Nagel in den Mund, um daran zu knabbern. „Ich, äh, rieche Kaffee“, sagte sie, und ihre Stimme bebte plötzlich, „und ich hätte gern welchen. Danke. “
Sie schlüpfte an ihm vorbei in seine Wohnung und zog einen Duft nach Zimt und Terpentin hinter sich her. Während es ihm für einen Augenblick die Sprache verschlug, stakste sie in seine Küche.
Schließlich erwachten seine Gedanken doch noch aus ihrem Dornröschenschlaf. Was glaubte sie, wer sie war? Sein Zuhause war seine Zuflucht, und Fremde waren darin niemals gestattet. Auch nicht, wenn sie derart heiß waren.
Um ehrlich zu sein, war dieses Mädchen die erste Person außer ihm selbst, die das Apartment betreten hatte. Sein Partner sprach nicht mehr mit ihm, und seine Familie … Er hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was aus der geworden war. Mit achtzehn war er von zu Hause ausgezogen und hatte nie wieder zurückgeblickt. Seine Eltern waren gestorben, als er sechs Jahre alt gewesen war, und keiner seiner Verwandten hatte ihn gewollt, also war er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht worden, bis schließlich eine depressive Hausfrau und ihr emotional misshandelnder Mann ihn adoptiert hatten. Die gute alte Zeit.
Also, sollte man ihn doch paranoid nennen, dominant und selbstsüchtig und unhöflich, aber was ihm gehörte, gehörte ihm, und er teilte nicht.
Aber du willst gerade lernen zu teilen, erinnerst du dich?
Jetzt nicht mehr!
Er würde sie hinauswerfen, sobald er sie für diese Unverschämtheit angeschnauzt hatte – und aus Höflichkeit würde er ihr nicht das hübsche Gesicht wegballern –, und dann konnten sie darüber sprechen, ob sie gemeinsam zu Abend essen wollten. Vielleicht einen Film sehen.
Er wollte sie, die Blonde, sonst keine, das stand jetzt fest.
Doch nach nur einem Blick auf sie blieb er wie angewurzelt stehen. Die Bewegungen, mit denen sie zusammensuchte, was sie brauchte – Becher, Zucker, Löffel –, wirkten steif und abgehackt. Während der vielen Verhöre, die er mit den Jahren abgehalten hatte, hatte er gelernt zu erkennen, wann jemand etwas sagen wollte, aber noch nicht den Mut dazu aufbrachte. Seine neue Nachbarin wollte dringend ein Geheimnis loswerden; sie brauchte nur einen Stoß in die richtige Richtung.
Übernimm die Kontrolle. „Hey, Lady. Eins müssen Sie begreifen. “
„, Ladyʻ ist genauso schlimm wie, Ma’amʻ. Ich bin Harper“, rief sie über die Schulter.
Harper. Der Name passte irgendwie nicht.
Er ging zu ihr in die Küche. Auf dem Weg warf er noch einen Blick ins Wohnzimmer, um zu checken, dass es vorzeigbar war. Bis auf das Hemd und die Hose, die er über die Sofalehne geworfen hatte, war es zum Glück einigermaßen aufgeräumt. Was die Möbel betraf: Das dunkle Leder seiner Couch und seines Liegesessels war zwar abgesessen, aber hochwertig, sein Couchtisch war ebenso blank poliert wie seine Waffe, und der Teppich höchstens ein wenig abgetreten davon, dass er manchmal nervös auf und ab ging. Die Dielenbretter quietschten mit jedem seiner Schritte, aber das Quietschen, Stöhnen und Ächzen gehörte dazu, wenn Holz und Scharniere sich setzten, und vermischte sich mit dem ständigen Hintergrundgeräusch des Plapperns, das durch die viel zu dünnen Wände drang.
„Hören Sie …“, sagte er.
„Okay, ich habe lange genug darauf gewartet, dass du ihn mir von dir aus verrätst“, unterbrach die Frau – Harper – ihn. „Wie heißt du?“
„Levi. Also, warum bist du hier?“ Er griff mit beiden Händen nach der Arbeitsplatte, damit er nicht dem Drang nachgab, sie zu schütteln. Schütteln war schlecht. Sehr, sehr schlecht. Jedenfalls sagte sein Captain das immer.
Die Hände um seinen Becher geklammert, aus dem sie seinen Kaffee nippte, drehte sie sich zu ihm um. Statt ihr Herz auszuschütten, verzog sie allerdings erst mal das Gesicht und keuchte: „Was ist das für ein Gebräu? Kann ich ehrlich sein? Es schmeckt wie Motoröl. “
Er mochte seinen Kaffee eben stark. Na und? „Vielleicht ist es ja Motoröl. “
„In dem Fall ist es allerdings ziemlich gut. “ Sie nahm noch einen Schluck und seufzte genießerisch. „Ja, Premium-Motoröl. Güteklasse A. “ Sie blickte an ihm vorbei. „Weißt du, deine Wohnung ist viel größer als meine und heller auch. Mit wem musstest du schlafen, um sie zu bekommen?“
Sie ist genauso merkwürdig wie der ganze Rest. „Wer sagt, dass ich aufs Ganze gehen musste?“ Und ich anscheinend auch.
Ein Lachen perlte aus ihrer Kehle, und sie verschluckte sich am Kaffee. „Junge. Weißt du, was du gerade angedeutet hast?“
„Äh, natürlich. Deswegen habe ich es ja gesagt. “ Also gut. Er hatte ihr lange genug erlaubt, das Gespräch zu dominieren. Er musste weiterkommen, ehe sie noch einmal so lachte. Herrlich.
Er trat um die Anrichte herum, näher auf sie zu, noch näher. Der Duft nach Zimt hing in der Luft zwischen ihnen, während das Terpentin immer mehr in den Hintergrund trat. Dann nahm er den Becher, stellte ihn hin und ging so dicht auf sie zu, dass sie zurückwich, bis sie gegen die Schränke hinter sich stieß.
Sie blickte zu ihm auf, die ozeanblauen Augen so tiefgründig … und so bedrückend. In diesem Augenblick erinnerte sie ihn an eine Fee mit gebrochenem Flügel.
Gebrochen. Da war wieder dieses Wort.
Seine Muskeln verspannten sich wieder …
Seiner Erfahrung nach hatte jeder Geheimnisse. Harper war da offensichtlich keine Ausnahme. Er erinnerte sich an den Tag, an dem sie eingezogen war. Sie hatte die ganze Zeit den Blick gesenkt, doch die langen blassen Wimpern hatten die tiefen Schatten darunter nicht verbergen können. Ihre Wangen hatten damals hohl ausgesehen, und jedes Mal, wenn sich ihr jemand genähert hatte, hatte sich ihre ganze Haltung versteift. Wow, er hatte doch eine Menge mitbekommen dafür, dass er sich verboten hatte, sie zu beobachten.
„Du hast fünf Sekunden, um endlich zu reden“, sagte er in groberem Tonfall als beabsichtigt. Es gab keinen Grund, ihr auch noch den anderen Flügel zu brechen, aber verflucht noch mal, sein Instinkt, alles zu beschützen, was schwächer war als er, regte sich inzwischen. Alles in ihm protestierte bei dem Gedanken, dass jemand ihr wehgetan haben könnte. „Was − willst − du − hier?“
Sie schluckte und zitterte noch stärker. „Darf ein Mädchen einen Mann nicht erst einmal kennenlernen, ehe sie ihn um einen Gefallen bittet?“
„Nein. “ Ausweichen hatte bei ihm noch nie funktioniert. „Hast du irgendwelchen Ärger?“
Ihre Wangen färbten sich dunkelrot, während der Rest von ihr kreidebleich wurde. „Das nicht gerade, nein. “ Sie sprach leiser, Gefahr verbarg sich unter diesen seidigen Tönen der … Angst? Ja, eindeutig Angst. Und sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen.
Sanfter fragte er: „Was bedeutet, nicht geradeʻ?“
Und schon wieder steckten ihre Nägel zwischen ihren Zähnen. „Es heißt, du bist Detective beim OKCPD. “
„Bin ich. “ Es gab keinen Grund, seinen Zwangsurlaub zu erwähnen.
Endlich sahen ihn die meerwasserblauen Augen wieder an, so schön und klar, dass es ihm tatsächlich die Kehle zusammenzog. „Was für ein Cop bist du genau?“
„Ein Detective, wie schon gesagt. “
„Darauf kommt’s doch nicht an. Marke ist Marke, oder? Was ich meinte, war, bist du ein Guter oder ein Böser? Geht es dir um Gerechtigkeit, egal was es kostet, oder willst du einfach nur deinen Fall abschließen?“
Er presste die Zähne zusammen und rief sich in Erinnerung, dass er ein ruhiges und vernunftbegabtes Wesen war (mit einer Waffe) und sie ihn und seine Kollegen wahrscheinlich nicht absichtlich beleidigt hatte.
„Harper“, rügte er sie kurz, indem er ihren Namen wie ein Schimpfwort aussprach. Er hätte sie wieder „Ma’am“ nennen sollen, aber nach ihren Witzeleien darüber, wie er wahrscheinlich an seine Wohnung gekommen war, waren solche Formalitäten vom Tisch. „Ich bin kurz davor, dich wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit zu verhaften, weil nur Besoffene so einen Mist reden. “
Sie seufzte erleichtert auf. „Ein Guter also. Sonst hättest du versucht, mich zu überzeugen, wie gut du tatsächlich bist, statt beleidigt zu sein. “
„Harper. “
Sie schluckte. „Okay. In Ordnung. Ich habe dir gesagt, dass ich Malerin bin, richtig?“
„Eine unglaubliche Malerin. “
Sie hob das Kinn, und für den Augenblick waren die bedrückenden Geheimnisse aus ihrem Blick verschwunden, und ein beleidigter Ausdruck lag darin. „Ja, bin ich auch“, sagte sie, wieder die Fingernägel im Mund. „Wie dem auch sei, ich… äh … ähmmm. Ich wusste, dass es schwer wird, aber das ist schlimmer als damals, als ich Stacy DeMarko sagen musste, dass ihr Hintern in den Jeans tatsächlich fett aussieht. “
Nicht lustig. Er legte die Finger um ihr Handgelenk und zog die Hand vom Mund weg.
Der Kontakt schien ihr einen Schlag zu versetzen, denn sie keuchte auf. Auch er fühlte den Schlag. Ihre Haut war unglaublich zart, herrlich warm, wie ein Traum. Ihr Puls schlug schnell und unregelmäßig, liebkoste ihn mit jedem Pochen. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
„Letzte Chance, Harper. Sag, was du zu sagen hast. Nur so bekommst du, was du willst. “
Sie rieb sich den anmutigen Hals, ein Abbild weiblicher Eleganz, und flüsterte: „Ich male da an etwas … aus der Erinnerung, glaube ich, und … das Problem ist … ich erinnere mich nicht wirklich, aber es ist da, in meinem Kopf, dieses schreckliche Bild, meine ich, und … und … ich glaube, ich war Zeuge bei einem Mord. “