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Lysander ist ein Engel, reinen Herzens und hat einen eisernen Willen. Deshalb ist er einer der unerbittlichsten Dämonenjäger. Etwas wie Begehren hat er nie gekannt - bis er Bianka begegnet. Die schöne Harpyie scheint dazu bestimmt, den Engel zu verführen. Wird sie Lysanders Verderben sein?
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Seitenzahl: 198
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Gena Showalter
Schwarzer Engel
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Freya Gehrke
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: The Darkest Angel Copyright © 2010 by Gena Showalter erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Covergestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Daniela Peter Titelabbildung: Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN epub 978-3-86278-825-5
www.mira-taschenbuch.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
1. KAPITEL
Von hoch oben aus dem Himmel entdeckte Lysander seine Beute. Zu guter Letzt. Endlich kann ich es beenden. Sein Kiefer verkrampfte sich, seine Haut spannte. Vor Anspannung. Vor Erleichterung. Entschlossen sprang er von der Wolke, auf der er gestanden hatte, ließ sich pfeilschnell in die Tiefe fallen … Der Wind fuhr ihm peitschend durchs Haar …
Als der Boden näher kam, ließ er seine Flügel hervorschnellen, lang, gefiedert und golden, fing sich in einer Luftströmung und verlangsamte seinen Fall.
Er war ein Soldat der Einen Wahren Gottheit. Einer der Elite der Sieben, erschaffen vor Anbeginn der Zeit. In den vielen Jahrtausenden seines Daseins hatte er gelernt, dass es für jeden der Sieben eine Versuchung gab. Einen potenziellen Sündenfall. Wie Evas Apfel. Und wenn die Elitekrieger diese … Versuchung fanden, gingen sie kompromisslos dagegen vor – zerstörten sie, bevor sie die Engel zerstören konnte.
Endlich hatte Lysander die seine gefunden.
Bianka Skyhawk.
Sie war die Tochter einer Harpyie und eines Phönix-Gestaltwandlers. Sie war eine Diebin, eine Lügnerin und eine Mörderin, die noch an den grausigsten Taten Vergnügen fand. Schlimmer noch, sie war vom Blute Luzifers – sein schlimmster Feind und Erzeuger der meisten Dämonenvölker. Was bedeutete, dass Bianka seine Feindin war.
Er lebte, um seine Feinde zu vernichten.
Allerdings konnte er nur gegen sie vorgehen, wenn sie eines der himmlischen Gesetze brachen. Bei Dämonen wurde er zum Beispiel aktiv, wenn sie aus ihrem feurigen Verlies flohen, um auf der Erde zu wandeln. Was Bianka anging, die niemals zur Hölle verdammt worden war, müsste es etwas anderes sein. Was, wusste er nicht. Alles, was er wusste, war, dass er nie empfunden hatte, was die Sterblichen als „Begehren“ bezeichneten.
Bis Bianka auf der Bildfläche erschienen war.
Und das gefiel ihm gar nicht.
Vor ein paar Wochen hatte er sie zum ersten Mal gesehen, mit ihrem langen schwarzen Haar, das sich ihr über den Rücken ergoss, den leuchtenden bernsteinfarbenen Augen und den blutroten Lippen. Als er sie beobachtet hatte, unfähig, sich abzuwenden, war ihm nur eine einzige Frage durch den Kopf gewabert: War ihre perlmuttschimmernde Haut so weich, wie sie aussah?
So viel zum Thema Begehren. So etwas hatte er sich bei noch niemandem gefragt. Es hatte ihn nie interessiert. Doch jetzt war die Frage zur Obsession geworden, das Ergründen der Wahrheit zum Bedürfnis. Und das musste ein Ende finden. Sofort. Heute.
Direkt vor ihr landete er, doch sie konnte ihn nicht sehen. Das konnte niemand. Er existierte auf einer anderen Ebene, gleichermaßen unsichtbar für Sterbliche und Unsterbliche. Er könnte ihr direkt ins Gesicht schreien und sie würde ihn nicht hören. Er könnte durch sie hindurchgehen und sie würde ihn nicht spüren. Auch riechen könnte sie ihn nicht, noch ihn auf irgendeine andere Weise wahrnehmen.
Bis es zu spät wäre.
Er hätte ein flammendes Schwert aus dem Nichts erschaffen und ihr den Kopf abschlagen können, doch er tat es nicht. Wie er bereits erkannt und akzeptiert hatte, konnte er sie nicht töten. Noch nicht. Doch genauso wenig konnte er ihr gestatten, ungehindert weiterzumachen, ihn in Versuchung zu führen und seinen gesunden Menschenverstand außer Kraft zu setzen. Was bedeutete, dass er sich damit zufriedengeben musste, sie in seinem himmlischen Zuhause einzusperren.
Das musste für ihn nicht zwangsläufig zu einer grauenhaften Anstrengung werden. Er könnte die gemeinsame Zeit nutzen, um Bianka auf den rechten Weg zu bringen. Und der rechte Weg war natürlich sein Weg. Außerdem würde er da sein und könnte sich endlich von ihrem Einfluss befreien, wenn sie nicht mitmachte und schließlich jene unverzeihliche Sünde beginge.
Tu es. Hol sie dir.
Er streckte die Hand aus. Doch kurz bevor er die Arme um sie schließen und mit ihr davonfliegen konnte, bemerkte er, dass sie nicht mehr allein war. Finster verzog er das Gesicht und ließ die Arme an seine Seiten fallen. Bei seinem Vorhaben wollte er keine Zeugen.
„Das ist der beste Tag aller Zeiten“, rief Bianka in den Himmel hinaus, breitete die Arme aus und drehte sich wild um sich selbst. In den Händen hielt sie zwei Champagnerflaschen, die ihrem Griff entglitten und krachend an den eisigen Bergen im tiefsten Alaska zerbarsten, die sie umgaben. Sie bremste sich, schwankte, lachte. „Ups.“
Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. Er verpasste die perfekte Gelegenheit, wurde ihm klar. Offensichtlich war sie betrunken. Vermutlich hätte sie sich nicht einmal gegen ihn gewehrt. Hätte angenommen, er wäre eine Halluzination oder sie spielten ein Spiel. Nachdem er sie über die letzten Wochen beobachtet hatte, wusste er, wie gern sie spielte.
„Verschwenderin“, grummelte ihre Schwester – der Eindringling. Obwohl sie Zwillinge waren, glichen Bianka und Kaia sich in nichts. Kaia hatte rotes Haar und graue Augen mit goldenen Einsprengseln. Sie war kleiner als Bianka, ihre Schönheit zarter. „Tagelang musste ich den Sammler belauern, um die zu stehlen – tagelang! Echt jetzt. Du hast gerade zwei Dom Pérignon Weißgold Jeroboam zerdeppert.“
„Ich mach’s wieder gut.“ In Wölkchen stand Bianka der Atem vor dem Mund. „Unten in der Stadt haben sie Jägermeister im Angebot.“
Eine kurze Pause, dann ein Seufzen. „Das kommt nur in Frage, wenn du mir auch ein paar Käseröstis klaust. Sonst hab ich die immer Sabin gezockt, und jetzt, da wir nicht mehr in Budapest sind, krieg ich langsam Entzugserscheinungen.“
Lysander versuchte, dem Gespräch zu folgen, wirklich. Aber so nah bei Bianka zu sein, störte – wie immer – seine Konzentration. Nur ihre Haut glich der ihrer Schwester, reflektierte das Sonnenlicht in allen Farben eines taufrischen Regenbogens. Warum also fragte er sich bei Kaia nicht auch, ob ihre Haut so weich war, wie sie schien?
Weil sie nicht deine Versuchung ist. Das weißt du.
Hier stand er, auf dem Gipfel des Devil’s Thumb, und sah zu, wie Bianka sich auf den Hintern plumpsen ließ. Immer noch war sie umgeben von einem kalten Nebel, der sie wie eine Traumgestalt wirken ließ. Oder wie der Albtraum eines Engels.
„Aber du musst zugeben“, fügte Kaia hinzu, „dass es mir im Augenblick gar nicht hilft, wenn du später unten Jägermeister klaust. Ich bin höchstens leicht angeschäkert, und bis Sonnenuntergang wollte ich eigentlich komplett weggeschossen sein.“
„Dann solltest du mir danken. Du hast dich schon gestern Abend zugedröhnt. Und den Abend davor. Und den Abend davor.“
Kaia zuckte mit den Schultern. „Und?“
„Und du bist in einen richtigen Trott verfallen. Du stiehlst Alkohol, kletterst auf einen Berg, während du dich besäufst, und wenn du voll bist, springst du in die Tiefe.“
„Tja, dann bist du im selben Trott, schließlich warst du an jedem dieser Abende dabei.“ Der Rotschopf runzelte die Stirn. „Trotzdem. Vielleicht hast du recht. Vielleicht brauchen wir eine Abwechslung.“ Suchend blickte sie sich auf dem majestätischen Gipfel um. „Also, was willst Du denn Neues und Aufregendes tun?“
„Mich beschweren. Ist es zu glauben, dass Gwennie heiratet?“, murrte Bianka. „Und dann auch noch ausgerechnet Sabin, den Hüter des Zweifelsdämonen. Dämons. Wie auch immer.“
Gwennie. Gwendolyn. Die kleine Schwester der beiden.
„Ich weiß. Total seltsam.“ Immer noch stirnrunzelnd ließ Kaia sich neben ihr nieder. „Was wär dir lieber, Brautjungfer sein oder dich von einem Bus überfahren lassen?“
„Der Bus. Keine Frage. Davon würde ich mich wenigstens erholen.“
„Seh ich auch so.“
Bianka mochte keine Hochzeiten? Wie merkwürdig. Die meisten Frauen gierten doch förmlich danach. Den Bus brauchst du nicht, hätte Lysander ihr gern gesagt. Du wirst nicht bei der Hochzeit deiner Schwester sein.
„Also, wer von uns wird Trauzeugin, was denkst du?“, fragte Kaia.
„Ich bin raus“, rief Bianka hastig, gerade als Kaia den Mund öffnete, um dasselbe zu sagen.
„Verdammt!“
Höchst amüsiert lachte Bianka auf. „So schlimm werden deine Pflichten schon nicht sein. Gwennie ist immerhin die netteste Skyhawk.“
„Jedenfalls solange sie Sabin nicht beschützt, meinst du.“ Kaia schauderte. „Ich schwör’s dir, droh dem Mann nur das kleinste körperliche Leid an und sie ist kurz davor, dir die Augen auszukratzen.“
„Glaubst du, wir werden uns je so verlieben?“ So neugierig Bianka auch klang, in ihrer Stimme lag zugleich ein Hauch von Traurigkeit.
Warum Traurigkeit? Wollte sie sich verlieben? Oder dachte sie an einen bestimmten Mann, nach dem sie sich sehnte? Bisher hatte Lysander sie nicht mit einem Mann gesehen, den sie begehrte.
Mit ihrer trügerisch zierlichen Hand winkte Kaia ab. „Wir leben schon seit Jahrhunderten und haben uns nie verliebt. Offensichtlich soll es einfach nicht sein. Und ich zumindest bin froh drüber. Männer werden schnell zur Verpflichtung, wenn man was Permanentes anpeilt.“
„Schon“, kam die Antwort. „Aber eine spaßige Verpflichtung.“
„Wohl wahr. Und ich hatte schon verdammt lange keinen Spaß mehr“, schob Kaia hinterher und machte einen Schmollmund.
„Ich auch nicht. Außer mit mir selbst, aber ich schätze mal, das zählt nicht.“
„So wie ich’s mache, schon.“
Wieder lachten sie.
Spaß. Sex, begriff Lysander und hatte plötzlich keinerlei Schwierigkeiten mehr, der Unterhaltung zu folgen. Die beiden redeten über Sex. Etwas, das er noch nie ausprobiert hatte. Nicht einmal mit sich selbst. Und er hatte es auch nie ausprobieren wollen. Wollte es immer noch nicht. Nicht einmal mit Bianka mit ihrer unglaublichen (weichen?) Haut.
So lange, wie er bereits lebte – weit länger als ihre paar Jahrhunderte –, hatte er viele Menschen beim Akt gesehen. Es sah … chaotisch aus. So unspaßig, wie es nur ging. Und doch hintergingen Menschen Freunde und Familie, um es zu tun. Sie bezahlten sogar bereitwillig hart erarbeitetes Geld dafür. Wenn sie es nicht selbst taten, wurde es für sie zur Besessenheit, anderen dabei zuzusehen, im Fernsehen oder auf dem Computer-Bildschirm.
„Wir hätten einen von den Herren vögeln sollen, als wir in Buda gewesen sind“, sagte Kaia nachdenklich. „Paris ist echt heiß.“
Sie konnte nur die Herren der Unterwelt meinen. Unsterbliche Krieger, besessen von jenen Dämonen, die einst in der Büchse der Pandora eingeschlossen gewesen waren. Da Lysander sie über die Jahrhunderte überwacht hatte, um sicherzustellen, dass sie sich an die Gesetze des Himmels hielten – weil ihre Dämonen vor dem Erlass jener Gesetze der Hölle entflohen waren und zuvor niemand an die Möglichkeit einer solchen Flucht gedacht hatte, waren sie nicht hingerichtet, sondern zuerst in die Büchse und später in die Herren verbannt worden –, wusste er, dass Paris der Hüter der Promiskuität war. Gezwungen, jeden Tag jemand Neues in sein Bett zu holen oder an Kraft zu verlieren und schließlich zu sterben.
„Klar, Paris ist heiß, aber mir hat Amun gefallen.“ Bianka lehnte sich zurück, streckte sich auf dem Rücken aus, und wieder waberte der Nebel um sie herum. „Er spricht nicht, das macht ihn in meinen Augen zum perfekten Mann.“
Amun, Hüter des Dämons der Geheimnisse. So, so. Den mochte Bianka also? Lysander rief sich den Krieger vors geistige Auge. Er war groß, auch wenn Lysander größer war. Er war muskulös, auch wenn Lysander mehr Muskeln hatte. Und er war dunkel, wo Lysander hell war. Eigentlich war Lysander sogar erleichtert, zu erfahren, dass die Harpyie einen anderen Typ Mann vorzog.
Das würde zwar nichts an ihrem Schicksal ändern, aber es verringerte die Last auf Lysanders Schultern. Er war sich nicht sicher, was er getan hätte, wenn sie ihn gebeten hätte, sie zu berühren. Dass sie es nicht tun würde, war definitiv auch eine Erleichterung.
„Was ist mit Aeron?“, fragte Kaia. „Diese ganzen Tattoos …“ Ihr entwich ein Stöhnen, und sie erschauerte. „Ich könnte jedes einzelne davon mit meiner Zunge nachziehen.“
Aeron, Hüter des Zorns. Er war der einzige Geflügelte unter den Herren. Schwarz und hauchdünn waren seine Schwingen. Von Kopf bis Fuß war er mit Tattoos bedeckt und sah ganz so aus wie der Dämon, der er war. Außerdem hatte er vor Kurzem ein himmlisches Gesetz gebrochen. Deshalb würde Aeron noch vor der bevorstehenden Hochzeit tot sein.
Lysanders Schützling Olivia hatte den Befehl erhalten, den Krieger hinzurichten. Bislang leistete sie jedoch Widerstand. Das Mädchen hatte ein weicheres Herz, als gut für sie war. Irgendwann würde sie jedoch ihre Pflicht erfüllen. Andernfalls würde man sie aus dem Himmel verstoßen, sie wäre nicht länger eine Unsterbliche. Das war kein Schicksal, das Lysander zulassen würde.
Von allen Engeln, die er ausgebildet hatte, war sie mit Abstand sein Liebling. So sanft, wie sie war, konnte man als Mann gar nicht anders, als sich zu wünschen, sie glücklich zu machen. Sie war vertrauenswürdig, loyal und die Reinheit in Person; sie war die Art Frau, die ihn in Versuchung führen sollte. Eine Frau, mit der eine romantische Beziehung für ihn möglicherweise annehmbar gewesen wäre. Die wilde Bianka dagegen … Nein. Niemals.
„Wie soll ich mich bloß zwischen meinen beiden Lieblingsherren entscheiden, B?“ Ein weiteres Seufzen lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Harpyien.
Bianka verdrehte die Augen. „Probier sie eben beide aus. Ist ja nicht so, als hättest du noch nie einen Doppelwhopper gehabt.“
Kaia lachte, auch wenn das Amüsement nicht ganz bis in ihre Stimme reichte. Wie bei Bianka lag auch bei ihr eine gewisse Traurigkeit in dem Klang. „Wohl wahr.“
Leicht missfällig senkte Lysander die Mundwinkel. Zwei verschiedene Partner an einem Tag. Oder gleichzeitig. Hatte Bianka so etwas auch schon getan? Wahrscheinlich.
„Was ist mit dir?“, hakte Kaia nach. „Fängst du auf der Hochzeit was mit Amun an?“
Auf diese Frage folgte eine lange, schwere Pause. Dann zuckte Bianka mit den Schultern. „Vielleicht. Wahrscheinlich.“
Er sollte verschwinden und erst zurückkehren, wenn sie allein war. Je mehr er über sie erfuhr, desto unsympathischer wurde sie ihm. Bald würde er sie sich einfach schnappen – egal, wer zusah – und seine Gegenwart, seine Absichten enthüllen, nur um diese Welt vor ihrem dunklen Einfluss zu bewahren.
Er schlug mit den Flügeln, einmal, zweimal, und hob ab.
„Weißt du, was ich mir mehr als alles andere auf der Welt wünsche?“, fragte sie, legte sich auf die Seite und blickte ihre Schwester an. Damit war sie auch genau in Lysanders Richtung gewandt. Ihre Augen waren groß, die bernsteinfarbenen Iris leuchteten. Das Strahlen der Sonne schien förmlich in ihre herrliche Haut einzusinken, und Lysander bemerkte, wie er innehielt.
Neben ihr streckte Kaia sich. „Die Co-Moderation beim nationalen Frühstücksfernsehen?“
„Ja, das auch, aber das meinte ich nicht.“
„Dann hab ich keinen Schimmer.“
„Na ja …“ Bianka biss sich auf die Unterlippe. Öffnete den Mund. Schloss den Mund. Verzog finster das Gesicht. „Ich sag’s dir, aber du darfst es niemandem weitersagen.“
Die Rothaarige tat so, als würde sie ihre Lippen verschließen und den Schlüssel wegwerfen.
„Ich mein’s ernst, K. Verrate es auch nur einer Seele und ich leugne es, bevor ich dich aufspüre und dir den Kopf abreiße.“
Würde sie das wirklich tun, fragte sich Lysander. Und wieder lautete seine Einschätzung: wahrscheinlich. Für ihn lag es außerhalb der Vorstellungskraft, seiner Olivia, die er liebte wie eine Schwester, ein Leid zuzufügen. Vielleicht weil sie nicht zur Elite der Sieben gehörte, sondern eine Glücksbotin war, eine der Schwächsten unter den Engeln.
Bei ihnen gab es drei Kasten. Die Elite der Sieben, die Krieger und die Glücksboten. Ihr Status spiegelte sich sowohl in ihren Pflichten als auch in der Farbe ihrer Flügel wider. Jeder der Sieben hatte goldene Flügel genau wie seine. Bei Kriegern waren die Flügel weiß und nur leicht durchzogen mit Gold. In den weißen Federn der Glücksboten war kein Schimmer von Gold zu entdecken.
Olivia war in all den Jahrhunderten ihres Daseins eine Glücksbotin gewesen. Eine Position, in der sie sehr zufrieden gewesen war. Deshalb hatte es alle, Olivia eingeschlossen, so schockiert, als zwischen ihren Federn goldene Daunen zu sprießen begonnen hatten.
Doch nicht Lysander. Er war es, der den Himmlischen Hohen Rat darum gebeten hatte – und sie hatten zugestimmt. Er hatte es tun müssen. Zu sehr hatte der Krieger Aeron sie fasziniert. Sie … betört. Sie von einer solchen Versuchung zu befreien, das war unerlässlich gewesen. Wie er sehr gut aus eigener Erfahrung wusste.
Unwillkürlich ballte er die Hand zur Faust. Er gab sich die Schuld an der Olivias misslichen Lage. Er hatte sie ausgesandt, um die Herren zu beobachten. Sie zu studieren. Eigentlich hätte er selbst gehen sollen, aber er hatte gehofft, so Bianka aus dem Weg zu gehen.
„Na los, lieg da nicht bloß so rum! Erzähl schon, was du so viel dringender tun willst als alles andere auf der Welt“, rief Kaia und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart.
Wieder seufzte Bianka. „Ich will mit einem Mann schlafen.“
Verwirrt runzelte Kaia die Stirn. „Äh, hallo. Haben wir darüber nicht gerade geredet?“
„Nein, Dummerchen. Ich meine, ich will schlafen. Mich aufs Ohr hauen. Schnarchen, bis der Regenwald abgeholzt ist.“
Einen Moment lang war es still, während Kaia die Eröffnung verdaute. „Was?! Das ist verboten. Dämlich. Gefährlich.“
Harpyien lebten nach genau zwei Regeln, wie er wusste. Sie durften nur essen, was sie gestohlen oder verdient hatten, und sie durften nicht in der Gegenwart anderer schlafen. Ersteres weil ein Fluch auf der gesamten Rasse der Harpyien lag, und letzteres weil Harpyien von Natur aus misstrauisch und argwöhnisch waren.
Lysander neigte den Kopf zur Seite, als er realisierte, dass er sich ausmalte, Bianka in den Armen zu halten, während sie langsam in den Schlaf glitt. Dieser Wasserfall dunkler Locken würde sich über seinen Arm und seine Brust ergießen. Ihre Wärme würde in seinen Körper sickern. Ihr Bein an seinem reiben.
Natürlich könnte er das niemals zulassen, aber es verringerte keinesfalls die Macht dieser Vision. Sie zu halten, zu beschützen, ihr Geborgenheit zu schenken, wäre … schön.
Wäre ihre Haut so weich, wie sie wirkte?
Knirschend presste er die Zähne aufeinander. Da war diese absurde Frage wieder. Es ist mir egal. Es spielt keine Rolle.
„Vergiss, dass ich überhaupt was gesagt hab“, grummelte Bianka, warf sich wieder auf den Rücken und starrte in den hellen Himmel.
„Kann ich nicht. Deine Worte haben sich in meine Gehörgänge gebrannt. Weißt du, was unseren Vorfahren passiert ist, als sie dumm genug waren, einzuschlafen, wäh…“
„Ja, schon gut. Ja.“ Sie stand auf. Ihr Kunstfellmantel leuchtete blutrot, genau wie ihre Lippen, ein harter Kontrast gegen das weiße Eis, das sie umgab. Ihre Stiefel waren schwarz und schmiegten sich bis knapp unter den Knien an ihre Beine. Dazu trug sie eine hautenge Hose, ebenfalls in Schwarz. Sie sah teuflisch schön aus.
Wäre ihre Haut so weich, wie sie wirkte?
Bevor ihm klar war, was er da tat, stand er schon vor ihr, streckte die Hand aus, ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Was machst du da? Hör auf! Er erstarrte und trat dann mehrere Schritte zurück.
Gütiger Himmel. Wie nah er daran gewesen war, der Versuchung nachzugeben, die sie darstellte.
Er konnte nicht länger warten. Konnte nicht warten, bis sie allein wäre. Er musste augenblicklich handeln. Seine Reaktion auf sie wurde stärker. Wenn sie noch weiter wuchs, würde er sie berühren. Und wenn ihm das gefiel, würde er möglicherweise noch mehr tun wollen. So funktionierte Versuchung. Man gab in einer kleinen Sache nach und sehnte sich sofort nach der nächsten. Und der nächsten. Und schon bald war man verloren.
„Genug von dem ernsten Zeug. Lass uns mit unserem langweiligen Trott weitermachen und springen“, beschloss Bianka und marschierte zur Klippe. „Du kennst die Regeln. Die mit den wenigsten Knochenbrüchen gewinnt. Wenn du stirbst, hast du verloren. Quasi für immer.“ Sie starrte in den Abgrund.
Genau wie Lysander. Auf dem Weg nach unten warteten Einschnitte und Vorsprünge, Eisbrocken mit scharfen, tödlichen Kanten – und tausende Meter leerer Luft. Ein solcher Sprung hätte jeden Sterblichen umgebracht, das stand außer Frage. Doch die Harpyie machte bloß Witze über die Möglichkeit, als wäre sie ohne Bedeutung. Hielt sie sich für unverwundbar?
Kaia rappelte sich ebenfalls auf, schwankend vom Alkohol, der noch immer durch ihre Blutbahn rauschte. „Meinetwegen, aber glaub ja nicht, dass wir uns zum letzten Mal über deine Schlafgewohnheiten und dumme Mädchen unterhalten haben, die …“
Bianka sprang.
Lysander hatte zwar damit gerechnet, aber es überraschte ihn trotzdem. Er folgte ihr abwärts. Sie breitete die Arme aus, schloss die Augen, ein närrisches Grinsen auf dem Gesicht. Dieses Grinsen … berührte ihn. Offensichtlich zog sie eine tiefe Freude aus der Freiheit, mit der sie durch die Luft segelte. Eine Freude, die er selbst oft empfand. Aber sie würde nicht das Ende bekommen, das sie sich wünschte.
Sekunden vor ihrem Aufprall auf einem Felsen ließ Lysander seine Erscheinung in ihrer Ebene Gestalt annehmen. Er packte sie, erwischte sie unter den Achseln, breitete die Flügel aus und verlangsamte ihren Fall. Hart schlugen ihre Beine gegen ihn, schüttelten ihn durch. Dennoch lockerte der seinen Griff für keinen Moment.
Sie keuchte und ihre Augenlider flogen auf. Als sie ihn ins Visier nahm, als ihr bernsteinfarbener Blick sich funkensprühend mit seinem dunklen traf, verwandelte sich das Keuchen in ein Knurren.
Die meisten anderen hätten gefragt, wer er war, oder verlangt, er solle verschwinden. Nicht so Bianka.
„Das war ein Riesenfehler, Fremder“, sagte sie scharf. „Einer, für den du bezahlen wirst.“
So viele Schlachten, wie er über die Jahre geschlagen, und so viele Gegner, wie er niedergemetzelt hatte, musste er nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie soeben einen Dolch aus einem versteckten Schlitz in ihrem Mantel hervorgeholt hatte. Und er musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass sie ihn abstechen wollte.
„Du bist es, die den Fehler gemacht hat, Harpyie. Aber mach dir keine Sorgen. Ich komme in vollster Absicht, das zu korrigieren.“ Bevor sie dafür hätte sorgen können, dass ihre Waffe das beabsichtigte Ziel fand, nahm er sie mit sich auf eine andere Ebene, in sein Zuhause – wo sie von nun an bleiben würde. Für immer.
2. KAPITEL
Mit offenem Mund betrachtete Bianka Skyhawk ihre neue Umgebung. Im einen Moment war sie noch einem eisigen Tal entgegengestürzt – in der Hoffnung, den immer unangenehmer werdenden Fragen ihrer Schwester zu entrinnen und außerdem ihr Wer-hat-die-wenigsten-Knochenbrüche-Spiel zu gewinnen –, und im nächsten hatte sie in den Armen eines umwerfenden blonden Mannes gelegen. Was nicht notwendigerweise etwas Gutes war. Sie hatte versucht, ihn abzustechen, und er hatte sie abgeblockt. Abgeblockt, verflucht noch mal. Niemand sollte in der Lage sein, den Todesstoß einer Harpyie abzublocken.
Jetzt stand sie im Inneren einer Wolke – oder eher eines Wolkenpalasts. Eines Palasts, der alles übertraf, was sie je gesehen hatte. Eines Palasts, der warm war und angenehm duftete – mit einem fast greifbaren Gefühl von Frieden in der Luft.
Die Wände bestanden aus nichts als weißem Nebel, und vor ihren Augen entstanden Fresken, scheinbar lebendig, von geflügelten Kreaturen – sowohl himmlischen als auch dämonischen –, die durch einen strahlenden Morgenhimmel glitten. Die Bilder erinnerten sie an Danikas Gemälde. Sie war das Allsehende Auge, das ungehindert in Himmel und Hölle blicken konnte. Obwohl der Fußboden aus derselben ätherischen Substanz zu bestehen schien, gab er den Blick auf das Land und die Menschen darunter frei – und war dabei trotzdem beruhigend solide.
Himmlisch. Wolke. Das Himmelreich? Pures Entsetzen durchströmte sie, als sie herumwirbelte und sich dem Mann entgegenstellte, der sie entführt hatte. „Himmlisch“ war das perfekte Wort. Von seinem blonden Kopf über die Kraft in jenem schlanken, muskulösen, sonnengeküssten Leib bis hin zu den goldenen Flügeln, die aus seinem Rücken ragten. Selbst das knöchellange weiße Gewand und die Sandalen an seinen Füßen verliehen ihm die Aura eines Heiligen.