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Sie wollen Gutes und sind doch zum Bösen verdammt: Die Herren der Unterwelt. Dritter Teil der preisgekrönten "Die Herren der Unterwelt"-Trilogie von New York Times Bestsellerautorin Gina Showalter. Reyes’ Leben ist vom Schmerz bestimmt. So will es sein Dämon. Seit Jahrhunderten schon kann der Herr der Unterwelt Lust nur empfinden, wenn sie mit mörderischen Qualen verbunden ist. Aber Reyes begehrt etwas, das ihm helfen könnte, seinen Dämon zu besiegen: Danika Ford, eine Sterbliche. Danika ist auf der Flucht. Seit Monaten versucht sie den Herren der Unterwelt zu entkommen, die geschworen haben, sie und ihre Familie zu zerstören. Doch in ihren Träumen wird sie von Reyes heimgesucht, einem jener Krieger, dessen sehnsuchtsvolle Berührung sie nicht vergessen kann.
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Seitenzahl: 622
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
New York Times und USA Today Bestseller-Autorin Gena Showalter gilt als neuer Shooting Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Die Serie um „Die Herren der Unterwelt“ ist ihre bislang stärkste.
Gena Showalter
Die Herren der Unterwelt 3
Schwarze Lust
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Regina Hohmann
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Copyright © 2010 by MIRA Taschenbuch
in der CORA Verlag GmbH & Co. KG
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Darkest Pleasure – Lords of the Underworld 3
Copyright © 2008 by Gena Showalter
erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Claudia Wuttke
Titelabbildung: Getty Images, München; pecher und soiron, Köln
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-221-5 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-220-8
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
www.mira-taschenbuch.de
Liebe Leserinnen,
ich freue mich, Ihnen heute den dritten Band meines Zyklus’ DIE HERREN DER UNTERWELT mit Geschichten aus der paranormalen Welt präsentieren zu können. Nach Schwarze Nacht und Schwarzer Kuss folgt nun Schwarze Lust.
In einer abgeschiedenen Burg nahe Budapest sind sechs unsterbliche Krieger – einer gefährlicher und verführerischer als der andere – an einen alten Fluch gebunden, den bislang niemand brechen konnte. Als ein mächtiger Feind zurückkehrt, begeben sie sich auf die Suche nach jener heiligen Reliquie der Götter, die sie alle zu vernichten droht.
Begleiten Sie mich auf eine Reise durch eine düstere und sinnliche Welt, in der die Grenze zwischen Gut und Böse verschwimmt und die wahre Liebe auf eine harte Probe gestellt wird. Freuen Sie sich auf weitere Abenteuer der Herren der Unterwelt – Abenteuer, in denen sich die Gefahren zuspitzen, die Leidenschaft hohe Wogen schlägt und mehr auf dem Spiel steht als je zuvor.
Mit den besten Wünschen,
Gena Showalter
DIE HERREN DER UNTERWELT wären nicht ohne diese wunderbaren Menschen entstanden, die mich immer wieder ermutigt haben:
Donna Hayes
Vicky So
Loriana Sacilotto
Josh Hilburt
Dianne Moggy
Nancy Fischer
Randall Toye
Sally Noonan
Tracy Farrell
Brian McGroarty
Margo Lipschultz
The Harlequin Sales Group
Keyren Gerlach
Deidre Knight
Kathleen Oudit
Patricia Rouse
Juliana Kolesova
Susan Grimshaw
Diana Wong
Kathy Baker
Stacy Widdrington
Max Showalter
Marianna Ricciuto
Matt Showalter
Pat Muir-Rand
Roy Showalter
Melissa Caraway
Destinee Showalter
Kristin Foti
Sheila Fields
Kim Elliott
Jill Monroe
Für Kemmie Tolbert, eine großartige Frau, die Bücher genauso liebt wie ich.
Reyes stand schwankend auf der Dachkante der Budapester Burg, fünf Stockwerke oberhalb der Erde, und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Über ihm tropfte rötlich gelbes Mondlicht aus dem Himmel, Blut mit funkelnd goldenen Einsprengseln, Dunkelheit durchsetzt von Lichtpunkten, frische Wunden in der endlosen Ausdehnung des samtig schwarzen Universums.
Er starrte in die finstere Leere, die sich unter ihm ausbreitete, auf den Boden, der spöttisch seine Arme nach ihm ausstreckte, als könne er es nicht erwarten, ihn zu umarmen.
Nach Tausenden von Jahren muss ich mir das hier immer noch antun.
Ein eisiger Wind zauste in seinem Haar und prickelte auf seiner nackten Brust, dort, wo der verhasste Schmetterling bis hoch zum Hals eintätowiert war und an das vergossene Lebensblut erinnerte. Es war nicht sein Blut gewesen, sondern das seines Freundes. Und jedes Mal, wenn seine Haare über dieses gespenstische Sinnbild von Leben und Tod strichen, war es, als würde jemand Öl ins lodernde Feuer seiner Schuld gießen.
Wie oft war er schon hierhergekommen und hatte Sehnsüchten nachgehangen, die sich niemals erfüllen würden. Wie oft schon hatte er hier um Sündenerlass gefleht, um Erlösung von seinen täglichen Qualen und seinem inneren Dämon, der für all das verantwortlich war … um Erlösung von seinem unbezwingbaren Drang zur Selbstverstümmelung.
Doch sein Flehen war nicht erhört worden. Und würde nie erhört werden. Er lebte in dem Zustand, in dem er zu leben verdammt war – und so würde es auf ewig bleiben. Das Einzige, was sich ändern würde, waren seine Höllenqualen – die würden immer stärker werden. War er früher ein unsterblicher Krieger der Götter gewesen, so war er jetzt ein Herr der Unterwelt – besessen von einem der vielen Dämonen, die früher einmal in dimOuniak eingesperrt waren. Was für ein Absturz –aus der Gunst in die Schmach, aus dem Glück in die fortwährende Qual. Die Verwandlung eines Lieblings in einen Geächteten.
Er knirschte mit den Zähnen. Die Sterblichen kannten dimOuniak als Büchse der Pandora. Für ihn hingegen war dimOuniak die Ursache für seinen Untergang. Seine Freunde und er hatten die Büchse vor Jahrhunderten geöffnet, forsch und aufmüpfig – und seitdem waren sie selbst zu einem Teil von ihr geworden, denn seitdem beherbergte jeder von ihnen einen Dämon in seinem Innern.
Spring, flehte ihn sein Dämon an.
Sein Dämon: Schmerz. Sein ständiger Begleiter. Ein drängendes Wispern in der hintersten Ecke seines Verstandes und seiner Seele; die dunkle Seite in ihm, die sich nach unaussprechlichem Bösen sehnte; die übernatürliche Kraft, gegen die er Tag für Tag, Minute für Minute ankämpfte.
Spring.
„Jetzt noch nicht.“ Noch ein paar Sekunden der Vorfreude – Vorfreude auf den Aufprall, bei dem seine Knochen zerschmettern würden. Er musste lächeln bei dem Gedanken. Die messerscharfen Knochensplitter würden seine geschwollenen Organe zerschneiden, würden sie zum Platzen bringen wie kleine Wasserbomben. Seine Haut würde bersten unter dem Druck all der Flüssigkeit – und diesmal würde das vergossene Lebensblut sein eigenes sein. In Todesqualen, in wonnigen Todesqualen würde er sich verzehren.
Zumindest für kurze Zeit.
Sein Lächeln erstarb. Innerhalb weniger Tage – vielleicht, wenn es ihm nicht gelang, sich schwer genug zu verletzen, sogar innerhalb weniger Stunden – würde sich sein Körper selbst heilen, würde komplett regenerieren. Völlig intakt und unversehrt wür de er dann auf stehen, und in seinem In nern wür de sich Schmerz erneut zu Wort melden, zu laut und gebieterisch, um ignoriert zu werden. Aber in diesen wenigen Augenblicken, die seine Knochen bräuchten, um sich wieder zu richten, seine Organe, um wieder an ihren angestammten Platz zurückzuwandern, und seine Haut, um zu verschorfen, in diesen wenigen Augenblicken würde er im Nirwana sein. Im Paradies. Würde er in süßer Ekstase leben, sich vor Wonne in den Schmerzen aalen – waren sie doch seine einzige Quelle der Freude! Und sein Dämon würde vor Zufriedenheit schnurren; sprechen würde er nicht, denn der Schmerz würde ihn viel zu sehr berauschen. Und Reyes könnte endlich einen Zustand glückseliger Ruhe genießen.
Jedenfalls für einen kurzen Moment. Immer dauerte alles nur einen kurzen Moment.
„Nicht nötig, mich daran zu erinnern, wie flüchtig die Momente der Ruhe sind“, murmelte Reyes, um den niederschmetternden Gedanken zu verdrängen. Er wusste nur zu gut, wie flüchtig die Zeit war. Ein Jahr fühlte sich für ihn manchmal an wie ein einziger Tag und ein Tag manchmal nur wie eine Minute.
Und manchmal wiederum kamen ihm Minuten und Tage fast endlos vor. Das war nur einer der vielen Widersprüche, die das Leben eines Herren der Unterwelt ausmachten.
Spring, forderte Schmerz. Und dann noch einmal, drängender: Spring! Spring!
„Ich sagte doch bereits, dass ich noch ein paar Sekunden für mich haben will.“
Abermals blickte Reyes nach unten zum Boden. Zerklüftete Felsen lockten im blutroten Mondlicht, der Wind kräuselte das Wasser in den Pfützen. Nebelschwaden fingerten empor, forderten ihn auf, näher zu kommen, herrlich nahe zu kommen. „Wenn man seinem Feind eine Klinge in den Hals rammt, tötet ihn das, ja“, sagte Reyes zu seinem Dämon. „Aber dann ist es vorbei und erledigt, und du hast weiter nichts mehr damit zu tun.“
Spring! Diesmal war es ein wütender, ungeduldiger, quengeliger Befehl, wie die trotzige Aufforderung eines Kindes.
„Gleich.“
Springspringspringspring!
Ja, manchmal konnten Dämonen tatsächlich wie nörgelnde Kleinkinder sein. Reyes fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und riss sich dabei einige Strähnen heraus. Er wusste, dass es nur ein Mittel gab, um seine andere Hälfte zum Schweigen zu bringen. Gehorsam. Warum er es jetzt wagte, sich zu widersetzen und den Augenblick auszukosten – er wusste es nicht.
Spring!
„Vielleicht wirst du dieses Mal zur Hölle zurückgeschickt“, murmelte er. Man durfte doch wohl wenigstens noch träumen. Schließlich aber breitete er seine Arme aus, schloss die Augen, beugte sich vor …
„Komm da runter“, hörte er eine Stimme hinter sich.
Die ungebetene Einmischung ließ Reyes in der Bewegung erstarren. Er riss die Augen auf und brachte seinen Körper wieder ins Gleichgewicht, drehte sich aber nicht um. Er wusste, warum Lucien hier war, und er schämte sich so, dass er seinem Freund nicht ins Gesicht sehen mochte. Zwar konnte Lucien garantiert nachvollziehen, wie sehr Reyes an seinem Dämon litt, aber er würde niemals Verständnis für das haben, was er getan hatte.
„Genau das ist mein Plan: runterkommen. Geh weg, dann kann ich’s schnell erledigen.“
„Du weißt, was ich meine.“ Lucien war anzuhören, dass er das Ganze kein bisschen komisch fand. „Ich muss mit dir reden.“
Plötzlich lag der Duft taufrischer Rosen in der Luft, so üppig und intensiv in der spätwinterlichen Nacht, dass Reyes hätte schwören können, sich mitten auf einer Frühlingswiese zu befinden. Ein Mensch hätte den Duft so hypnotisierend und betörend gefunden, dass er dem Krieger blind und willenlos alle Wünsche erfüllt hätte. Reyes hingegen fand ihn bestenfalls lästig. Nachdem sie nun schon Tausende von Jahren zusammen verbracht hatten, hätte Lucien eigentlich wissen müssen, dass der Duft bei ihm keine Wirkung mehr zeigte.
„Wir sprechen morgen“, sagte er knapp.
Spring!
„Nein, wir reden jetzt. Danach kannst du tun, was du willst.“
Nachdem Reyes seine jüngste Untat gestanden hätte? Nein, danke. Schuld, Scham und Trauer mochten emotionalen Schmerz mit sich bringen, aber der besänftigte seinen Dämon nicht. Nur körperliche Qualen brachten Erleichterung, was auch der Grund dafür war, dass Reyes so sorgsam über sein emotionales Wohlbefinden wachte.
Ja, und das hast du wieder großartig hingekriegt!
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, nicht sicher, wer ihm diese kleine sarkastische Botschaft eingeflüstert hatte. Er selbst oder Schmerz. „Ich bin gerade in schlechter Verfassung, Lucien.“
„Da geht es dir so wie den anderen. Und wie mir.“
„Du hast wenigstens eine Frau zum Trost.“
„Und du hast Freunde. Du hast mich.“ Lucien, Träger des Dämons des Todes, hatte die Aufgabe, menschliche Seelen ins Jenseits zu begleiten, egal ob in den Himmel oder in die hinterste Ecke der Hölle. Er war meistens stoisch gelassen. Und er war ihr Führer, derjenige, dem alle Krieger in der Budapester Burg folgten und den sie um Rat fragten. „Sprich mit mir.“
Reyes verweigerte Lucien das Gespräch nur ungern, redete sich aber ein, dass es für Lucien besser wäre, wenn er nichts von seiner schrecklichen Tat erführe. Doch er brauchte diese Erklärung gar nicht zu Ende zu spinnen, um zu wissen, dass sie nur eine faule Ausrede war – ein beschämender Mangel an Mut. „Lucien“, begann er, hielt aber sogleich inne und verfiel in ein unverständliches Brummeln.
„Das Kontrastmittel zum Verfolgen der Spur ist weggespült, und niemand weiß, wo Aeron sich aufhält“, sagte Lucien. „Keiner weiß, was er treibt und ob er womöglich derjenige ist, der diese Leute in den USA abgeschlachtet hat. Maddox sagt, er hätte dich unmittelbar nach Aerons Ausbruch aus dem Kerker angerufen. Und dann hat mir Sabin erzählt, dass du Rom und den Tempel der Unaussprechlichen überstürzt verlassen hast. Möchtest du mir vielleicht erzählen, wohin du so eilig verschwunden bist?“
„Nein.“ Das war die Wahrheit: Er wollte es nicht erzählen. „Aber du kannst sicher sein, dass Aeron nicht länger in der Lage ist, Menschen abzuschlachten.“
Eine Pause entstand. Der Rosenduft wurde immer intensiver.
„Woher weißt du das so genau?“ In der Frage lag eine gewisse Schärfe.
Reyes zuckte die Schultern.
„Warum erzähle ich dir nicht einfach, was ich glaube, was passiert ist?“ Wenn Luciens Stimme vorher scharf gewesen war, so klang sie jetzt fast erwartungsvoll. Vielleicht sogar ein bisschen ängstlich. „Du hast Aeron verfolgt, in der Hoffnung, das Mädchen damit zu schützen.“
Das Mädchen. Aeron hatte das Mädchen entführt. Aeron hatte von den neuen Göttern, den Titanen, den Befehl erhalten, das Mädchen umzubringen. Reyes hatte das Mädchen nur einmal kurz angeschaut und hilflos miterleben müssen, wie sie seine intimsten Gedanken gelesen, seine Handlungen beeinflusst und ihn in einen liebeskranken Idioten verwandelt hatte.
Mit nur einem einzigen Blick hatte sie sein Leben verändert – nicht unbedingt zum Guten. Und doch ging es ihm unglaublich auf die Nerven, dass Lucien sie jetzt nicht bei ihrem Namen nannte. Reyes begehrte das Mädchen mehr, als er sich nach einem Hammerschlag vor die Stirn sehnte. Und das hieß –mit Blick auf Schmerz – einiges.
„Nun?“, drängte Lucien.
„Du hast recht“, stieß Reyes zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Warum sollte er es nicht zugeben?, dachte er plötzlich. Seine Gefühle waren völlig außer Kontrolle – und sie totzuschweigen hatte ihn nur noch mehr aufgewühlt. Außerdem konnten seine Freunde ihn nicht mehr hassen, als er sich selbst hasste. „Ich bin Aeron gefolgt.“
Das Geständnis hing in der Luft, schwer wie eine Fußfessel. Reyes schwieg.
„Du hast ihn also gefunden.“
„Ich hab ihn gefunden.“ Reyes straffte die Schultern. „Ich hab … ich hab ihn auch unschädlich gemacht.“
Steine knirschten unter Luciens Stiefeln, als er näher trat. „Du hast ihn getötet?“
„Schlimmer.“ Noch immer drehte Reyes sich nicht um. Sehnsüchtig schielte er nach unten, wo der Abgrund unvermindert lockte. „Ich habe ihn unter die Erde gebracht.“
Das Geräusch von Luciens Schritten verstummte augenblicklich. „Du hast ihn unter die Erde gebracht, aber nicht getötet?“ Verwirrung lag in Luciens Stimme. „Das verstehe ich nicht.“
„Er war im Begriff, Danika umzubringen. Ich habe in seinen Augen gesehen, wie es ihn innerlich zerrissen hat, und da wusste ich, dass er es eigentlich nicht tun wollte. Also bin ich eingeschritten und habe ihn daran gehindert, und er hat mir gedankt, Lucien. Er hat mir gedankt. Er hat mich sogar angefleht, ihn ein für alle Mal auszuschalten. Aber das konnte ich nicht. Er hat mich angefleht, ihm den Kopf abzuschlagen. Ich hab tatsächlich mein Schwert erhoben, aber ich konnte es einfach nicht. Also bat ich Kane, mir Maddox’ Ketten zu bringen, weil der sie ja nun nicht mehr braucht. Und damit habe ich Aeron angebunden, tief unter der Erde.“
Reyes war früher einmal dazu verdammt gewesen, seinen Freund Maddox jede Nacht an ein Bett zu fesseln und ihn sechs verfluchte Male in den Bauch zu stechen, wohl wissend, dass der Krieger am Morgen unversehrt erwachen würde und Reyes ihn immer wieder aufs Neue würde töten müssen. Ein toller Freund bin ich.
Nach Hunderten von Jahren hatte sich Maddox dann schließlich mit seinem Fluch arrangiert. Trotzdem war es auch weiterhin nötig gewesen, ihn ans Bett zu fesseln, denn als Hüter des Dämons der Gewalt neigte Maddox dazu, ohne Vorwarnung anzugreifen. Sogar seine Freunde. Und da Maddox so stark war, dass er von Menschenhand gefertigtes Metall in Sekundenschnelle verbog, hatten sie sich von den Göttern höchstpersönlich Ketten schmieden lassen – Ketten, die niemand, nicht einmal ein Unsterblicher, ohne passenden Schlüssel öffnen konnte.
Genau wie Maddox war auch Aeron machtlos gegen diese Fesseln. Anfangs hatte sich Reyes noch dagegen gesträubt, sie seinem Freund anzulegen und dessen Freiheit damit noch mehr zu beschneiden, doch leider hatten sich die Ketten dann – genau wie bei Maddox – als unumgänglich erwiesen.
„Wo ist Aeron, Reyes?“ In der Frage schwang ein unterschwelliger Befehl mit, vorgebracht mit der Autorität eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte.
Doch das schüchterte Reyes nicht ein. Eher machte es ihm zu schaffen, dass er Lucien, den er wie seinen Bruder liebte, gerade enttäuschte. „Das werde ich dir nicht sagen. Aeron möchte nicht befreit werden.“ Und selbst wenn er es wollte, würde ich ihm den Gefallen nicht tun.
Das war der Knackpunkt von Reyes’ Schuld.
Wieder machte sich Schweigen breit, diesmal war es angespannt und beladen mit Erwartungen. „Ich finde ihn notfalls auch allein, das weißt du genau.“
„Du hast es doch bereits vergeblich versucht, sonst wärst du nicht hier.“ Reyes wusste, dass Lucien sich in die weite Welt der Gedanken und Gefühle einschleusen und dort die Spuren einer anderen Psyche nachverfolgen konnte. Manchmal verwischten, verblassten oder verwandelten sich die Spuren jedoch.
Reyes vermutete, dass Aerons Spur sich verwandelt hatte, denn er war einfach nicht mehr derselbe Krieger wie früher.
„Du hast recht. Seine Spur endet in New York“, gab Lucien mit düsterer Miene zu. „Ich könnte meine Suche fortsetzen, aber das würde dauern. Und Zeitverschwendung kann sich momentan keiner von uns leisten. Zwei Wochen sind ohnehin schon verstrichen.“
Das wusste auch Reyes nur zu gut, denn er hatte jeden einzelnen dieser vierzehn entsetzlich sorgenvollen Tage wie eine Schlinge empfunden, die sich immer enger um seinen Hals zog. Ihre größten Feinde, die Jäger, suchten wahrscheinlich jetzt gerade, in diesem Augenblick, nach Pandoras Büchse, um mit ihrer Hilfe die Dämonen aus den Kriegern herauszulocken. Für Letztere wäre das unweigerlich das Todesurteil, die Jäger hingegen müssten nur noch die Dämonen in die Büchse sperren und den Deckel verschließen.
Wenn die Krieger überleben wollten, mussten sie also den Jägern zuvorkommen und die Büchse zuerst finden.
Diese Notwendigkeit sah auch Reyes, denn selbst wenn er sein Leben chaotisch und schmerzhaft fand, so wollte er es doch nicht vorzeitig und dauerhaft beenden.
„Sag mir, wo Aeron ist“, drängte Lucien, „dann bringe ich ihn auf die Burg zurück und sperre ihn hier in den Kerker.“
Reyes schnaubte. „Er ist schon einmal ausgebrochen. Wer sagt, dass er es nicht wieder tut? Vermutlich würden ihn nicht einmal Maddox’ Ketten daran hindern. Sein Blutrausch verleiht ihm Kräfte, die ich so noch nie erlebt habe. Besser, er bleibt, wo er ist.“
„Aber er ist dein Freund. Er ist einer von uns.“
„Er ist nicht mehr er selbst, er ist nur noch ein Zerrbild des alten Aeron, und das weißt du. Die meiste Zeit ist er sich über sein Tun gar nicht bewusst. Er würde sogar dich töten, wenn sich die Gelegenheit böte.“
„Reyes …“
„Er wird sie umbringen, Lucien.“
Sie. Danika Ford. Das Mädchen. Reyes hatte sie nur ein paarmal gesehen, hatte sich kaum mehr als einmal mit ihr unterhalten, und doch sehnte er sich mit jeder Faser seines Körpers nach ihr. Das war etwas, was er nicht verstand. Er war dunkel, sie war hell. Er war der personifizierte Schmerz, sie die Unschuld schlechthin. Er war in jeder Hinsicht schlecht für sie, und trotzdem: Wenn sie ihn ansah, fühlte sich sein Leben durch und durch gut an.
Reyes hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Aeron sie, wenn er sie noch einmal in die Finger bekäme, bestialisch abschlachten würde. Unmöglich, ihn dann noch zu stoppen. Nicht ein zweites Mal. Aeron hatte den Auftrag erhalten, Danika umzubringen – ebenso wie ihre Mutter, ihre Schwester und ihre Großmutter. Und da er den Befehlen der Götter ebenso hilflos ausgeliefert war wie jeder von ihnen, würde er es tun.
Erneut flackerte Zorn in Reyes auf, und er musste seinen Blick auf die Felsen unter sich richten, um sich zu beruhigen. Zunächst hatte Aeron sich dem finsteren Auftrag der Götter noch widersetzt. Er war ein guter Mensch … nein, er war ein guter Mensch gewesen. Aber mit jedem Tag, der verstrich, war sein Dämon mächtiger geworden, hatte lauter in seinem Kopf gewütet, bis er seinen Geist schließlich ganz beherrschte. Jetzt bildeten Aeron und der Dämon in seinem Körper eine Einheit. Aeron warZorn. Er gehorchte ihm. Er hatte sich verwandelt. Er würde nicht eher ruhen, bis er die vier Frauen aufgespürt und getötet hatte.
Doch vor besagten vierzehn Tagen – vor vierzehn Tagen, vier Stunden und sechsundfünfzig Minuten, um genau zu sein –war Aeron sich in Danikas provisorischer Bleibe seiner Verbrechen offenbar noch einmal bewusst geworden. Ein kleiner Teil von ihm, ein Überbleibsel des alten Aeron, hatte sich für das, was aus ihm geworden war, verflucht und sich selbst den Tod gewünscht, um der ewigen Tortur ein Ende zu bereiten. Warum sonst hätte Aeron Reyes bitten sollen, ihn umzubringen?
Und ich habe ihm seinen Wunsch abgeschlagen. Reyes brachte es einfach nicht über sich, einem anderen Krieger wehzutun. Nicht noch einmal. Trotzdem. Was für ein Monster war er, dass er seinen Freund leiden ließ? Einen Freund, der für ihn gekämpft und getötet hatte? Der ihn liebte?
Es muss eine Möglichkeit geben, beide, Aeron und Danika, zu retten, dachte er wohl schon zum tausendsten Mal. Unzählige Stunden hatte er bereits über der Frage gebrütet, doch noch immer war ihm keine Lösung eingefallen.
„Weißt du, wo das Mädchen ist?“, unterbrach Lucien seine Grübelei.
„Nein, keine Ahnung.“ Das war die Wahrheit. „Aeron hat sie gefunden, ich habe Aeron gefunden, und so ist es zu dem Kampf zwischen uns gekommen. Sie ist geflüchtet, aber ich bin ihr nicht hinterhergerannt. Inzwischen kann sie überall und nirgends sein.“ Das wäre für sie am besten, das war ihm klar. Und trotzdem: Wie gern hätte er gewusst, wo sie sich aufhielt, was sie machte … ob sie überhaupt noch lebte.
„Lucien, verdammt, warum dauert das so lange?“
Jetzt, wo der nächste Störenfried auftauchte, drehte sich Reyes endlich um. Paris, Träger des Dämons der Promiskuität, stand neben Lucien. Beide Männer blickten ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Das Mondlicht überzog alles mit einem blutroten Schimmer, alles bis auf Lucien und Paris, als ob der Mond davor zurückschreckte, das Böse zu berühren – das Böse, das nicht einmal die Hölle selbst unter Kontrolle zu haben schien.
Als Unsterblicher, dessen Blick die schwärzeste Dunkelheit zu durchdringen vermochte, sah Reyes die beiden trotzdem scharf und deutlich vor sich.
Paris war groß, er war der Größte von ihnen allen. Er hatte bunte Haare, eine Haut, die übernatürlich blass wirkte, und Augen, die von einem so intensiven Blau waren, dass selbst der fantasievollste Lyriker ihre Farbe nicht hätte beschreiben können. Menschenfrauen waren wie hypnotisiert von ihm, fanden ihn unwiderstehlich, warfen sich ihm zu Füßen und bettelten darum, ihn berühren und küssen zu dürfen.
Lucien hatte optisch weniger Glück: Sein Gesicht war scheußlich vernarbt, fast wie eine groteske Fratze oder das Antlitz eines Monsters aus einem Gruselmärchen. Hinzu kamen seine verschiedenfarbigen Augen – ein braunes, das die reale Welt sah, und ein blaues für die spirituelle Welt. Zwei Augen, die unabhängig voneinander dasselbe verkündeten: dass der Tod bald anklopfen würde. Obwohl sich Frauen im Allgemeinen von ihm fernhielten, hatte Lucien vor einiger Zeit eine Partnerin gefunden.
Beide Männer waren so muskelbepackt, wie man es nur nach regelmäßigem intensivem Bodybuilding sein konnte. Dazu waren sie schwer bewaffnet und jederzeit kampfbereit – eine absolute Notwendigkeit.
„Ich erinnere mich nicht, zu einer Party hier oben eingeladen zu haben“, meinte Reyes.
„Nun, dann wirst du vielleicht langsam alt und vergesslich“, erwiderte Paris. „Weißt du nicht mehr, dass wir unser weiteres Vorgehen abstimmen wollten? Unter anderem.“
Reyes seufzte. Die Krieger machten, was sie wollten, überall und jederzeit. Und keine noch so scharfe Bemerkung würde sie je davon abhalten. Er wusste das nur zu gut, schließlich war er einer von ihnen und selbst nicht einen Deut besser. „Warum seid ihr nicht unterwegs und sucht nach Hydras Versteck?“
Störrisch kniff Paris seine vollen Lippen, die eigentlich viel besser zu einer Frau gepasst hätten, zu einer dünnen Linie zusammen. In seinen Augen erkannte Reyes kurz dieselben Höllenqualen, die er von seinem eigenen Spiegelbild her kannte, doch dann lag auch schon wieder die übliche Respektlosigkeit auf Paris’ Gesicht.
„Und?“, drängte Reyes, als er keine Antwort bekam.
Schließlich sagte sein Freund: „Selbst Unsterbliche brauchen hin und wieder mal eine Kaffeepause.“
Der Wunsch nach einer Verschnaufpause war garantiert nicht der einzige Grund, aber Reyes hakte nicht weiter nach. Ich bin nicht der Einzige, der Geheimnisse hat. Vor einigen Wochen waren die Krieger ausgeschwärmt, um Hydra zu suchen, ein verrücktes Wesen, halb Schlange, halb Frau, das einige der „Lieblingsspielzeuge“ des Titanenkönigs in seinem Besitz hatte. Diese Spielzeuge – die nichts anderes waren als Waffen –würden sie, so vermuteten sie, zu Pandoras Büchse führen. Bislang hatten sie jedoch nur eines dieser Spielzeuge erhaschen können: den Zwangskäfig. Wo sich die anderen Artefakte befanden, darüber konnten sie allenfalls nur spekulieren.
„Ja, aber im Angesicht des eigenen Untergangs sollten Kaffeepausen vielleicht nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. Und, ja, mir ist klar, dass ich mich mehr für unsere gemeinsame Sache engagieren müsste. Das werde ich auch. Danach.“
Paris zuckte die Achseln. „Ich tue, was ich kann. Die USA sind ein verdammt großes Land, und es von Ferne zu durchleuchten ist fast genauso schwierig, wie es auf dem Landwege zu durchkämmen, bei der riesigen Einwohnerzahl.“ Jeder der Krieger war in unterschiedliche Länder gereist, um nach Hinweisen auf die Büchse zu suchen. Aber alle waren sie gleichermaßen erfolglos zurückgekehrt und hatten versucht, von hier aus weiterzuforschen. Ohne Reyes aus den Augen zu lassen, fragte Paris Lucien: „Hat er dir nun verraten, wo Aeron ist, oder nicht?“
Eine von Luciens schwarzen Augenbrauen schnellte fast bis zum Haaransatz hoch. „Nein, hat er nicht.“
„Ich hab dir doch gesagt, dass es schwierig wird mit ihm.“ Paris runzelte die Stirn. „Er ist schon seit Wochen wie ausgewechselt, überhaupt nicht mehr er selbst.“
Dasselbe könnte man auch von Paris sagen, dachte Reyes und musterte die kleinen Müdigkeits- und Sorgenfältchen um dessen Augen, die sonst immer so optimistisch dreinschauten. Vielleicht sollte er Paris mal ins Verhör nehmen, denn ganz offensichtlich war irgendetwas mit seinem Freund passiert. Etwas Schwerwiegendes.
„Die Zeit läuft uns davon, Reyes.“ Paris’ Stimme klang vorwurfsvoll. „Arbeite mit uns zusammen. Hilf uns!“
„Die Jäger sind entschlossener denn je, uns auszurotten“, fügte Lucien hinzu. „Und die Menschen haben den Tempel der Unaussprechlichen entdeckt, was unsere Zugangschancen mindert und die der Jäger vergrößert. Wir haben bislang nur eines von vier Artefakten gefunden, doch wahrscheinlich braucht man alle, um die Büchse ausfindig machen zu können.“
Reyes äffte Lucien nach, indem er seine Augenbrauen übertrieben weit hochzog.
„Und ihr glaubt, Aeron kann uns da weiterhelfen?“
„Nein, aber wir können es uns nicht leisten, zerstritten zu sein. Und wir können auch keine Energie darauf verschwenden, uns ständig Sorgen um ihn zu machen.“
„Du brauchst dich nicht um ihn zu sorgen“, sagte Reyes. „Er will ganz einfach nicht gefunden werden. Er hasst, was aus ihm geworden ist, und er hasst es, dass wir ihn in diesem Zustand sehen. Da, wo er jetzt ist, ist er zufrieden, ich schwör’s euch. Sonst hätte ich ihn niemals dort zurückgelassen.“
Die Tür zum Dach wurde aufgestoßen, und Sabin, Träger des Dämons des Zweifels, trat heraus. Der Wind ließ seine dunklen Haare wild umhertanzen.
„Verdammt noch mal“, sagte er und fuchtelte mit den Armen. „Was ist denn hier los?“ Als er Reyes entdeckte, begann es ihm zu dämmern, und er rollte mit den Augen. „Verdammt, Schmerz, du hast es echt raus, wie man eine Krisensitzung platzen lässt.“
„Warum seid ihr nicht in Rom und durchsucht die Stadt?“, fragte Reyes ihn. Hatten sie tatsächlich alle in der kurzen halben Stunde, die er nun schon auf dem Dach war, ihre eigentlichen Aufgaben aus den Augen verloren?
Sabin hatte eine harsche Antwort schon auf der Zunge, doch Gideon, Träger des Dämons der Lüge, der ihm auf den Fersen gefolgt war, kam ihm zuvor: „Mannomann, das geht ja ganz schön ab hier oben“, bemerkte er trocken.
„Abgehen“ bedeutete in Gideons Sprache „langweilig sein“. Der Mann konnte nicht die banalste Wahrheit aussprechen, ohne furchtbare Qualen zu erleiden. Deswegen war jeder seiner Sätze eine Lüge. Qualen, genau das, was ich brauche. Wenn Reyes bloß ein paar Lügen auszusprechen bräuchte, um Schmerz zu empfinden, wäre sein Leben der reinste Spaziergang.
„Solltest du nicht Paris dabei helfen, die USA zu durchkämmen?“, fragte Reyes und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: „Ich fühle mich hier langsam wie im Zirkus. Darf man sich nicht mal ein bisschen zum Schmollen und Selbstverstümmeln zurückziehen?“
„Nein“, konterte Paris, „darf man nicht. Hör auf, Zeit zu schinden und ständig vom Thema abzuschweifen. Gib uns die Antwort, die wir hören wollen, sonst komme ich zu dir rüber und gebe dir einen dicken feuchten Kuss direkt auf den Mund, das schwör ich bei den Göttern. Mein Zauberstab ist lange nicht zum Einsatz gekommen und sehnt sich danach, mal wieder tätig zu werden. Der wird sich schon mit dir zufriedengeben.“
Reyes zweifelte keine Sekunde daran, dass Promiskuität es zur Not auch mit ihm treiben würde, aber er kannte Paris und wusste, dass der nur auf Frauen stand.
Werde sie los. Reyes musterte die beiden Neuankömmlinge. Gideon war ganz in Schwarz gekleidet, sein Haar war metallisch blau gefärbt, seine Augen mit schwarzem Kajal umrandet und seine Augenbrauen so stark gepierct, dass sie vor lauter Ringen und Steckern im Mondlicht nur so funkelten. Menschen fanden ihn einfach nur furchterregend.
Sabin trug ebenfalls schwarze Kleidung, aber seine braunen Haare, die braunen Augen und sein eckiges, arglos wirkendes Gesicht gaben ihm fast den Anschein, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Nichts an diesem harmlosen Aussehen deutete jedenfalls darauf hin, dass Sabin zu lachen pflegte, während er tötete – und zwar jeden, der ihm zu nahekam.
Beide Männer waren störrisch wie Maulesel.
„Ich brauche Zeit zum Nachdenken“, sagte Reyes, auf etwas Mitgefühl hoffend.
„Es gibt nichts, worüber du nachdenken müsstest“, antwortete Sabin. „Du wirst das tun, was richtig ist, weil du ein aufrechter Krieger bist.“
Bist du das etwa nicht? Vielleicht bist du ja genauso schwach wie die Menschenfrau, die du begehrst? Warum sonst würdest du denjenigen schaden wollen, die dich lieben?“
Aua, dachte er und zuckte zusammen. Er war schwach. Er war … „Sabin“, brummte Reyes, als ihm klar wurde, was da gerade passierte, „hör auf, mich mit deinen Zweifeln zu traktieren. Ich zweifle selbst schon genug.“
Der Krieger versuchte gar nicht erst, sein kleines Manöver abzustreiten, sondern zuckte nur verlegen mit den Schultern. „Sorry.“
„Da unser Meeting ganz eindeutig nicht gecancelt ist“, sagte Gideon, „eile ich nicht in die Stadt, suche nicht den Club Destiny auf und versuche auch nicht, irgendeiner Menschenfrau Lustschreie zu entlocken.“ Eine Sekunde später war er mit einem frustrierten Kopfschütteln verschwunden.
„Sagt das Meeting nicht ab“, wandte sich Reyes an die anderen. „Fangt … fangt einfach ohne mich an.“ Er blickte über die Schulter und ließ seine Augen langsam vom Himmel hinunter zum Abgrund wandern. Die dunkle Leinwand der Nacht wartete immer noch auf ihn, lud ihn ein, sich endlich fallen zu lassen. „Ich komme gleich runter.“
Paris’ Lippen zuckten. „Runter. Haha, sehr komisch. Vielleicht treffe ich dich unten und wir können mal wieder Verstecken mit deiner Bauchspeicheldrüse spielen. Ich find’s ja immer ganz amüsant, wenn du dich zwischendurch mal von Grund auf erneuern musst, anstatt immer nur zu heilen.“
Selbst Lucien musste jetzt grinsen.
„Oh ja, ich will auch mitspielen! Darf ich diesmal die Leber verstecken?“
Beim Klang von Anyas sinnlicher Stimme entfuhr Reyes ein Seufzer.
Die silberhaarige Göttin der Anarchie rauschte durch die Türöffnung und warf sich in Luciens blitzschnell geöffnete Arme. Der mittlerweile ziemliche steife Wind wehte ihren Erdbeerduft herüber. Eine halbe Ewigkeit verbrachten die beiden eng umschlungen – zwei liebesblöde Idioten, die die Welt um sich herum völlig vergessen hatten.
Reyes hatte eine Weile gebraucht, um mit Anya warm zu werden. Erstens, weil sie zum Olymp gehörte, zur Heimat der Wesen, die Reyes schmähte, und zweitens, weil sie überall ein riesen Chaos hinterließ, denn Chaos war ihre Natur. Aber letztlich hatte sie jedem der hier versammelten Krieger irgendwie geholfen – und sie hatte Lucien in einem Maße glücklich gemacht, das Reyes nur erahnen konnte.
Sabin hustete.
Paris pfiff vor sich hin, doch es klang etwas angestrengt.
Spitze Pfeile der Eifersucht bohrten sich in Reyes’ Herz – das Herz, das ohnehin bald aufhören würde zu schlagen, das Herz, das er am liebsten gar nicht besäße. Denn ohne Herz könnte er sich nicht so vergebens nach Danika sehnen.
Aber was spielte das letztlich schon für eine Rolle? Sie würde ihn sowieso nicht wollen. Die wenigsten Frauen standen auf seine Art des Lustgewinns, und die süße, engelsgleiche Danika gehörte ganz sicher nicht dazu. Schon seine bloße Gegenwart hatte sie ja in Angst und Schrecken versetzt.
Aber wer weiß, ob es nicht doch eine Chance gegeben hätte? Vielleicht hätte er sie am Ende ja doch für sich gewinnen, sie verführen, ihr die Angst nehmen können? Vielleicht … aber er hatte es ja nicht mal versucht. Denn die Frauen, mit denen er ins Bett stieg, verfielen alle nach und nach seinem Dämon, ließen sich von ihm berauschen, entwickelten dieselben Gelüste wie er. Auch sie sehnten sich irgendwann nach Schmerz, wurden selbst gewalttätig und verletzten ihre Mitmenschen.
„Die anderen sollen raufkommen“, sagte Reyes mit einem Anflug von Sarkasmus, der seine inneren Qualen verbergen sollte. „Wir halten unser Meeting einfach hier und jetzt ab.“ Was Danika wohl gerade tat? Mit wem war sie zusammen? Einem Mann? Schmiegte sie sich an ihn, so wie Anya an Lucien? Oder war sie tot? Und unter der Erde, so wie Aeron? Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Fingernägel verlängerten sich zu Klauen und schnitten ihm herrlich in die Haut.
„Hey, Schmerz, halt einfach die Klappe“, sagte Anya und sah ihm direkt ins Gesicht. Dann vergrub sie ihren Kopf in Luciens Halsbeuge, und man sah nur noch ihre blauen Augen, die durch ihre silbernen Haarsträhnen hindurchblickten. „Du vergeudest Luciens Zeit, und das ärgert mich gewaltig.“
Und wenn Anya sich ärgerte, passierten schlimme Dinge. Kriege brachen aus. Naturkatastrophen wüteten, Reyes’ Waffen blieben im Regen liegen und rosteten. „Er und ich, wir haben bereits gesprochen. Er hat die Informationen, die er wollte.“
„Nicht alle“, wandte Lucien ein.
„Also gib sie ihm, oder ich schubse dich“, drohte Anya. „Und während du dich erholst und mich nicht aufhalten kannst, werde ich deine kleine Freundin finden und dir per Post einen ihrer Finger schicken. Das schwöre ich bei den Göttern, so verhasst sie mir sind!“
Allein bei dem Gedanken sah Reyes rot. Danika … verletzt … Reagier einfach nicht. Lass dich nicht auffressen von deiner Wut. „Du rührst sie nicht an!“
„Hey, überprüfe mal deinen Ton“, wies ihn Lucien zurecht und zog Anya noch fester an sich.
„Du weißt ja nicht mal, wo sie sich aufhält“, sagte Reyes, nun schon etwas ruhiger – und verblüfft über den neuen Beschützerinstinkt des früher so phlegmatischen Lucien.
Anya lächelte verstohlen.
„Anya“, warnte er.
„Was ist los?“, gab sie in aller Unschuld zurück.
„Für Aeron ist es wichtig, bei uns zu sein“, sagte Lucien.
„Aeron steht nicht länger zur Debatte“, knurrte Reyes. „Ihr wart nicht dort. Ihr habt die Qual in seinen Augen nicht gesehen. Ihr habt sein Flehen nicht gehört. Ich habe getan, was ich tun musste, und würde es jederzeit wieder tun.“ Er wandte sich von seinen Freunden ab und blickte wieder in den Abgrund. Das Wasser zwischen den Felsen war jetzt aufgewühlt vom Wind. Und die Felsen winkten ihn immer noch zu sich herunter.
Erlösung, flüsterten sie.
Wenigstens für kurze Zeit …
„Reyes“, rief Lucien.
Und Reyes sprang.
Die Bestellung ist fertig.“
Danika Ford griff nach den zwei dampfenden Tellern, die auf die Warmhalteplatte rutschten. Auf dem einen lag ein fettiger Hamburger, reichlich bestückt mit Zwiebeln, auf dem anderen ein Chili-Hotdog mit einer Extraportion Käse. Auf beiden Tellern türmten sich deftige Pommes, deren herrlicher Duft ihr in die Nase stieg. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, ihr Magen knurrte.
Das Letzte, was sie gegessen hatte, war ein Bologna-Sandwich gestern Nacht vor dem Schlafengehen gewesen. Mit schön knusprigem Brot und gut durchgebratenem Fleisch. Was hätte sie jetzt für so ein Sandwich gegeben – wenn sie denn etwas zu geben hätte. Geld, zum Beispiel.
Noch drei Stunden bis zum Ende der Schicht – und zu ihrer nächsten Mahlzeit. Drei zermürbende Stunden noch, in denen sie sich die Füße wund laufen und das Kreuz verbiegen würde. Das packte sie einfach nicht. Sei keine Prinzessin. Kopf hoch, Brust raus, weitermachen. Du bist eine Ford, kein Weichei.
Doch sie konnte sich noch so energisch rüffeln, ihr Blick schweifte sehnsüchtig über die Teller. Unbewusst leckte sie sich die Lippen. Nur ein kleines Stück. Wem würde das schaden? Würde ja keiner merken.
Unwillkürlich hob sie den Arm und streckte die Finger aus …
„Ich hab das Gefühl, dass die sich da gerade meine Fritten klaut“, hörte sie einen Mann tuscheln.
Eine andere Flüsterstimme erwiderte: „Was erwartest du auch von einer wie der?“
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