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Ein berührender Liebesroman vor dem Hintergrund des dritten Kreuzzugs
Grafschaft Perche, Frankreich 1190. Die Nachricht von der Eroberung Jerusalems durch die Heiden hat im christlichen Europa Wellen der Empörung hervorgerufen. Als Jean Corbeille dem Ruf des Papstes folgt und sich den Kreuzfahrern anschließt, schmuggelt sich seine 17-jährige Tochter Tiessa in die Reisegesellschaft. Gefahrvolle Abenteuer erwarten die junge Frau im Heiligen Land, sie gerät in Gefangenschaft und ist ganz auf sich allein gestellt. Doch Tiessas Lebenswille brennt unbändig. Und sie findet eine Liebe, die größer ist als das Leben selbst …
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Seitenzahl: 986
Buch
1190. Nahe der Burg Nogent-le-Rotrou in der französischen Grafschaft Perche. Die hübsche, junge Tiessa gerät beim Wäschewaschen in ein Getümmel. Ein Mensch kommt dabei ums Leben, und Panik breitet sich aus– doch dann wird Tiessa von einem unbekannten Ritter aufs Pferd gezogen und in Sicherheit gebracht. Am gleichen Abend begegnet sie ihrem Retter wieder. Er stellt sich ihr als Ivo Beaumont vor, und die beiden verfallen einander sofort. Doch ihr Glück währt nur kurz: Als zum Kreuzzug ins Heilige Land aufgerufen wird, schließt sich Ivo den Kreuzfahrern an, ebenso wie ihr Vater. Tiessa findet sich jedoch nicht damit ab, in der Heimat um die Männer zu bangen– sie folgt ihnen heimlich auf ihrer gefährlichen Reise…
Autorin
Hilke Müller studierte Französisch und Russisch auf Lehramt, entschied sich dann aber gegen eine Laufbahn als Gymnasiallehrerin. Stattdessen begann sie zu schreiben, veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Romane und widmete sich ihrer heimlichen Leidenschaft, der Geschichte. Heute lebt sie mit ihrer Familie, zu der auch Hund, Kater und zwei Hasen gehören, im Taunus und arbeitet als freie Autorin.
Bei Blanvalet außerdem von Hilke Müller lieferbar:
Die Tochter des Gerbers (37516)
1. Auflage
Originalausgabe Juli 2013 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2013 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: bürosüd, München
Umschlagabbildung: Trevillion Images/Rebecca Parker und bürosüd°, München
Redaktion: Miriam Vollrath
ES · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-09609-0
www.blanvalet.de
I.
Frankreich, Herbst 1190
»Welches ist der Weg, da das Licht wohnt, und welches ist der Finsternis Stätte?«
Hiob 38.19
1
Seit dem Morgen war die Luft klebrig wie Honig. Den gleißenden Sonnenflecken im Fluss, die der Pfarrer einmal einen schwachen Abglanz des göttlichen Lichts genannt hatte, war heute nicht zu trauen. Am Waschplatz herrschte Unfrieden, ein Hemd war davongeschwommen, zwei Burgmägde waren übereinander hergefallen, hatten sich die Hauben heruntergerissen und die Gesichter zerkratzt. Es musste an der Schwüle liegen, dass die Eifersucht, die schon lange zwischen ihnen schwelte, gerade jetzt wieder aufflammte. Gegen Mittag erhob sich ein böiger Wind, der auf den Hügeln das Laub von den Bäumen fegte und auf dem Weg zur Burgsiedlung Nogent-le-Rotrou kleine Staubwolken wie boshafte Geister tanzen ließ. Die Böen zerrten an den nassen Gewändern, die die Frauen über Büsche und Trockengestelle gehängt hatten.
»Lass uns heimgehen, Millie. Wir kriegen die Sachen sowieso nicht mehr trocken, ein Gewitter zieht auf.«
Die siebzehnjährige Tiessa hatte das letzte Wäschestück ausgewrungen und warf es, nass wie es war, in den Korb. Sie setzte sich aufseufzend ins Gras und genoss den Wind, der das erhitzte Gesicht und die bloßen Arme kühlte. Was für eine Plackerei diese Wäsche doch war. Der Rücken tat weh, die Knie waren wund, und man musste sich beständig gegen die lästigen Mücken wehren, die heute in dichten Schwärmen über dem Wasser schwebten. Zudem hatte sie sich in ihrer Ungeschicklichkeit wieder einmal die Fingerknöchel der rechten Hand aufgescheuert. Millie, der Frau ihres Bruders Jordan, passierte so etwas nie, da sie alle Arbeiten langsam und sorgfältig zu erledigen pflegte.
»Ich bin noch nicht fertig«, vermeldete Millie auch gleich.
Millie stand noch immer im seichten Uferwasser, das lange Gewand geschürzt, die Haube verrutscht, und der Schweiß tropfte von ihrer Nase ins Wasser hinein. Verbissen knetete sie ein helles Tischtuch auf dem flachen Stein, spülte es immer wieder aus und jammerte, es sei noch fleckig, obgleich sie es doch zu Hause in Waschlauge vorgewaschen habe. Tiessa seufzte– wie sie ihre Schwägerin kannte, würde sie nicht nachgeben, solange noch ein einziger Fleck im Tuch war. Dabei hatten auch andere Frauen schon ihre Wäsche eingepackt und sich auf den Weg zurück in die Siedlung gemacht.
»Schau, Tiessa«, sagte Ambroise, der neben dem Mädchen im Gras hockte und seit Stunden allerlei selbsterdachte Lieder vor sich hin summte. »Siehst du die Wolken, die hinter dem Burgturm emporwachsen? Das ist das Heer der Dämonen, das gegen unseren Herrn Jesus Christus in die Schlacht zieht.«
»Du hast schon wieder Raupen im Hirn, Ambroise!«
Tiessa versuchte, einige kitzelnde braune Haarlocken wieder in den langen Zopf hineinzustecken, und spähte dabei zur Burg hinüber, die sich hoch über der Siedlung auf einem Fels erhob. Tatsächlich stiegen hinter dem mächtigen, viereckigen Donjon, dem Wohnturm, düstere Wolken auf. Wie eine Horde unförmiger Drachenwesen krochen sie in die Höhe und reckten die schwarzen Köpfe. In ihrer Eile, den Himmel zu erobern, bedrängten sie einander und fraßen sich gegenseitig auf.
»Es schaut wirklich so aus, als wollte sich ein Haufen Ungeheuer auf uns stürzen.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Tiessa«, prahlte Ambroise. »Ich schütze dich vor allen Drachen und Dämonen dort oben am Himmel.«
»Oh, vielen Dank, edler Ritter«, lachte Tiessa ihn aus. »Vorläufig bin ich zufrieden, wenn du uns gleich den Wäschekorb nach Hause trägst.«
Ambroise verzog beleidigt das Gesicht, hob die gekrümmten aneinandergelegten Hände an den Mund und blies eine selbsterdachte Melodie, indem er die Finger auf und nieder bewegte. Solch überflüssiges Zeug– wie Tiessas Vater es nannte– beherrschte der Knabe mit großer Meisterschaft. Eine Schar Krähen hatte sich von einem der abgeernteten Felder erhoben und strebte dem Wald zu, als wollten sie vor dem nahenden Unwetter flüchten. Die Windböen wurden nun heftiger und fegten das gelbe Laub vom Boden auf. Tiessa erhob sich rasch, um die Wäschestücke einzusammeln, die noch über den Büschen zum Trocknen lagen.
»Weißt du, Tiessa«, schwatzte Ambroise, während er mit dem Wäschekorb hinter ihr herlief. »Gott der Herr wartet nur darauf, dass sich all die teuflischen Dämonen dort oben versammelt haben. Dann wird er feurige Blitze auf sie werfen und sie vernichten.«
»Hör mit deinen Geschichten auf– sie sind unheimlich!«
Ein dumpfes Donnergrollen war aus der Ferne zu hören, schwach noch, ähnlich einem Wagen voller leerer Fässer, der über einen steinigen Pfad rumpelt, aber dennoch bedrohlich. Auch Millie hielt endlich mit dem Reiben und Klopfen inne, zog das Tuch aus dem Bach und rief Tiessa herbei, damit sie ihr half, den nassen Stoff auszuwringen.
Ambroise sah zu, wie die beiden Frauen das Laken zusammendrehten, bis das Wasser heraustropfte. Es war anstrengend, Millies schmales Gesicht sah noch verkniffener als gewöhnlich aus, Tiessa hatte die Lippen geschürzt und die dunklen Brauen so eng zusammengezogen, dass sie über der Nasenwurzel zusammenstießen. Tiessa war hübsch, ganz gleich was sie tat, vor allem aber, wenn sie lachte. Besonders ihr hätte er gern gezeigt, wie leicht ihm diese Arbeit gefallen wäre, denn er war stark. Doch die Wäsche war Frauenarbeit, und er hätte sich mit diesem Kraftakt höchstens lächerlich gemacht. Er war nur hier, weil Tiessas Mutter es befohlen hatte, da sie es nicht mochte, wenn die Frauen allein zum Fluss hinuntergingen. Und natürlich, weil er den schweren Wäschekorb tragen sollte.
»Habt ihr gehört, wie die Teufel die Mäuler aufreißen und zum Kampf rufen?«, fuhr er beharrlich fort. »Vielleicht werden wir gleich auch das Schiff sehen, das bei solchem Wetter über den Himmel schwebt. Darin sitzen viele tote Ritter, die zu Gott auffliegen wollen, doch die Dämonen versperren ihnen den Weg. Deshalb werfen die Ritter ihre Schätze aus dem Schiff. Dann stürzen sich die Dämonen gierig herab, um all die Goldmünzen und Perlen, die seidenen Brokatstoffe und Silbermonde aufzufangen, und die Ritter können in den Himmel auffahren…«
Millie hatte die Lippen fest zusammengepresst, während sie das Tischtuch aufschüttelte und in den Korb legte. Mit einer langsamen Bewegung wischte sie den Schweiß vom Gesicht und steckte die Haube fester. Sie mochte Ambroises buntes Geschwätz nicht und hatte schon einmal gesagt, es sei gotteslästerlich. Tiessa jedoch brach in fröhliches Lachen aus.
»Gold und Silber soll es regnen! Was bist du nur für ein Lügner, Ambroise!«
»Ich schwöre, dass es die Wahrheit ist!«, rief er aufgeregt. »Wer Mut hat, der kann Goldmünzen mit fremden Zeichen darauf in den Wiesen finden, die den Teufeln aus den Krallen gerutscht sind.«
»Oder er wird vom Blitz erschlagen!«
Ambroise hatte sich dieses Mal so in seine Fantasien hineingesteigert, dass er selbst davon überwältigt war. Weshalb sollte es das nicht geben, Gold, das vom Himmel fiel? Gott der Herr war mächtig.
»Eines Tages wirst du mir glauben, Tiessa«, rief er, und seine Augen glänzten zornig.
»Vielleicht«, lachte sie. »An jenem Tag, an dem Mond und Sonne sich berühren und das Wasser den Berg hinaufläuft!«
Blitze zuckten auf und zeichneten grelle Zackenlinien auf der Schwärze der Wolken. Für einen Moment schien es, als habe ein feindliches Heer zahllose feurige Pfeile gegen den hoch aufragenden Donjon der Burg Saint-Jean abgeschossen. Es war dunkel geworden, denn die grauen Dämonen hatten nun fast die gesamte Himmelswölbung besetzt. Nur im Osten war noch ein kleiner, heller Flecken geblieben, wie ein Fenster, durch das Gott auf die geplagte Erde herniedersehen konnte.
Auf dem Weg zur umfriedeten Siedlung ging es jetzt lebhaft zu. Nicht nur die Wäscherinnen eilten mit ihrer Last hinüber, auch Frauen und Kinder, die im Wald Beeren gesammelt hatten, kehrten nun eilig zurück, ein Händler peitschte auf seine Ochsen ein, um noch vor dem Unwetter im Trockenen zu sein, und einige Reiter, die zur Burg gehörten, strebten den schützenden Mauern und Dächern zu. Staub und welkes Laub wirbelten auf und hüllten Mensch und Tier in gelblich graue Wolken.
»Gott helfe uns– drüben in den Kronlanden hat der Blitz einen Ritter samt seinem Pferd erschlagen«, murmelte Millie, die es jetzt mit der Angst bekam.
»Das wird ein schlimmer Sünder gewesen sein, der seine Strafe verdient hat«, gab Tiessa schulterzuckend zurück. »He, Ambroise, nimm den Korb, damit wir endlich fortkommen.«
Der große, mit nasser Wäsche gefüllte Korb war schwer, doch Ambroise hätte sich eher die eigene Hand abgehackt, als zuzugeben, dass er Mühe hatte, ihn zu tragen. Er biss die Zähne zusammen und hob den Korb auf die rechte Schulter, stützte die Last mit einem Arm ab und folgte den beiden Frauen, die schon über die Wiese zum Weg hinübergelaufen waren. Dort trafen sie auf drei bärtige Männer mit spitzen Hüten, die einige beladene Maulesel und zwei junge Pferde der Stadt zutrieben. Es waren Juden, die sich vor Jahren hierher ins Le Perche geflüchtet hatten, als der französische König Philipp sie aus den Kronlanden vertrieb. Auch hierzulande waren Juden wenig beliebt, doch sie waren geschickte Händler, die allerlei Waren herbeischafften, die man hier sonst nicht gefunden hätte. Der Graf duldete sie lediglich, auf seinen Schutz konnten sie nicht bauen. Der alte Aaron und seine beiden Söhne hatten Mühe, die Tiere zusammenzuhalten, denn das nahende Gewitter machte sie unruhig. Sie zerrten an den Riemen, mit denen man sie aneinandergebunden hatte, und eines der jungen Pferde versuchte immer wieder, über die Wiesen davonzulaufen.
»Gehen wir rascher, damit sie uns nicht einholen«, sagte Millie und zog Ambroise am Kittel. »Ich mag nicht zwischen solchen Verschwörern und Christusmördern gehen.«
»Ach was– das sind Menschen wie wir auch!«, widersprach Tiessa, doch als sich eines der jungen Pferde aufbäumte, legte sie dennoch einen Schritt zu. Besorgt drehte sie sich nach Ambroise um, der hinter ihnen zurückgeblieben war.
»Ambroise, soll ich dir besser tragen helfen? Lass uns den Korb an den Henkeln nehmen, dann teilen wir uns die…«
Plötzlich brach hinter ihnen ein heftiger Tumult aus. Ein Ritter, gefolgt von drei Knappen und zwei beladenen Maultieren, war in eiligem Trab zur Burg unterwegs. In der sicheren Annahme, die Juden würde mit ihren Tieren beiseiteweichen, war er mit seinem Gefolge stracks in die aneinandergebundenen Pferde und Maultiere hineingeritten. Einige Tiere bäumten sich auf, Maulesel brüllten und keilten mit den Hufen, Reiter schlugen fluchend auf ihre Pferde ein. Eine junge Frau kreischte und ließ ihre Last fallen, um ihr kleines Kind hochzuheben, andere blieben in sicherer Entfernung stehen, um zuzuschauen, wie die Sache ausgehen würde. Auch Tiessa und Millie waren rasch vom Weg fort in die Wiesen gesprungen, da sich das Getümmel aus Mensch und Tier direkt auf sie zubewegte.
»Verfluchtes Judenpack! Kindsmörder! Brunnenvergifter!«, hörte man den Ritter brüllen, denn an ihren langen Bärten und spitzen Hüten waren die Juden leicht zu erkennen. Er kämpfte mit seinem steigenden Ross, und Tiessa sah jetzt an seiner Schulter deutlich das aufgenähte rote Kreuz– er war unterwegs ins Heilige Land. Zwei seiner Knappen waren von den Pferden gestiegen und versuchten die Riemen durchzuschneiden, um die ineinander verkeilten Tiere zu befreien. Auch die Juden mühten sich verzweifelt darum, doch in dem Durcheinander der aufgeregten Tiere war es nicht leicht, die Seile und Riemen zu erhaschen. Zugleich krachten die Donnerschläge so gewaltig über dem Land, dass man glaubte, in den Wolken würden riesige Felsbrocken zertrümmert.
»Ambroise? Ambroise, wo bist du?«
Der Junge war bei der eiligen Flucht gestolpert. Obgleich er versuchte, die Last auf seiner Schulter wieder ins Gleichgewicht zu bringen, fiel der Korb auf den Weg. Die Hemden und Laken rutschten heraus, lagen im Staub, wenig später traten die Hufe eines Maultieres darauf.
»Unsere Wäsche!«
Tiessa riss sich impulsiv von Millie los, um Ambroise behilflich zu sein, der im Gewimmel hin und her sprang und die Wäschestücke wieder einsammelte.
»Geh zurück! Ich schaffe es allein!«, rief er Tiessa zu, doch sie achtete nicht darauf und raffte einige Stücke vom Boden auf. Ein erschrockenes Maultier keilte dicht neben ihr aus und hätte sie fast mit den Hufen erwischt. Sie fuhr zurück und wollte nach einem Laken greifen, da erhielt sie einen harten Stoß in den Rücken und taumelte gegen den Bauch eines Pferdes. Um sie herum waren Staub, auffliegende Steine, Tierleiber, brüllende Männer. Plötzlich riss sie jemand so fest am Arm, dass sie vor Schmerz aufschrie.
»Hoch mit dir!«
Jemand zog sie mit einem kräftigen Ruck empor, fasste sie um die Taille und hob sie auf ein Pferd.
»Lasst mich runter! Meine Wäsche!«, kreischte sie und wehrte sich zornig gegen die Arme, die sich fest um sie legten.
»Bist du toll?«
Verzweifelt zappelte sie, stieß mit den Ellenbogen, trat mit den Füßen, doch ihr Retter lenkte sein Pferd in aller Ruhe auf die Wiese hinüber, ohne auf ihre Gegenwehr zu achten. Ein greller Blitz fuhr über den Himmel, und für einen Augenblick war jede Einzelheit in dem Gewimmel aus Tier und Mensch deutlich zu erkennen. Das wehende weiße Haar des Juden Aaron, der erhobene Arm des Ritters, das Blitzen des niedersausenden Schwertes. Sie konnte nicht mehr sehen, wohin es traf, denn im gleichen Moment war das boshafte Himmelslicht erloschen, und in die graue Dämmerung schlug krachend der Donner.
»Sei still«, sagte der Mann, der sie immer noch mit beiden Armen umfasst hielt. Er schüttelte sie grob, und sie begriff erst jetzt, dass sie gellend aufgeschrien hatte.
Die ersten, dicken Tropfen klatschten auf sie herunter. Sie spürte eine schreckliche Kälte, die nichts mit dem Regen zu tun hatte.
»Wie du zitterst«, sagte der Mann hinter ihr im Sattel. »Fast wärst du unter die Pferdehufe geraten, dummes Mädchen.«
Dicht vor ihnen preschten jetzt Reiter vorbei. Der Ritter und zwei seiner Knappen hatten sich aus dem Durcheinander befreit, hinter ihnen machten sich nun auch einige neugierige Gaffer auf den Weg. Ein Knappe fing die Maultiere seines Herrn ein und mühte sich, die herabgefallenen Bündel wieder aufzuladen. Die Tiere der Juden waren irgendwo in den Wiesen verstreut. Der Regen hatte den Weg schon in ein schlammiges Rinnsal verwandelt. Aarons Söhne knieten am Boden, der Körper ihres Vaters wurde von ihnen verdeckt, doch Tiessa glaubte, einen roten Streifen in dem Wasser zu erkennen, das den Weg hinab in die Wiesen lief.
»Schau nicht hin«, sagte der Reiter und wendete sein Pferd der Siedlung zu.
Sie war noch starr vor Entsetzen und nahm kaum wahr, wie ihr Retter sie mit seinem Umhang vor dem strömenden Regen schützte. Erst als sie schon fast das Tor erreicht hatten, wurde ihr bewusst, dass dort auf dem Weg ein Mensch verblutete.
»Gott im Himmel– ich muss ihm helfen. Lasst mich absteigen…«
»Dem Juden willst du helfen? Bist du verrückt?«
Sie machte Anstalten, vom Pferd zu rutschen, aber er hielt sie mit beiden Armen fest umschlossen, während er sein Pferd unbeirrt zum Stadttor lenkte.
»Was macht es aus, ob er Jude oder Christ ist?«, rief sie zornig und versuchte, sich seinen Armen zu entziehen.
»Sehr viel«, gab er ungerührt zurück und hielt sie nur umso fester.
Tiessa wurde unsicher. Ihr Vater hätte ihr ganz sicher verboten, einem Juden Hilfe zu leisten, doch die Mutter dachte anders…
»Hör endlich auf zu zappeln, dummes Mädchen. Du wirst dem Juden sowieso nicht mehr helfen können.«
»Ihr glaubt, er ist…«
»Ganz sicher. Von einem solchen Schlag erholt er sich nicht mehr. Du würdest nur unnötig Ärgernis erregen. Und das wäre schade um dich, denn du bist hübsch und hast ein gutes Herz.«
Zum ersten Mal sah sie ihn an. Er mochte zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt sein, hatte Wangen und Kinn sorgfältig geschoren, wie alle Männer außer den Bauern und Juden. Seine Züge waren ebenmäßig, wenn auch angespannt wegen des Regens, der ihm trotz der ledernen Kappe über das Gesicht rann. Das halblange, dunkelblonde Haar hatte sich zu Strähnen gebündelt und klebte an Stirn und Wangen. Als er den prüfenden Blick des Mädchens bemerkte, lächelte er. Es war nichts Ungewöhnliches in seinem Lächeln, und doch verspürte Tiessa eine seltsame Unruhe.
»Wenn Ihr um meinen Ruf besorgt seid, dann lasst mich absteigen«, bat sie. »Es wäre nicht gut, wenn der Torwächter überall erzählte, die Tochter des gräflichen Verwalters sei bei einem Fremden aufgesessen und gemeinsam mit ihm in die Stadt eingeritten.«
Sie waren schon fast am Tor, als er endlich das Pferd zügelte. Einen Augenblick zögerte er, schien etwas fragen oder mitteilen zu wollen, das er dann aber doch für sich behielt.
»Ich sehe, dass du ein kluges Mädchen bist«, meinte er stattdessen. »Verzeih mir, dass ich dich mit Gewalt vor Schaden bewahrt habe! Warte, ich helfe dir beim Absteigen…«
Er schwang sich hinab, ohne sie dabei zu berühren. Verwirrt sah sie zu ihm hinunter, wie er neben seinem Tier stehend die Arme nach ihr ausstreckte. Sein Lächeln war unbefangen, eine gutherzig gemeinte Aufforderung, sich ihm anzuvertrauen.
»Ich danke Euch. Aber ich kann allein vom Pferd steigen.«
Die Weigerung überraschte ihn, doch er trat gehorsam zur Seite und hielt das Tier am Halfter, während sie ihr Gewand um sich raffte und dann mutig den Sprung auf den Boden wagte. Das schlammige Rinnsal spritzte hoch auf– es war tatsächlich nicht die Art, wie die Tochter des gräflichen Verwalters vom Pferd steigen sollte, aber das war inzwischen gleich, sie hatte sich schon lächerlich genug gemacht.
»Lebt wohl…«, murmelte sie beschämt und lief den Weg zurück, ohne sich nach ihm umzusehen.
2
Millies Gezeter war weithin zu hören. Alle Wäschestücke lagen verteilt auf dem Weg, und die vielen Hufe und Fußtritte hatten ihnen arg zugesetzt. Ambroise, dem sie die Schuld an dem Unglück gab, hob schweigend ein Stück nach dem anderen aus dem Matsch und warf es in den Korb. Er verteidigte sich nicht gegen ihre zornigen Vorwürfe, da Millie so vom Kummer um ihre sauberen Laken und Hemden überwältigt war, dass sie ihm gar nicht zugehört hätte.
»Alles ist verdorben und zerrissen!«, rief sie Tiessa zu. »Jordan hat kein einziges Hemd mehr, außer dem, was er auf dem Leib trägt. Und die Tischtücher sind…«
Sie stockte, denn in diesem Augenblick bewegte sich eine seltsame Dreiergruppe langsamen Schrittes an ihnen vorüber. Die spitzen Hüte der Juden waren verdreckt und eingeknickt, die Flecken auf ihren zerrissenen Gewändern vom Regen auseinandergelaufen. Die beiden jungen Männer hielten den leblosen Körper des Vaters zwischen sich und stützten ihn so ab, dass es den Anschein hatte, als ginge er auf den eigenen Füßen. Der Kopf des alten Mannes hing auf die Brust herab, sodass man die Wunde, die der Ritter ihm geschlagen hatte, nicht sah, doch Bart und Obergewand waren tiefrot von seinem Blut.
Sie achteten nicht auf die beiden Frauen und den Jungen, sondern folgten schweigend dem Weg zur Stadt, den Blick in die Ferne gerichtet, als befänden sie sich in einer anderen Welt, in der die herumstehenden Gaffer keinerlei Bedeutung hatten.
»Das war nicht ritterlich gehandelt«, entfuhr es Tiessa zornig, als sie an ihnen vorübergezogen waren. »Hatte er nicht ein Kreuz auf dem Ärmel? Ein Ritter, der auszieht, das heilige Jerusalem von den Sarazenen zu befreien, der sollte nicht hier in der Heimat das Schwert erheben.«
»Ach was«, sagte Millie, die ein schmutziges Laken auswrang. Auch sie war erschrocken, doch Tiessas Empörung teilte sie nicht. »Das war doch nur ein Jude. Hast du nicht gehört, dass sie kleine Kinder ermorden, um sich an den Christen zu rächen?«
Sie warf das Laken in den Korb und watete durch den Matsch, die Augen auf den Boden gerichtet, um ja kein Wäschestück zu vergessen.
»Du hast recht, Tiessa«, murmelte Ambroise. »Es war feig, denn die Juden hatten keine Waffen. Der alte Aaron schon gar nicht.«
Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, beschmierte sich dabei mit gelbem Schlamm und blickte Tiessa schuldbewusst und zugleich vorwurfsvoll an. Obgleich ihr nicht zum Lachen war, fand sie doch, dass er dabei ziemlich komisch aussah.
»Wer war der Reiter?«
Tiessa hob den Kopf und sah zur Stadt hinüber. Eine mächtige Kastanie reckte sich hoch über die Mauer, ansonsten sah man von hier aus nur die Schindeldächer einiger größerer Wohngebäude und das nasse Strohdach einer Scheune. Dicht neben dem Tor hockten zusammengekauerte Gestalten. Es waren Bettler, die ihre Rücken eng an die Mauer pressten, um wenigstens einigermaßen vor dem Regen geschützt zu sein. Tiessas unbekannter Retter war längst in die Stadt geritten.
»Was weiß ich? Irgendein Ritter wohl«, tat sie gleichgültig.
Ambroise zischte verächtlich und zog die Oberlippe hoch.
»Ein Knecht ist der, höchstens ein Knappe. Seine Sporen waren so verdreckt, dass man nicht sehen konnte, woraus sie gemacht sind.«
»Er hatte aber ein Schwert, glaube ich…«
Der Junge kniff die Augen zusammen, denn Tiessa hatte leider recht. Allerdings hatte er gesehen, dass die hölzerne Scheide mit dem Schwert darin am Sattelknauf befestigt war– ein Ritter war der Bursche also ganz gewiss nicht, sonst hätte sein Schwert am Gürtel gehangen.
»Wieso hat er dich auf sein Pferd gehoben, wenn du ihn gar nicht kennst?«
»Was fragst du mich?«, fuhr sie ihn ungeduldig an. »Ich habe ihn jedenfalls nicht darum gebeten.«
Sie spürte, dass sie ungerecht war, und schwieg deshalb während des gesamten Heimwegs. Auch Ambroise blieb– ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten– recht einsilbig. Nur Millie schalt und jammerte immer noch um die zerrissenen Tücher und Gewänder, für die sie mal Ambroise, mal Tiessa und dann wieder die Juden verantwortlich machte, doch niemand hörte ihr zu. Die Stadt schien wie ausgestorben. Mensch und Tier hatten sich vor dem Unwetter verkrochen, die Türen waren geschlossen und die wenigen, schmalen Fenster mit Brettern geschützt. Nur Galfried, der Irre, hüpfte mit eigenartigen Sprüngen auf dem Weg herum und warf immer wieder die dürren Arme zum Himmel empor. Er trug nur das kurze Hemd, das ihm völlig durchnässt am Leib klebte, und sein Geschrei, über das sonst alle lachen mussten, erschien Tiessa heute unheimlich. Als sie das Palisadentor des elterlichen Anwesens passierten und der schwarzgefleckte Barro ihnen trotz des Regens schweifwedelnd entgegenlief, bemerkte Millie boshaft:
»Wenn die Leute erfahren, dass du bei einem Fremden auf dem Pferd gesessen hast– das wird ein Gerede geben!«
»Es hat ja niemand außer uns gesehen«, entgegnete Ambroise rasch, doch Millie zog eine Miene, als habe sie ihn gar nicht gehört.
Das Anwesen des Ministerialen Jean Corbeille war das größte im Ort. Es war stattlicher als die Häuser der übrigen Hofleute und Handwerker, denn Tiessas Vater genoss seit Jahren das Vertrauen des Grafen von Perche. Verlässlich sorgte er dafür, dass alle Abgaben rechtzeitig zur Burg geschafft wurden, führte Buch darüber und kontrollierte genau, ob die Bauern nicht etwa nur die schwächeren und kranken Tiere oder das schimmelige Getreide zum Grafen trugen. Für seine Dienste hatte Tiessas Vater ein Grundstück innerhalb der Stadtmauern zum Erblehen erhalten sowie Hilfe beim Bau des zweistöckigen Wohnhauses, das sogar einen Sockel aus Steinen bekam. Nur die übrigen Gebäude, die Remisen, Scheunen und den Pferdestall hatte er auf eigene Rechnung erstellen lassen. Tiessa war stolz auf das Ansehen ihres Vaters beim Grafen, denn allein vom Wohlwollen der adeligen Herren hingen ihre Stellung und ihr Wohlstand ab.
Auf dem Hof war niemand zu sehen. Ein zweirädriger Karren, auf dem einige Fässer festgezurrt waren, stand vor einer Remise, die Hühner hatten in ihrem Stall Schutz gesucht, von allen Dächern floss das Regenwasser in dichten Schleiern herunter. Man hatte einige große Kübel aufgestellt, um das Wasser aufzufangen, der Rest sammelte sich in den beiden Fahrrinnen, aus denen die Flut sprudelnd zum Weg hinabströmte. Mit triefenden Haaren und klatschnassen Gewändern, zwischen sich den Korb, aus dem schmutzige Brühe tropfte, betraten sie die Küche und hörten gleich darauf Corbas entsetzten Aufschrei.
»Großer Gott– Tiessa! Millie! Weshalb habt ihr nicht Schutz gesucht? Wie seht ihr nur aus?«
Millie senkte schweigend den Kopf, denn sie glaubte zu wissen, dass Corbas Sorge vor allem ihrer geliebten Tochter Tiessa galt. Sie war nur die Schwiegertochter, und obgleich Corba sich bemühte, sie freundlich zu behandeln, hielt sich die gegenseitige Zuneigung in Grenzen. Millie konnte mit Corbas rascher Art nichts anfangen, wurde davon überrumpelt und verwirrt, sodass die Schwiegertochter oft noch umständlicher wirkte, als sie ohnehin schon war. Doch es gab niemanden, bei dem sie sich hätte beklagen können, ihr Mann Jordan ließ niemals etwas auf seine Mutter kommen. Corba war die Herrin im Haus, hochgewachsen und biegsam wie ihre Tochter, immer noch schön, das lange Haar unter der Haube immer noch braun, ihre Schritte leicht, die Stimme kräftig, ihre Sinne klar.
Tiessa hatte sich inzwischen wieder gefasst, und auch Ambroise hatte seine Beredsamkeit wiedergefunden. Beide schilderten, was auf dem Weg vor dem Ort geschehen war: das Durcheinander und die Panik der ineinander verwickelten Reittiere, den Zorn des Ritters, das Unglück mit ihrem Wäschekorb, den Schwertstreich gegen den Juden. Nur die Sache mit dem Reiter, der Tiessa auf sein Pferd gezogen hatte, ließen sie im stillschweigenden Einverständnis aus.
»Der Herr sei uns gnädig«, rief Corba kopfschüttelnd. »Der alte Aaron war kein schlechter Mensch, obgleich er ein Jude war. Es war nicht recht von dem Ritter, ihn im Zorn zu erschlagen.«
Millie musste wieder einmal feststellen, wie rasch Corba über manche Dinge hinwegging, die ihr selbst so ungeheuer wichtig erschienen. Anstatt die verdorbenen Wäschestücke zu beklagen und Ambroise für seine Ungeschicklichkeit mit einer guten Tracht Prügel zu strafen, befahl Corba nur, dass trockene Gewänder herbeigebracht wurden. Zu allem Überfluss erhielt Ambroise, dieser Nichtsnutz und gottlose Schwätzer, ein altes Gewand von Jordan, da der Schelm nur einen einzigen Kittel besaß.
»Jetzt aber rasch!«, rief Corba und klatschte in die Hände. »Wir müssen eine Mahlzeit zubereiten, oben sitzt ein Gast bei dem Vater und Jordan im Wohnraum. Ambroise– hol Weizen und Trockenerbsen vom Dachboden. Millie– säubere den Kohl und die Rüben. Tiessa– lauf in den Keller und nimm von dem Pökelfleisch, auch von den Äpfeln und gedörrten Pflaumen…«
Millie schlurfte gehorsam zu dem breiten, gemauerten Küchentisch in der Mitte des Raumes und griff zum Messer, um den Kohl zu schneiden, Tiessa und Ambroise jedoch wechselten Blicke.
»Ein Gast? Wohl ein hochgeborener Herr, weil du ihn so bewirten willst?«
Corba trieb die Magd an, die das Feuer anfachen sollte, und nahm einige der kleinen Tiegel vom Wandbrett herab, in denen sie Salz, Honig und allerlei Gewürze aufbewahrte. Beißender Rauch verbreitete sich in der Küche, denn nur ein Teil des Qualms zog durch den Rauchfang ab.
»Es ist Ivo Beaumont, der Sohn von Marie, meiner Jugendgefährtin aus Alençon«, erklärte sie lächelnd. »Er ist auf Reisen, um Neues zu lernen und sich zu bewähren. Zumindest hat er das gesagt, aber der Vater wird inzwischen mehr darüber wissen.«
Tiessa machte immer noch keine Miene, in den Keller zu laufen, während Millie bereits den Kohl schnippelte und sorgfältig alle Maden herauspulte, um sie später an die Hühner zu verfüttern.
»Ist… ist er zu Fuß gekommen?«
»Aber nein!«, gab Corba ungeduldig zurück. »Sein Pferd wird im Stall versorgt, ihn selbst mussten wir mit trockenen Beinlingen versehen, denn er ist auch in das Gewitter geraten. Aber du solltest dir das Haar neu flechten, bevor du ihm gegenübertrittst, Töchterlein, er ist ein recht gut gewachsener Bursche und besitzt ein gewinnendes Lächeln.«
Corba hatte eine heitere Antwort auf ihre Neckerei erwartet, doch Tiessa ergriff nur schweigend eine kleine Talglampe und eine hölzerne Schüssel, um damit in den Keller zu laufen. Die Vorratsräume waren tief in den Boden eingegraben und durch einen gemauerten Grund und steinerne Wände geschützt. Das war angenehm im Sommer, wenn sich Fleisch, Dörrobst und Milch lange kühl hielten. Aber im Frühjahr sickerte Wasser in die Kellerräume hinein, denn der Fluss war nahe, und der gemauerte Boden schützte kaum vor dem Grundwasser. Ein muffiger, leicht süßlicher Geruch nach Äpfeln und gedörrten Früchten schlug ihr entgegen. Während sie den schweren Holzdeckel von dem Fass mit Pökelfleisch hob, versuchte sie das Unbehagen zu bekämpfen, das die Nachricht der Mutter hinterlassen hatte. Schließlich waren mehrere Reiter in den Ort hineingeritten– weshalb musste es gerade dieser sein? Ivo aus Alençon– gut gewachsen und ein gewinnendes Lächeln? Wenn er Maries Sohn war, dann würde er wohl kein Handwerker, sondern ein Knappe sein, der eine ritterliche Ausbildung hinter sich hatte und bei der Mahlzeit nicht auf den Boden spuckte.
Sie löschte das Talglicht und ließ es unten im Keller stehen. Mit der Schüssel voller rosiger, gepökelter Fleischstücke und dem Rest an Dörrpflaumen im hochgerafften Oberkleid, lief sie wieder die Stiegen hinauf in die Küche, setzte ihre Last ab und verschwand im Nebenraum, von wo aus eine hölzerne Treppe in den ersten Stock führte. Sie stieg nur einige Stufen hinauf, verharrte dann und spitzte die Ohren. Männerstimmen waren zu hören, die gemessene, kurze Redeweise des Vaters, dann das tiefe Organ ihres Halbbruders Jordan, der wohl irgendetwas Belangloses schwatzte und darüber vor Lachen kaum an sich halten konnte. Und dann war da eine dritte Stimme, nicht zu tief, auch nicht zu hell, sie klang angenehm weich, und die Sätze flossen ohne Stocken dahin… Oh heilige Maria– er war es tatsächlich.
»Was treibst du denn da, Tiessa? Komm in die Küche, du musst die Dörrpflaumen in Honigwasser aufkochen…«
Es half nichts– sie konnte nicht mehr davonlaufen. Wahrscheinlich hatte Ivo dem Vater längst erzählt, dass er ein ziemlich verdrecktes und zerzaustes Mädchen mitten aus dem Gewühl herausgeangelt und auf sein Pferd gehoben hatte, damit sie nicht unter die Hufe geriet. Und dass die dumme Person doch tatsächlich den drei Juden zu Hilfe eilen wollte, dann aber mitten in den Matsch gesprungen und davongelaufen war…
Wenn sie gleich in den Wohnraum treten musste, bliebe Ivo Beaumont vermutlich das Maul offen stehen vor Überraschung.
3
Sie täuschte sich. Lag es an dem trotzigen Ausdruck, mit dem sie ihm bei der Begrüßung entgegenstarrte, oder daran, dass er sie in dem sauberen, schönen Gewand und dem offenen, langen Haar nicht erkannte? Ivos Augen irrten einen kleinen Augenblick lang über ihre Gestalt, und er zog die Augenbrauen zusammen, als müsse er nachdenken. Doch anschließend grüßte er sie mit einer leichten Neigung des Oberkörpers und erklärte unbefangen, nirgendwo, weder in Burgen noch Hütten, ein vollkommeneres Wesen gesehen zu haben als die Tochter seines Gastgebers.
Tiessa war zunächst einmal erleichtert. Bald fand sie jedoch, dass sein Lächeln, das diese überschwänglichen Worte begleitete, ein wenig seltsam war, als verberge er etwas dahinter. Hatte er sie doch erkannt? Weshalb tat er dann so, als sähe er sie zum ersten Mal? Aus Rücksichtnahme? Oder glaubte er vielleicht gar, ein Pfand gegen sie in der Hand zu haben, das sie bei passender Gelegenheit einlösen musste?
Ivo erschien ihr jetzt von sehr angenehmem Äußeren. Das schulterlange Haar war getrocknet und mit dem Kamm bearbeitet, sodass es weich und füllig um seine Wangen fiel. Sein Gewand hatte zwar einige feuchte Stellen vom Regen, doch es war aus gutem, blauem Tuch genäht und an Schultern und Halsausschnitt mit einer gestickten Borte verziert.
Misstrauisch beobachtete sie den jungen Mann, während man die Mahlzeit einnahm. Er saß zur Rechten ihres Vaters, so wie es üblich war, um den Gast der Familie zu ehren. Links neben dem Vaters hatte Corba Platz genommen, und Tiessa hatte rasch den Hocker neben der Mutter beschlagnahmt. Um nichts in der Welt hätte sie neben Ivo sitzen mögen, da sich immer zwei Personen eine Schüssel teilen mussten.
»Erzähl mir von deiner Mutter«, bat Corba ihren Gast. »Heilige Maria– ich habe Marie so viele Jahre nicht mehr gesehen. Wir waren fast noch Kinder, als wir uns trennen mussten– zweimal habe ich sie besucht, das ist nun auch schon etliche Zeit her.«
Ivo berichtete, dass sein Vater vor zwei Jahren gestorben sei. Seitdem lebe die Mutter in der Familie seines älteren Bruders, der das Amt des Vaters bei den Grafen von Alençon übernommen hatte. Die Mutter sei wohlauf und froh, ihre Enkel um sich zu haben. Auch die Schwiegertochter sei ein liebes Wesen, es gäbe keinen Streit zwischen ihnen. Kummer hätten sie allerdings gehabt, denn im vergangenen Jahr sei seinem Bruder die jüngste Tochter gestorben.
»Aber weshalb bist nicht auch du in die Dienste der Grafen von Alençon getreten?«, wollte Jean wissen. »Wie ich sehe, wurdest du als Knappe ausgebildet, also setzte man doch auf dich.«
»Es ist nicht gut, wenn zwei Brüder gar zu eng beieinander sind– deshalb habe ich beschlossen, auf Fahrt zu gehen und mein Glück anderswo zu suchen.«
»Da mag viel Wahres dran sein«, gab Jean zurück.
Tiessa stellte fest, dass der Gast weder beim Kauen redete noch mit dem gefüllten Löffel in der Luft herumfuhr, wie Jordan es gerne tat. Auch bemühte er sich, Millie, mit der er aus einer Schüssel aß, die besten Brocken zu überlassen. Millie jedoch schien diese Rücksichtnahme gar nicht zu bemerken, sie aß schweigend und starrte dabei auf die hölzerne Tischplatte. Auch wenn Ivo voll des Lobes über den hohen Raum war, die hölzerne Wandverkleidung, die messingbeschlagenen Truhen und den gestickten Wandteppich, so war es Millie doch schrecklich peinlich, dass man für den Gast nicht einmal ein weißes Tischtuch hatte auflegen können, denn alle Tücher befanden sich im Wäschekorb.
Jean Corbeille war schon an die fünfzig, schmal, das Haar ergraut, doch die hellen, blauen Augen erfassten vieles, das anderen entging. Er schien an dem jungen Mann Gefallen gefunden zu haben, denn er fragte ihn immer wieder dies und das, kam auf die Lage in den angevinischen Ländern zu sprechen, und war erfreut, dass Ivo seine Abneigung gegen König Richard von England teilte.
»Er hat wohl Grund, im Heiligen Land zu kämpfen, denn seine Sünden sind groß«, meinte Jean. »Noch im vergangenen Jahr zog er gegen den eigenen Vater zu Felde, besiegte ihn und entriss ihm den Thron. Wenige Tage später ist Heinrich II. gestorben, und man redet sogar davon, dass der Leichnam des alten Königs zu bluten begann, als sein Sohn Richard die Kirche betrat.«
Ivo stimmte ihm zu, vertrat jedoch auch die Ansicht, dass Richard nicht besser oder schlechter als die übrigen Söhne des Heinrich Plantagenet war, denn sie alle hatten das Land immer wieder mit Kriegen überzogen.
»Alle bis auf den Jüngsten«, warf Tiessa ein.
Ivo warf ihr einen erstaunten Blick zu. Er hatte geglaubt, solche Gespräche taugten eher für Männer, die über diese Dinge besser Bescheid wussten. Tatsächlich zeigte Millie keinerlei Neigung, sich einzumischen, sie schien nicht einmal zuzuhören, und auch Corba warf nur hie und da einen Satz ein. Jordan hingegen war mit dem Essen beschäftigt. Ivo lächelte Tiessa zu, so wie man ein kleines Mädchen lobt, das etwas Kluges gesagt hat.
»Ganz recht, Tiessa. Deshalb nennt man ihn ja auch überall ›Johann ohne Land‹.«
Die Eltern mussten über die Antwort lachen, auch Jordan ließ Gelächter vernehmen. Millie verzog den Mund, ohne recht zu wissen, um was es ging.
»Gerade eben habt Ihr beklagt, dass Heinrichs Söhne Krieg gegen ihren Vater führten– jetzt redet Ihr geringschätzig über deneinzigen seiner Söhne, der das nicht getan hat«, versetzte Tiessa ärgerlich. »Auf wessen Seite steht Ihr eigentlich, Ivo Beaumont?«
Er war über ihren Angriff verblüfft. Jean schien die Antwort seiner Tochter zu gefallen, er blickte neugierig auf seinen Gast, der sich nun aus dem Widerspruch herauswinden musste. Ivo schob den Becher hin und her, und Tiessa fiel plötzlich siedend heiß ein, dass es unklug war, ihn so herauszufordern– er hatte ja ein Pfand gegen sie in der Hand. Doch der Blick, mit dem er sie jetzt musterte, war keineswegs zornig, sondern eher belustigt.
»Es ist schwer, ein Urteil über die Plantagenets zu fällen«, meinte Ivo schulterzuckend. »Selten hat sich ein Geschlecht so viel Mühe gegeben, das eigene Unglück herbeizuführen. Fast möchte man das Gerücht glauben, die Plantagenets stammten von einer bösen Fee ab und würden daher niemals zur Ruhe kommen.«
Tiessa war nicht zufrieden mit dieser Rede. Sie fand, er hatte sich nur schlau davongeschlichen, doch sie schwieg. Sein Lächeln ärgerte sie, obgleich es offen und freundlich war und nichts Hinterhältiges an sich hatte. Dennoch kam es ihr vor, als sage es ihr beständig: Nimm dich in Acht, ich weiß etwas über dich, das ich zu gegebener Zeit erzählen könnte…
Millie hatte erschrocken geblickt, als von der bösen Fee die Rede war, Jean machte nur eine abschätzige Handbewegung. Es gab vielerlei Gerüchte, manche behaupteten sogar, Richard besäße Excalibur, das berühmte Schwert des Königs Artus. Jean war ein nüchtern denkender Mann, ein zuverlässiger Verwalter und kühler Rechner– Geschichten über Feen und die Ritter der Tafelrunde mochten sich die adeligen Herrschaften erzählen.
»Gewiss sollte man solchen Gerüchten nicht glauben«, fuhr Ivo fort. »Aber wenn jemand nach einem bösen Geist der Plantagenets suchen wollte, dann sollte er bei der Königin Eleonore beginnen. Hat sie nicht immer ihre Söhne gegen den Vater aufgehetzt?«
»So sagt man«, bestätigte Jean. »Gewiss ist es auch wahr, denn diese Frau kennt kein Maß. War sie nicht einst Königin von Frankreich? Sie lief ihrem Ehemann davon und wurde an Heinrich Plantagenets Seite Königin von England.«
»Gottlos soll ihr Lebenswandel sein, unten in Aquitanien«, fiel Corba jetzt aufgeregt ein. »Sänger und fahrendes Volk umgeben sie an ihrem Hof, Tag und Nacht feiern sie Feste und Gelage, und immer wird von der Liebe gesungen. Die Gewänder der Frauen sollen zuchtlos sein…«
Wäre kein Gast an der Tafel gewesen, hätte Corba vermutlich hinzugefügt, dass die Gewänder der Frauen angeblich erst an der Taille anfangen und dafür in einer langen Schleppe auslaufen. So aber beließ sie es bei der Andeutung, doch an dem Schmunzeln im Gesicht des Gastes erkannte Tiessa, dass Ivo diese Berichte wohl schon gehört hatte.
»Was meint Ihr, Tiessa«, fragte er ein wenig spöttisch. »Glaubt auch Ihr, dass die Königin Eleonore eine böse Fee oder gar eine Teufelin sei?«
»Das wäre schlimm, denn dann säße die Enkelin einer bösen Fee oben in der Burg als unsere Herrin.«
Tiessas Bemerkung sorgte für großes Gelächter, denn Ivo hatte nicht gewusst, dass die blutjunge Richenza von Sachsen, die man im letzten Jahr mit Gottfried von Perche verheiratet hatte, Eleonores Enkelin war.
»Ihr Vater ist der Welfe Heinrich, den man den Löwen nennt, und ihre Mutter ist Mathilde, eine Tochter von Eleonore und Heinrich II. Plantagenet«, erklärte Jean ohne große Begeisterung. »Es war eine kluge Heirat, denn sie kann dem Perche den Frieden sichern.«
»Ich verstehe«, gab Ivo zögernd zurück.
Das Perche grenzte im Norden an die Normandie, die von den Plantagenets beherrscht wurde, doch die Grafen von Perche bekannten sich treu zu ihrem Lehnsherrn, dem französischen König. Der alte Graf Rotrou IV. von Perche hatte mehrfach gegen Heinrich Plantagenet zu Felde ziehen müssen, denn der König von Frankreich hatte die Familienstreitigkeiten der Plantagenets klug genutzt und die Rebellion der Söhne gegen den Vater unterstützt. Vor acht Jahren hatte Rotrou von Perche dabei zwei Burgen an Heinrich Plantagenet verloren. Jetzt waren sie im Besitz von dessen Sohn, König Richard. Durch die Heirat von Gottfried und Richenza konnte man sich nicht nur Frieden erhoffen, sondern auch die Rückgabe der beiden Festungen, schließlich war die junge Braut die Nichte des englischen Königs.
»Es werden andere Zeiten anbrechen«, meinte Corba fröhlich. »Heinrich II. liegt in seinem Grab, der alte Familienzwist wird nun ein Ende haben. Vielleicht wird Gott auch die beiden Könige versöhnen– sind nicht Richard von England und Philipp von Frankreich vor drei Monaten einträchtig ins Heilige Land gezogen, um Jerusalem aus den Händen des Schurken Saladin zu befreien?«
Nur Jordan, der endlich seine Mahlzeit beendet hatte und das Messer am Gewand abstreifte, stimmte Corbas Worten eifrig nickend zu. Jean verzog keine Miene. Er wollte die Zuversicht seiner Frau nicht zerstören, doch Tiessa wusste, dass er insgeheim anderer Ansicht war. Die beiden Könige hatten bereits in Lyon miteinander gestritten, denn dort war die Rhonebrücke unter den englischen Rittern zusammengebrochen und hatte viele tot oder verwundet in den Fluss gespült. Die französischen Kreuzritter waren zuvor sicher ans andere Ufer gelangt.
Auch Ivo schwieg, seine Augen ruhten nachdenklich auf Tiessa. Sie war sich nun nicht mehr sicher, ob sein Blick etwas verbarg. Vielleicht hatte er sie wirklich nicht erkannt? Dann sorgte sie sich völlig grundlos…
In diesem Augenblick betrat Ambroise den Wohnraum mit einer großen Kanne, da Jean befohlen hatte, neuen Wein aufzutragen. Der Junge führte den Auftrag sichtbar unwillig aus, vermutlich wäre es ihm lieber gewesen, eine der Mägde hätte die Kanne hinaufgetragen. Ambroise war eifersüchtig. Er litt darunter, dass Tiessas Retter nun hier am Tisch saß und sich so unbefangen mit der Familie unterhielt. Mit dunklen Augen starrte er Tiessa an, während er dem Gast den Becher füllte.
»Pass auf, was du tust, Dummkopf!«, rief sie aus.
Es war zu spät. Der Wein lief über den Rand und bildete eine breite rötliche Lache um den hölzernen Becher. Hätte Ivo nicht rasch die Hand davorgehalten, wäre die Flüssigkeit auf seinen Schoß gelaufen.
»Du musst heute deinen Unglückstag haben, Ambroise!«, sagte Corba kopfschüttelnd. »Entschuldige dich bei unserem Gast und bring ein Tuch, um den Wein aufzuwischen.«
Tiessa war zwar ärgerlich, aber der Unglücksrabe tat ihr schon wieder leid, denn Ambroise war selbst erschrocken und schlich mit hängenden Schultern aus dem Raum.
»Wir hätten besser ein Tischtuch auflegen sollen«, meinte sie leichthin. »Das hätte den Wein aufgesaugt.«
Es war ein Fehler, Millie konnte sich jetzt nicht mehr beherrschen. Die ganze Missachtung ihrer Person brach aus ihr heraus– wenn schon Tiessa und Corba lieber über Männersachen redeten, von denen sie, Millie, nichts verstand, dann war die Unbefangenheit, mit der Tiessa über diesen Mangel hinwegging, einfach nicht mehr zu ertragen.
»Freilich haben wir kein Tischtuch aufgelegt«, sagte sie vernehmlich und wurde dabei rot, denn sie redete nicht gern vor Fremden. »Aber nicht, weil wir unseren Gast nicht ehren wollten. Die Tischtücher sind heute gewaschen worden, und Ambroise hat den Korb auf den Weg gekippt, damit alle Pferde und Maultiere über unsere Wäsche laufen sollten. Und als Tiessa versuchte, die Tücher aufzuheben, da geriet sie…«
Tiessa hatte sie mit großen Augen erschrocken angestarrt, doch es war Ivo, der Millies Rede unterbrach.
»Meinetwegen braucht Ihr Euch wirklich nicht zu sorgen«, sagte er mit erhobener Stimme, sodass Millie schweigen musste. »Ich fühle mich hier in diesem Haus so angenehm empfangen und die Gastfreundschaft ist so herzlich, dass ich ein Tischtuch gern entbehren kann.«
»Als Tiessa versuchte, die Tücher aufzuheben«, fuhr Millie hartnäckig fort, »da geriet sie zwischen die Pferde und Maulesel und wäre um ein Haar…«
»Ich werde meine Laute holen«, rief Tiessa rasch. »Ich kenne einige hübsche Weisen und möchte sie gern vortragen. Natürlich nur dann, wenn unser Gast es mir erlaubt.«
Corba hatte die Stirn bei Millies Gerede gerunzelt. Es hatte sich gefährlich angehört, doch nun freute sie sich über Tiessas Einfall. Das Mädchen spielte recht schön, und Corba war stolz darauf, da das Lautenspiel auch von den adeligen Damen und Rittern geübt wurde.
»Ich bitte sehr darum, Tiessa«, meinte Ivor lächelnd. »Ich liebe das Lautenspiel und habe mich auch schon darin versucht.«
»Ihr könnt auf der Laute spielen? Könnt Ihr auch singen?«
»Ein wenig. Nein, es ist stümperhaft. Ich sollte Eure Ohren nicht damit belästigen.«
Niemand achtete mehr auf Millie, die mit rotem Gesicht auf ihrem Schemel saß und noch zweimal den Mund öffnete, ohne etwas herauszubringen. Tiessa war aufgesprungen und zu ihrer Schlafkammer gelaufen, die wie alle Bettstellen mit einer hölzernen Wand von dem Wohnraum abgetrennt war. Hastig schlug sie den Vorhang zurück, riss das Instrument vom Haken und legte es Ivo ohne Scheu in den Schoß.
»Ich lasse Euch den Vortritt.«
Er schien ziemlich verlegen darüber, erklärte bekümmert, er habe sich nun selbst durch sein unvorsichtiges Geschwätz eine Falle gestellt und würde sich gewiss lächerlich machen. Es sei besser, wenn Tiessa ihre Kunst zeige, er selbst sei ungeübt im Lautenspiel und seine Stimme rau wie die einer Krähe.
»Seid ohne Sorge– wir sind hier nicht am Hof des englischen Königs, wo schlechte Sänger gehängt und gevierteilt werden«, witzelte Tiessa vergnügt.
Corba wollte Einhalt gebieten, doch Ivo klimperte bereits auf der Laute herum, lobte die schöne Arbeit der Schnitzereien über den drei Schalllöchern und mutmaßte, dass sie wohl von weither, vielleicht aus Spanien oder gar aus Konstantinopel stamme. Er drehte an den Wirbeln, um sie zu stimmen, und Corba ließ von ihrem Vorhaben ab. Es schien, als könne er tatsächlich mit dem Instrument umgehen.
Sein Gesang war nicht übel, auch wenn ihnen die Worte hin und wieder etwas unsinnig vorkamen und er das Lautenspiel beim Singen häufig vergaß. Dennoch hörten alle im Raum aufmerksam zu, sogar Jean, der mit solchen Künsten wenig anfangen konnte. Er zuckte nur mit dem linken Augenlid, wenn die Töne gar zu schräg wurden.
»Zeigt uns nun, wie schön diese Laute klingen kann, Tiessa!«, bat Ivo schließlich und reichte Tiessa das Instrument.
»Ich will es versuchen.«
Während sie sich über die Laute auf ihrem Schoß beugte und ihre Finger die Saiten zupften, dachte sie darüber nach, dass Ivo eigentlich sehr mutig gewesen war, seine Künste vorzuzeigen, denn es war ihm durchaus bewusst, dass er kein Meister war. Jetzt hörte er ihr schweigend zu und schien sich an ihrem Spiel zu erfreuen.
Nein, er hat mich nicht wiedererkannt, dachte sie. Er hat keine Ahnung, dass ich dieses nasse, zerrupfte Wesen war, das er auf sein Pferd gehoben hat. Sie fühlte sich froh und erleichtert bei diesem Gedanken, denn Ivo Beaumont begann ihr zu gefallen.
Es war spät geworden. Jordan war während ihres Spiels eingeschlummert, den Oberkörper an die Tischplatte gelehnt, und auch Jean war schläfrig. Millie blinzelte, aber es war schwer zu sagen, ob sie ärgerlich oder einfach nur müde war.
»Gehen wir schlafen«, ordnete Jean an. »Wenn du willst, Ivo, werde ich dich morgen Früh mit auf die Burg nehmen und meinem Herrn vorstellen.«
»Gern!«
Jordan musste wachgerüttelt werden, schlaftrunken tapste er mit Millie in die Kammer. Dort hörte man, wie die Bettstatt ächzte, als er sich hineinfallen ließ. Jean nahm eine Fackel zur Hand, um den üblichen Kontrollgang durch das Anwesen zu machen, bevor er sich schlafen legte. Corba trug das Geschirr in einem Korb hinunter in die Küche, denn die Dienstboten schliefen längst.
Tiessa klappte den Deckel einer Truhe auf und kniete nieder, um Wolldecken und Kissen herauszusuchen, denn sie wollte dem Gast auf einer der Wandbänke ein Lager bereiten.
»Ich muss Euch um Verzeihung bitten, Tiessa«, sagte Ivo leise zu ihr. »Ich hätte Euch meinen Namen nennen müssen, als Ihr vor mir auf dem Pferd saßt. Ich schäme mich, aber ich habe Euch wahrhaftig für ein Bauernmädchen gehalten…«
Sie erzitterte. Also doch. Er hatte es die ganze Zeit über gewusst. Und er hatte geschwiegen.
»Ich bin es, die sich entschuldigen sollte«, murmelte sie. »Ich hätte Euch danken müssen, denn Ihr habt mich vor den Hufen der Tiere bewahrt. Aber ich bin davongelaufen, ohne Euch auch nur ein einziges Wort des Dankes zu sagen.«
Er kniete jetzt auf der anderen Seite der Truhe. Zwischen ihnen war der aufgeklappte Truhendeckel, der sich weit nach hinten neigte und dabei leise knackte. Das Licht der beiden Lampen, die von der Decke des Raumes herabhingen, war am Erlöschen, draußen rauschte immer noch der Regen.
»Ich tat es nicht, um Dank zu ernten, Tiessa«, flüsterte er. »Ich bin glücklich und zufrieden, dass ich Euch helfen konnte. Und nun lasst uns niemals wieder davon sprechen.«
»Einverstanden.«
Sie senkte den Kopf in die Truhe hinein und hob die wollenen Decken heraus. Kurz darauf war Corba wieder in den Raum getreten, um der Tochter behilflich zu sein. Es war gut, dass das Licht nur noch schwach flackerte, sonst hätte sie sehen können, dass Tiessa stark gerötete Wangen hatte, und sich gewiss ihre Gedanken darüber gemacht.
4
Der Ritter Roger de Briard war schlechter Laune. Trotz des Unwetters hatte man ihn und seinen Anhang vor dem Burgtor eine Weile warten lassen. Als man ihn endlich in die Burg Saint-Jean einließ, waren sie alle nass wie die Ratten, und das Verhalten des Burgherrn hatte seine Stimmung auch nicht gerade verbessert. Freilich hatte man ihn und sein Gefolge mit trockenen Gewändern versorgt. Auch die Mahlzeit war reichlich gewesen, und der Raum im zweiten Stock des Donjon, in dem man ihnen das Nachtlager bereitet hatte, war mit allem Nötigen ausgestattet. Doch anstatt den Abend mit seinem Gast zu verbringen, hatte Gottfried von Perche ihn nur kurz begrüßt, mit leisem Bedauern angehört, welches Ungemach Roger kurz vor der Siedlung widerfahren war und ihm danach eine friedliche Nachtruhe gewünscht.
War das eine Art, einen Gast zu empfangen? Roger platzte vor Redelust. Er wollte über den verdammten Juden und seine Gäule wettern und von seinem hinterhältigen Cousin berichten, der ihm das väterliche Erbe streitig machte. Er sehnte sich danach, über das Wetter und den frühen Herbstbeginn zu jammern, und wenn er damit fertig wäre, würde er mit Vergnügen über die dreckigen Heiden herziehen, allen voran den Sultan Saladin. So musste er diese lauten Reden an seine Knappen richten, die wie immer eingestimmt haben, aber viel Vergnügen hatte er nicht dabei empfunden.
»Der hat uns doch nicht etwa die Sache mit diesem Juden verübelt?«, mutmaßte einer der Knappen. Roger schnaubte– das wäre zwar reichlich lächerlich, aber wissen konnte man es nicht.
»Ein Jammer, dass der alte Rotrou schon mit König Philipp davongezogen ist– der war ein leutseliger Mann und hielt auch gerne Hof«, hatte er schließlich gebrummt, als er es sich auf dem Lager bequem machte. »Sein Sohn Gottfried scheint ein seltsamer Einsiedler zu sein.«
»Sagtet Ihr nicht, er habe eine junge Frau?«, spottete einer der Knappen.
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