Die Braut des Shawnee-Kriegers - Elizabeth Lane - E-Book

Die Braut des Shawnee-Kriegers E-Book

Elizabeth Lane

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Beschreibung

Amerika, 1747: Der große, muskulöse Krieger Wolf Heart ist wie verzaubert von dem Anblick der rotgelockten Schönen, die er in der Wildnis entdeckt. Er muss sie mit zu seinem Stamm, den Shawnee, nehmen! Und Clarissa fügt sich ins Unvermeidliche - obwohl in

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IMPRESSUM

Die Braut des Shawnee-Kriegers erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 1999 by Elizabeth Lane Originaltitel: „Shawnee Bride“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd.,Toronto

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICALBand 184 - 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Elisabeth Schwarz

Umschlagsmotive: Fotoindy / ThinkstockPhotos

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733769512

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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PROLOG

Im Tal des Ohio, 1747

Seth hetzte durch das Unterholz. Panische Angst beflügelte die Kräfte des Elfjährigen. Dornen rissen an seiner abgetragenen Hose, und seine Füße verfingen sich in Wurzeln und Ranken. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.

Das Schweigen des Waldes hinter ihm war fast noch schrecklicher, als es die Schreie seinesVaters gewesen waren. Pa war inzwischen gewiss tot – wenn er Glück hatte. Und wenn nicht, so gab es dennoch keine Möglichkeit, ihm zu helfen.

Der blutrünstige Bär war wie aus dem Boden gewachsen aufgetaucht und hatte sich auf Benjamin Johnson gestürzt, der am Boden kauerte, um seine Biberfalle zu spannen. Seth hatte Stöcke und Steine auf den Bären geschleudert und sich die Seele aus dem Leib geschrien, um die Bestie abzulenken, aber es hatte nichts genützt. Schließlich war ihm keine andere Wahl geblieben, als um sein Leben zu rennen.

War der Bär ihm jetzt auf den Fersen? Wenn er stehen blieb, um zu horchen, würde er dann hören, wie das Monster durch das Unterholz brach, während es mit seiner schwarzen Nase seine Spur verfolgte? Doch Seth durfte nicht riskieren, stehen zu bleiben. Ein gereizter Bär konnte schneller laufen als irgendein Mensch.

Mit seinen nackten Füßen, deren Sohlen widerstandsfähig wie gegerbtes Leder waren, sprang er in einen flachen Bach. Er watete ein Stück flussaufwärts und betete, dass das Wasser seine Spuren davontrug. Seine Lungen brannten, und sein Atem kam in keuchenden Stößen, während er durch das eisige Wasser hastete.

Seth unterdrückte einen Schrei, als sein linker Fuß von einem bemoosten Stein abglitt und umknickte. Ein heißer Schmerz schoss durch sein Bein – noch heftiger als nach dem Schlag, den Pa ihm gestern Abend mit seinem Gürtel versetzt hatte, als Seth aus Versehen ein Krug Whiskey in den Fluss gefallen war. Einen Vorteil hatte das Ganze vielleicht: Pa würde ihn nie wieder schlagen.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht taumelte Seth aus dem Wasser, brach an der Uferböschung in die Knie und rollte sich wie ein Tier zusammen. Er konnte den Bären weder sehen noch hören. Dennoch spürte er ein Prickeln im Nacken, ein sicheres Zeichen, dass Gefahr im Verzug war.

Hilflos drückte er sich noch tiefer in die hohe Böschung. „Pa!“ wollte er rufen. „Ich bin hier, Pa. Komm und hilf mir!“ Aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte.

Er war mutterseelenallein in einer endlosen Wildnis. Schlimmer noch, dies war Shawnee-Gebiet, wie sein Vater ihm erklärt hatte. Die Shawnee-Indianer waren Wilde, die einem Bleichgesicht die Eingeweide aus dem Körper rissen und ihn bei lebendigem Leibe rösteten. Da war ja der Bär noch besser. Der würde ihn wenigstens schnell töten.

So wie er Pa getötet hatte.

Das Schweigen rings umher lastete wie ein Gewicht auf dem Jungen. Auch die Vögel waren verstummt, und selbst das Summen der Insekten war nicht mehr zu hören. Schweißtropfen rollten Seth in den Nacken und ließen ihn frösteln.

Plötzlich vernahm er ein Rascheln hinter sich. Dann sprang etwas vom höher gelegenen Ufer herab und landete fast auf ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde erblickte Seth nackte braune Beine und bestickte Mokassins, bevor eine raue, stinkende Decke über ihn geworfen wurde, so dass er nichts mehr sehen und kaum noch atmen konnte. Kraftvolle Arme hoben ihn hoch. In panischer Angst schlug Seth um sich und stieß jeden einzelnen Fluch aus, den er je von seinem Pa gehört hatte. „Lass mich los, du dreckiger Wilder!“ schrie er. „Lass mich los, oder, bei Gott, ich ziehe dir das Fell über die Ohren!“

Plötzlich erklang ein Geräusch, das Seth bis ins Mark erschauern ließ.

Es war ein kehliges Lachen.

1. KAPITEL

Fort Pitt, April 1761

„Schluss mit diesen Albernheiten, Clarissa Rogers!“ Die scharfe Frauenstimme schnitt durch die kühle Dämmerung. „Es wird bald dunkel. Wir müssen jetzt zum Fort zurück.“

„Ich komme gleich. Geh schon mal vor, Tante Margaret!“ Clarissa zog geschickt an der langen Schnur und ließ den Drachen am wolkenverhangenen Himmel tanzen. Ein Sturm war im Anzug – ideales Wetter, um einen Drachen steigen zu lassen. Noch nie im Leben hatte Clarissa sich so wohl und frei gefühlt.

„Ihr solltet besser tun, was sie sagt.“ Der Leutnant, einer der drei jungen Offiziere in ihrer Begleitung, zog besorgt die Stirn kraus. „Schaut Euch nur den Himmel an. Jeden Augenblick fängt es an zu regnen.“

„Ihr könnt ja zurückgehen, wenn Ihr wollt.“ Clarissa warf den Kopf in den Nacken, so dass ihre rotgoldenen Locken im Wind flogen. Für Clarissa war dieser Besuch bei Tante und Onkel in Pennsylvania wie eine frische Brise in ihrem Leben. Seit dem Tod ihres Vaters vor sieben Jahren stand sie unter der Obhut ihres mürrischen älteren Bruders. Junius Rogers hatte ihr einst fröhliches Heim in Baltimore in ein düsteres, bedrückendes Gefängnis verwandelt, aus dem er Musik, Lachen und Freiheit verbannt hatte.

Hinter ihr erhoben sich die mächtigen Schutzwälle des Forts. Erst kürzlich hatte hier die Union Flag den Platz der französischen Trikolore eingenommen, und heute blähte sich die Flagge wie ein Segel im Wind. Das Wasser, das die flache Landzunge umspülte, war braun gefärbt vom Schlamm, den es im Frühling mit sich führte. An dieser Stelle flossen Monongahela und Allegheny zusammen und bildeten gemeinsam den Ohio. Flachboote, Pirogen und Kanus lagen dicht gedrängt am Ufer. Holzhäuser aller Art waren rund um die Außenmauer des Forts wie Pilze aus dem Boden geschossen. Diese wachsende Ansammlung von Schuppen, Handelsposten und Siedlerhütten hatte sich bereits einen Namen zugelegt: Pittsburgh.

Lachend rannte Clarissa weiter. Mit einer Hand raffte sie ihren spitzenbesetzten Unterrock, um ihn vor Grasflecken zu bewahren. Sie wusste genau, weshalb Junius sie hergeschickt hatte. Sie war siebzehn, im heiratsfähigen Alter, und er wollte sie aus dem Weg haben, indem er sie mit irgendeinem jungen, aufstrebenden Offizier verheiratete. Es war ein durchaus viel versprechender Plan, denn Clarissa war weder verarmt noch unansehnlich, es gab genug Bewerber. Doch da war etwas, womit Junius nicht gerechnet hatte. Seine eigensinnige kleine Schwester hatte viel zu viel Spaß, um sich unter den Anbetern allzu schnell einen Ehemann auszusuchen.

„Clarissa, komm jetzt endlich!“ rief Tante Margaret ungeduldig. „Das Tor wird bald geschlossen, und Molly wartet schon mit dem Abendessen. Du kannst diesen albernen Drachen ja morgen wieder steigen lassen, wenn es unbedingt sein muss.“

Clarissa blieb stehen, woraufhin zwei ihrer Begleiter mitten im Lauf zusammenstießen. Lichter flackerten vereinzelt oberhalb der Wälle und unten in der Siedlung auf. Ein Blitz durchschnitt den Himmel im Osten, und als der Donner grollte, spürte sie die ersten Regentropfen.

Hoch über ihr zerrte der Drache heftig an seiner Schnur und schoss wie ein weißer Vogel am immer dunkler werdenden Himmel auf und ab. Clarissa schaute ihm einen Augenblick zu und stieß einen Seufzer aus. „Na gut!“ rief sie dann über die Schulter. „Ich komme, sobald ich die Schnur aufgewickelt habe.“

„Du kommst sofort, Clarissa!“ Die Stimme der Tante verriet, dass ihre Geduld erschöpft war. „Einer der jungen Leute kann dein Spielzeug mitbringen.“

„Ach, aber i…ich … also gut.“ Da Clarissa nicht vorhatte, ihre Tante noch mehr in Harnisch zu bringen, drehte sie sich um und wollte gerade einem ihrer Gefährten die Schnurrolle reichen, als eine Sturmböe den Drachen erfasste, der daraufhin wie vom Blitz getroffen abwärts schoss. Mit einem Schreckensschrei sah Clarissa, wie er irgendwo außer Sichtweite zwischen den Hütten am Fluss niederging.

„Ich hole ihn.“ Leutnant Thomas Ainsworth, der jüngste ihrer Bewunderer, rannte bereits los, wobei er der Schnur folgte, die deutlich im Gras sichtbar war. Es war auch Tom Ainsworth gewesen, der ihr den Drachen aus Birkenzweigen und leichtem Segeltuch gebaut hatte. Seine Kunstfertigkeit dabei hatte verraten, dass er es oft in seiner eigenen Jugend getan haben musste. Clarissa mochte ihn sehr. Wenn sie doch auch einen Bruder wie Tom gehabt hätte statt des sauertöpfischen, knauserigen Junius! Wie viel fröhlicher wäre ihr Leben dann verlaufen.

„Seid vorsichtig, Tom!“ rief sie ihm nach. „Ich warte hinterm Tor auf Euch, versprochen! Ich werde nicht zulassen, dass die Wachen vorher das Tor schließen.“

Sie wusste nicht, ob der junge Leutnant sie gehört hatte. Er rannte hinunter zum Fluss, ohne sich um die Blitze und das dumpfe Grollen des Donners zu kümmern. Clarissa guckte ihm nach, bis er im Regen verschwand. Dann raffte sie die Röcke und beeilte sich, ihre Tante einzuholen. Die beiden anderen Offiziere trotteten wie ergebene Hunde hinter ihr her.

Clarissa hielt ihr Versprechen. Nachdem sie die anderen fortgeschickt hatte, postierte sie sich im Schutz des Tors unter den wachsamen Blicken der Soldaten, die auf dem Wall patrouillierten. Sie würde ja nicht lange warten müssen. Tom würde jeden Moment mit dem kostbaren Drachen auftauchen.

Sie beschloss, ihn mit einem Kuss zu belohnen – einem flüchtigen, schwesterlichen Kuss, den niemand missverstehen konnte. Und dann würde sie ihn vielleicht zum Abendessen einladen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte, um ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen.

Die Minuten krochen dahin, ohne dass er wieder auftauchte. Clarissa wurde unruhig und zunehmend hungrig. Durch den dunklen Regenschleier konnten ihre scharfen Augen gerade noch die weiße Drachenschnur erkennen, die Tom in seiner Hast im Gras liegen gelassen hatte. Die Schnur hatte sich bisher kein bisschen bewegt.

Was tat er so lange? Hatte er einen Kameraden getroffen? Am Ende gar ein Mädchen? Oder war er etwa in einer dieser fragwürdigen kleinen Spelunken eingekehrt, die überall am Flussufer aus dem Boden geschossen waren? Er wusste doch, dass sie auf ihn wartete.

Clarissa verlor die Geduld. Ohne auf den Warnruf der Wache zu achten, lief sie durchs Tor hinaus. Es konnte nicht schaden, Tom Ainsworth aufzuspüren und ihm den Kopf zurechtzurücken. Nass war sie ohnehin schon, und in Steinwurfnähe des Forts würden wohl kaum Gefahren lauern.

Es war nicht schwer, der weißen Drachenschnur zu folgen, denn sie leuchtete hell im nassen Gras. Mit gerafften Röcken eilte Clarissa voran. Es war zwar nicht sicher, dass die Schnur sie zu Tom Ainsworth, diesem unzuverlässigen Lümmel, führte, aber zumindest würde sie ihr Spielzeug wieder finden.

Tagsüber sahen die Schuppen am Flussufer nur schäbig aus, doch nun, bei Dunkelheit und Regen, wirkte jeder Schatten wie ein lauerndes Tier. Licht fiel durch die Spalten in den Holzwänden. Irgendwo hustete ein Mann und fluchte gotteslästerlich. Eine Frau lachte.

Mittlerweile war die Drachenschnur so schmutzig geworden, dass Clarissa Mühe hatte, sie im Auge zu behalten, während sie weiterhastete. Inzwischen war sie triefnass und zitterte vor Kälte. Ihre Schuhe waren ruiniert, und ihre Tante würde furchtbar böse auf sie sein. Oh, warte nur, Thomas Ainsworth. Wenn ich dich in die Finger kriege …

Als ihr Fuß gegen etwas Weiches stieß, entschlüpfte Clarissa ein erschrockener Laut. Bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten, lag ein Mann vor ihr im Schlamm.

Es war Tom Ainsworth.

„Oh Gott!“ Clarissa kauerte sich nieder. Ihr Zorn schwand, als sie die blutende Wunde an seiner Schläfe entdeckte. Sie packte ihn bei den Schultern und versuchte ihn hochzuziehen. „Seid nicht tot, Tom!“ flehte sie und schüttelte ihn. „Oh bitte, seid nicht tot!“

Er stöhnte, und namenlose Erleichterung wallte in Clarissa auf. „Kommt!“ Sie versuchte ihn aufzurichten. „Wir müssen zurück zum Fort.“

Er wandte den Kopf, und sie nahm das warnende Aufblitzen in seinen Augen wahr. „Lauft weg, Clarissa“, flüsterte er heiser. „Lasst mich, und bringt Euch in Sicherheit.“

„Seid nicht töricht!“ Sie packte seine Schultern fester. „Ohne Euch gehe ich nirgendwohin, Tom Ainsworth. Das steht fest. Deshalb könnt Ihr ebenso gut – oh!“

Grobe Hände griffen von hinten nach Clarissa und rissen sie hoch. Ihr Schrei erstarb in einem erstickten Keuchen, als eine schmierige Hand sich auf ihren Mund legte. Sie spürte Fleisch und biss zu.

„Verfluchte Hexe!“ Der Schlag explodierte in ihrem Kopf, und der Schmerz ließ glühende Ringe vor ihren Augen tanzen. Sie sackte gegen ihren unsichtbaren Angreifer, ein wenig benommen, aber doch bei Bewusstsein. Als ihr Blick sich klärte, sah sie Tom auf den Knien, der mühsam versuchte, sich aufzurichten. Ein zweiter Mann in schmutzstarrenden Lederhosen trat aus dem Schatten. Mit dem rechten, in einem Mokassin steckenden Fuß trat er Tom brutal gegen den Kopf. Der junge Mann brach im Schlamm zusammen und blieb reglos liegen.

„Lasst mich zu ihm!“ Clarissa wand sich in den Armen, die sie wie ein Schraubstock umklammerten. Der Gestank, den die Kleider und der ungewaschene Körper des Mannes verbreiteten, brachte sie zum Würgen.

„He, Zeke, ganz schön kratzbürstig, die Kleine, was? Und niedlich dazu.“ Der Mann in Lederhosen tastete nach dem Messer in seinem Gürtel, während er Clarissa von Kopf bis Fuß musterte.

„Dann springt wenigstens etwas dabei raus“, knurrte der Mann namens Zeke. „Ihr Freund hier hatte ja nichts in den Taschen, was der Rede wert wäre. So kriegen wir wenigstens ’n bisschen Spaß. Woll’n wir würfeln, wer sie sich zuerst vornimmt?“

Clarissa spürte seinen übel riechenden Atem an ihrer bloßen Schulter. Sie schluckte ihre Angst hinunter und blitzte den stämmigen Mann in Lederhosen an. „Wagt ja nicht, mich anzurühren!“ zischte sie. „Wenn der Leutnant und ich nicht sofort zum Fort zurückkehren, wird Colonel Hancock, mein Onkel, das ganze Regiment ausschicken, um uns zu suchen. Dann werdet Ihr hängen.“

„Nun werd ja nich’ frech.“ Zeke drückte ihre Arme, dass es schmerzte. „Dir wird die Hochnäsigkeit schon vergehen, wenn du uns erst mal zwischen den Beinen hattest. Was meinst du dazu, Maynard? Teufel, sie wird sich noch drum reißen, wie die anderen auch.“

Der Mann in Lederhosen zögerte und zog die Brauen zusammen.

„Maynard?“

„Halt’s Maul, ich muss nachdenken.“ Er kratzte sich an den Bartstoppeln. „Wenn die Kleine die Wahrheit sagt, wär’s gefährlich, wenn wir sie uns hier zur Brust nehmen. Aber wenn sie mit uns flussabwärts kommt …“

„Teufel auch, Maynard, das ist ’ne gute Idee“, johlte Zeke begeistert auf. „Kein Schwein wird uns ins Indianergebiet folgen. Wir binden diesen kleinen Feuerkopf im Boot an und nehmen sie her, wann immer uns danach ist. Zwischendurch kann sie für uns kochen und waschen.“

Clarissa kämpfte die aufsteigende Panik nieder und zwang sich, ruhig zu bleiben. Eine Chance zur Flucht hatte sie nur, wenn sie einen klaren Kopf behielt. Sie musste warten, bis die beiden Männer unvorsichtig wurden, und dann, bei der ersten Gelegenheit …

„Wir verlieren nur Zeit“, drängte Maynard. „Gehen wir zum Boot.“

„Und was ist mit dem Bürschchen hier?“ Zeke blickte auf Tom Ainsworths schlaffen Körper, der noch immer reglos im Morast lag.

Clarissa sank der Mut. Sie hatte so gehofft, dass der junge Leutnant noch am Leben war und dass jemand ihn fand, bevor es zu spät war. „Lasst ihn liegen“, bat sie. „Seht ihn Euch doch nur an. In diesem Zustand ist er keine Gefahr mehr.“

„Und ob, wenn er noch nicht hin ist“, knurrte Maynard. „Und selbst dann. Wenn seine Leute ihn finden, können sie sich am Ende zusammenreimen, was passiert ist. Der Kerl gehört in den Fluss, wo er am tiefsten ist.“

„Bitte!“ Clarissa stemmte sich mit aller Kraft gegen Zekes Griff. „Tötet ihn nicht. Ich tue alles, was Ihr verlangt.“

Maynard lachte roh und bückte sich zu Tom hinunter. „Das tust du sowieso, Mädchen. Du hast nämlich keine andere Wahl.“

Das Unwetter wütete jetzt mit voller Kraft, und es goss in Strömen. Weiße Schaumkronen bildeten sich auf dem Fluss. Zeke, der noch immer ihren Arm umklammert hielt, stieß Clarissa vor sich her. Durch die Regenschwaden konnte sie das Ufer erkennen und die groben Umrisse der Boote. Laternen flackerten in der Dunkelheit. Ihr Herz machte einen Satz, als sie auf einem der Decks Menschen erkannte – Menschen, die einem jungen Mädchen gewiss zu Hilfe eilen würden.

Maynard hatte Tom bei den Füßen gepackt und schleifte den jungen Leutnant durch den Morast hinter sich her. Er hatte noch keinen Laut von sich gegeben. Clarissa fürchtete, dass er schon tot war, aber da sie es nicht sicher wusste, wagte sie noch keinen Fluchtversuch. Wenn es auch nur die geringste Überlebenschance für Tom gab, durfte sie ihn nicht einfach im Stich lassen.

„Los, Mädchen“, drängte Zeke und stieß sie die Uferböschung hinunter. „Je eher wir auf dem Fluss sind, desto früher kann der Spaß beginnen.“

Clarissa stolperte durch den Morast und zwang sich, auf den richtigen Augenblick zu warten. Ihre Kleider waren tropfnass und ihre Schuhe und der Unterrock schlammverschmiert. Das Haar hing ihr ins Gesicht und in langen, nassen Strähnen den Rücken hinunter.

„Schätze, du bist noch Jungfrau“, bemerkte Zeke mit einem gierigen Grinsen. „Siehst jedenfalls so aus. Sonst teilen wir ja alles, Maynard und ich, aber diese Knospe kann nur einer pflücken. Und das werd ich sein. Ich bin besser dafür ausgestattet, wenn ich das sagen darf. Maynard is’n bisschen minderbemittelt, wenn du weißt, was ich meine.“

Clarissa versuchte, sein vulgäres Geschwätz nicht zu beachten. Ihr war ziemlich klar, was diese beiden Galgenvögel mit ihr vorhatten. Erst letzten Monat hatte ihre frisch verheiratete Cousine Jenny ihr hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, was zwischen Mann und Frau im Schlafzimmer vor sich ging. Die Einzelheiten hatten Clarissa fasziniert, aber was Zeke und Maynard planten, hatte nichts mit Liebe zu tun. Der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit.

Sie näherten sich den Laternen, in deren Licht Clarissa erkennen konnte, dass sich auf einem der Boote drei Männer befanden – und auch, was sie taten. Sie stolperten an Deck herum und taumelten grölend gegeneinander. Mit sinkendem Mut begriff sie, dass sie völlig betrunken waren. Betrunken und vermutlich vom gleichen üblen Schlag wie Zeke und Maynard. Trotzdem waren sie im Augenblick ihre einzige Hoffnung.

Nur noch zwanzig Schritt, dachte sie, dann sind wir in Hörweite.

Wie eine Nachtwandlerin lief sie durch den Regen, und jeder Nerv in ihrem Körper war gespannt. Ihr Leben und das von Tom Ainsworth hingen davon ab, dass sie den richtigen Zeitpunkt abpasste.

Sie hörte das Rauschen des aufgewühlten Wassers. Die Laternen waren jetzt ganz nah, wie auch die Fremden auf dem Boot, die sich ihrer Trunkenheit hingaben. Clarissas Muskeln spannten sich. Jetzt oder nie.

Sie riss sich von Zeke los und stürzte auf die Laternen zu. „Hilfe!“ schrie sie. „Um Gottes willen …“

Sie sah, wie einer der Männer sich umdrehte. Dann, ohne jede Vorwarnung, zuckte ein gewaltiger Blitz über den Himmel, und im nachfolgenden Donnergrollen krachte etwas gegen ihren Kopf. Ein schneidender Schmerz hüllte sie ein. Gleißende Lichter drehten sich um sie und verschwanden in nachtschwarzer Dunkelheit.

Clarissa erwachte, weil der Boden unter ihr schwankte.

Bei den ersten Atemzügen schien der hämmernde Schmerz in ihrem Kopf die ganze Welt auszufüllen. Als ihre Sinne sich klärten, stellte sie fest, dass sie auf dem Boden lag. Unter ihrem Gesicht spürte sie raue Holzplanken.

Eisiges Wasser schwappte über die Planken und brachte sie endgültig zu Bewusstsein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Morgen bereits dämmerte. Der Regen strömte noch immer herab, und die Welt um sie herum hob und senkte sich mit scheinbar rasender Geschwindigkeit. Als sie sich aufzusetzen versuchte, entdeckte sie, dass ihre Handgelenke an den Stützpfahl einer rohen Holzkabine gebunden waren, die auf dem Deck eines Flachbootes stand. Vorsichtig hob sie den Kopf.

Im bleichen Licht erkannte sie die massigen Umrisse einer Gestalt. Es war Zeke. Ihr Plan, sich selbst und Tom zu retten, war gescheitert.

Tom! Wo mochte er sein?

Das dünne Seil schnitt in ihre Handgelenke. Blutstropfen mischten sich mit Regenwasser, als sie verzweifelt versuchte sich loszumachen, während ihre Blicke gehetzt über das Bootsdeck huschten. Als sie Tom nirgendwo entdecken konnte, wusste sie mit tödlicher Gewissheit, dass er verloren war. Nie wieder würde sie sein Lausbubenlächeln sehen, sich nie wieder an seiner jungenhaften Fröhlichkeit erfreuen oder seine geschickten Finger beim Drachenbau beobachten.

Doch ihr blieb keine Zeit, den Freund zu betrauern. Das Boot tanzte wie verrückt auf den Wellen und drehte sich in der Strömung. Zekes Flüche übertönten das Heulen des Windes, während er krampfhaft an der Ruderpinne riss. Starr vor Schreck guckte Clarissa ihm zu.

Im nächsten Augenblick taumelte Maynard um die Ecke der Holzhütte, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. „Bring uns ans Ufer, verdammt!“ schrie er. „Wir müssen anlegen und warten, bis dieser verfluchte Sturm vorüber ist.“

„Mach du’s doch, wenn du so schlau bist!“ brüllte Zeke zurück. „Dieses gottverdammte Ruder kommt gegen den Strom nicht an. Wir sinken!“

Clarissa fiel zur Seite, als das Boot um eine Biegung des Flusses schoss. Durch das Prasseln des Regens hörte sie Zeke hilflos aufschreien.

„Lass mich ran!“ Maynard stieß ihn beiseite und packte die Ruderpinne. Er war ruhiger und geschickter als Zeke, aber ihm fehlte das Gewicht, um das auf und ab tanzende Boot zu beherrschen. „Steh doch nicht so rum!“ bellte er Zeke an. „Hilf mir lieber.“

Während Clarissa die kämpfenden Männer beobachtete, bemerkte sie plötzlich, dass das durchnässte Seil nachgab. Mit zusammengebissenen Zähnen rang sie den Schmerz nieder und zerrte so lange an dem Riemen, bis ihre Hände frei waren. Mit schmerzenden Gliedern klammerte sie sich an den Pfahl und richtete sich langsam in eine sitzende Stellung auf. Jetzt erst erkannte sie das ganze Ausmaß der Gefahr, in der sie schwebte.

Gewaltig und pechschwarz tobte der angeschwollene Ohio zwischen seinen Ufern. Schwankend und außer Kontrolle trieb das Flachboot mit der Strömung. Fassungslos sah Clarissa einen entwurzelten Baumstamm im tosenden Wasser herumwirbeln und dann auf sie zukommen. Als er das Boot beinahe rammte, schrie sie in panischer Angst auf.

Falls Zeke und Maynard sie überhaupt gehört hatten, waren sie viel zu beschäftigt, um sie zu beachten. Sie kämpften mit der Ruderpinne und verfluchten den Sturm und sich gegenseitig. Dies wäre der geeignete Augenblick, sich über Bord gleiten zu lassen und zu fliehen – gäbe es da nicht einen kleinen Haken. Während all der Jahre ihrer behüteten Kindheit und Jugend hatte Clarissa niemals in etwas anderem gebadet als im warmen Seifenwasser eines kupfernen Badezubers. Sie konnte nicht einen Zug schwimmen.

Der reißende Strom verengte sich in einer scharfen Biegung und ließ das Boot beinahe kentern. Wieder schrie Clarissa auf, als die Holzhütte sich aus ihrer Verankerung löste. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Zeke an ihr vorbeisauste und in der Dunkelheit verschwand. Im selben Augenblick stieß das Boot gegen etwas Hartes unter der Wasseroberfläche und zerschellte wie ein Kinderspielzeug.

Planken, Bretter und Vorräte flogen herum, von der gleichen Gewalt hochgeschleudert wie auch Clarissa. Einen schrecklichen Augenblick lang segelte sie durch regenerfüllte Luft. Dann schlug ihr Körper auf dem Wasser auf.

Halb betäubt versank sie in den brodelnden Fluten. Die eisige Umarmung des Flusses wirbelte sie herum wie eine hilflose Puppe. Wasser drang ihr in die Nase und dröhnte in ihren Ohren. Etwas traf sie im Gesicht – etwas Kaltes und Lebendes. Ihr Magen drohte zu rebellieren.

Nein! Sie wollte nicht sterben, nicht hier! Nicht so! Als der Schock nachließ, begann sie zu kämpfen. Ihre berstenden Lungen trieben sie an die Oberfläche. Ein Blitz zuckte über den blassen Himmel, als ihr Kopf aus dem Wasser auftauchte. Sie schnappte nach der kostbaren Luft und schluckte gleichzeitig einen Schwall schlammigen Wassers. Blasen stiegen von ihren Lippen auf, als die Strömung sie wieder unter Wasser zog.

Trümmer des zerschellten Bootes wirbelten an ihr vorbei. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als eine der Planken gegen ihre Rippen stieß. Wie durch ein Wunder schob sie sich unter sie und hob sie hoch. Sie umklammerte das Holzstück mit beiden Armen und stieß sich mit den Füßen im Wasser ab, bis sie wieder an die Oberfläche kam. Die schwimmende Planke blieb unter ihr und hielt sie oben.

Würgend und hustend füllte Clarissa ihre Lungen mit Luft. Sie lebte, doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Die tosende Strömung riss sie weiterhin flussabwärts. Abgebrochene Äste, Wrackteile und alle möglichen anderen Dinge schwammen im Wasser herum. Hier gab es keine Siedlungen an den Ufern – keine Häuser, Farmen oder Forts. Dies war pure Wildnis, ein Gebiet, das nur von Bären, Schlangen und nackten rothäutigen Wilden bevölkert war, die sie töten würden, um ihren Skalp an ihre Zeltpfähle zu binden. Im Fluss zu ertrinken war vermutlich besser als das, was sie an Land erwartete.

Als der Regen aufhörte und die Morgensonne über die Bäume stieg, war Clarissa am Ende ihrer Kräfte. Sie lag quer über der Planke, betäubt von der Kälte und zu erschöpft, um sich an dem rauen Holz festzuhalten. Ihr rotgoldenes Haar wirkte wie ein Netz in dem schlammigen Wasser, und es verfingen sich Zweige, Blätter und ertrunkene Insekten darin.

Nur halb bei Bewusstsein, wähnte sie sich daheim in Baltimore und glaubte, den betörenden Duft von Brötchen, Schinken und Porridge wahrzunehmen. Sie malte sich aus, wie sie sich im warmen Federbett noch einmal auf die Seite drehte, um sich ein paar weitere Minuten Schlaf zu stehlen; wie sie dann aufstand, sich das Haar bürstete, schnell in ihre Kleider schlüpfte und zum Frühstück hinunterging. An diesem Morgen erfüllte sie selbst der Anblick von Junius’ säuerlicher Miene mit Zärtlichkeit. Sie lächelte ihm zu …

Ein plötzlicher Stoß erschütterte ihren Körper und riss Clarissa aus ihren Träumen. Ihre Holzplanke war auf eine Sandbank gestoßen, die in einer geschützten Biegung vom Ufer in den Fluss ragte. Die Strömung wusch bereits den Sand von der Planke hinunter. Im nächsten Augenblick würde diese sich wieder von der Sandbank lösen und sie mit sich fortspülen. Sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Clarissa nahm all ihre Kraft zusammen und zwang ihren geschundenen und abgestorbenen Körper von der Planke herunter auf die Sandbank. Einen Augenblick blieb sie keuchend liegen. Der Sand gab unter ihrem Gewicht nach, als sie sich zum Ufer vorarbeitete, und es bildeten sich kleine Wassertümpel an den Stellen, wo ihre Hände und Knie sich aufstützten. Eine winzige Schlange glitt über ihren Handrücken und verschwand im Wasser. Clarissa war zu erschöpft, um zurückzuzucken.

Erst als der Boden unter ihr sich fest anfühlte, ließ sie sich mit dem Gesicht nach unten ins Gras sinken. Sie spürte den Boden kalt an ihrem schmerzenden Körper. Eisiges Wasser tropfte von den Bäumen. Eine Elster schimpfte so erbost von einem Zweig, dass Clarissa das Klappern ihrer Zähne kaum hören konnte.

Lange Zeit blieb sie so liegen, unfähig, sich zu rühren. Ganz allmählich stieg die Sonne höher. Licht drang durch die Zweige der Birken und Kastanien und wärmte sie in ihren nassen Kleidern. Aus einem Holunderdickicht stieg das Lied einer Drossel trillernd in die Morgenluft.

Clarissa hob den Kopf und öffnete mühsam die Augen. Dichte Schwaden stiegen von dem durchnässten Boden auf. Auch ihre Kleider begannen allmählich in der Sonne zu trocknen. Der Sturm hatte sich ausgetobt, und ein neuer Tag begann.

Das geschäftige Murmeln des Ohio drang an ihre Ohren, als sie sich aufsetzte und mit der Hand in ihr Haar griff. Als sie feststellte, dass es hoffnungslos verfilzt war, warf sie die rotblonde Mähne zurück und schlang die Arme um die Knie. Gedankenverloren schaute sie hinaus auf den Fluss, der sie fast das Leben gekostet hätte. Sie erinnerte sich an den Sturm und die zwei Männer, die die Dunkelheit verschluckt hatte. Traurig dachte sie an Tom Ainsworth, dessen Gesicht sie nie wieder sehen würde.

Clarissa ließ den Kopf sinken, und tiefe Verzweiflung überkam sie. Wie konnte eine einzige unbedachte Handlung zwei Menschenleben zerstören?

Schließlich richtete sie sich wieder auf und drückte die Handflächen auf ihre brennenden Augen, um den Tränenstrom zu stoppen. Dies war nicht der rechte Augenblick, um sich der Mutlosigkeit hinzugeben. Sie hatte nicht die Absicht, in dieser Wildnis zu sterben. Schließlich hatte sie zwei gesunde Beine und war durchaus fähig, nach Fort Pitt zurückzugehen. Wenn sie nur den Weg kennen würde …

Ihr Blick fiel auf den Fluss.

Was war sie doch für eine Gans, hier herumzusitzen und in Selbstmitleid zu baden. Sie war noch längst nicht verloren. Das Flachboot war flussabwärts gefahren. Also brauchte sie dem Ufer nur flussaufwärts zu folgen.

Clarissa biss die Zähne zusammen und rappelte sich auf. Jede Bewegung tat weh. Ihre Glieder waren steif, ihre nackten Füße wund und geschwollen. Ohne die Schmerzen zu beachten, zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Die vor Schmutz starrenden Röcke klebten ihr an den Beinen. Der nasse Unterrock schleifte über den Boden und behinderte sie bei jeder Bewegung. Sie hatte kaum ein paar Meter zurückgelegt, als sie ausglitt und zu Boden stürzte. Der Aufprall presste die Luft aus ihren Lungen. Keuchend lag sie im Morast und kämpfte mit den Tränen.

Ich gebe nicht auf, schwor Clarissa sich. Und wenn sie auf allen vieren nach Fort Pitt kriechen müsste, sie würde es tun. Sie würde überleben, um wieder lachen, tanzen und flirten zu können. Sie würde lieben, heiraten und ein Haus voller fröhlicher Kinder haben. Sie würde alt und weise werden, um eines Tages ihre Enkel auf den Knien zu wiegen und ihnen die Geschichte ihres großen Abenteuers in der Wildnis zu erzählen.

Unter Aufbietung ihrer letzten Kraftreserven riss sie sich zusammen. Mit der rechten Hand tastete sie sich vor, um ihren Körper abzustützen – und erstarrte mitten in der Bewegung, als ihre Finger einen Umriss im Schlamm spürten.

Sie schaute genauer hin und erkannte die Spur auf dem dunklen Boden. Die Kehle wurde ihr eng, als sie begriff, was es war – der lange, breite Abdruck eines ledernen Mokassins.

2. KAPITEL

Im Schutz eines Birkenhains beobachtete Wolf Heart die schlanke weiße junge Frau, die gerade mühsam auf die Füße kam. Die Panik in ihrem Gesicht konnte nur eines bedeuten: Sie hatte seine Fußspur entdeckt und wusste, dass jemand in der Nähe war.

Er hielt den Atem an, als er sah, wie sie zögerte und wie ein gehetztes Tier erst in die eine und dann in die andere Richtung blickte. Ihr Haar wirkte in der Morgensonne wie eine flammende Wolke. Ihr Kleid – von so feinem Tuch, dass es nicht selbstgesponnen sein konnte – klebte schmutzbedeckt an ihrem gertenschlanken Körper. Sie wirkte so zerbrechlich wie ein Schmetterling.

Wolf Heart hatte mitbekommen, dass sie, an ihre Planke geklammert, an Land gespült worden war. Er war mit dem Schatten der Bäume verschmolzen, als sie zitternd und erschöpft am Ufer zusammengebrochen war. Ein Wirbelsturm der Gefühle hatte in ihm getobt. Diese zarte junge Fremde gehörte zu einer Welt, die er vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte. Einer Welt, die er zu verachten gelernt hatte. Sie und ihresgleichen gehörten nicht hierher.

Die Frau fuhr herum und hinkte hastig auf das Flussufer zu. Wolf Hearts blaue Augen verengten sich einen Moment lang zu Schlitzen. Als sie hinter einer Baumgruppe verschwand, trat er aus seinem Versteck und folgte ihr lautlos.

Schatten tanzten über seinen langgliedrigen, muskulösen Körper, während er durch das Gestrüpp glitt. Weidenkätzchen wiegten sich im Wind, doch das Buschwerk war nicht allzu dicht. Ihr rotes Haar erinnerte ihn an ein Signalfeuer und machte es leicht, ihr zu folgen. Wolf Heart verlangsamte seinen Schritt, um sie nicht einzuholen. Er wollte ihr nicht gegenübertreten, zumindest nicht, bis er sich entschlossen hatte, was er mit ihr tun wollte.

Derweil er nachdachte, berührten seine Finger den kleinen Medizinbeutel aus Rehleder, den er an einem Riemen um den Hals trug. Er enthielt Dinge seiner eigenen Wahl – Erinnerungsstücke, die für ihn von Bedeutung waren. Den Medizinbeutel hatte Black Wings, seine Shawnee-Mutter, für ihn gemacht. Sie hatte das Leder zugeschnitten und zusammengenäht, den Fransensaum angebracht und den Beutel mit Federn verziert, damit er besonders schön wurde. Erst kürzlich hatte Wolf Heart einen Zahn des ersten von ihm erlegten Bären hineingelegt, zusammen mit einer hellblauen Vogelfeder. Sein kostbarster Schatz jedoch war sein persönliches pa-waw-ka, eine durchsichtige Muschelschale, die er bei seinem Mannbarkeitsritual aus den eisigen Fluten des Flusses geborgen hatte.

Der Medizinbeutel war das Zeichen seiner Zugehörigkeit, der Beweis für sich selbst und andere, dass er sich von Seth Johnson ein für alle Mal losgesagt hatte und bis ins Mark ein echter Shawnee geworden war. Er hatte sich allen Prüfungen und Ritualen unterzogen, Bär, Elch und Puma erlegt, tapfer gegen die marodierenden Irokesen gekämpft und einen ehrenvollen Platz unter den Kriegern des Stammes der kispoko erworben. Als Black Wings an Schwindsucht gestorben war, hatte er den Todesgesang für sie angestimmt. Während der ganzen Zeit hatte er niemals infrage gestellt, wer oder was er war … bis zu diesem Augenblick.

Das kupferne Aufblitzen ihres Haares verriet ihm, dass das Mädchen noch immer in fliegender Eile am Ufer des Ohio-se-pe entlanglief. Es strebte flussaufwärts, vermutlich zum Fort oder zu einer dieser schmuddeligen kleinen Siedlungen, mit denen die Weißen sich immer weiter in das Shawnee-Gebiet hineindrängten.

Seit dem Tod seines Vaters war Wolf Heart vielen weißen Männern begegnet. Da waren die Franzosen, die ihre Gewehre und Decken gegen Felle eintauschten. Und dann gab es noch die englischen Rotröcke, die man immer häufiger antraf, seitdem sie das Fort am Zusammenfluss von Monongahela und Allegheny erobert hatten. Weiße Männer, ja. Aber das Bild weißer Frauen – einschließlich seiner leiblichen Mutter, die gestorben war, als er sechs war – lebte nur schemenhaft in seiner Erinnerung. Nie hätte er sich vorstellen können, dass ein rothaariges elfengleiches Geschöpf wie dieses Mädchen existierte.

Jeder andere Shawnee hätte sie inzwischen längst gefangen genommen. Das war ein bedrückender Gedanke. Sein Stamm hatte sich in diesem verrückten Krieg gegen die Engländer auf die Seite der Franzosen geschlagen, und dadurch wurde jeder englische Gefangene zu einer Kriegstrophäe. Wieso hatte er sie also nicht zu seiner Geisel gemacht? War es ihre bezaubernde Schönheit, die ihn davon abhielt? War es die Gewissheit, dass dieses Mädchen eine Gefangenschaft niemals überleben würde? Oder lag es etwa an seiner weißen Abstammung … scheinbar längst vergessenen Blutsbanden, die er trotz allem nicht verleugnen konnte? Was immer es auch sein mochte, seine Unentschlossenheit beunruhigte Wolf Heart zutiefst.

Weit voraus sah er sie stolpern und in ein Schlammloch fallen. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie sie sich wieder hochkämpfte und in seine Richtung zurückspähte. Ihr Gesicht schien bleich in der Morgensonne. Einen Moment fürchtete er, sie hätte ihn gesehen, doch dann drehte sie sich um und setzte ihre Flucht fort. Schmutz spritzte auf, als sie sich einen Weg durch die Büsche und Bäume am Ufer bahnte.

Das Mädchen hatte Mut, das musste man ihm lassen. Halb erfroren, zerschunden, erschöpft und vermutlich am Verhungern, ließ sie sich trotzdem nicht hängen. Schneid und Courage, verbunden mit einer gesunden Portion Angst, trieben sie Schritt für Schritt weiter.

Doch Wolf Heart wusste, dass sie trotz all ihrer Beherztheit den Weg zurück in ihre Welt nicht schaffen würde. Er war lang und viel zu gefährlich.

Aus einem Impuls heraus bückte er sich, um ihre Fußspur zu untersuchen. Mit der Fingerspitze zeichnete er die Konturen des schmalen Abdrucks nach.

Wo ihr Fuß aufgetreten war, hatte sich der feuchte braune Boden blutig verfärbt.

Clarissa quälte sich weiter am Ufer entlang. Ihre Rippen schmerzten unter den einengenden Stäben ihres Korsetts, und ihr Herz hämmerte dumpf.

Sie hatte eine frische Fußspur gesehen, aber wie viele andere waren noch da? Wie viele Augenpaare beobachteten sie, während sie wie ein gehetztes Wild auf der Flucht war?

Ein Windstoß blies ihr das lange Haar in die Augen. Sie strich es zurück und spürte, wie sich die verfilzten Strähnen an einem tief hängenden Ast verfingen. Jeden Augenblick konnte ein Pfeil ihren Rücken durchbohren, oder schlimmer noch, sich rotbraune Hände ihres Körpers bemächtigen und sie mit sich fortschleifen. An das schreckliche Ende, das sie dann erwartete, durfte sie gar nicht denken.

Sie würde sich nicht kampflos ergeben. Das schwor sie sich, während sie durch eine seichte Pfütze stapfte. Was immer auch geschah, sie würde nicht zulassen, dass sie lebend gefangen wurde.

Als sie die Uferböschung wieder erklomm, durchzuckte ihren linken Fuß ein heftiger Schmerz. Sie erinnerte sich schwach, vorhin auf irgendetwas Scharfes getreten zu sein, doch sie hatte nicht gewagt, stehen zu bleiben und die Wunde zu untersuchen. Jetzt wurde die Verletzung schlimmer. Auch ihre rechte Fußsohle war inzwischen so wund, dass jeder Schritt ihr Höllenqualen verursachte. Irgendwann würde sie anhalten und ihre Füße umwickeln müssen, vielleicht mit Streifen aus ihrem Unterrock. Wenn sie nur wüsste, wo …

Ihre Gedanken fanden ein abruptes Ende, als sie wenige Meter vor sich einen Mann erkannte, der mit dem Gesicht nach unten im hohen Gras lag. Erschrocken schrie Clarissa auf.

Ihr Magen hob sich, als sie Maynard erkannte.

Ihr erster Impuls war, fortzulaufen. Doch als er sich nicht rührte, schluckte sie ihre Angst hinunter. Er ist tot, dachte sie. Er kann mir nichts mehr anhaben.

An seiner Schläfe klaffte eine blutverkrustete Wunde, eine weitere Verletzung konnte Clarissa nicht entdecken. Wahrscheinlich hatte er sich den Kopf angeschlagen, als das Flachboot kenterte, war dann im bewusstlosen Zustand ertrunken und schließlich hier ans Ufer gespült worden.

Clarissa kämpfte Wellen der Übelkeit nieder, während sie sich über die leblose Gestalt beugte. Maynard hatte ein Jagdmesser gehabt. Wenn es noch in seinem Gürtel steckte und sie es ihm abnehmen konnte, würde sie nicht länger eine hilflose Beute sein. Sie hätte eine Waffe, um sich zu verteidigen.

Maynards nasse, schmutzige Lederhose roch abscheulich. Der Gestank stieg Clarissa in die Nase, als sie seinen Arm ergriff und den Mann mühsam auf den Rücken drehte. Ja, das Messer war noch da. Sie brauchte nur danach zu greifen, und …

Sie erstarrte, als Maynard den Kopf zur Seite drehte und unterdrückt aufstöhnte.

Panik stieg in ihr auf, und sie wollte schon weglaufen, aber sie brauchte das Messer. Sie musste es jetzt herausziehen, bevor er richtig zu sich kam.

Sie streckte die Hand nach dem mit Leder umwickelten Messergriff aus. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt sie ihn fest umklammert. Im nächsten Augenblick schloss sich Maynards sehnige Hand um ihr Gelenk und drückte so fest zu, dass sie aufschrie und das Messer losließ.

„Na, da soll mich doch gleich …“ Er grinste, und seine kleinen Augen glitzerten tückisch. „Was hat der Himmel mir denn da beschert?“ Er setzte sich auf und packte blitzschnell das Messer, das sie hatte fallen lassen. Mit einem einzigen schmerzhaften Ruck riss er Clarissa an sich und hielt ihr das Messer an die Kehle.

„Wir haben noch etwas zu erledigen, wir zwei“, raunte er ihr ins Ohr. „Und wir werden es hier und jetzt tun.“ Er ließ ihr Handgelenk los und betastete ihre Brust. „Sei hübsch lieb zu mir, dann geschieht dir nichts. Teufel auch, vielleicht gefällt es dir sogar.“

Clarissa versuchte, klaren Kopf zu bewahren. „Wir müssen hier weg“, flüsterte sie und spürte die rasiermesserscharfe Klinge an ihrem Hals. „Indianer … ich habe Mokassinspuren gesehen.“

„Netter Versuch, Mädchen.“ Maynard packte sie noch fester. „Aber ich kenne diese Gegend. Hier gibt’s keine Rothäute. Und was die Spuren betrifft, viele weiße Männer tragen Mokassins. Hör jetzt auf rumzuzappeln, du kleine Hexe, und leg dich auf den Rücken.“

Die breite Messerklinge blitzte in der Sonne auf, als Maynard Clarissa herumstieß und ins nasse Gras warf. Steif und zitternd lag sie da und betete um einen einzigen Augenblick der Unaufmerksamkeit, in dem sie Maynard überrumpeln könnte. Der Mann war durchaus fähig, sie zu töten oder sie so zu entstellen, dass der Tod eine Erlösung wäre. Wenn sie den richtigen Moment verpasste, war sie verloren.

Sein Atem kam in schweren Stößen, während er fluchend mit der freien Hand an seiner Hose herumfingerte. Anscheinend bekam Maynard seinen Gürtel mit nur einer Hand nicht auf. Clarissa spannte sich an, während er immer ungeduldiger wurde. Schließlich stieß er einen wilden Fluch aus und warf das Messer ins Gras.

Wie der Blitz warf sie sich zur Seite und griff nach dem Messer. Trotzdem war sie nicht schnell genug, und er packte erneut ihr Handgelenk.

„Verdammte kleine Hexe!“ knurrte er und drehte ihr den Arm so heftig herum, dass sie gepeinigt aufschrie. „Ich werd dir schon zeigen, wo’s langgeht.“ Drohend hob er das Messer. „Du wirst gleich sehen, wer hier das Sagen hat, und wenn es das Letzte ist, was ich …“

Maynard verhielt mitten im Satz. Clarissa sah ihn erstarren, als hätte eine unsichtbare Kraft ihn von hinten zwischen die Schulterblätter getroffen. Dann erblickte sie die Pfeilspitze, die durch sein Lederhemd gedrungen war, genau in Herzhöhe.

Ihre Angst explodierte in zügelloser Panik, als sein lebloser Körper über ihr zusammenbrach. Sie kämpfte wie wild, um sich von der grässlichen Last zu befreien.

Sekunden verstrichen, jede wie eine kleine Ewigkeit, bis sie begriff, dass ihr Martyrium noch nicht vorüber war, dass es in Wirklichkeit erst begann.

Das Messer! Maynard hatte es in der Hand gehabt. Sie musste es finden, bevor es zu spät war. Verzweifelt tasteten ihre Finger auf dem Boden herum. Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung, als sie die Klinge berührte. Vor Anstrengung keuchend, streckte sie sich, so weit sie konnte, um den Griff zu erreichen. Ihre Fingerspitzen berührten ihn, hatten ihn beinahe erfasst.

Sie war so beschäftigt, dass sie die ohnehin fast lautlosen Schritte gar nicht hörte. Im nächsten Augenblick wurde der Leichnam von ihr fortgezogen.

Die Morgensonne blendete Clarissa. Ins grelle Licht blinzelnd, lag sie ausgestreckt am Boden, die schmutzigen Röcke bis zu den Schenkeln hochgeschoben. Sie wurde gewahr, dass Maynards Körper neben ihr am Boden lag, aber das erschien ihr nun gänzlich unwichtig. Ihre volle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Mann, der sich drohend vor ihr aufbaute, und von dessen Gesicht sie nur die Umrisse erkannte.

Sie senkte den Blick und sah lange, lederbekleidete Beine. Zögernd sah sie wieder aufwärts über den Lendenschurz bis zu dem mit Federn geschmückten Tomahawk, der an seiner Hüfte hing, und dem kunstvoll gefertigten Bogen in seiner linken Hand.

Ruckartig warf sie sich herum und griff erneut nach Maynards Messer, und diesmal bekam sie es zu fassen. Sie zog die Knie an und richtete sich in eine hockende Stellung auf, die Waffe angriffslustig erhoben.

Der Fremde hatte sich nicht bewegt, doch aus dieser Position konnte sie ihn klarer erkennen. Seine kräftige Brust und seine Arme waren nackt, abgesehen von dem Lederriemen seines Köchers und einem kleinen bestickten Beutel, der ihm an einer Schnur um den Hals hing. Sein langes, welliges Haar, in dessen Skalplocke zwei Adlerfedern steckten, war rabenschwarz und schimmerte im hellen Sonnenlicht. Flache Silberscheiben glitzerten an seinen Ohrläppchen, und seine Augen, von dichten Brauen überschattet, waren …

Clarissa fuhr zurück, als er einen Schritt auf sie zu machte.

Ihre Sehnen spannten sich, und sie umklammerte das Messer. Sie hatte geschworen, lieber im Kampf zu sterben, als sich lebend gefangen nehmen zu lassen. Jetzt war es so weit. „Komm ja nicht näher“, fauchte sie.

Vorsichtig machte er noch einen Schritt und dann noch einen zweiten. „Hab keine Angst“, sagte er sanft. „Ich tue dir nichts.“

Sie war nicht in der Verfassung, seine Worte zu hören, geschweige denn sie zu verstehen. Ihr Puls raste, und sie fühlte sich wie ein Tier in der Falle. Sie sprang auf und warf sich auf ihren neuen Feind. Die Messerklinge blitzte in der Sonne auf, als sie blindlings auf den Fremden einstach.

Er stieß einen knurrenden Laut aus, als die scharfe Klinge seine Haut ritzte. Seine kräftige Hand umschloss ihr Gelenk und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte gegen ihn, und er hielt sie fest. Clarissa hatte das Messer fallen lassen, doch sie kämpfte weiter wie eine Wildkatze. Mit den Fingern krallte sie sich in seine Brust, und mit den Füßen stieß sie nach seinen Beinen.

Als ihr erhobenes Knie ihn streifte, war er von dem Angriff so überrascht, dass er rückwärts stolperte und dabei mit einem Fuß in einen Dachsbau trat. Er fiel und riss sie mit sich zu Boden. Kämpfend und keuchend rollten sie durchs Gras, wobei er sie zu bändigen versuchte.

Bei dem Gerangel hatte sich sein Lendenschurz verschoben, und Clarissa spürte, wie seine Männlichkeit ihren Schenkel streifte. Die Berührung löste ein Prickeln bei ihr aus, ein beunruhigendes, unbekanntes Gefühl, das indes schon im nächsten Moment von panischer Angst erstickt wurde. Dieser Mann, dieser Indianer wollte sie schänden, so wie Maynard ihr Gewalt hatte antun wollen. Dann würde er mit seinem tödlichen Tomahawk ihren Skalp nehmen und ihren Körper den Krähen und Bussarden überlassen.

Es war ihm gelungen, ihre Handgelenke auf den Boden zu pressen. In besinnungsloser Angst drehte sie den Kopf zur Seite und grub die Zähne in das feste bronzefarbene Fleisch seines Unterarms.

„Lass das!“ stieß er mit zorniger Stimme hervor und zuckte zurück. „Hör endlich auf.“

Clarissa erstarrte, als die Erkenntnis in ihr aufdämmerte: Dieser halb nackte Wilde bediente sich ihrer eigenen Sprache!

„Was …?“ Sie versuchte, eine Frage zu formulieren, doch es war zwecklos. Sie brachte die Worte einfach nicht heraus, während sie fassungslos in kalte, zornige Augen starrte.

Die schwarzbewimperten Augen waren von einem intensiven Kobaltblau.

Wolf Heart spürte, wie der Körper des Mädchens unter ihm erschlaffte. Da er noch immer dessen Handgelenke umfasst hielt, fühlte er den rasenden Pulsschlag unter seinen Fingern. Es hatte schreckliche Angst, aber wenigstens kämpfte es nicht mehr gegen ihn an.

„Ich will dir nicht wehtun.“ Mühsam suchte er nach den Worten einer Sprache, die er in den vergangenen vierzehn Jahren kaum benutzt hatte. „Aber wenn du mich noch einmal beißt, wirst du es bedauern.“

Mit großen moosgrünen Augen schaute sie zu ihm auf. „Du bist ja ein weißer Mann“, flüsterte sie ungläubig.

„Nein“, widersprach Wolf Heart mit kalter Stimme. „Ich bin ein Shawnee.“

Sie blinzelte überrascht. „Aber deine Sprache, deine Augen …“

„Ich war einmal ein weißer Junge, aber das ist lange her. Ein weißer Mann bin ich nie gewesen.“ Wolf Heart richtete sich ein wenig auf, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er in höchst unziemlicher Weise über ihr kniete. „Wenn ich dir erlaube, dich aufzusetzen, versprichst du dann, nicht wegzulaufen?“

Sie zögerte und gab ihm Gelegenheit, ihr schmales, herzförmiges Gesicht näher zu betrachten. In der Welt des weißen Mannes war sie bestimmt eine Schönheit. Doch er war an die dunklen, markanten Züge der Shawnee-Frauen gewöhnt, und dieses blasse Geschöpf wirkte hier in der Wildnis so fehl am Platze wie Schneeflocken im Sommer. Ihre Haut war übersät mit roten Schrammen und Kratzern, das Haar mit Flusstang verfilzt und das Gesicht mit Schlamm verschmiert.

„Wie erbarmungswürdig du aussiehst.“ Die Worte kamen wie aus einer fernen Erinnerung zu ihm. Vielleicht hatte seine weiße Mutter vor vielen Jahren etwas Ähnliches zu ihm gesagt.

In ihren grünen Augen blitzte es kampflustig auf. „Was glaubst du, wie du aussehen würdest, wenn du entführt, mit einem Boot gekentert und beinahe ertrunken wärst?“ schnappte sie. „Kann ich jetzt aufstehen?“

„Ich warte noch immer auf deine Antwort“, gab er barsch zurück. „Versprichst du, ruhig zu bleiben?“

„Das hängt davon ab.“

„Das hängt davon ab?“ Kannte er diese Redewendung? Es dauerte eine Weile, bis er sich erinnerte.

„Meine Antwort hängt davon ab, was du mit mir vorhast“, erklärte sie, als spräche sie mit einem zurückgebliebenen Kind. Da er nicht gleich antwortete, stahl sich die Angst wieder in ihre Augen. „Ich wünsche mir nichts anderes, als nach Fort Pitt zurückzukehren“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Lass mich einfach gehen. Ist das denn so viel verlangt?“

Wolf Hearts Gesicht verfinsterte sich. Das Dilemma, mit dem er sich schon den ganzen Morgen herumgeschlagen hatte, schien ausweglos. „Fort Pitt liegt viele Tagesmärsche von hier entfernt. Der Wald ist voller Gefahren, und du bist nicht stark genug …“

„Ich bin stärker, als ich aussehe“, fiel sie ihm ins Wort. „Immerhin habe ich dich fast überrumpelt.“

„Bei einem Puma oder Bären würde dir das nicht gelingen … oder einem Mann wie diesem.“ Er wies mit dem Kinn auf den leblosen Körper, der nur ein paar Schritte entfernt im Gras lag. „Aber wahrscheinlicher ist, dass du verhungerst, ertrinkst oder von einer Mokassinschlange gebissen wirst.“

„Du könntest mich ja zurückbringen.“ Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, und sah ihn so hoffnungsvoll an, dass es ihm ins Herz schnitt. „Colonel Hancock, mein Onkel, würde dir eine hübsche Belohnung zahlen.“

„Was soll ich mit Geld? Ich bin ein Shawnee!“ stieß Wolf Heart heftig hervor und schien damit sein Problem gelöst zu haben. Das Gesetz der Shawnee verlangte, dass alle Gefangenen vor den Ältestenrat gebracht wurden. Dieses Gesetz zu missachten und das Mädchen freizulassen würde bedeuten, dass er seine Pflicht als Shawnee-Krieger verletzte.

Er zwang sich, sein Herz zu verhärten, und setzte eine strenge Miene auf. „Du bist meine Gefangene“, sagte er schroff. „Ich muss dich zu meinem Volk bringen.“

„Mach dich nicht lächerlich! Dein Volk ist auch mein Volk … nämlich weiß.“