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"Ich will den Jungen." Bei Jordans harten Worten überläuft Angie ein Schauer. Drei Jahre hat sie ihren kleinen Sohn Lucas vor der Familie ihres tödlich verunglückten Verlobten Justin versteckt. Doch jetzt verlangt Jordan, dass sie und Lucas auf seine Ranch ziehen! In seinen Blicken liest Angie Wut, dass sie ihn so lange um den Sohn seines Zwillingsbruders betrogen hat. Aber da schimmert noch etwas anders: Bewunderung, Hoffnung - Leidenschaft? So wie damals in der Nacht, als Jordan sie hinter Justins Rücken verboten heiß und sinnlich geküsst hat?
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Seitenzahl: 214
Elizabeth Lane
Vergiss ihn und küss mich
IMPRESSUM
BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2012 by Elizabeth Lane Originaltitel: „In His Brother’s Place“ erschienen bei: Harlequin Books, Toronto in der Reihe: DESIRE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARABand 1845 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Charlotte Gatow
Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733720797
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Santa Fe, New Mexico
„Sind Sie sich sicher, was den Jungen angeht – und seine Mutter?“ Jordan umklammerte das Telefon fester.
„Sie sind derjenige, der sich sicher sein muss, Mr Cooper.“ Die Stimme des Privatdetektivs klang so mechanisch, als käme sie von einem Computerchip. „Die Unterlagen sind per Kurier zu Ihrer Ranch unterwegs. Geburtsurkunde, Krankenhausunterlagen, die Adresse der Mutter und einige Fotos. Wenn Sie das alles gesehen haben, können Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Wenn Sie meine Hilfe noch brauchen …“
„Nein. Das reicht mir. Ich überweise Ihr Honorar, sobald ich die Dokumente geprüft habe.“
Jordan beendete das Gespräch. Die Unterlagen würden in einer Stunde aus Albuquerque eintreffen. Wenn seine Vermutung richtig war, würden sie genug Dynamit enthalten, um seine geordnete Welt in Stücke zu schlagen.
Jordan trat von seinem Schreibtisch zurück und schaute aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf das Land, das sich bis zum Horizont erstreckte. Weit entfernt schimmerten die Gipfel des Sangre-de-Cristo-Gebirges im Novemberlicht. Das alles gehörte den Coopers seit mehr als hundert Jahren. Nach dem Tod seiner Mutter würde es an ihn übergehen. Er war der alleinige Erbe der Familie – jedenfalls hatte er das gedacht. Doch wenn der Bericht bestätigte, was er vermutete …
Jordan drehte sich vom Fenster weg. Es war noch nicht zu spät, die Sache abzublasen. Er konnte den Umschlag mit den verdammten Unterlagen vernichten, ohne ihn zu öffnen. Aber er würde nur das Papier zerstören. Nichts konnte die Erinnerung an Angelina Montoya löschen oder das ändern, was sie seiner Familie angetan hatte.
Jordan schaute auf die gegenüberliegende Wand. Sie war bis auf einige Familienfotos leer. Das größte davon zeigte zwei junge Männer, die lachend einige frisch gefangene Regenbogenforellen hochhielten. Sie sahen fast identisch aus. Jeder Fremde hätte Schwierigkeiten damit, Jordan und seinen Zwillingsbruder Justin auseinanderzuhalten.
Als das Foto aufgenommen worden war, hatten sich die beiden noch sehr nahegestanden. Drei Jahre später hatte sich Justin in die dunkeläugige Angie Montoya verliebt, die damals in einem mexikanischen Restaurant gearbeitet hatte. Sein Vorhaben, sie zu heiraten, hatte die Familie zerstört.
Jordan und seine Eltern waren überzeugt gewesen, dass Angie Montoya nur hinter dem Geld der Coopers her war, und hatten alles getan, um das Paar zu trennen. Das darauffolgende Zerwürfnis zwischen den Brüdern zu kitten war nicht mehr möglich gewesen. Beim Rückflug von einem Skiausflug war Justin mit seinem Flugzeug in einen Sturm geraten und gegen einen Berg geprallt.
Die Trauer darüber hatte Jordans Vater ins Grab gebracht und aus seiner Mutter eine verbitterte alte Frau gemacht. Angie Montoya aber war einfach verschwunden, bis Jordan in der vergangenen Woche – vier Jahre nach dem Unfall – über ihren Namen gestolpert war. Daraufhin hatte er nachgeforscht und war auf ein Foto von ihr gestoßen, das ihn sofort dazu gebracht hatte, den besten Privatdetektiv des Bundesstaates zu engagieren. Er wollte Antworten – und nun würde er sie bekommen. Der Bericht würde sicherlich bestätigen, was Jordan vermutete.
Angelina Montoya hatte nicht nur Justin seiner Familie entfremdet, sie hatte auch Justins Sohn gestohlen.
Albuquerque
„Du hast lange an dem Bild gearbeitet, Lucas.“ Angie drehte ihren Stuhl vom Computer im Schlafzimmer weg, um sich auf ihren Sohn zu konzentrieren. „Magst du mir davon erzählen?“
Lucas hielt die Zeichnung hoch. Sie zeigte drei schiefe Figuren, die mit Wachskreide auf ein Stück Kopierpapier gezeichnet waren. „Es ist unsere Familie. Der Kleine bin ich. Das mit dem langen schwarzen Haar bist du.“
„Und wer ist das da oben?“ Angie kannte die Antwort und spürte, dass sich ihre Kehle zusammenzog.
„Das ist Dad. Er ist im Himmel und passt auf uns auf, wie du gesagt hast.“
„Das stimmt. Willst du das Bild an den Kühlschrank kleben, damit wir uns immer daran erinnern können?“
„Okay.“ Der Junge nahm sein Meisterwerk und flitzte durch den Flur in die kleine Küche. Angie schluckte die Gefühle herunter, die sie zu übermannen drohten. Es war nicht leicht, sich jeden Tag an Justin zu erinnern. Aber sie wollte nicht, dass Lucas sich vaterlos fühlte. Deshalb hatte sie ein Foto von Justin über das Kopfende von Lucas’ Bett gehängt. Im Regal stand ein Album voller Schnappschüsse. Lucas’ kleine Finger hatten die Seiten des Albums regelrecht abgenutzt.
Die meisten Aufnahmen zeigten Justin und Angie zusammen oder nur Justin. Es gab keine Bilder von Justins Familie. So, wie sie von seinen Verwandten behandelt worden waren, wollte Angie nichts mehr mit ihnen zu tun haben – vor allem nicht mit Jordan.
Jordan hatte ihr an ihrem Geburtstag die Nachricht von Justins Tod überbracht. Er hatte nicht viel geredet, doch sein Verhalten ihr gegenüber hatte Bände gesprochen. Ein paar Wochen vorher hatte ihr seine Familie fünfzigtausend Dollar angeboten, wenn sie Justin verließ. Hätte sie das Geld genommen, würde Justin noch leben.
Angie würde den Ausdruck in Jordans Augen nie vergessen. Wie konnten Brüder, die sich so ähnlich sahen, nur so verschieden sein? Justin war herzlich und liebevoll gewesen, hatte gerne gelacht und rasch vergeben. Wenn sie an Jordan dachte, dann tauchten Begriffe wie „kalt“, „voreingenommen“ und „geldgierig“ in ihrem Kopf auf.
Und „manipulativ“. Sie hatte diese Eigenschaft nur zu gut kennengelernt.
Das Geräusch der Türklingel unterbrach ihre Gedanken. „Ich geh hin!“, rief Lucas.
„Das lässt du schön bleiben, verehrter Herr. Das weißt du.“ Sie ging durchs Wohnzimmer und umarmte ihn. Die Wohnung war bezahlbar, lag dafür aber in keiner guten Gegend. Wann immer es an der Tür klingelte, schickte Angie ihren Sohn in sein Zimmer. Sie wollte zuerst sichergehen, dass nichts Gefährliches passieren konnte. Wenn ihr kleines Webdesign-Unternehmen weiter wuchs, konnte sie sich im kommenden Jahr vielleicht ein Häuschen mit einem Garten leisten. Bis dahin …
Es läutete noch einmal. Angie setzte Lucas auf den Teppich in seinem Zimmer, schloss die Tür und eilte in den Flur. Sie bekam nur selten Besuch und rechnete auch gerade mit niemandem. Jedes unerwartete Klopfen machte sie nervös.
Jordan spürte die Anspannung, als die Schritte näher kamen. Angie wiederzusehen würde nicht einfach sein. Vielleicht hätte er jemand anderen schicken sollen – jemanden, der mit der Situation umgehen konnte, ohne die Frau misstrauisch zu machen. Aber das ging nicht. Was immer ihn hinter dieser Tür erwartete: Er war dazu verpflichtet, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er musste für seine Familie und seinen Bruder das Richtige tun … sogar für Angie, falls die Zeit sie milder und klüger gemacht hatte.
Der Riegel wurde zurückgeschoben. Das Türschloss klickte. Jordan hielt die Luft an, als sich die Tür einen Spalt öffnete.
Augen von der Farbe schwarzen Kaffees starrten ihn an. Augen, die von dichten Wimpern überschattet wurden. Jordan hatte fast vergessen, wie unglaublich diese Augen waren. Er beobachtete, wie sie erst größer und dann zusammengekniffen wurden.
„Was willst du hier, Jordan?“ Da war sie wieder, diese rauchige Stimme, die er nie vergessen hatte. Sie klang angespannt.
„Fürs Erste würde ich gern hereinkommen.“
„Warum?“ Sie machte keine Anstalten, die Sicherheitskette abzunehmen.
Es sah ganz so aus, als habe sich ihre sture Haltung nicht geändert. „Damit ich nicht hier draußen stehen und mit dir durch eine verriegelte Tür sprechen muss.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir irgendetwas zu besprechen hätten.“
Jordans Geduld war zu Ende. „Du kannst dich entscheiden, Angie“, knurrte er. „Lass mich herein, damit wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten können, oder ich schreie so laut, dass man es im ganzen Haus hören kann. Wie auch immer du dich entscheidest: Ich werde nicht gehen, bevor ich nicht das gesagt habe, was ich sagen will.“ Er machte eine Pause und ermahnte sich, dass es nicht sinnvoll war, sie zu erschrecken. „Wer weiß“, fügte er hinzu. „Es könnte womöglich etwas sein, das du hören möchtest.“
Er wappnete sich für eine bissige Antwort. Stattdessen schloss sie einfach die Tür. Jordan wartete schweigend. Sekunden verstrichen. Dann hörte er das Klappern der Kette. Langsam öffnete sich die Tür.
Er zwang sich dazu, erst einmal die Wohnung zu inspizieren. Das Wohnzimmer war hell und sauber; die Wände waren frisch gestrichen; das Sofa war mit roten, blauen und gelben Kissen dekoriert. Aber das Ganze war kaum größer als einer von Jordans Pferdeställen. Das Haus selbst wirkte heruntergekommen und verfügte über keinerlei Sicherheitssystem. Jeder konnte hineingehen – wie er selbst. Und er hatte auch die Umgebung registriert: die herumhängenden Teenager, die Graffiti an den Wänden. Wenn Angie sich nichts Besseres als das hier leisten konnte, ging es ihr finanziell offensichtlich nicht gut.
Von ihrem Sohn war nichts zu sehen. Nur ein abgegriffenes Exemplar von Gute Nacht, lieber Mond! wies darauf hin, dass hier ein Kind lebte. Sie hatte es offenbar aus dem Zimmer geschickt. Vielleicht hatte es deshalb so lange gedauert, bis sie die Tür geöffnet hatte.
Als er hineinging, versperrte sie ihm das Blickfeld. Sie trug ein einfaches schwarzes T-Shirt und ausgeblichene Jeans, die ihren wohlgeformten Körper betonten, ohne provozierend eng zu sein. Ihr dunkles Haar fiel in seidigen Wellen über ihre Schultern. Ihre Füße waren nackt, ihre Fußnägel in einem zarten Pink lackiert.
Sie war immer noch verführerisch schön. Aber das war Jordan bereits aufgefallen, bevor Justin sich in sie verliebt hatte – und danach ebenfalls.
Er versuchte die Erinnerung an diesen Moment in seinem Auto beiseitezuschieben, an den Geschmack ihrer Tränen, an die Hitze ihres Mundes, an das Gefühl, sie in den Armen zu halten. Es war ein Fehler gewesen, einer, der nicht wiederholt worden war. Er hatte alle Gedanken daran, so gut er eben konnte, verdrängt. Aber eine Frau wie Angie zu vergessen war nicht leicht.
Er räusperte sich. „Willst du mir keinen Platz anbieten?“
„Auf dem Sofa ist Platz.“ Sie fühlte sich offenbar sehr unbehaglich. Er überlegte, dass sie sich wahrscheinlich am liebsten auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Zimmers gesetzt hätte. Doch eine andere Sitzmöglichkeit als die Couch gab es nicht – abgesehen vom Fußboden. Nachdem Jordan Platz genommen hatte, ließ sie sich auf der Armlehne auf der anderen Sofaseite nieder und vergrub ihre Zehen in den Kissen.
Jordan setzte sich so, dass er sie ansehen konnte. Sie traute ihm nicht, und er konnte das verstehen. Aber er musste sie dazu bringen, ihm zuzuhören. Er musste das hier um Justins willen richtig machen.
Wenn er dem Sohn seines Bruders und der Frau, die er hatte heiraten wollen, helfen konnte, musste er es tun. Vielleicht würde ihm sein Bruder im Himmel dann vergeben. Und eines Tages würde sich Jordan vielleicht auch selbst vergeben können.
Jordan hatte sich nicht verändert. Angie betrachtete seine kühlen grauen Augen, seinen kräftigen Kiefer und den widerspenstigen Haarschopf mit dem Wirbel. Wenn er lächelte, sah er Justin sehr ähnlich. Aber sie hatte Jordan selten lächeln sehen. Sie jedenfalls hatte er nie angelächelt.
Sein Anblick hatte ihren Puls zum Rasen gebracht. Jordan sah aus wie der Mann, den sie einmal geliebt hatte. Doch sein Herz war aus Granit. Wenn er sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzuspüren, dann sicher nicht aus Freundlichkeit.
„Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie.
„Im Internet. Dein Name war auf einer Webseite, die du für eine Druckerei entworfen hast. Es war Zufall, dass ich darüber gestolpert bin. Aber nachdem ich das gesehen hatte, wurde ich neugierig. Ich habe den Link angeklickt und habe das Foto gesehen, auf dem du am Computer arbeitest. Es ist mir nicht entgangen, dass du nicht allein warst.“
Angies Herz setzte einen Schlag aus, als sie seine Worte ganz erfasst hatte. Ein Nachbar hatte das Foto gemacht. Im letzten Moment war Lucas ins Bild getreten, sodass ein Stück seines Kopfes unten im Foto zu sehen war.
Sie hätte das Foto bearbeiten und Lucas daraus entfernen sollen. Eine einfache Vorsichtsmaßnahme. Warum hatte sie es nicht getan? Was hatte sie sich dabei gedacht?
Aber das Foto allein hatte Jordan sicher nicht hierhergeführt. Angie wurde ärgerlich, als ihr die Wahrheit dämmerte. „Du hast mir nachspionieren lassen, stimmt’s?“
„Wo ist der Junge, Angie? Wo ist Lucas?“
„Du hast kein Recht, danach zu fragen!“ Sie war nun auf der Hut, eine Tigerin, die bereit war, ihren Nachwuchs zu verteidigen. „Lucas ist mein Sohn. Mein Sohn.“
„Und der Sohn meines Bruders. Ich besitze eine Kopie der Geburtsurkunde. Du hast Justin als Vater angegeben. Ich nehme an, es entspricht der Wahrheit.“
In ihrem Inneren zog sich etwas zusammen. „Ich habe es für Lucas getan. Er sollte es wissen. Aber Justin …“ Sie drängte ihre Gefühle beiseite. „Er wusste nicht, dass ich schwanger war. Ich wollte es ihm an meinem Geburtstag sagen.“
„Ihr habt also nie geheiratet. Nicht einmal heimlich.“
„Nein. Du musst dir deswegen keine Sorgen machen, Jordan. Ich bin nicht auf das Familienvermögen aus, falls du das annimmst. Du kannst also gehen.“
Sie betrachtete ihn und suchte nach einem Zeichen, dass ihre Worte Eindruck auf ihn gemacht hatten. Doch sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt.
„Du hättest es uns sagen können“, meinte er. „Es hätte meinen Eltern viel bedeutet, wenn sie erfahren hätten, dass Justin einen Sohn hat.“
„Deine Eltern haben mich gehasst! Glaubst du wirklich, ich hätte mein unschuldiges Baby solch hässlichen Gefühlen ausgesetzt?“
„Ich möchte den Jungen sehen.“
Nein! Angies Herz pochte laut. Sie war nicht darauf vorbereitet und Lucas ebenso wenig.
„Ich glaube nicht …“, setzte sie an. Doch es war bereits zu spät. Sie hörte, wie Lucas die Tür öffnete, und vernahm das Geräusch kleiner Füße auf dem Boden. Offensichtlich war Lucas des Wartens überdrüssig geworden und hatte beschlossen nachzusehen, wer gekommen war.
Nahe daran, zu ihrem Sohn zu stürzen, konnte Angie jedoch wenig tun. Ängstlich beobachtete sie, wie Lucas im Flur auftauchte und den Besucher entdeckte.
Seine braunen Augen weiteten sich erstaunt. Dann begann sein Gesicht vor Freude regelrecht zu leuchten. „Dad!“, rief er und rannte durch das Zimmer auf Jordan zu. „Dad, du bist zurückgekommen!“
Dad?
Das war so ziemlich das Letzte, was Jordan erwartet hatte. Das kleine Energiebündel rannte auf ihn zu und schloss die Arme um Jordans Knie. Er fühlte sich hilflos. Oh, Mann, glaubte der Junge, er sei Justin?
Er hob den Blick, um Angie anzuschauen. Sie sah aus, als habe sie der Schlag getroffen. Mit spürbarer Anstrengung fand sie die Fassung wieder. „Er kennt Justin von Fotos. Ich habe ihm gesagt, sein Vater sei im Himmel, aber er ist noch klein …“ Sie verstummte. In ihren Augen las Jordan die Bitte um Verständnis.
Er packte den Jungen und setzte ihn auf den Couchtisch. Der Detektiv hatte ein paar Bilder mitgeschickt. Diese waren jedoch alle aus einiger Entfernung aufgenommen worden, denn der Fotograf hatte nicht entdeckt werden wollen. Jetzt sah Jordan den Jungen also zum ersten Mal klar und deutlich.
Wenn er Zweifel gehabt hatte, dass das Kind von Justin war, dann verschwanden sie nun. Lucas hatte die dunklere Hautfarbe seiner Mutter, aber sonst war er ein Cooper. Die gerade Nase, das Kinn mit dem Grübchen und der charakteristische Haarwirbel – all das war ein Spiegelbild von Justins Aussehen und seinem eigenen.
Eineiige Zwillinge waren genetische Kopien. Dieser Junge hätte sein eigener sein können.
Lucas sah Jordan zwar bewundernd an, doch seine Unterlippe zitterte dabei. Der Junge schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht fragte er sich, warum sein Vater nicht glücklicher war, seinen Sohn zu sehen.
Jordan unterdrückte den Drang, einfach aufzuspringen und zu gehen. Er besaß nicht viel Erfahrung mit Kindern. Um die Wahrheit zu sagen, verstand er sie nicht und mochte sie nicht einmal besonders. Aber er musste sich dieser Situation stellen.
Er räusperte sich. „Hör mir zu, Lucas. Ich bin nicht dein Vater. Ich bin dein Onkel Jordan, der Bruder deines Vaters. Wir sehen uns ähnlich. Das ist alles. Verstehst du das?“
Eine Träne löste sich und lief Lucas’ Wange hinab. Jordan sah Angie an. Ihr schönes, sensibles Gesicht war schmerzerfüllt. Als er ihr zum allerersten Mal begegnet war, hatte er sich gefragt, wie es wohl wäre, diese üppigen, feuchten Lippen zu küssen. Dann hatte er es herausgefunden – und bedauerte es noch heute.
„Komm zu mir, Lucas.“ Angie nahm ihren Sohn und umarmte ihn. Über seinen Kopf hinweg sah sie Jordan an. „Du hast mir immer noch nicht verraten, warum du hier bist“, sagte sie kühl.
Jordan atmete tief durch. Wo sollte er anfangen? Er hatte sich unterwegs im Auto überlegt, was er sagen wollte. Die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, erschienen ihm nun steif und überheblich, doch andere fielen ihm nicht ein.
„Ich habe Verpflichtungen gegenüber meinem Bruder“, antwortete er. „Es wäre Justins Wunsch, dass sein Sohn alles hat, was man für Geld kaufen kann: ein Heim, auf das er stolz sein kann, eine gute Ausbildung – Dinge, die du ihm nicht geben kannst.“
Sie zog ihren Sohn enger an sich. „Ich kann ihm meine Liebe geben. Und wenn meine Firma erst einmal besser läuft, kann ich auch für die anderen Dinge sorgen. Wenn du glaubst, dass ich auch nur einen Cent von dir annehme …“
„Es geht mir nicht um Geld, Angie.“
Ihre Augen funkelten. Glaubte sie, er wolle ihr das Kind wegnehmen? Lucas spürte offenbar, wie aufgebracht seine Mutter war. Der Junge begann leise zu weinen.
„Hör mir zu“, fügte Jordan hinzu. „Ich lade dich und Lucas ein – euch beide –, bei mir auf der Ranch zu leben. Im Haus ist Platz genug. Du könntest so unabhängig sein, wie du willst. Du kannst sogar mit dem Webdesign weitermachen, wenn du möchtest. Und für Lucas …“
„Du brauchst nicht weiterzureden. Das kommt nicht infrage.“ Angies Meinung schien festzustehen. Sie wirkte nicht, als würde sie nachgeben. Lucas verbarg sich in ihren Armen.
„Ich hab dich gebeten, mir zuzuhören“, beharrte Jordan. „Wenn ich ausgesprochen habe, kannst du dich entscheiden.“
Seufzend nahm sie Lucas von ihrem Schoß. „Spiel jetzt ein bisschen in deinem Zimmer“, sagte sie sanft zu ihrem Sohn. „Wenn du brav bist, machen wir nachher Popcorn und schauen uns heute Abend Trickfilme an.“
Nachdem der Junge gegangen war, wandte sie sich wieder Jordan zu. „Was hast du dir dabei gedacht, mit einem solchen Vorschlag hier aufzutauchen?“, wollte sie wissen. „Deine Mutter hat kaum ein Wort mit mir gewechselt, als Justin noch lebte. Wenn ich mit Lucas auf der Ranch leben würde, wäre das sehr schlimm für sie. Und für uns.“
Jordan schüttelte den Kopf. „Meine Mutter ist nach dem Tod meines Vaters vor zwei Jahren in eine Eigentumswohnung in der Stadt gezogen. Sie sagte, sie will nicht mehr auf die Ranch zurückkehren. Zu viele Erinnerungen.“
„Also lebst du dort allein?“
Jordan fragte sich, ob sie an dasselbe dachte wie er. Sie beide allein im Haus, wenn Lucas schlief … Schnell verdrängte er diesen Gedanken, bevor sich seine Fantasie selbstständig machen konnte. Er hatte allen Grund, diese Frau zu verachten. Das bedeutete zwar nicht, dass er sie von der Bettkante schubsen würde. Doch er und sie zusammen, das war einfach ausgeschlossen. Ohnehin hasste sie ihn sicher für diesen einen überwältigenden Kuss im Auto ebenso sehr wie er sich selbst.
„Auf der Ranch ist man nie allein“, gab er zurück. „Da sind die Hausangestellten und die Rancharbeiter, und natürlich würdest du ein Auto haben. Du könntest kommen und gehen, wann immer du willst.“
Sie betrachtete ihre Hände. Er wusste, was in ihrem Kopf vorging.
„Von mir würdest du nicht viel mitbekommen“, kam er ihr entgegen. „Ich verbringe die meiste Zeit in meinem Büro in der Stadt. Und ich reise viel. Sogar zu Hause bin ich oft mit der Firma beschäftigt.“
Das einzige Anzeichen, dass sie ihn verstanden hatte, war, dass sie nun errötete. Ihm war klar, woran sie gedacht hatte. Verdammt, er hatte genau dasselbe gedacht …
Er holte tief Luft. „Ich möchte etwas klarstellen. Wenn du dir meinetwegen Sorgen machst, lass dir dies gesagt sein: Ich würde dich nie berühren oder etwas anderes tun, was dir unangenehm ist. Ich möchte nur das Beste für den Sohn meines Bruders.“
Sie schaute auf. „Wenn du das Beste für ihn willst, dann geh und lass uns in Ruhe.“
Jordan unterdrückte den Impuls, sie zu packen und sie zu schütteln. „Vergiss es! Sieh dich doch um! In dieser Gegend kann der Junge nicht einmal draußen spielen. Stell dir vor, wie er auf der Ranch leben könnte: genug Platz, Tiere, Menschen, die ihn mögen und ihn umsorgen …“
„Nein!“ Sie schleuderte ihm das Wort entgegen. „Ich werde nicht hier sitzen und mir anhören, wie du mir erzählst, dass ich mein Kind nicht alleine aufziehen kann. Diese Wohnung ist vielleicht nicht besonders luxuriös, aber wir kommen auch ohne deine Hilfe klar. Hör mir zu, Jordan! Meine Eltern waren Wanderarbeiter. Sie haben von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Feld gearbeitet, um ihren Kindern ein besseres Leben bieten zu können. Manchmal mussten wir auf dem blanken Fußboden schlafen. Manchmal hatten wir kaum genug zu essen. Aber wir haben niemals von irgendjemandem etwas angenommen. Und ich werde von dir auch nichts annehmen.“
Jordan wurde ungeduldig. Was stimmte mit dieser Frau nicht? Kapierte sie nicht, dass er ihr kein Almosen anbot? Die Ranch war Lucas’ Erbe. Er hatte dasselbe Recht auf sie wie Jordan. „Hier geht es nicht um Mitleid“, blaffte er sie an. „Lucas ist der Sohn meines Bruders. Er hat das Recht …“
„Er hat das Recht, den Wert harter Arbeit und die Befriedigung, es ohne Unterstützung zu schaffen, zu erleben. Diese Erfahrung kann ich ihm geben.“ Sie stand zitternd auf. „Und nun geh! Wir brauchen deine Hilfe nicht. Wir wollen sie auch nicht.“
Jordan erhob sich ebenfalls. Er überragte Angie deutlich. Sie reichte nicht einmal bis zu seinem Kinn, doch sie wirkte, als würde sie ihm gleich das Gesicht zerkratzen. Es war Zeit für den Rückzug.
Finster schaute er sie an und nickte. „In Ordnung. Ich habe getan, was ich konnte. Du willst meine Hilfe nicht, also kann ich nichts anderes tun, als zu gehen. Aber falls du deine Ansicht änderst …“
„Das werde ich nicht. Auf Wiedersehen, Jordan.“
Er ging ohne ein weiteres Wort und ließ die Wohnungstür hinter sich zufallen. Als er im Hausflur war, hörte er das Klirren der Sicherheitskette und das Zuschnappen des Riegels.
Sie war stolz. Jordan konnte nicht anders; er bewunderte sie für ihre Haltung. Aber es war dumm von ihr, seinen Vorschlag abzulehnen. Sie verdiente keine zweite Chance.
Doch Justins Sohn verdiente sie, und Jordan fühlte sich dafür verantwortlich, sie ihm zu verschaffen. Er dachte an die Freude des Jungen, als er geglaubt hatte, sein Vater sei zurückgekehrt. Nachdem er das Kind gesehen hatte, konnte Jordan die ganze Sache nicht einfach vergessen. Er konnte Angie nicht dazu zwingen, sein Angebot anzunehmen. Doch er konnte dafür sorgen, dass sie ihn erreichte, falls sie ihre Meinung änderte.
Seufzend fischte er eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und kritzelte seine Privatnummer darauf. Er kehrte um und schob die Karte durch den Türschlitz. Angie würde sie wahrscheinlich zerreißen. Aber dieses Risiko musste er eingehen. Hier ging es um sehr viel mehr als um die Sturheit einer Frau.
In ihrem Bett zwischen zerwühlten Kissen und Decken starrte Angie in die Dunkelheit. Durch die billigen Fensterläden aus Kunststoff drang Licht ins Zimmer und warf zitternde Streifen an die Wand. Draußen auf der Straße brauste ein Motorrad vorbei.
Jordans Visitenkarte lag auf dem Nachttisch. Sie hätte sie zerreißen sollen. Sie brauchte sie nicht, denn sie hatte nicht die Absicht, sein Angebot anzunehmen. Ihr und Lucas ging es gut. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, Kleidung und ausreichend Geld, um ihren kleinen Toyota zu betanken.
Natürlich gab es jede Menge Unsicherheiten. Was geschah, wenn ihr kleines Unternehmen nicht genug abwarf? Sie hatte Glück gehabt, einen Job zu finden, vom dem sie und Lucas leben konnten. Was geschah, wenn sie oder Lucas krank wurden oder etwas noch Schlimmeres passierte? Sie konnte sich kaum Aspirin leisten und schon gar keine Krankenversicherung. Was sollte bloß in den kommenden Jahren werden? Sie konnte sich weder einen Sportverein noch Reisen noch Musikstunden für Lucas leisten. Würde sie sein College bezahlen können?
Und was würde Lucas dazu sagen, wenn er herausfand, dass die Familie seines Vaters wohlhabend war? Wenn er herausfand, dass seine Mutter ihn in Armut aufgezogen hatte, statt die Unterstützung der Familie anzunehmen?
Heute hatte sie ein Angebot erhalten, das ihre Sorgen beenden konnte. Trotzdem hatte sie Jordan die Tür gewiesen – aber nicht nur aus Stolz. Um ihrem Sohn ein besseres Leben bieten zu können, hätte sie ihre eigenen Gefühle beiseitegeschoben. Vielleicht hätte sie sogar eingewilligt, wenn der Vorschlag von Jordans Mutter gekommen wäre. Sie hätte die früheren Kränkungen ignoriert, obwohl diese Frau sie wie den letzten Dreck behandelt hatte.
Warum hatte sie Jordan also abgewiesen?
Der Grund dafür war ihr nur allzu klar …