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England, 1573: Als die hübsche Rowena, Tochter eines Wissenschaftlers, vom Plan ihres Vaters erfährt, ist sie entsetzt! Sir Christopher hat veranlasst, dass ein Indianer aus der Neuen Welt als Forschungsobjekt nach Cornwall gebracht wird. Rowenas Herz fließt vor Mitleid über, als sie Black Otter zum ersten Mal erblickt: Erschöpft und krank, dem Tode nah, doch ist sein Blick stolz und unbeugsam in eine Ferne gerichtet, in der er frei über sein Volk, die Lenni Lenape, herrschen konnte. Plötzlich brennt ein Gefühl in Rowena, das sie nicht zu benennen wagt, so schockierend ist es: Sie sehnt sich danach, von diesem Mann in die Arme genommen und geliebt zu werden...
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Seitenzahl: 391
IMPRESSUM
Wild und frei erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2001 by Elizabeth Lane Originaltitel: „My Lord Savage“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICALBand 168 - by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Ilse Renders
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 02/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733766801
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Cornwall10. Juni 1573
Mistress Rowena Thornhill drängte sich besorgt gegen das Turmfenster. Ihr Rock aus einfachem Wollstoff bauschte sich hinter ihr auf dem engen Treppenabsatz. Einen Augenblick lang sah sie angestrengt durch die in Blei gefassten Fensterscheiben hinaus auf die dahinter liegende Welt. Dann jedoch, ungeduldig wegen der eingeschränkten Sicht, entriegelte sie den Flügel des dunklen Holzrahmens und riss das Fenster weit auf, sodass der Seewind hereinströmen konnte.
Als sie sich über die steinerne Fensterbank hinauslehnte, prickelte die salzige Brise auf ihrem Gesicht, und einzelne Strähnen lösten sich aus ihrem streng zusammengebundenen kastanienbraunen Haar und flatterten im Wind. Jenseits des Hofes erstreckte sich, so weit das Auge reichte, das hügelige Moorland nach allen Seiten mit großen Flächen von blühendem Stechginster und Riedgras und endete im Süden zwischen den felsigen Klippen, wo Seevögel schrien und über den Brandungswellen kreisten.
Durch das Land zwischen den Klippen und dem weitläufigen alten Herrenhaus schlängelte sich eine schmale Straße, die im Laufe der Jahrhunderte von vorbeiziehenden Karren und Wagen fast bis zur Höhe der Radnaben ausgefahren war. Auf diese Straße richtete Rowena ihren besorgten Blick und reckte sich aus dem Fenster, um die Stelle sehen zu können, an der sie hinter dem östlichen Horizont verschwand.
Kein Pferd. Kein Reiter. Nichts. Und in weniger als einer Stunde würde die Sonne untergehen.
Ihr Vater reiste oft nach Falmouth. Als Wissenschaftler liebte er es, im Hafen umherzuschlendern und von den Seeleuten “Kuriositäten”, wie er sie nannte, zu kaufen – etwa einen Affen oder Papagei, vielleicht auch eine ungewöhnliche Muschel oder ein merkwürdiges Meerestier, das man aus der Tiefsee geholt und in Salzlake konserviert hatte. Ein jedes dieser Dinge brachte er dann nach Hause in sein Laboratorium, in dem er Tage und manchmal Wochen damit verbrachte, seine neue Beute zu sezieren und zu untersuchen sowie seine ledergebundenen Notizbücher mit zahlreichen Aufzeichnungen zu füllen.
In seiner Jugend hatten diese Schriften Sir Christopher Thornhills Ruf begründet, einer der führenden Gelehrten Englands zu sein. Aber jetzt wurde er alt, zu alt, um allein auf der langen, gefährlichen Straße zu reisen. Nächstes Mal, beschloss Rowena, würde sie darauf bestehen, dass er einen der Stallburschen mitnahm, oder ihn selbst begleiten, trotz seiner Bedenken, dass das von Menschen wimmelnde Hafenviertel kein Platz für eine Dame sei.
Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, während sie mit dem schweren Schlüsselbund spielte, der an einer Kordel von ihrer schlanken Taille herabhing.
Rowena ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, wie sie das Leben meistern würde, wenn ihr Vater nicht mehr da wäre. In den siebzehn Jahren seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie ihre Tage damit verbracht, den Haushalt zu führen, die Dienstboten zu leiten sowie ihrem Vater im Laboratorium zu helfen. Dieses baufällige alte Herrenhaus und das Werk ihres Vaters waren ihr ganzer Lebensinhalt gewesen. Aber jetzt war er fast siebzig, und an seinen herabhängenden Schultern und dem leichten Zittern seiner Hände konnte sie erste Anzeichen nahender Gebrechlichkeit erkennen. Was würde sie tun, wenn das Laboratorium leer und verwaist wäre?
Heirat?
Ein ironisches kleines Lächeln spielte um ihren zu großen Mund. Wer außer einem alten Trunkenbold würde sie haben wollen? Eine ältliche Jungfer von zweiunddreißig Jahren, schüchtern und groß wie ein Mann, mit einem langen, schmalen Gesicht, welches sie immer an ein Pferd erinnert hatte. Selbst mit den Lockmitteln Haus und Landbesitz waren die Chancen, einen akzeptablen Ehemann zu finden, kaum der Rede wert.
Sie würde natürlich die wissenschaftliche Arbeit ihres Vaters fortführen, aber wer würde ihre Forschungen ernst nehmen? Wer würde das Gekritzel von jemand lesen, der nur eine Frau war, einmal ganz zu schweigen davon, ihm Wert und Gewicht beizumessen?
Rowenas Blick wanderte zur See, wo Sturmvögel und Dreizehenmöwen über den Klippen ihre Kreise drehten. Hoch über ihnen segelte ein einzelner Albatros im Wind, seine ausgestreckten Flügel waren dabei so unbeweglich, als wären sie aus weißem Marmor gemeißelt. Was hatte wohl diesen seltenen Besucher hierhergeführt?
Während sie dem Flug dieses Vogels zusah, wurde Rowena von einer so starken Sehnsucht ergriffen, dass sich ihre Lippen zu einem stummen Seufzer öffneten. Die Wände des alten Hauses schienen sich um sie herum zu schließen, sie einzusperren wie die Tore eines Gefängnisses. Ihr war, als ob die schweren Falten ihrer Röcke und ihr starres Korsett sie nach unten zu ziehen versuchten wie das Gewicht eiserner Ketten. Nur ihr gesunder Menschenverstand hielt sie davon ab, dem Ruf ihres Herzens zu folgen – die Ketten von Haus, Kleidung und alle Bedenken abzuwerfen, ihre Freiheit zu nutzen und gleich dem Albatros Orte aufzusuchen, die sie während ihres zurückgezogenen Lebens niemals sehen würde, Orte, deren Namen wie Musik klangen – China, Sansibar, Konstantinopel, Amerika …
Mit aller Kraft riss Rowena sich von diesen Gedanken los und ließ den Blick vom Himmel zurück zu der Stelle gleiten, wo ihre schmalen, blassen Finger auf der Kalksteinfensterbank ruhten. Als sie wieder aufsah, war auf der fernen Straße ein dunkler Punkt zu erkennen, der sich auf das Haus zubewegte.
Allmählich wurde aus dem Punkt ein Wagen, ein klappriger Rollwagen mit einem Zugpferd und zwei Männern, die gekrümmt auf dem Sitz saßen, und einer langen, dunklen Gestalt, die auf der offenen Ladefläche lag. Unwillkürlich legte Rowena die Hand an ihre Kehle, als sie Blackamoor, den Wallach ihres Vaters, erkannte, der an einem Haltestrick neben dem Wagen tänzelte. Der Sattel des Wallachs war leer.
Rowena nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinunter in die Große Halle rannte, die, wie der Rest des Hauses, ihren früheren Glanz eingebüßt hatte. In ihren Hausschuhen eilte sie über den mit Binsen bestreuten Boden, und wo sie entlanggelaufen war, hing der Duft von zertretenem Rosmarin in der Luft.
Als sie schließlich die Haustür erreichte, klopfte ihr Herz vor Angst und Schrecken. Was war nur in sie gefahren, ihren Vater heute Morgen allein ausgehen zu lassen? Sie hätte mitreiten sollen unter dem Vorwand, irgendwelche Besorgungen zu machen, oder sich eine Ausrede einfallen lassen sollen, um ihn zu Haus zu behalten. Ganz gleich, welches Unheil ihm nun widerfahren war, es war zumindest teilweise ihre Schuld.
Die Haustür öffnete sich direkt zum Moor hin. Rowena stürzte hinaus und sah, dass der Wagen noch ziemlich weit entfernt war. Zu aufgeregt, um zu warten, raffte sie ihre Röcke und rannte los, ohne sich darum zu kümmern, dass sie in den dünnen Lederhausschuhen überall Blasen an den Füßen bekommen würde. Der Seewind zerrte die Nadeln aus ihrem Haar, als sie zur Straße stürmte. Würde sie ihren Vater verletzt vorfinden? Krank? Oder sogar tot?
Am Ende einer langen Hecke hielt sie einen Moment inne, um zu verschnaufen. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem einschnürenden Korsett. Jetzt konnte sie die beiden Männer auf dem Sitz klar erkennen. Der eine war der Kutscher, ein ungepflegter Tagelöhner, den sie des Öfteren in der Stadt gesehen hatte. Der andere …
Rowena bekam weiche Knie vor Erleichterung, als sie die gebeugte Gestalt ihres Vaters und seinen flachen Wollhut erkannte. Ihm fehlte nichts. Sie war ganz umsonst halb verrückt vor Angst gewesen.
Aber warum hatte er sich die Mühe gemacht, einen Wagen zu mieten? Worum handelte es sich bei der geheimnisvollen Gestalt, die auf den Brettern hinter ihm lag, eingewickelt in Segeltuch, wie es schien? Hatte ihr Vater ein neues exotisches Exemplar gekauft? Vielleicht einen großen Fisch? Einen Delfin? Einen toten Seehund? Sie dachte an den langen marmornen Seziertisch im Laboratorium und die anstrengenden Tage und Nächte, die ihnen bevorstanden, wenn sie sich abmühten, ihre Entdeckungen zu untersuchen und zu katalogisieren, bevor die Verwesung das Arbeiten unmöglich machte.
“Rowena!” Der Vater winkte sie zu sich heran, aber sie lief bereits zur Straße, wobei ihre Röcke hinter ihr herschleiften, sodass sich grüne Kletten daran hefteten.
“Rowena. Gut!” Ihr Vater nickte nur kurz, wie es seine Art war. “Ich brauche etwas Hilfe bei diesem Exemplar. Reite du Blackamoor zurück zum Stall. Sag Thomas und Dickon, sie sollen sich auf dem Hof für meine Ankunft bereit halten. Sorg dafür, dass Ned den vergitterten Raum im Keller ausräumt und den Boden mit frischem Stroh bestreut. Beeil dich!”
“Den Keller?” Rowena starrte ihn verblüfft an. “Aber das ist doch nicht Euer Ernst? Das ist kaum mehr als ein Rattenloch. Kein Mensch geht dort hinunter, es ist so dunkel, feucht und schimmelig! Vater, ich verstehe wirklich nicht …”
“Das wirst du früh genug. Und nun beeil dich!” Sir Christopher ergriff die schlaff vor dem Kutscher herunterhängenden Zügel und brachte den schwerfälligen alter Klepper zum Stehen. Blackamoor, voller Ungeduld nach Stall und Futter, schnaubte und zerrte an dem Strick, der ihn an der Seite des Wagens festhielt.
“Ganz ruhig!” Rowena näherte sich behutsam dem unruhigen Wallach, griff nach dem Zaumzeug und fing an, mit ihrer freien Hand den Haltestrick zu lösen. Während sie den Knoten aufmachte, wurde ihr Blick unwiderstehlich von dem in Segeltuch eingewickelten Bündel angezogen, welches mit dicken Stricken auf der Ladefläche des Wagens festgebunden war. Aus der äußeren Form des Gegenstandes konnte sie kaum Rückschlüsse auf den Inhalt ziehen, außer dass er lang war – so lang wie ein großer Mann. Erstaunt öffnete sie die Lippen, als sie eine leichte Bewegung bemerkte und ihr klar wurde, dass das Lebewesen unter der schweren Verpackung atmete.
“Vater!” Sie wirbelte herum, um ihm ins Gesicht zu sehen, und ihr Herz klopfte wild. “Das Tier lebt! Ihr müsst mir sagen, was es ist!”
“Später, Rowena.” Er tat ihren Wunsch mit einem mürrischen Gesichtsausdruck ab. “Je weniger wir hier reden, desto besser. Zu Hause können wir in Ruhe sprechen. Nun reite los.”
Der Knoten löste sich und gab das Zaumzeug des Wallachs frei. Rowena schwang sich gekonnt rittlings in den Sattel, wobei sich die Röcke über ihren Schenkeln bauschten. Während sie kurz innehielt, um die Zügel aufzunehmen, fiel ihr Blick nochmals auf die fest geschnürte Ladung des Wagens.
Vom Rücken des Pferdes konnte sie erkennen, was vom Boden aus nicht sichtbar gewesen war. Die Ränder des Segeltuches waren am ihr zugewandten Ende des Bündels auseinander gezogen und gaben den Blick auf ein Gesicht frei.
Ein menschliches Gesicht.
Das Gesicht eines Mannes.
Rowenas Herz klopfte schneller, als sie sich tiefer hinabbeugte, ohne zu bemerken, wie der ungeduldige Blick ihres Vaters sie durchbohrte, ohne überhaupt irgendetwas wahrzunehmen, außer jenen fesselnden männlichen Gesichtszügen.
Die tief liegenden Augen unter den geraden, tiefschwarzen Brauen waren geschlossen. Sein Gesicht hatte ausgesprochen aristokratische Züge, war aber ausgemergelt und schien unter der gespannten bronzefarbenen Haut aus lauter Blutergüssen und hervortretenden Knochen zu bestehen. Eine schwarze Haarsträhne – alles, was sie sehen konnte – hing über die eine violett angelaufene Wange. Trotz all seiner offensichtlichen Stärke sah der Mann krank und halb verhungert aus. Er stank nach Erbrochenem und Salzwasser. Aber warum, in Gottes Namen, war er auf der Ladefläche des Wagens festgezurrt? Sicher bestand in seinem Zustand keine Gefahr, dass er fliehen würde.
Wie unter Zwang spürte Rowena ein seltsames Verlangen und beugte sich aus dem Sattel, um ihre rechte Hand nach dem zerschundenen, bewegungslosen Gesicht des Fremden auszustrecken. Ohne auf die mit aller Schärfe ausgesprochene Warnung ihres Vaters zu achten, fuhr sie mit der Fingerspitze vorsichtig an der eingefallenen Wange entlang. Die kühle Haut war so glatt wie feinstes Leder, der markante Kiefer hatte nicht eine Spur von Bartstoppeln. Es war fast, als ob …
Rowena stockte der Atem, und sie riss ihre Hand zurück, als die Lider des Mannes sich plötzlich öffneten. Die Augen, die sie wütend anfunkelten, waren so schwarz wie polierte Pechkohle – der Farbton so intensiv, dass sie keinen Unterschied zwischen Iris und Pupille erkennen konnte.
Aber es war nicht die verblüffende Farbe dieser Augen, die sie erstarren ließ, als ob man sie in Stein verwandelt hätte. Es war der glühende Hass, den sie tief drinnen hatte aufflackern sehen – ein Hass so pur und stark, dass er aus den Tiefen der Hölle selbst zu kommen schien.
Sie riss ihren Blick los. “Vater …”
“Nicht jetzt, Rowena”, fuhr Sir Christopher sie an. “Später, wenn die Bestie sicher eingesperrt ist, werde ich dir alles erzählen. Geh jetzt, wir dürfen keine Zeit verlieren!”
Schockiert warf Rowena ihrem Vater einen entsetzten Blick zu. Dann jedoch, wohl wissend, dass sie hier nichts weiter tun konnte, wendete sie das Pferd und galoppierte zum Haus zurück.
Black Otter zwang sich dazu, nicht zu kämpfen, als die beiden stämmigen weißen Männer nach ihm griffen und anfingen, ihn von der Ladefläche des Karrens herunterzuziehen. Im Laufe der schrecklichen Seereise hatte er sich die verzweifelte Strategie gefangener Tiere zu eigen gemacht. Sei wachsam und lerne! Warte auf die beste Gelegenheit! Dann greif an und töte!
Am Anfang der Reise war er nahe daran gewesen, einen der Männer auf dem Schiff zu töten. Der brutale junge Kerl hatte ihn gepeinigt und mit einem glühenden Stock nach ihm gestoßen. Aber in einem Moment der Unachtsamkeit war der Bursche zu nahe an ihn herangekommen, und Black Otter, getrieben von Schmerz und Kummer, war über ihn hergefallen. Er hatte die Eisenketten, mit denen seine Handschellen verbunden waren, um den Hals des Matrosen geworfen und ihn gequetscht und gewürgt, mit einer widernatürlichen Freude daran, wie der Mann voller Qual um sich schlug und schwerfällig nach Luft schnappte.
Dann war von oben ein Ruf ertönt, und die Kumpane des Mannes waren durch die Ladeluke heruntergestürmt, um wie ein Rudel Hunde über ihn herzufallen. Sie hatten ihn so brutal zusammengeschlagen, dass er für mehr Tage, als er Finger an beiden Hände hatte, immer wieder das Bewusstsein verlor.
Diese Prügel hatten Black Otter eine Lektion eingebläut, die er nicht vergessen würde. Niemals wieder würde er seine Entführer angreifen, ohne vorher das Risiko genau abzuwägen. Wenn dabei kaum etwas zu gewinnen wäre, würde er seine Wut zurückhalten und sie einsperren wie ein wildes Tier. Aber sollte sich die Gelegenheit ergeben, auszubrechen und in Freiheit zu gelangen, würde er jeden Weißen töten, der sich ihm in den Weg stellte.
Einschließlich der Frau.
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, als er sich mühsam aufrichtete, während der Boden sich zu drehen schien. Goldbraune, traurig blickende Augen in einem schmalen, blassen Gesicht. Black Otter erinnerte sich daran, wie ihre Fingerspitze seine Wangen berührt hatte, bis ihr der Atem stockte, als er die Augen aufschlug. Hatte er ihr Angst eingejagt? Gut, er hatte sie erschrecken wollen. Er wollte ihnen allen Angst machen.
Nachdem zwei kräftige Männer, die auf die Befehle des Alten zu hören schienen, ihm die Segeltuchumhüllung abgenommen hatten, kämpfte Black Otter gegen das Gewicht seiner Ketten an, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und sie zornig und herausfordernd anstarrte – die Frau, den alten Mann und die Dienstboten, die aus dem riesigen Wigwam herausgekommen waren. Die beiden Männer packten seine Arme, halb um ihn zu stützen, halb um ihn zu bändigen. Wäre er richtig bei Kräften gewesen, hätte er ihre Knochen mit seinen bloßen Händen brechen können. Aber so, angekettet, ausgehungert und krank, hatte er kaum Kraft, Widerstand zu leisten.
Die Frau wandte sich an den alten Mann und sprach. Vielleicht werden sie mich nun töten, dachte Black Otter. Falls das so wäre, würde er nicht unterwürfig sein Schicksal hinnehmen. Bei seinen eigenen Leuten, den Lenape, die an den Ufern des großen Meeresflusses lebten, war er ein mächtiger Sakima, ein Häuptling, und darüber hinaus ein unbesiegbarer Krieger. Selbst hier, in diesem fremden Land, würde er den Tod eines Kriegers sterben. Und er würde nicht allein sterben.
Trotz ihrer guten Erziehung konnte Rowena nicht anders, als den Fremden anzustarren. Schmutzig, grün und blau geschlagen und unsicher auf den Beinen, stand er dennoch würdevoll wie ein gefangener Löwe zwischen den beiden Stallburschen. Er war größer als fast alle Männer, die sie kannte. Sein pechschwarzes Haar fiel als verfilzte Mähne über seine kräftigen Schultern. Sein Gesicht war faszinierend – aber Rowena wurde schnell klar, dass sie nicht lange in seine raubvogelartigen Züge sehen konnte, ohne sich unbehaglich zu fühlen. Der Hass in diesen teuflischen Augen loderte ihr mit solcher Heftigkeit entgegen, dass sie gezwungen war, den Blick zu senken.
Unter einer Schicht aus Striemen, Schnittwunden und Prellungen, erinnerte sein Körper sie an – ja – die Zeichnung einer griechischen Statue, die sie in der Bibliothek ihres Vaters gesehen hatte. Rowenas Blick folgte dem Spiel der Muskeln unter der geschundenen mahagonifarbenen Haut, deren Namen ihr gerade jetzt unsinnigerweise wieder einfielen: die musculi deltoidei, die musculi pectorales, der flache, harte musculus rectus abdominis, der sich in Wellen bis unter das schmutzige Stück Leder erstreckte, das seine Lenden bedeckte.
Außer dem Lendenschurz trug er nichts bis auf ein Paar halb vermoderte Lederslipper mit weichen Sohlen, eine Art Schuhwerk, das sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Als der Wagen zurück zur Straße rumpelte, trat Rowena dichter an ihren Vater heran. “Wer ist das?”, fragte sie leise.
“Du brauchst gar nicht zu flüstern”, fuhr er sie etwas ungeduldig an. “Der primitive Kerl versteht kein Englisch.”
“Vater, wer ist er?” wiederholte Rowena ihre Frage, diesmal mit mehr Nachdruck.
“Ein Indianer. Aus Amerika. Ich habe ihn heute in Falmouth gekauft.”
“Gekauft habt Ihr ihn? Als Sklaven?”
Sir Christopher blickte sie misstrauisch an. “Ganz bestimmt nicht! Sieh dir den Burschen doch an – viel zu sehr ein Wilder, um einen anständigen Diener abzugeben.”
“Aber warum habt Ihr das dann getan? Aus christlichem Mitleid?”
Sir Christopher schüttelte den Kopf, dann sah er sie fest an. “Nein, Rowena”, sagte er, “ich habe ihn als Kuriosität gekauft.”
“Als Kuriosität?”
“Ja, meine Liebe, als ein seltenes Exemplar. Zu Studienzwecken.”
Um Himmels willen, habt Ihr Euren Verstand verloren?” Rowena wirbelte herum, um ihrem Vater entgegenzutreten, denn ihr Entsetzen war stärker als der Respekt, den sie ihm sonst entgegenbrachte. “In der Tat ein seltenes Exemplar! Vater, Ihr könnt wohl kaum ein menschliches Wesen in Eure Sammlung aufnehmen und katalogisieren wie einen Vogel oder Fisch!”
“Und was macht dich so sicher, dass die Kreatur ein menschliches Wesen ist?” forderte Sir Christopher seine Tochter heraus. “Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle, dass seine Sprache – wenn man es überhaupt so nennen kann – nichts als blödsinniges Gestammel ist und dass er an Bord der Surrey Lass einen Seemann angegriffen und fast getötet hat. Alles in allem scheint der Wilde also bei Weitem mehr Tier als Mensch zu sein. Wie auch immer, es ist meine feste Absicht, ihn genau zu untersuchen und es herauszufinden.”
Rowena blickte schnell von ihrem Vater zu dem großen, dunklen amerikanischen Wilden, der selbst jetzt so aussah, als ob er nur darauf wartete, sie anzugreifen und zu vernichten. Im Laufe der Jahre hatte sie unzählige Affen ebenso ertragen müssen wie Fische, Reptilien, tropische Vögel und sogar einen alten dressierten Bären, die ihr Vater alle in seinem Laboratorium eingesperrt hatte, bis sie in dem kalten englischen Klima krank wurden und starben – um dann unverzüglich auf dem Seziertisch zu landen. Auch wenn sie dies mit Trauer erfüllte, so hatte sie doch gelernt, sich damit abzufinden, dass das Schicksal dieser Kreaturen zur Arbeit ihres Vaters gehörte. Aber ein Mensch – selbst dieser rohe, ungebildete Heide, der jetzt vor ihnen stand? Nein, sie würde das nicht zulassen! Diesmal war Sir Christopher zu weit gegangen!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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