Die Brüder Fournier - Matthias Wittekindt - E-Book

Die Brüder Fournier E-Book

Matthias Wittekindt

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Beschreibung

Wie wird ein Jugendlicher zum "Problemfall"? Wie ertragen wir, was uns angetan wird? Envie, ein Vorort von Brüssel, in den 1970er Jahren. In einer Zeit, die im Rückblick vielleicht als schöne Jugend voller Freiheit und Spaß in der Natur verklärt wird, wachsen die Brüder Iason und Vincent Fournier als Söhne vielbeschäftigter Unternehmer-Eltern eher vernachlässigt auf. Ihre jugendliche Energie ist nicht immer kanalisiert, ihre Wahrnehmung nicht immer konform mit den Interessen der Erwachsenen. Besonders Iason erregt Anstoß und wird, den modernen Therapien der Zeit entsprechend, medikamentös behandelt – mit wenig Erfolg. Freundinnen und Freunde haben sie trotzdem viele, in den fast dörflichen Strukturen sind sie eine fast schon verschworene Gemeinschaft, von den Älteren misstrauisch beäugt. Doch als innerhalb eines Jahres zwei Jugendliche betrunken erfrieren, gerät Iason in einen Verdacht, dem er sich nicht entziehen kann. Und niemand, wirklich niemand, bringt ihn mit der mondänen und schönen Vierzigjährigen aus Brüssel in Verbindung, die in ihrem modernen Bungalow Partys für Kunstfreunde und Intellektuelle schmeißt … Matthias Wittekindt zeigt, was passiert, wenn Zuschreibungen von außen aus einem ganz normalen Jugendlichen einen "Problemfall" machen – und wie das Harmlose zum Unheimlichen wird.

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Matthias Wittekindt wurde 1958 in Bonn geboren. Nach dem Studium der Architektur und Religionsphilosophie arbeitete er in Berlin und London als Architekt. Es folgten einige Jahre als Theaterregisseur. Seit 2000 ist er als freier Autor tätig. Für seine Hörspiele, Fernseh-Dokumentationen und Theaterstücke wurde er vielfach ausgezeichnet. Bisher erschienen die Kriminalromane Schneeschwestern (2011), Marmormänner (2013, Deutscher Krimipreis 3. Platz), Ein Licht im Zimmer (2014), Der Unfall in der Rue Bisson (2016) und Die Tankstelle von Courcelles (2018, Deutscher Krimipreis 2. Platz).

Matthias Wittekindt

DIE BRÜDER FOURNIER

Kriminalroman

Der Autor dankt

Dipl.-Psychologin Vivian Keim

für ihre Beratungen zur Psychodynamik

von auffälligem Verhalten.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2019

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2020

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Autorenporträt Seite 2:

© Wenke Seemann

ePub ISBN 978-3-96054-227-8

Emely hatte geweint, als man Iason ins Gefängnis brachte. Sie hatte versucht ihren Sohn festzuhalten, sie wollte es nicht zulassen. Den ersten Gendarmen hatte sie mit einem Fußtritt … Den zweiten auch. Sie knickten zusammen, wie zwei Türme, die fachmännisch gesprengt wurden. Wie sollte es anders sein? Sie war Iasons Mutter, er war ihr Liebster und sie wusste, wie ein Tritt gegen einen Mann zu führen war.

Man hatte Iason trotzdem weggebracht. Es gab eine richterliche Anordnung und es waren einfach zu viele Gendarmen. Ihr zweiter Sohn Vincent hatte, während das alles geschah, ununterbrochen geschrien. Auch er hatte sich an seinen Bruder geklammert.

Inhalt

Teil I

Mehl

Boff-Boff

Die Wohnung der Fourniers

Der Parkplatz vor dem Gemeindezentrum

Der große Ofen

Großes Geschrei

Im Pappelwald

Spucke und Arsch

Professor Saignée

Merkwürdige Mädchen

Teil II

Feuer

Sex

Arbeit

Aaron Léger ist traurig

Am Bahndamm

Für Mädchen bezahlen

Am Lac Virelle

Teil III

In der Klinik und bei den Idioten

Sturm und Drang

Sophie

Pauline

Antwerpen

Die Suche

Kamille und Lavendel

Partytime

Die schöne Ophelia

Ein Kartenspiel und eine Nachtwanderung

Der Fotograf Hendrik Vanoppen

Lippenstift, Kamm, Valium

Krista Léger hat etwas auf dem Herzen

Sympathy with the Devil

Sophie hat sich gewehrt und extrem laut geschrien

Verwirrende Klarheit

Was war mit Aaron geschehen?

Isolation

Das Opfer, eine Lügnerin?

Die Rothaarige aus dem Taxi

Bauland

Teil IV

Die Durchquerung der Stille

Eine Auferstehung mit Gemüse

Iason träumt

Eine Grube

Der Brief der Mutter – eine Bitte

Lina

Ein Swimmingpool und ein gelber Ford Transit

Vincent erschreckt sich zu Tode

Alte Bilder

Das alte Envie, eine Täuschung

Die Hasen

Vincent ist beliebt

I

Mehl

Das schönste Kinderbild, auf dem sie gemeinsam zu sehen sind, zeigt die Brüder Fournier in der Küche. Die Aufnahme entstand im Sommer 1966, also einige Jahre vor Paulines und Aarons Tod. Iason und Vincent waren damals elf und zwölf Jahre alt. Konzentriert über einen Tisch gebeugt, knieten sie auf zwei Stühlen. Der eine links, der andere rechts. Die beiden wurden also im Profil aufgenommen.

Obwohl es sich um eine Amateuraufnahme handelt, denn hundertprozentig scharf ist das Bild nicht, wurde hier eine intime, fast träumerische Situation erfasst. Ein Vorteil, den Fotografen haben, die zur Familie gehören.

Die Eltern der beiden, Emely und Auguste Fournier, hatten 1954 in der frisch gekalkten Kirche von Envie geheiratet. Sie waren beide Katholiken und durchaus züchtig. Doch waren sie auch sehr verliebt gewesen, das Verlangen war geradezu brennend. Wohl deshalb hatten sie sich noch vor der Eheschließung an einem See, unweit einer Bude, in der tagsüber Muscheln und Pommes Frites verkauft wurden, in jene Situation begeben, in der Fleisch und Blut entstehen kann.

So war ihnen Iason passiert.

Der frischgebackene Vater stellte seiner Frau kaum zwanzig Minuten nach der Entbindung eine einfache Frage, und man meinte sofort den Kaufmann zu hören.

»Haben sie dir gesagt, was er wiegt?«

»4800 Gramm.«

Emely war erschöpft. Ihr Gesicht glänzte noch und war kaum weniger feucht als das des Säuglings. Gleichzeitig wirkte sie durch und durch glücklich. Auguste jedenfalls meinte sofort zu erkennen, dass sich seine Frau auf Kinder verstand. Allein wie sie das Baby hielt, ihren Kopf senkte, wenn sie mit ihm sprach und dabei mit ihrem Zeigefinger nicht anders konnte, als hin und wieder die kleine Nase … Es war ein Moment, in dem Auguste Fournier versucht war zu glauben, alle Menschen seien gleich.

Sie sprach leise, denn sie sprach zu ihrem Kind. Murmelte sie da schon den Namen, den sie ihrem Sohn geben würde? Wie war sie überhaupt auf den Namen Iason gekommen?

Nun, es sollte kein flämischer oder französischer Name werden, da es wegen der Sprache in diesem Teil Belgiens häufig zu Streitigkeiten kam.

Gleichzeitig war es so, dass Emely in den Tagen, da die Wehen immer stärker einsetzten, ein Kissen im Rücken, auf dem bordeauxrot bezogenen Sofa gelegen und dort im gebündelten Licht einer kleinen Lampe mit braunem Schirm eine griechische Sage gelesen hatte, die ein junger Schriftsteller in eine berauschende, überaus lebhafte und auch zeitgemäße Form gebracht hatte. Sie handelte von der Jagd der Argonauten nach dem goldenen Vlies, und der Held dieses Abenteuers hieß Iason. Auch wenn es in der Geschichte für Emelys Geschmack bisweilen ein bisschen zu sehr ums rein Sexuelle ging, und an einer Stelle sogar geschildert wurde, wie eine zornige Frau zwei andere Frauen dazu anstiftete, einen Mann zu zerstückeln, blieb sie bei ihrem Entschluss, was den Namen anging. Es gab so viele schöne Schilderungen von Freundschaft und Fahrten mit einem Boot von Hafen zu Hafen und Insel zu Insel. Erlebnisse, die Emely sich für ihr Kind wünschte. Sie hatte ohnehin von Anfang an gespürt, dass es ein Junge werden würde.

Mit Iasons Geburt hatte Emely eine Liebe, man sollte vielleicht eher sagen eine Art von Aufgeregtheit, ständiger Wachheit, naturgewollter Erschöpfung und Hingabe entdeckt, die sie vorher nicht kannte. So dauerte es kaum ein Jahr, bis Vincent kam. Er erhielt seinen Namen, weil Emely eine bestimmte Art von Ölbildern mochte und Vincent, als sie ihm das erste Mal in die Augen sah, eindeutig schielte. Sie hatte daraus in einem Sekundenmoment auf eine Begabung zum Künstlerischen geschlossen. Und wer Emely kannte, der wusste, dass sie an einmal gefassten Entschlüssen festhielt.

Ihr Mann klang etwas profan und knapp, als er eine Stunde nach der Geburt seines Zweiten an ihr Bett trat.

»Und?«

»2900 Gramm.«

»Dann haben wir jetzt also schon zwei.«

»Und zwei sind genug«, sagte Emely mit der für sie charakteristischen Klarheit, die von manchen als hart empfunden wurde.

Nach Aussage ihres Mannes, der sie stets in Schutz nahm, verstand sich Emely durchaus als Mutter. Aber auch – nur Gott allein weiß, wie wir Entscheidungen treffen – als Geschäftsfrau. Sie mochte die Konditoreien auf Dauer nicht ihrer Mutter Louisa überlassen, die nun, da sie älter wurde, zu überraschenden Ausbrüchen neigte. In den zwei Jahren, in denen Emelys ruhige Vernunft nicht voll zur Verfügung stand, war im Laden und der Pralinenmanufaktur einiges nicht so gelaufen, wie es hätte laufen sollen. Angeblich hatte Louisa mehr als einmal mit Cremetorte nach Lieferanten und Kunden geworfen. Und stets getroffen. Wurde so gesagt. Alle Berichte stimmten in dem Punkt überein, dass die Ausbrüche stets ganz plötzlich kamen.

Zwei Buben also an einem Küchentisch. Auf der Tischplatte Mehl und ein guter Batzen Teig. Offenbar rollen die Brüder mit ihren Kinderhänden aus dem Teig kleine Röllchen. Jedenfalls liegt ein Berg davon auf einem Teller. Die beiden sind vollkommen auf die Herstellung dieser kleinen Röllchen konzentriert. Nur, was ist das an der Wange von dem, der links kniet? Irgendetwas Klebriges, das glänzt. Hat der Kleine kürzlich geweint?

Wem die Geschichte der Fourniers bekannt ist, der weiß natürlich, dass der auf der rechten Seite Iason ist. Größer und deutlich kräftiger gebaut als sein Bruder rollte er auch die größeren Röllchen. Bei ihm sahen sie beinahe aus wie kleine Schiffchen.

Zwei Kinder und ein Batzen Teig. Im ersten Moment möchte man ausrufen, die Aufnahme sei sicher kurz vor Weihnachten entstanden. Sie entstand aber im Juni. Das jedenfalls steht hinten drauf:

Meine beiden – 5. Juni 1966 – Die Katastrophe

Diese Katastrophe hatte zwei Tage zuvor, also am Abend des 3. Juni, ihren Anfang genommen. Da nämlich waren Vincents Hasen fortgelaufen.

Zu sagen, dass Vincent deswegen ›geweint‹ hätte, wäre eine starke Untertreibung. Sein ganzer Körper war an dem seelischen Aufruhr beteiligt. Vor allem seit dem Mittag des 4. Juni. Da nämlich hatte man seine Hasen im Pappelwald auf der anderen Seite der Rue Envie gefunden. Oder besser gesagt das, was nach dem Gemetzel, dem Schlitzen und Reißen, von ihnen übrig war. Vincent hatte sofort gewusst, dass er schuld war am Tod der Hasen, er sah den entscheidenden Moment wie eine Szene vor seinem inneren Auge.

›Ich habe sie gefüttert und Emma gestreichelt …‹

In diesem Moment hatte seine Mutter ihn zum Essen gerufen. Dann war da eine Lücke im Ablauf. Aber es war Vincent vollkommen klar, was passiert war. Er hatte sich beeilen wollen, war gleich losgelaufen und hatte die Klappen der Ställe offen gelassen.

Es hatte nicht eben zu seiner Beruhigung beigetragen, dass Noah de Clercq, ein Nachbar, der zur Hasensuchmannschaft gehörte, sehr lebendig, sehr bildhaft beschrieb, was ein Marder aus den entlaufenen Hasen gemacht hatte. »Blutig. Sehr blutig. Wie geschnitten oder zerrissen.« Mit solchen Worten hatte Noah das Verhängnis geschildert.

Vincents ganzer Körper hatte gezittert, er bekam kaum noch Luft. Vor allem an Emma hatte er gedacht, denn die war trächtig gewesen.

Immer wieder war es zu beängstigenden Ausbrüchen seines kleinen Körpers gekommen, und es ist wohl eine Frage der eigenen Persönlichkeit, ob man bei einem Elfjährigen bereits von hysterischen Anfällen sprechen möchte oder von einem Leid, das sofort gelindert werden muss. Zum Beispiel, indem man das Kind in den Arm nimmt und so stark an sich drückt, dass es allein aufgrund dieser Nähe und drohender Atemnot aus seinem Zustand herausgeholt wird.

Emely hatte es so gemacht. Sie war noch einmal ganz eins mit ihrem Sohn geworden und erzählte später, Vincents Leid hätte sich auf sie übertragen, sie hätte es ihm gewissermaßen abgenommen.

Aber dann war es doch wieder losgegangen mit dem Weinen und Zittern.

In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni hatte die Mutter lange an Vincents Bett sitzen müssen. Eine mit einer 25-Watt-Birne bestückte Nachttischlampe mit rosa Lampenschirm hatte gebrannt, und Emely hatte sich, von diesem Licht nur schwach bestrahlt, über ihren Sohn gebeugt und mit leiser Stimme zu ihm gesprochen, Fragen gestellt. Ihren Kopf ganz nah an seinem.

Iason war zweimal in der halb geöffneten Tür erschienen und hatte die beiden betrachtet. War dann wieder gegangen. Hilflos und verlassen hatte er sich gefühlt. Was auch daran lag, dass seine Mutter und Vincent aufhörten zu sprechen, sobald sie seine Anwesenheit spürten.

Beruhigt hatte sich Vincent erst, als die Großmutter ihm am nächsten Morgen versprach, nach der Arbeit zu einem Händler zu fahren, um neue Hasen zu kaufen. Er hatte daraufhin, indem er so schnell sprach, dass man ihn kaum verstand, geschworen, dass er »nie wieder, bestimmt!« vergessen würde, die Klappen zu schließen. Klappe zu, Hase lebt. So einfach ging seine Rechnung.

Große Aufregung beim Warten auf die Großmutter.

Vincent hatte vom späten Nachmittag an bis in den Abend hinein auf einem Stuhl gekniet, den er vor eines der Fenster geschoben hatte, die nach vorne zur Rue Pensée hinausgingen.

Bei jedem Auto, das in die Rue Pensée einbog, hatte sich sein kleiner Körper ruckartig wie ein Automat aufgerichtet. Dann hatte er sich auf der Fensterbank abgestützt, Rumpf und Kopf nach vorne geschoben, so weit, bis zuletzt seine Nase und sogar sein Mund am Glas klebten. Das alles, um so früh wie nur möglich zu sehen, ob es der Renault Kombi seiner Großmutter war, den er gerade gehört hatte. Er erwartete sie so dringlich, dass er sie im Geiste schon sah, wie sie durch die Tür eintrat und sagte: ›So, Vincent, da bin ich. Ich habe dir vier junge Hasen mitgebracht.‹ Er stellte sich vor, wie er dann rauslaufen würde zu seinen neuen Hasen.

Es war Abend geworden, und Louisa kam und kam nicht. So hatte Emely zuletzt einen Trick angewendet und ihre Söhne gebeten, ihr bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen.

»Nach dem Abendessen spielen wir dann noch eine oder zwei Runden Weltreise.«

Vincent liebte das Spiel mit seinen Karten, Steinchen und Würfeln, denn es gab viel zu entdecken.

»Und am Ende kennt man die ganze Welt!«

Es hatte geklappt. Vincent war, wenigstens eine Zeit lang, so auf die Produktion seiner kleinen Teigröllchen und die Vorfreude auf zwei Runden Weltreise konzentriert, dass er die Großmutter und seine Hasen vergaß.

Emely war erleichtert gewesen. Mehr noch, sie fand, dass sie diesen Moment festhalten sollte. Also hatte sie ihren Fotoapparat aus dem Küchenschrank geholt, sich mit ihrem Rücken gegen den Türrahmen gepresst und dann … abgedrückt.

Meine beiden – 5. Juni 1966 – Die Katastrophe, schrieb sie später auf die Rückseite des Fotos.

Iason war, wie schon am Tag zuvor, sehr still gewesen.

Emely hatte das so gedeutet, dass ihr Ältester allmählich erwachsen wurde. Er schien zu spüren, dass es anstrengend genug war, wenn einer in der Familie weint und zittert. Eine erfreuliche Entwicklung, fand Emely, denn es hatte immer wieder Probleme mit Iason gegeben. Sein Verhalten in der Schule wich so sehr vom Üblichen ab, dass sein Klassenlehrer, Monsieur Arronde, sie zu sich gebeten und darauf hingewiesen hatte, es könnte eine psychische Störung vorliegen. Der Lehrer hatte kein spezielles Wort benutzt, aber erklärt, dass es Menschen gibt, die nicht in der Lage seien, die Gefühle anderer richtig zu deuten oder selbst welche zu entwickeln.

»Weil sie keine haben?«, hatte Emely mehr neugierig als schockiert gefragt.

»Entweder das, oder Iason ist an den Gefühlen anderer nicht interessiert«, hatte Monsieur Arronde geantwortet.

Daraufhin war Iason zwei Tage lang in Brüssel von einem Spezialisten untersucht worden. Der war zu dem Ergebnis gekommen, alles sei völlig in Ordnung.

»Nicht jeder fügt sich gleich ein in das, was wir von ihm erwarten«, hatte er ihr erklärt. »Wenn ein Kind seine Umwelt nicht zur Gänze so wahrnimmt, wie wir es uns wünschen, hat das meist ganz einfache Gründe. Ich würde sagen, Ihr Sohn ist ein Träumer.«

Emely war, auch wenn sie Iason nicht unbedingt als Träumer bezeichnet hätte, ungeheuer erleichtert gewesen nach dieser Diagnose, denn er war ihr aus Gründen, die sie gar nicht hätte benennen wollen, näher als Vincent. Nur ein wenig natürlich, denn Emely war, wie ihr Mann bei den späteren Vernehmungen mehr als einmal betonte, eine gute Mutter. Vielleicht lag es einfach daran, dass Iason ihr Erstgeborener war, und dass auch sie selbst nicht unbedingt dazu neigte, in anderen bis zum Äußersten differenziert zu lesen.

»Warum kommt denn Oma so spät?«, hatte Vincent zuletzt doch wieder gefragt. Ganz matt, beinahe resigniert hatte seine Stimme geklungen.

»Hab noch ein bisschen Geduld, Vinc. Ihr ist vermutlich etwas dazwischengekommen.«

Boff-Boff

Louisa war tatsächlich etwas dazwischengekommen. Sie war, nachdem sie ihre tägliche Arbeit beendet und die Hasen gekauft hatte, auf dem Rückweg von Brüssel nach Envie gewesen, als sie auf ein Hindernis stieß.

»Zum Teufel!«

Ein Rentner aus Holland hatte versucht, mitten auf der Rue Envie mit seinem Mercedes zu wenden. Nur hing an dem Mercedes ein langer Wohnwagen. Das Manöver war so gründlich schiefgegangen, dass das Gespann am Ende beide Spuren blockierte.

Geduld war nun aber nicht gerade Louisas Stärke, die Fehler anderer regten sie schnell auf. Also rüttelte sie, nachdem sich sechs Minuten lang nichts bewegt hatte, sechsmal mit beiden Händen am Lenkrad ihres Renault Kombi und brüllte dabei sechsmal: »Zum Teufel!«

Da griff er ihr ans Herz.

Nachdem sich der Stau aufgelöst hatte, fuhren viele Wagen um den von Louisa herum. Einige hupten, weil die Fahrer es nicht aushielten, dass jemand auf ihrer Spur stand.

Gras neigte sich am Rand der Straße, niemand nahm Rücksicht. Es war einiges los auf der langen Geraden, die Envie über zwei Kilometer Rennstrecke von Brüssel trennte. Rechts ein Wald aus Pappeln in Reihen, links offene Felder mit Gräben. Die Straße war schon 1966 stark befahren, denn sie führte von Brüssel an Envie vorbei, nach Antwerpen im Norden. Auch wer zum Flughafen wollte oder von dort kam, fuhr hier entlang.

Boff-Boff.

Plötzlich fuhr einer, der nicht aufgepasst hatte, von hinten in Louisas Wagen und …

Boff-Boff machte es im Inneren ihres Renault Kombi. Zwei Tüten platzten auf.

Der Körper der Toten wurde ein wenig gerüttelt. Axial. Von hinten nach vorne.

Nora Peers war die erste, die nicht an Louisas Wagen vorbeifuhr. Vermutlich lag es daran, dass sie beim Jugendamt arbeitete, es gewöhnt war hinzusehen und sich, wenn nötig, um Dinge zu kümmern. Sie setzte also zurück, rangierte hinter die beiden Wagen und schaltete die Warnblinkanlage ein. Dann stieg sie aus, stellte ein Warndreieck auf. Sie bewegte sich bei all dem so ruhig, handelte so routiniert, als hätte man ihr beigebracht, wie eine Unfallstelle zu sichern sei. Erst als alles seine Ordnung hatte, ging sie zu den beiden ineinander verkeilten Autos. Im hinteren saß niemand. Entweder war der Fahrer geflohen oder er war auf dem Weg, die Gendarmerie zu benachrichtigen. Als Nora an die von innen bepuderte Seitenscheibe von Louisas Renault Kombi klopfte, geschah nichts. Also zog sie die Fahrertür auf und sah eine mit weißem Pulver bestäubte Frau, die mit ihrer Stirn auf dem Lenkrad lag. Sie fühlte den Puls und stellte fest, dass die Frau tot war.

Im Wageninneren roch es nach frischem Gebäck, und als Nora in den Fond des Wagens blickte und die gestapelten Kisten voller Plätzchen, Kuchen und Pralinen sowie die geplatzten Mehlsäcke sah, war ihr klar, mit wem sie es zu tun hatte, warum es nach Plätzchen roch und warum die Tote so weiß war.

Für den Stall mit den Junghasen fand Nora Peers auf Anhieb keine Erklärung.

Abendlicher Nebel zog auf, denn die Luft, die zuletzt noch golden geleuchtet hatte, kühlte sich rasch ab und das Wasser im Kanal hinter den Feldern war noch warm. Warm war es wegen der Abwässer und Fäkalien, die eingeleitet wurden. Flüssigkeiten, die an sonnenreichen Tagen wie diesem die Algen beschleunigt wachsen, sterben und vergehen ließen, was wiederum dem Wasser den Sauerstoff entzog, was wiederum die silbrigen Bäuche und den leicht fischfauligen Geruch erklärte, der nun in Schwaden zur Unfallstelle zog. Dieser Geruch hatte also nichts mit der Leiche zu tun.

Als nächster erschien Sergeant Mertens. Er erklärte Nora, man habe bereits den Amtsarzt sowie den Bestatter benachrichtigt. Der Fahrer des zweiten Wagens hatte also die Gendarmerie informiert und von einer Toten berichtet. Es war alles korrekt abgelaufen.

Sergeant Mertens und Nora Peers kannten sich, da manche von Noras Schützlingen regelmäßig Ärger mit der Gendarmerie bekamen. Also blieb sie und unterstützte ihn, bis seine Kollegen und die Bestatter da waren.

Fast eine halbe Stunde stand Nora am Rand der Straße, hörte die vom nahen Flughafen regelmäßig startenden Flugzeuge über sich hinwegdröhnen, sah, wie ein Arzt und zwei Kollegen von Sergeant Mertens kamen. Der Arzt hatte den Tod von Louisa Fournier amtlich festgestellt.

Während alle auf den Bestatter warteten, sah Nora die Lichter von Autos, die teils langsam, teils schnell vorbeifuhren, blickte in Augen, die sich sattsahen, an dem, was dort gerade geschah. Sie wurden natürlich nicht satt, denn das Auge wird nie satt. Zwischendurch hörte Nora immer wieder das schnappende Geräusch einer Kamera, auch sie schien unersättlich.

Der Fotograf Hendrik Vanoppen stand auf der anderen Seite der Straße. Wie immer in leicht vorgebeugter Haltung, hinter einem Stativ. Er blickte von oben in seine Kamera, also so, wie es damals noch gemacht wurde von einigen Profis.

»Merde!«

Vanoppen wurde immer wütender, denn die sich nun mächtig ausbreitende Dunkelheit zwang ihn zu immer längeren Belichtungszeiten, und dann fuhren ihm ständig Autos mit hellen Scheinwerfern und grellroten Rücklichtern durchs Bild. Vanoppen wusste, was dabei herauskommen würde: weiße und rote Schlieren vor einem schattig anmutenden Renault Kombi, von hinten per Auffahrunfall unterkeilt, aus dem gerade die weiß bepuderte Leiche einer Frau herausbugsiert wurde.

Die Wohnung der Fourniers

Man weiß nie, ob die Erinnerungen, die man pflegt, am Ende den Tatsachen entsprechen. Nora Peers jedenfalls erinnerte sich, gut vier Jahre später, bei einer der Vernehmungen der Brüder Fournier, ganz plötzlich an diesen Tag. Ihr war der Gedanke gekommen, der plötzliche Tod der Großmutter könnte einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung der beiden Jungen gehabt haben.

»Ich fahre zu den Fourniers«, hatte sie damals zu Sergeant Mertens gesagt. »Die haben zwei Kinder, und mit dem Älteren hatten wir schon mehrfach zu tun. Es ist vielleicht besser, wenn ich der Familie erkläre, was hier passiert ist. Dann sehe ich auch die beiden Jungen. Unser Abteilungsleiter Monsieur Fabre scheidet bald aus, und ich werde Iason ohnehin übernehmen.«

Sergeant Mertens hatte ohne allzu große innere Beteiligung genickt. Es war ihm nur recht, wenn Nora diesen Teil übernahm, da sie mit traurigen oder erschütternden Situationen sicher mehr Erfahrung hatte als er.

Nora war von der Rue Envie in die von Pappeln gesäumte Rue van de Velde abgebogen, holperte die dreihundert Meter entlang, die Envie von der Hauptstraße trennten, fuhr an der Weißen Marie mit den Milchkannen vorbei und kam zuletzt nach Envie rein, wo sich die Hunde gegen die Zäune warfen. Alles hier war noch so wie in ihrer Kindheit.

Envie war einst künstlich, ja beinahe gewaltsam entstanden. Es gab zwar noch so etwas wie einen alten Ortskern, aber im Grunde handelte es sich um kaum mehr als eine von einigen Flurstücken umgebene Siedlung aus zweigeschossigen, in Halbbögen gruppierten, aneinandergeklebten Gebäuden gleicher Form, die man in den frühen zwanziger Jahren errichtet hatte. Häuser, bei deren Anblick einem fast automatisch die alten Industriezentren in England in den Sinn kamen.

Es gab eine heruntergekommene Kirche, einen Feuerwehrteich mit rötlichem Wasser, drei alte Höfe, ein in einer leichten Senke gelegenes Gemeindezentrum mit einem überdimensionierten Parkplatz. Aber da war kein Gedanke zu erkennen, keine Form. Envie war nie ein richtiger Ort gewesen, sondern eine vollkommen künstliche Konstruktion um etwas zufälliges Altes herum. Auf die Schnelle erbaut, Hauptsache billig. Man brauchte Wohnungen für die Arbeiter der Zündholz- und der etwas später entstandenen Reifenfabrik. Envie war klein und doch war dem Ort deutlich anzusehen, dass er eigentlich hatte Stadt werden sollen. Was also war dieser Ort, der oft unter einer dicken Schicht Nebel verschwand? Eine Stadt? Ein Dorf? Eine Kleinstadt? Am ehesten war Envie so etwas wie ein Rand. Ein Vorposten der Hauptstadt Belgiens. Im Pappelwald auf der anderen Seite der Rue Envie standen die Bäume mit ihren schnurgeraden Stämmen da wie ein gigantisches Raster. Auch bei ihnen schien nicht entschieden, ob sie Natur, Struktur oder Rohstoff sein wollten. Alles hier war seit langem bereit, der Stadt zugeschlagen zu werden, doch war es dazu nie gekommen.

Die Wohnung der Fourniers lag in der Rue Pensée. Dass sie hier lebten, fand Nora höchst sonderbar. Denn sie hielt die Fourniers für wohlhabend. Erst später fand sie heraus, dass die Wohnung bis in beide Nachbarhäuser hinein erweitert worden war und dass nicht nur diese drei Häuser den Fourniers gehörten.

Emely war nicht eben erfreut, als Nora sich vorstellte.

»Schon wieder das Jugendamt?«

»Darf ich kurz reinkommen?«

»Sonst kam immer ein Mann.«

»Monsieur Fabre, ich weiß.«

»Was hat Iason denn jetzt wieder gemacht? Ich habe Monsieur Fabre letztes Mal schon erklärt, dass mein Sohn nicht dumm ist, und auch kein Verrückter, wie seine Lehrer behaupten. Wenn er sich mit Leo prügelt, dann ist nicht immer er schuld. Leo geht doch auch auf andere los. Sein Vater … Simon Lejeune, kennen Sie den?«

»Nein.«

»Simon Lejeune, den Namen sollten Sie sich merken. Der hetzt hier alle auf. Vor allem gegen uns. Seit Jahren geht das schon so. Und sein Sohn meint offenbar, er müsse seinem Vater nacheifern. Iason verteidigt sich nur.«

»Ich bin nicht wegen Iason hier. Darf ich kurz reinkommen?«

»Natürlich. Entschuldigen Sie … Wir haben hier gerade eine Hasenkatastrophe.«

Die Zimmerdecke der Stube hatte eine Höhe von 2,26 Metern, es roch nach angebratenem Sauerkraut. Da Emely die Tür zur Küche nicht sofort geschlossen hatte, sah Nora, dass sich auch hinter den Häusern nichts verändert hatte. Noch immer standen dort Schuppen und Ställe, in denen vermutlich Hasen gehalten wurden. Sie kannte das aus ihrer Kindheit und meinte sofort einen bestimmten Geruch wiederzukennen, der sich unter den des Sauerkrauts mischte. Das alles passte überhaupt nicht zu ihrer Vorstellung vom Reichtum der Fourniers.

Emely trug eine Kittelschürze mit Fingerstreifen aus Mehl, wie sie entstehen, wenn man schnell arbeitet. Sie hatte, als Nora die Wohnung betrat, etwas von einer Pfanne gesagt, die sie auf dem Herd hatte, und war kurz in der Küche verschwunden. Nachdem sie zurückgekehrt und Nora ihr erklärt hatte, was passiert war, zeigte sich Emely erschüttert.

»Und niemand hat angehalten? Meine tote Mutter hat fast zwei Stunden in ihrem Auto gesessen und keinen hat das interessiert?«

»Was soll ich sagen?«

Emelys sich sofort anschließende nächste Frage hatte Nora irritiert.

»Sind die Pralinen noch im Wagen?«

»Ja. Nahm Ihre Mutter Medikamente? Hatte sie was mit dem Herzen?«

Da hatte Emely ein stoßartiges, vermutlich dem Schock geschuldetes Lachen von sich gegeben. »Oh ja, meine Mutter hatte was mit dem Herzen, aber nicht was Sie meinen.«

»Sondern?«

»Sie war kein schlechter Mensch, nicht, dass Sie das falsch verstehen.«

Nora Peers hatte sich inzwischen an den Geruch von angebratenem Sauerkraut gewöhnt. Mehr noch. Sie meinte, bei ihnen zu Hause habe es früher ganz ähnlich gerochen. Ja, sie sah sogar für einen kurzen Moment eine Szene, in der ihre Mutter vor dem Herd stand, dabei eine Pfanne ruckartig bewegte. Und noch etwas stimmte mit der Wohnung überein, in der ihre Mutter sie großgezogen hatte: An der Wand, neben einem Bild von de Gaulle, der gerade einem jungen Soldaten einen Orden anheftete, hing ein Kreuz.

»Hatte meine Mutter einen Herzinfarkt oder … Schlaganfall? War es das?« Dann, nach einer schreckhaften Hebung der Lider: »Sind die Hasen noch im Auto?«

»Ich habe Ihnen den Käfig mitgebracht. Er steht draußen neben der Tür. Ich glaube, die Tiere sollten bald etwas zu trinken bekommen. Im Wagen Ihrer Mutter war es sehr warm.«

»Wenn meine Mutter … Sie ist tot, das sagten Sie doch.«

»Ja.«

»Warum kommt dann jemand vom Jugendamt?«

»Ich war zufällig vor Ort und hielt es für besser, wenn ich Ihnen die Nachricht überbringe. Wie werden die Kinder darauf reagieren?«

»Na, die werden traurig sein, was denken Sie denn?«

»Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich?«

Die Hasen, das Kreuz, de Gaulle, der einen Orden anheftet, das angebratene Sauerkraut. Der Raum war bis zur Decke angefüllt mit Bedeutung. Die beiden Frauen standen voreinander. Unbewegt. Ganz ähnlich wird Nora in viereinhalb Jahren vor Pauline Goossens Mutter stehen. Sie wird dann sagen: »Wir haben Ihre Tochter gefunden.«

Die Mitteilung vom Tod ihrer Mutter schien erst jetzt wirklich anzukommen. Emely setzte sich auf einen Stuhl, drehte Kopf und Oberkörper ein gutes Stück nach rechts und blickte Richtung Fenster, also in die Richtung, aus der tagsüber das Licht kam.

»Iason wird das nicht groß anrühren«, erklärte sie nach einer Weile. »Iason ist …«

Emely ließ den Satz so, wie er war, und es gab eine Weile kaum mehr Bewegung als auf einem Foto. Man hörte die Standuhr. Groß. Dunkel. Mit Pendel. Das immerhin bewegte sich. Louisa hatte die Uhr im Krieg in Zahlung genommen, als welche schnell wegziehen mussten. Sie war nie ausgelöst worden.

Nora verzichtete darauf zu sagen, es sei sicher schnell gegangen. Der Satz hatte ihr auf der Zunge gelegen. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch, und als sie sich umdrehte, standen dort zwei Jungen. Der ältere war kräftig gebaut. Nora schätzte ihn auf dreizehn und nahm an, dass es Iason war. Der Jüngere stand dicht neben ihm. Er war sehr zierlich, beinahe dürr. Beide hatten Mehl an den Händen, der Jüngere auch im Gesicht.

»Maman …?«, fragte der Ältere mit französischem Klang, denn bei den Fourniers wurde Französisch gesprochen. Flämisch kam nur draußen zum Einsatz.

Emelys Kopf und Oberkörper kamen langsam, beinahe träge herum. »Sei so lieb, Iason, und bring Vinc in die Küche. Ich komme dann gleich und erkläre es euch.«

»Meine Hasen?«, fragte der Kleine, seine Stimme überschlug sich dabei.

»Gleich, Vinc. Jetzt rede ich erst noch mit Madame Peers.«

»Keine Sorge, den Hasen geht’s gut«, erklärte Nora. »Ich habe den Käfig vor dem Haus abgestellt.«

Der Kleine wollte sofort hinlaufen, aber sein älterer Bruder hielt ihn fest an der Hand. Es war nicht schön, was Nora sah. Der Kleine versuchte, sich der Hand seines Bruders zu entwinden, aber der hielt ihn. Eisern, ohne auch nur eine Miene zu verziehen oder sich groß anzustrengen.

»Geht sofort in die Küche«, befahl Emely mit einiger Schärfe. »Du auch, Vinc. Wenn wir hier fertig sind, holen wir deine Hasen. Ihr könnt schon mal die Weltreise vom Tisch räumen.«

Nora sah, wie der Ältere seinen Bruder aus dem Zimmer führte. Dabei fiel ihr Blick noch einmal durch die geöffnete Tür in die Küche. Dort stand vor dem Fenster ein Tisch, darauf ein Spielbrett, ein Würfel sowie einige Karten. Über all dem eine Lampe, die ihr Licht senkrecht auf den Tisch warf. Sie bemerkte, wie sehr der Jüngere sich nun an den Älteren klammerte. Eben hatte er doch noch versucht, sich von ihm loszumachen.

Nachdem Nora gegangen war und die Hasen in ihren Ställen saßen, hatte Emely Iason und Vincent gebeten, einen Moment ruhig zu sein und ihr zuzuhören.

»Warum?«

»Weil heute etwas sehr Trauriges passiert ist, Vinc. Eure Oma ist gestorben.«

»Aber sie war doch noch ganz gesund, heute Morgen.«

»Du hast recht, Vinc. Aber man sieht Menschen nun mal nicht immer an, wann ihre Zeit abgelaufen ist.«

Als Emely das sagte, hatte Vincent kurz zur Küchenuhr hochgesehen. Er hatte viele Fragen gestellt. Auch welche zum Tod ganz allgemein.

»Und sie steigt wirklich auf?«

»Ihre Seele steigt auf.«

Da Vincent noch immer nicht überzeugt war, hatte Emely es etwas genauer erklärt.

»Louisa ist gestorben, weil sie an einem heißen Tag zu schwer gearbeitet hat und dann auch noch einen Umweg wegen der Hasen machen musste. Es war zu viel, aber sie hat es gerne getan. Weil sie dich lieb hatte.«

Vincent hatte genickt. Liebe – Tod – Seele – Aufsteigen. Das schien ihm gerecht. Das Aufsteigen war die Belohnung für die Liebe.

Iason hatte nichts gesagt. Er hatte dagesessen wie eine Puppe.

Dieses Ereignis spielt nicht nur deshalb eine Rolle, weil es dabei um den Tod von Iasons und Vincents Großmutter ging. Es waren die sonderbaren, nie selbst gesehenen Details, die sich den Brüdern einprägten. Ihre Mutter nämlich besaß ein Talent, Geschichten zu ergänzen, teils weitgehend zu erfinden.

Aus Emelys Erzählung von Louisas Tod wurde schon bald eine familiäre Vorstellung, die sehr wahrhaftig, ja beinahe schicksalhaft wirkte. Emely trug die Geschichte vom Tod ihrer Mutter in einer Weise vor, als sei sie selbst dabei gewesen. Sogar wie es dort oben an der Rue Envie gerochen hatte schien sie zu wissen. Aber das war schon zu Zeiten der Griechen so. Die Ausschmückungen, mehr noch die Verrückungen scheinen unumgänglich. Gerade auch wenn es um Familiengeschichten geht. Nur bezeichnete man solcherlei Verfälschungen damals als Metamorphosen, nicht als Phantasterei. Und immer spielen Schicksal und Zufall mit hinein. Wäre zum Beispiel die Jagd nach dem goldenen Vlies in der gekonnten Neufassung von 1954 nicht so saftig beschrieben worden, hätte man Emely das Buch vermutlich gar nicht empfohlen. Sie hätte es nicht gelesen und Iason hätte einen anderen Namen bekommen. So kann man sagen, die Wirklichkeit der Familie Fournier verdankte sich letztlich verschiedenen erzählten, geglaubten oder erträumten Geschichten. Im Fall von Iason und Vincent irgendeine Art von Wahrheit, Erinnerung, Recherche oder einen Aufklärungsgedanken zum Ansatz zu bringen wäre falsch.

Der Parkplatz vor dem Gemeindezentrum

Die Gefühls- und Gedankenwelt der Brüder Fournier speiste sich natürlich nicht nur aus dem, was ihre Mutter ihnen erzählte. Einiges, was die beiden prägte, erfuhren sie auf dem Parkplatz vor dem Gemeindezentrum, dem allgemeinen Treffpunkt in Envie. Die Geschichten, die dort erzählt wurden, unterschieden sich nicht nur inhaltlich von Emelys Legenden. Auch die Form war eine ganz andere. Die Parkplatzgeschichten waren verstrudelt, mäanderten so schwungvoll, dass man am Ende kaum entscheiden konnte, ob es gerade um Politik ging, um Fragen der Landwirtschaft, ums Wetter oder die Art, wie sich junge Frauen neuerdings anzogen. Vor allem eine vor kurzem nach Envie gezogene Frau namens Sylvia Neersteen stand oft im Zentrum teils ungebremst auswuchernder Vorstellungen. Was vor allem an der Kürze ihrer Röcke und den sehr speziellen Stiefeln lag, die sie oft trug.

Schon Monate vor Louisas Tod hatten sich Iason, Vincent und ihr Freund Lukas einige Male hinter einer Hecke versteckt und die Männer und Frauen auf dem Parkplatz vor dem Gemeindezentrum belauscht.

Nach drei solcher Observierungen war Lukas nicht mehr dabei. Er fand, dass da nur dumm geredet wurde und das meiste nicht stimmte.

Iason sah das ganz anders. Er hatte eine Auffassung von dem, was andere sagten, die sich nicht vollständig damit erklären ließ, dass er erst zwölf Jahre alt war.

»Der Junge«, hatte sein Mathematiklehrer Dr. Brouwer ein paar Tage zuvor im Kollegium erklärt, »ist leichtgläubig und nicht eben mit großer Kombinationsgabe gesegnet. Dafür ist er ein Schläger, wie er im Buche steht. Vor allem auf Leo scheint er es abgesehen zu haben. Früher oder später wird einer von uns vor der Aufgabe stehen, ihn endlich mal zur Räson zu bringen. Die Eltern scheinen sich, was das angeht, nicht allzu sehr anzustrengen. Nun, es sind einfache Konditoren. Für sie ist ein prügelnder Junge vermutlich normal.«

Iasons Klassenlehrer, Monsieur Arronde, hatte Dr. Brouwer in einigen Punkten mit einem länger andauernden Nicken zugestimmt. Auch er war besorgt. Zwar hatte er Emely gegenüber nicht direkt von einem Mangel an Intelligenz gesprochen, sein Eindruck ging aber in diese Richtung: »Iason scheint das, was er wahrnimmt, nicht immer richtig einordnen zu können. Neulich zum Beispiel gab es einen Autounfall vor der Schule. Niemand hatte ihn gesehen, aber gehört hatten das alle. Zuerst ein Quietschen, dann der Zusammenprall. Alle in der Klasse sprachen sofort von einem Autounfall, Iason beschrieb nur die Geräusche. Und zwar mit einer Genauigkeit, als ginge es um Musik. Es war, als könnte er das nicht übersetzen, als wüsste er gar nicht, was ein Autounfall ist.«

Bei den Parkplatzgesprächen, die Iason und Vincent am meisten beeindruckt hatten, ging es um Politik, Krieg und Dinge, die sich weit entfernt von Envie abspielten. In der Schule, vor allem aber bei ihnen zu Hause, wurde nie über so etwas geredet. Die Eltern sprachen über die Zuverlässigkeit von Mitarbeitern, über Kosten, Umsätze oder die anstehende Inspektion der Auslieferungswagen.

Was die Brüder Fournier nun auf dem Parkplatz vor dem Gemeindezentrum zu hören bekamen, war so aufregend, so neu, manchmal auch lustig, dass sie oft am Abend, in der halben Stunde, die sie vor dem Schlafengehen für sich hatten, darüber sprachen.

»Soll ich dir mal sagen, wie ich es sehe, Vinc?«, hatte Iason gefragt, nachdem sein Bruder eine Tafel Schokolade gerecht geteilt hatte. »Ich finde, Simon Lejeune weiß von denen auf dem Parkplatz am meisten. Er weiß jedenfalls mehr als Papa.«

»Den Vater von Leo findest du gut? Maman sagt, er lügt, sobald er den Mund aufmacht.«

»Weil er so viel weiß.« Iason überlegte kurz. Er meinte, es würde etwas nicht ganz stimmen an seiner Erklärung. Er kam nicht drauf. »Deshalb finde ich ihn gut.«

»Ich finde, Vivienne Maes weiß noch mehr.«

Vivienne Maes und ihr ständig betrunkener Mann Ronny lebten im kleinsten der drei verbliebenen Bauernhöfe, Land besaßen sie keins mehr. Wie Simon Lejeune züchtete auch Ronny Hunde, und viele in Envie behaupteten, das Dach ihres Hauses würde bald einstürzen.

»Vivienne weiß gar nichts, außer über jeden was Schlechtes«, sagte Iason. »Vor allem redet sie nie über Vietnam.«

Vincent verzog sein Gesicht in der Art, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Schließlich kam ihm eine Idee. »Gehen wir Freitag wieder hin? Freitag bringen Simon und Louis doch immer Bier mit.«

»Wird bestimmt lustig.«

Louis hatte mehrere Berufe. Er fegte hin und wieder Simons Werkstatt aus, wurde vom Gemeinderatsvorsitzenden Enno de Cock wochenweise für verschiedene Arbeiten in der Gemeinde engagiert, spielte bei den Predigten die Orgel und leitete den Kirchenchor, in dem auch Iason mitsang.

»Mit Bier reden sie noch mehr durcheinander«, sagte Vincent. »Vor allem, wenn entweder die Schwestern Le Bois oder deren Brüder oder gleich alle vier dabei sind, denn die reden fast immer gleichzeitig und sind nie einer Meinung.«

»Und es hat einen ganz komischen Klang, wenn sie mit Bier reden. Als ob sie versuchen würden zu singen.«

Auch Iason und Vincent hatten schon drei, viermal Bier getrunken. Viel Süßes dazu gegessen. Weil Iason neuerdings Geld hatte. Vor allem Münzen.

»Du musst erst mal alleine hin, Vinc. Ich komme später nach, weil … Ich muss Freitag erst noch in der Kirche die Gesangbücher abwischen.«

»Als Strafe?«

»Schon.«

»Für was?«

»Für gar nichts. Der Pfarrer mag mich nicht, er behauptet, ich hätte der heiligen Madonna mit Filzstift einen Bart angekritzelt.«

»Aber du hast nicht wieder was aus der Kollekte geklaut, oder?«

Nach und nach bekamen Iason und Vincent auf dem Parkplatz vor dem Gemeindezentrum eine Ahnung davon, wie es wirklich aussah in der Welt. Zum Beispiel in Vietnam. Noch nie hatten sie irgendwen so deutlich wie Simon Lejeune darüber reden hören, was die von den Russen vorgeschobenen Vietcong den Menschen dort unten antaten.

»Die russischen Vietcong ertränken ihre Gefangenen in Schlammlöchern und Latrinen«, hatte Simon zum Beispiel gesagt. Iason und Vincent hatten ihre Mutter erst mal fragen müssen, was die Worte Latrinen und Vietcong bedeuteten.

Iason bewunderte Simon Lejeune nicht nur, weil er so viel wusste, sondern auch, weil er genau das besaß, was er selbst sich für später erträumte. Maschinen und eine enorme Hebebühne, die selbst große Traktoren und mittlere Laster hochbekam. In seiner Werkstatt ging Simon den Dingen bis in die letzte Schraube auf den Grund, und bekam zuletzt alles wieder hin.

Es hatte da einen Moment gegeben … Iason in der Einfahrt von Simons Werkstatt, ganz am Rand vor sehr hellem Hintergrund, halb versteckt hinter einem T-Träger. Er hatte wie so oft ein wenig geschnuppert, denn er liebte den Geruch von Schmierfett und Benzin. Ja sogar den von Hitze. Er war auch selbst sehr erhitzt gewesen, denn am Vormittag, in der Schule, hatte ihm Julie, die schon dreizehn war, aus Spaß zweimal ganz lange und zart ins Ohr gepustet. Daran und an das Gefühl, das durch seinen Körper gegangen war, musste er an diesem glühheißen Nachmittag denken, als er dicht angepresst an dem sonnenerwärmten T-Träger stand und das Schmierfett roch. Für ihn verband sich Julies Pusten auf schöne Weise mit dem Geruch von Schmierfett, Öl und Benzin. Es war ein Moment totalen Glücks und unendlicher Freiheit gewesen. Es war ihm vorgekommen, als würde sich sein Körper an etwas sättigen, von dem er gar nicht genug bekommen konnte. Er liebte diesen Mann. Er liebte ihn mehr als seinen Vater. Und er hasste Leo. Obwohl der Simons Sohn war. Oder gerade deswegen.

Am Abend nach Louisas Tod, also am 6. Juni 1966, kauerten die Brüder nicht hinter der Hecke. Sie befanden sich etwa hundert Meter entfernt zusammen mit ihren Eltern und einigen anderen Fourniers in der Kirche. Gerade war der letzte Gast der trauernden Familie im Portal verschwunden, und angesichts des Todes, der ganzen feierlichen Situation, könnte man meinen, der Platz vor dem Gemeindezentrum sei leer gewesen, würde gewissermaßen mittrauern. So war es aber nicht. Es reichte, den Blick ein wenig nach rechts zu wenden. Denn dort standen sie. Simon Lejeune und die anderen. Sie fingen allerdings nicht sofort an zu reden, die Totenglocke der Kirche war zu laut. Vielleicht war ihr Schweigen auch Ausdruck eines kleinen Rests von Anstand.

Es war ein schöner, ein durch und durch charakteristischer dörflicher Abend.

Die Vögel in den Bäumen ließen sich mitreißen und sangen so laut, als gelte es gegen die Glocken anzukommen. Unter dem Geläut und Vogelgesang verbreitete sich der typische Geruch von Envie. Ein im Sommer stets leicht fischfauliger Duft, der in dieser Ausprägung vor allem gegen Abend verstärkt vom Kanal hochzog und sich in der Senke vor dem Gemeindehaus sammelte. Zwei Katzen in geduckter Stellung wischten mit ihren Schwänzen hin und wieder flach über den Boden und beobachteten, was dort geschah, mit der für diese Tierart typischen Konzentration.

Als die Glocken fertig waren, sprachen Simon und die Seinen über den für alle so unerwarteten Tod von Louisa. Und über ihr Leben. Jeder hatte etwas beizutragen, vor allem Vivienne Maes hatte so einiges gehört und wusste noch mehr aus dritter Hand. Bei diesem ›Gedenken‹ kam nicht nur Vorteilhaftes zur Sprache. Es entstand sogar ein kleiner Streit, denn es fanden sich schon damals Ankläger und Verteidiger der Fourniers. Wie immer, wenn man über sie sprach, ging es früher oder später um Geld und Besitz, und jedem, der Simon Lejeune, Vivienne Maes, den Schwestern Le Bois, Noah de Clercq und Louis Martin an diesem Abend zugehört hätte, wäre hinterher klar gewesen, dass Louisa einigen, die schnell wegmussten, als die Deutschen kamen, mit größeren Summen ausgeholfen hatte. Meist, indem sie Land oder Häuser erwarb. Ob zu einem anständigen Preis oder nicht? Eben darüber herrschte keine Einigkeit.

Zuletzt, nach einer kleinen Pause, machte Louis Martin noch eine Bemerkung. Es klang, als wäre er gerade darauf gekommen, als spräche er mehr zu sich selbst.

»Aus Frankreich …«

»Was ist mit Frankreich?«, fragte Noah de Clercq, der einen Kiosk am Feuerwehrteich betrieb und die anderen oft bremste, wenn es gegen die Fourniers ging.

»Wenn man sie fragen würde«, präzisierte Louis seinen Gedanken, »die Fourniers würden eher zu Frankreich stehen als zu uns, denn viele von ihnen leben da unten. Ich weiß nicht, ob ihr mal in der Wohnung wart, aber da hängt ein gerahmtes Foto, noch aus dem Krieg. Da heftet de Gaulle einem von ihnen einen Orden an.«

»Du meinst das Bild mit der schwarzen Schleife?«, fragte Noah. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Jeder in Envie weiß, wie die Fourniers zu ihrem Besitz gekommen sind, kein Grund, deshalb zu streiten«, erklärte Simon Lejeune kurz und bündig.

Keine Sekunde zu früh, denn nun dröhnte eine startende Boeing 707 in so niedriger Höhe über den Platz, dass man ohnehin nichts mehr verstanden hätte.

In der Kirche achtete niemand auf das dröhnende Flugzeug. Man kannte das seit Jahrzehnten und Pfarrer Jacobsen hatte eine kräftige Stimme.

Er fand Gehör. Vor allem bei Vincent, der mit leicht geöffnetem Mund lauschte und nach und nach begriff, dass es für jedes Elend, sogar für den Tod, einen Weg der Errettung gab.

Der Geruch von Weihrauch, der vergoldete Stuck an den Flügeln der Engel, die Worte des Pfarrers, das alles wirkte sehr unterschiedlich auf die Brüder. Während Vincent den Pfarrer mit frommem Blick ansah und in Worten Handlungsanweisungen erkannte, betrachtete Iason, was zu sehen war, vor allem die etwas wüste und unklare Malerei oben im Tonnengewölbe, über dem Pfarrer. Er dachte dabei an Julie und spürte, dass sein Herz pochte wie nach einem langen Lauf.

Wie gut die Predigt des Pfarrers war, zeigte sich, als Emely beim Verlassen der Kirche einen nicht unerheblichen Betrag in einen Kasten fallen ließ.

Vielleicht war der Anblick von Geld der Auslöser. Jedenfalls zog Pfarrer Jacobsen sie noch kurz zur Seite. »Ist denn mit der Erbschaft alles vernünftig geregelt? Weiß man schon, wem Louisa etwas vermacht hat? Das Dach unserer Kirche muss neu gedeckt werden und sie hatte mir versprochen, etwas zu diesem Vorhaben beizusteuern.«

Emely nickte, verließ zusammen mit Iason die Kirche und dachte bei sich, dass Pfarrer Jacobsen im Topf des Teufels enden würde. Ihr lebhafter Verstand produzierte ein Bild, in dem der Teufel die Menschensuppe, aus welcher der Pfarrer herausragte, mit Münzen aus der Kollekte garnierte.