Hinterm Deich - Matthias Wittekindt - E-Book

Hinterm Deich E-Book

Matthias Wittekindt

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Beschreibung

Der neunzehnjährige Manz verbringt sein Polizeipraktikum in der Dienststelle des gottverlassenen Dörfchens Sandesiel an der Nordseeküste. Warum gerade dort, wo sich doch alle anderen Polizeianwärter seines Jahrgangs für die großen Städte bewerben? Wegen Lena natürlich, die er in einer Oldenburger Diskothek kennengelernt hat – 1964 hat Manz nichts als »Girls« im Kopf. Als es auf einer Landstraße zu einem schweren Verkehrsunfall mit zwei Toten kommt, schickt Manz' Bärenführer Rönne ihn los, die Bewohner der umliegenden Höfe zu befragen. Gerüchte über die Unfallstelle werden Manz zugetragen: Bauer Eggert, der angeblich an den Folgen eines Schlaganfalls leidet, sei dort verprügelt worden, weil er seine drei Töchter missbraucht. Und auch von dem Verdacht, dass mehrere Todesfälle der vergangenen Monate auf den Einsatz giftiger Pestizide zurückzuführen sind, erfährt Manz. Dann hat er noch so ein Gefühl: Stimmt etwas nicht mit dem roten Lack des Unfallfahrzeugs? Welcher Spur lohnt es sich nachzugehen? Mit vierundsiebzig denkt Manz an seinen ersten echten Einsatz zurück, bei dem er noch viel zu lernen hatte – und das nicht nur als Polizist ... 

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Matthias Wittekindt

Hinterm Deich

Ein Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz

Roman

Kampa

Ein schrecklicher Mantel

Als Manz aufwacht, öffnet er zunächst nur ein Auge. Das rechte. Kaum dass er seine Sinne halbwegs beisammenhat, kann er nicht glauben, was in der Nacht mit ihm geschehen ist. Er hat von seiner Mutter geträumt.

Sie war noch jung in seinem Traum, er ein Kind.

Wir standen in der Küche.

Die mit den kuchenteiggelb lackierten Hängeschränken aus den Dreißigern. Neben seiner Mutter blubberte die Kaffeemaschine.

Das muss dann noch in der Baumbachstraße gewesen sein, nicht in der Wolfhagener. Obwohl … In der Baumbach hatten wir noch keine Kaffeemaschine.

Genau hätte Manz weder das Jahr noch sein Alter noch das seiner Mutter bestimmen können.

Wie es in Träumen vorkommt, ist nicht alles erklärlich, und viel ist auch nicht geschehen. Im Grunde erinnert Manz sich nur daran, dass seine Mutter mit sehr harter, auch ihm gegenüber abweisender Miene, einen …

Wie soll man das Ding nennen? Wintermantel?

So einen hatte sie angezogen?

Um draußen an einem Kampf teilzunehmen.

Was für ein Kampf das war, hätte Manz schon beim Aufwachen nicht mehr sagen können. Das Schlimmste an seinem Traum war ja auch gar nicht der Kampf, dem seine Mutter sich stellen wollte. Ihr Mantel hat ihm Angst gemacht.

War noch gar nicht richtig fertig. Wir hatten nie viel Geld, aber dass sie mit so einem draußen rumgelaufen wäre?

Ein aus schlecht verarbeiteten, halb geschorenen Schafsfellen nur grob zusammengeschustertes, zottiges, teils noch blutiges Ding war das gewesen, das bis fast auf den Boden ging.

Horror irgendwie. Eine Art Horrorfilm.

Zumindest war es ein Horrortraum. In dem es darum ging, dass es unendlich lange dauerte, bis seine Mutter mit dem Anziehen ihres Mantels fertig war …

Fielen ja auch immer wieder Teile ab von dem Ding.

… und dass er die ganze Zeit unter größter Anstrengung versuchte, sie vom Verlassen der Wohnung abzuhalten.

Ihr Kampf war in Manz’ Traum gar nicht vorgekommen. Es ging eher um den Kampf des kleinen Manz, seine Mutter zurückzuhalten. Damit sie nicht stirbt.

 

»Hast du meine Handtasche gesehen?«

Manz’ Frau, Christine, stellt diese Frage zwei Stunden nach seinem schreckhaften Erwachen. In einem Ton, als wäre dies ein Tag wie jeder andere.

»Welche?«

»Die schwarze.« Christine scheint ungerührt von dem schrecklichen Anruf am Abend zuvor. »Ich finde, Wolfgang hat gestern eine höchst sonderbare Rede gehalten. Wie fandest du seinen Auftritt?«

»Du meinst, weil er so ausführlich über Heranwachsende und Frauen gesprochen hat?«

»Theo ist es auch aufgefallen, der hat sich richtig erschrocken.«

»Entschuldige, Christine, aber nach dem Anruf aus Berlin habe ich eigentlich nichts mehr von den Gesprächen mitgekriegt.«

»Hab ich gemerkt.«

»Meine Mutter würde niemals zugeben, dass es schlecht um sie steht oder dass sie Hilfe braucht.«

Am Vorabend hatten sie Besuch von Manz’ Ruderfreunden Wolfgang und Theo gehabt. Eine Stunde nachdem die beiden eingetroffen waren, hatte das Telefon geklingelt. Manz hatte, während er einem Arzt vom Arbeiter Samariterbund zuhörte, gespürt, wie ihm die Sekunden des Lebens verrannen.

»Aber im Moment ist meine Mutter bei Bewusstsein, oder?«, hatte er gefragt. Sekunden. Ganz schlimm. Erst zuletzt, nachdem der Arzt ihm einiges erklärt hatte, brummte Manz: »Na, Gott sei Dank.«

Wie lange das Gespräch tatsächlich dauerte, hätte er hinterher nicht mehr sagen können, ahnte es aber. Vermutlich keine drei Minuten … dieser Arzt, wenn das überhaupt ein echter Arzt war, hat versucht mich … warum eigentlich müssen Hinterbliebene beruhigt werden? Nun gut, jetzt übertreibst du.

Es war eigentlich nicht seine Art von sich selbst in der zweiten Person zu sprechen oder zu denken.

Irgendwann hatte Manz aufgelegt. Kurz überlegt. Dann seine Frau – wohl ein wenig im Befehlston – zu sich in die Küche gebeten.

Sie hatten mit ihrer ältesten Tochter in Hamburg telefoniert, weil … »Claudia ist Ärztin, die wird uns helfen«.

Claudia hatte versprochen sich mit dem Arzt des ASB in Verbindung zu setzen, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich los war, mit Manz’ Mutter.

Nach dem Rückruf von Claudia, alle sind so unbedingt darauf aus mich zu beruhigen, hatte Christine sich, wie er meint, unangemessen theatralisch aufgerichtet und gesagt: »Du hast es gehört. Es besteht keine Gefahr, sie ist vermutlich nur gestolpert. Also denk bitte dran, wir haben Gäste.«

Er hatte aber nicht dran denken können. Die Gäste – eigentlich seine beiden besten Freunde – hatte er nur noch als sprechende Wesen wahrgenommen. Seine vollständige Abwesenheit war aufgefallen, und Wolfgang und Theo waren dann ja auch bald gegangen. Was Christine sehr unangenehm war.

Sie hatten sich deswegen beim Zu-Bett-gehen – sie schüttelte gerade ihr Kopfkissen auf – gestritten. Nur kurz zwar, aber da hatte er diese Sätze zu ihr gesagt. »Wie du das mit meiner Mutter behandelst, diese sonderbare Klarheit, das ist … Nein, Christine, und ich meine das ernst! Mit einer derart rationalen Kälte … Mit einer derartigen Kälte …«

Er war nicht in der Lage gewesen, seine Sätze zu Ende zu bringen, und Christine war weder in dem Moment mit dem Kopfkissen noch heute Morgen beim Frühstück mit auch nur einem Wort darauf eingegangen.

 

»Ach Gott, da hätte ich auch gleich draufkommen können!«

Die Handtasche steht neben der Chaiselongue. Sie lehnt dort, fast möchte man sagen, friedlich, am chinesisch gestalteten Übertopf der Zimmerpalme.

»Jetzt komm bitte«, fordert sie. »Wolfgang ist sicher pünktlich.«

»Dass du in so einer Situation derart gelassen bleiben kannst.«

»Sobald ich aus Dresden zurück bin, fahren wir nach Berlin und sehen nach deiner Mutter.«

Manz folgt seiner Frau in den Flur, der, von der Größe und Gestalt her, eher den Charakter einer Diele hat. Eine aus hellgrauem Holz gefertigte, leiterartige Treppe steigt vor einer blutrot gestrichenen, grob verputzten Wand steil empor. An dieser Wand hängt die von Manz im Laufe von gut zwanzig Jahren zusammengestellte Ahnengalerie. Fotos, teils sehr alt. Bei seinem Zweig der Familie gibt es zwar deutlich mehr Verwandte und Vorfahren, dafür reicht diese Reihe längst nicht so weit zurück wie die der Vorfahren seiner Frau.

Nun gut, die von Christine waren Akademiker.

Warum gerade Manz ein solches Interesse für Familienangelegenheiten entwickelt hat und nicht seine Frau, da gehen die Meinungen auseinander. Manche behaupten, es hinge mit seiner Arbeit beim Morddezernat der Kriminaldirektion 5 in Neukölln zusammen. Tante Elli, die zu allem etwas Kluges zu sagen weiß, hatte auch in diesem Fall eine Erklärung: »Na, die Ahnenreihe hat er zusammengetragen, weil seine Mutter nie mit was rausrückt, was seinen Vater angeht.«

Manz hatte nämlich keinen Vater. Dafür Onkel Jochen. Der kam … Ja, 1952 kam er ins Haus. Als ich sieben war.

Onkel Jochen konnte einiges. Zum Beispiel Männer von grässlichen Leiden und Mängeln befreien, weil, Onkel Jochen war Urologe. Mit seiner Ankunft veränderte sich einiges im Haus. Zum Beispiel fragte Manz nie wieder nach seinem Vater.

Onkel Jochen war natürlich kein leiblicher Onkel, sondern … Nun, Manz’ Mutter hatte ihn auf der Pferderennbahn kennengelernt. Sie ging gerne zu Pferderennen. Hoppegarten. Zusammen mit ihren beiden besten Freundinnen. Lernte dort hin und wieder Männer kennen, von denen ihr mal dieser mal jener gefiel. Warum nicht, sie war damals Anfang zwanzig. Mit Onkel Jochen war es dann aber was Ernstes. Die beiden blieben zusammen, bis Onkel Jochen 2005 starb.

Als Manz siebzig wurde und zum ersten Mal das Gefühl hatte, allmählich zu altern, tauchte sein leiblicher Vater noch ein paarmal auf. Aber immer nur kurz. Als Frage seiner Töchter.

»Und du weißt wirklich nichts über ihn? Nicht mal das kleinste Fitzelchen?«

»Nein.«

»Deine Mutter rückt mit nichts raus?«

»Nein. Und es spielt auch keine Rolle mehr. Schon lange nicht.«

Niemand wusste etwas zu sagen.

 

Uh!

Gleißendes Licht. Christine hat die Haustür geöffnet, die Ahnengalerie verschwindet im Schatten.

»Wie ich sagte«, erklärt Christine mit frischer Stimme. »Wolfgang ist auf die Minute pünktlich.«

Christine verlässt das Gebäude nicht gleich, sondern dreht sich noch einmal zu ihrem Mann um. »So …« Ihre Hand. Sein Nacken. Ihre Lippen. »Pass auf dich auf und denk nicht zu viel nach. Wir haben eine Ärztin zur Tochter. Claudi wird uns sicher alles erklären. Und was die Russen angeht … Lass den Fernseher aus. Du wirst niemanden durch dein Nachdenken oder deinen Zorn retten, und du hast bereits genug Tote in deinem Leben gesehen.«

»Ja, schon gut. Gleich kommt sowieso Theo. Wir fahren zu OBI. Vielleicht kaufen wir die Zapfanlage schon heute.«

»Was für eine Zapfanlage?«

»Du musst los, Wolfgang winkt.«

 

Auf dem Parkplatz von OBI angekommen bleiben Manz und sein Ruderfreund Theo dann allerdings im Wagen sitzen. Unbewegt. Als hätte man ihnen verboten auszusteigen.

»Die Russen …«, hatte Theo noch gesagt, danach waren sie beide verstummt.

Parkende und langsam rangierende Autos. Manz sieht das alles mit fast schon krankhafter Klarheit. Überall Männer und Frauen, die ihre Autos beladen, wobei ein Ehepaar nur wenige Meter vor ihnen Dinge versucht, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind. Die beiden haben zwei riesige Einkaufswagen schwerst beladen. Den einen mit langen Balken, Brettern sowie Säcken mit Schnellzement, soll vielleicht ein Bunker werden, der andere ist so überladen mit Brennholz für den Kamin, dass zwei der orangefarbenen Säcke ständig drohen herunterzurutschen.

Die Stücke sind viel zu groß, die muss er alle noch scheiteln.

In Manz’ Kopf klingt das letzte Wort seines Gedankens nach, und so sieht er plötzlich die alte Mutter von Rönne hinten auf dem Hof ihres Hauses stehen.

1964. Nordsee. Hinter dem Deich. Vor denKarnickelställen, am Hackklotz.

Scheiteln. Karnickel. Hackklotz.

Dauert es noch? Oder ist auch der kleine Bullerofen bereits in Manz’ Gedächtnis aufgestiegen? Die Wäscheleine quer durchs Zimmer? Das schmale Bett? Gar der Raum mit der Dachschräge? Oder noch weiter? Flattern auch Kirsten, Wiebke und die schöne Resa bereits durch seine Gedanken? Dass eine, die so schön war wie Resa und so selbstbewusst … Müsste jetzt auch schon achtzig sein. Falls sie irgendwann wieder aufgetaucht ist.

Es ist tatsächlich so: Manz’ erster polizeilicher Einsatz, in der Wildnis, wie wir das damals nannten, ist dabei, in ihm aufzusteigen. Zwei Tote, obwohl, eigentlich vier, oder nein, da waren noch mehr …

Was passiert da gerade? Manz ist in Sorge wegen seiner Mutter, doch statt an sie zu denken, erinnert er sich an längst vergessene Tote, und die schöne Resa stattet ihm einen Besuch ab.

Komisch.

Resa hat nie gefragt, ob sie was darf, war sich ihrer Wirkung auf Männer total sicher, fand bei mir ja auch sofort den Punkt … Wie hieß noch die Vierte? Ach ja, Heike! Bei der lag ich total daneben.

Von diesen Frauennamen und einigen Bild- und Gedankensplittern aus tritt Manz seine Reise in die Vergangenheit an. Neunzehn war ich damals … Das ist ihm in letzter Zeit bereits einige Male passiert. Noch nie jedoch so unabdingbar im Modus einer Flucht.

Samstag, 30. Mai 1964Die alte Frau Rönne

Oben ein mittleres Grau, fast ohne Struktur. Darunter dunkelgrün, ebenfalls ins Graue tendierend, wuchtig gelagert über die gesamte Breite, dachte der junge Manz, als stünde sein Lehrer Rossberg neben ihm, ihn zu examinieren. Als Nächstes suchte er ohne Erfolg nach einem genaueren Wort für das Grün. Dunkelgrün oder graugrün schienen es nicht wirklich zu treffen. Die Farbe trat nicht in reiner Form auf, sie befand sich hinter einer bewegten hellgrauen Schicht, weil …

So einfach, so natürlich, so schlicht.

Es nieselte.

Kommt in Böen.

Die Überlegung verflog schnell, denn die Lungen des jungen Manz füllten sich mit einer herrlich kühlen Frische, während er weiterhin, so schnell es nur ging, auf den mächtigen Deich zufuhr und dabei kräftig wie ein niemals sich erschöpfender Motor in die Pedale trat.

Was ein Genuss, hier zu atmen!

Den Kälbern und Färsen auf den Weiden ging es offenbar ähnlich. Wie die springen und bocken, das würde mir in Berlin niemand glauben.

Sehr gut, Manz! Das verdient eine Zwei! Mit einem Wort wie bocken wäre sein Lehrer Rossberg an der Wilhelm-Piek-Oberschule in Pankow sicher zufrieden gewesen. Obwohl: Es geht immer noch besser.

Es roch nach … Schafe wohl … und ein wenig auch nach vergehendem Seetang. Dazu kam der Geruch von Gummi und Öl, denn das Ölzeug, das der junge Manz an diesem Morgen trug, bestand aus gummiertem und geöltem Leinen.

Als Kind war er mit seiner Mutter mal an der Nordsee gewesen. Eine Reise, die ihr seinerzeit das Sozialamt bewilligt hatte. Nun, das war für den Neunzehnjährigen sehr lange her.

Zu all den Gerüchen und Modalitäten des Sichtbaren kam noch dieses anspornende Geräusch. Ein feines, gleichmäßiges Kratzen und Quietschen, das gewissermaßen den Takt schlug. Woher das Geräusch kam? Nun, das Fahrrad, auf dem Manz saß, war sehr alt, der Kettenschutz etwas verbeult.

Zudem handelte es sich um ein Damenfahrrad.

Weil Frau Rönne das noch im Schuppen hatte.Extrem breiter Lenker, brachiale Vorderradbremse.

Manz’ Vermieterin, Clara Rönne, eine Frau von gut achtzig Jahren, hatte ihm das Rad für erste Erkundungen der neuen Heimat überlassen.

»Ist noch von meiner Mutter. Mach dir das klar und pass auf, wenn du bremst. Kannst du mit Werkzeug und Flickzeug umgehen?«

»Schon.«

»Dachte ich mir. Sieht man gleich, dass du so was kannst.«

»Wieso?«

»Weiß nicht. Dein Gesicht.«

»Was ist damit?«

»Hast du mal geboxt?«

Clara Rönne stand, während sie sprachen, vor dem Schuppen, in dem das Fahrrad untergebracht war.

»Dass ein Gesicht aussieht wie deins, muss ja nicht schaden«, fuhr sie fort, nachdem ihre Zunge kurz zu sehen gewesen war. »Es gibt natürlich Mädchen, denen gefallen nur Schönlinge. Solche Mädchen mögen kleine Sträuße aus bunten Blumen.«

»Aha …«

»Es gibt aber auch welche, denen gefallen große, alte Traktoren, aus denen unten schwarzes Altöl raustropft … Du verstehst?«

»Nur so halb.«

»Warst du mal im Deichhaus?«

»Klar.«

»Du kannst tanzen?«

»Schon.«

»Na, dann wirst du da sicher bald eine kennenlernen, groß, wie du bist. Werkzeug liegt auf der Werkbank. Putzzeug auch.«

Manz staunte, dass einer Achtzigjährigen so daran gelegen war, dass er bald ein Mädchen kennenlernte. Er fragte sich auch, woher diese Achtzigjährige wissen wollte, dass Mädchen, die Schönlinge mochten, eine Vorliebe für kleine bunte Blumensträuße hatten.

Ist eben die Art, wie Frau Rönne sich ausdrückt. Die sind hier anders als in Berlin. Hat vielleicht mit der Luft zu tun, mit dem Gehalt an Sauerstoff. Wie sagte Rossberg damals?

Sein alter Klassenlehrer Rossberg, in Pankow noch, nicht mal drei Jahre ist das her, der hatte ihnen erklärt, Seeluft habe einen hohen Gehalt an Jod und Magnesium, das wars, genau, Jod und Magnesium, ist alles noch da!

Rossberg war, was das Politische anging, einer gewesen, der sehr tief im Sozialistischen wurzelte. Davon abgesehen hatte er seinen linken Arm im Krieg gelassen. Was nichts daran änderte, dass sein Deutsch-, Kunst- und Chemieunterricht sowie seine Abfragetechniken ziemlich profund waren.

Was Rossberg uns alles reingebimst hat. Hat sich ja schon bei meiner Ausbildung in Oldenburg gezeigt, dass ich über vieles besser Bescheid weiß als die Kollegen. Gott, wieso komm ich nicht drauf!

Manz brauchte noch einen Moment, ehe ihm endlich das Wort einfiel, welches Rossberg damals in Zusammenhang mit der Seeluft mehrfach benutzt hatte.

Reizklima! Genau. Vielleicht liegt es daran, dass die hier teils so direkt sind und Frau Rönne unbedingt will, dass ich schnell eine finde.

»Danke erst mal fürs Fahrrad. Da kann ich ein bisschen rumgondeln und mir alles ansehen.«

»Na, dann gondel mal, aber pass auf, wenn du bremst.«

 

Noch immer Grau. Noch immer an einigen Stellen verdichtet.

Am Fuß des Deichs angekommen, bog Manz, ohne die Vorderradbremse zu betätigen, fortwährend quietschend nach links ab. Der Weg war hier befestigt, jedenfalls gab es zwei Streifen, bestehend aus schmalen Betonplatten, mit Kackkötteln drauf. Dazwischen Gras. Kurzes Gras, denn auch hier grasten regelmäßig die Schafe.

»Der alte Weg der Küstenwacht«, hatte ihm sein Bärenführer, Polizeiobermeister Rönne, gleich am zweiten Tag erklärt.

»Und was für Fälle habt ihr hier so?«, hatte Manz ihn gefragt, als sie mit dem Küstenschutz und einigen Heldengeschichten des THW durch waren.

»In letzter Zeit haben wir zwei Vorgänge bearbeitet, bei denen es um Tierquälerei ging. Kommt hier öfter vor. Die Bauern … Natürlich sind nicht alle so.«

»Was tun die den Tieren denn an?«

»Zu wenig Wasser zum Beispiel.«

»Zu wenig Wasser? Hier? Ich meine, es pisst doch ständig.«

»Nun, im Hochsommer …«

Manz’ Bärenführer hatte die Angewohnheit, nie von Fällen zu sprechen, stets von Vorgängen. Ein viel passenderes Wort, wie Manz später erkannte, denn manche Ermittlungen zogen sich hin, hatten den Hang, sich auszuweiten, zu zerfasern, sich zu drehen und zwischendurch quasi reglos zu schweben.

Einer von Manz’ Ausbildern in Oldenburg hatte ihnen mal so einen schwebenden Fall, »aus der Praxis, ist jetzt zwölf Jahre her!«, geschildert. Da hatten sich fünf Jugendliche, drei Jungen und zwei Mädchen an einem glühheißen Nachmittag gelangweilt. Sie waren den steilen Bahndamm hochgeklettert, einer der Jungen hatte eine Eisenstange auf die Schienen gelegt, andere Münzen. Nur war das noch nicht alles.

Ihr Ausbilder in Sachen Fallanalyse, Herr Kant, hatte eine Exkursion mit Manz und den anderen Anwärtern unternommen. Zum Bahndamm und dort …

»Boah, ist der hoch.«

»Und steil!«

Dort am Bahndamm hatte er ihnen gezeigt, wo seinerzeit die Leiche eines der Mädchen gefunden wurde.

»Ein Anblick, den keiner von uns vergessen wird, weil man hatte ihr den Mund aufgeschnitten.«

Während Kant weitererzählte, hatten Manz und die anderen Auszubildenden schwitzend zwischen Brennnesseln, Diesteln und Brombeergestrüpp gestanden und waren immer wieder von Bremsen gestochen worden. Die Sonne hatte ihnen senkrecht auf die Köpfe gebrannt. Und oben, vor dem von viel Licht ins Hellblaue, ja fast Weiße ausgewaschenen Himmel, ratterten die schwarzen Züge vorbei.

»Wir haben den Täter nie ermitteln können.«

Sonderbar. Für Manz hatte der Satz, so wie Kant ihn aussprach, beinahe geklungen, als wäre er stolz darauf. Ihr Ausbilder ließ ja dann auch noch eine Pause wirken, als wartete er auf eine Reaktion. Die kam aber nicht. Es waren einfach zu viele Bremsen, die die Expedition attackierten.

Zurück in Oldenburg hatte Kant ihnen dann die Ermittlungsakten gezeigt. Ein ganzer Rollwagen, vollgepackt mit Ordnern. »Und das sind nur die Vernehmungsprotokolle.«

Die Ermittlung hatte sich weit über ein Jahr hingezogen.

»Man ermittelt zunächst alle Kraft voraus, aber dann kommen neue, dringlichere und erfolgversprechendere Vorgänge rein, und es werden immer mehr Männer abgezogen. So eine erfolglose Ermittlung stirbt sozusagen ganz langsam.«

»Wahrscheinlich war es einer der Jungen«, hatte daraufhin einer von Manz’ Kameraden vorgeschlagen.

»Einer der Jungen? Nun, es war nicht mal zu ermitteln, wie genau sich die Gruppe nach und nach aufgelöst hat, wer bis wann mit wem wo war. Die Aussagen widersprachen sich. Auch das, was anfangs doch schlüssig gewirkt hatte, wurde immer fragwürdiger. Nur in zwei Details waren sich die vier einig. Es war sehr heiß an dem Tag, und es gab viele Bremsen dort oben auf dem Bahndamm.«

»Gluthitze und viele Bremsen …«

»Dann meldeten sich weitere Zeugen. Einige von ihnen hatten in den Tagen, als das passierte, einen grauen Ford Transit unten am Bahndamm gesehen. Andere sahen einen weißen Ford 12M mit einem auffälligen roten Dach. Ford hat aber nie weiße 12M mit roten Dächern produziert, und wir fanden keinen Lackierer, der so eine Arbeit ausgeführt hat. Wobei sich herausstellte, dass einer der Lackierer, die wir befragten … seine Aussage kam uns zu präzise vor …, dass der schon mal wegen Unzucht verurteilt worden war. Wieder andere Zeugen wussten zu berichten, dass an dem Tag in der Nähe ein Feld abgeerntet wurde. Mit Erntehelfern, die wir nicht alle ermitteln konnten. Einer dieser Erntehelfer soll dort die Woche zuvor zwei Schülerinnen, die auf dem Heimweg waren, belästigt haben. Es wurden außerdem in einiger Entfernung Gleisbauarbeiten durchgeführt. Allein was diese Arbeiter über den einen oder anderen von ihnen aussagten – halbe Lebensgeschichten. Ihre Aussagen füllen sechs Ordner. Und, und, und …«

Ein Vorgang oder ein Schwamm war das, aber kein Fall, hatte Manz damals gedacht.

Nun, früher oder später würde er sicher selbst mit einem solchen mörderischen Vorgang zu tun bekommen. Allerdings wohl eher nicht in Sandesiel und Umgebung, denn hier schien es kaum mehr zu geben als Schafe und kleine Gruppen von Höfen. War er nicht gerade an so einem Ensemble vorbeigefahren?

Abwarten, wird schon was kommen.

Manz trat weiter mit all der Kraft, die er aufbringen konnte, in die Pedale. Der Weg hinter dem Deich schien sich in einer endlos dunstigen Weite zu verlieren. Zu seiner Linken lag jetzt ein riesiges, abgeerntetes Feld.

Stoppelfeld.

Irgendwas irritierte Manz an dem Stoppelfeld. Es dauerte einen Moment, bis er draufkam.

Ein Stoppelfeld im Frühsommer? Müsste da nicht längst gepflügt sein?

Das brachliegende Riesenfeld wurde vom Nieselregen vielleicht nicht durchtränkt aber doch ausdauernd benetzt.

Säuft bestimmt hin und wieder ab, gibt ja auch hier hinter dem Deich sonst nur Weiden.

Manz’ Gesicht war mittlerweile nasskalt. So spürte er das Prickeln, hervorgerufen durch die Einschläge feinster Tröpfchen, kaum noch.

Und irgendwie stachelte ihn genau das an, noch schneller zu treten.

Kann man den ganzen Tag mit verbringen.

So erkundete er vielleicht nicht die Gegend in all ihrer Vielfalt, aber doch immerhin ein Gefühl, das mit dieser Landschaft zusammenhing. Und er fand, was er sah und spürte, erfrischend und irgendwie auch …

Ein Geräusch riss Manz aus seinen Gedanken.

Da kommen sie.

Ein fernes, fast bösartiges Zischen, das schnell näherkam, war zu hören. Manz brachte sein Fahrrad zum Stehen, rutschte nach vorne vom Sattel und blickte nach oben. Das Zischen wurde aggressiver, klang jetzt enorm scharf.

Und dann sah er sie. Nur kurz. Zwischen zwei tief hängenden Wolken schossen sie hindurch.

Drei. Ein kleines Geschwader.

Als die Düsenjäger über ihn wegflogen, wurde das Geräusch fast knallhaft. Es folgte ein dunkler werdendes scharfes Zischen, das sich schnell in ein Dröhnen verwandelte, dann noch dunkler, beinahe wummernd wurde und zuletzt in ein fernes Grollen überging.

Die sind jetzt schon weit über der Nordsee.

»North American F-86 Sabre«, hatte sein Polizeikumpel Maiko ihm vor ein paar Tagen erklärt und gesagt, dass solche vom Jagdbombergeschwader 43 in Oldenburg geflogen wurden. »Die haben die Engländer uns überlassen, dass wir uns irgendwann selbst verteidigen können. Wegen der Russen.«

Das Geräusch hatte sich nahezu aufgelöst, nur eben dieses beinahe naturhaft klingende Wummern war noch zu hören.

Was auch immer die Russen vorhatten, jetzt war er hier in Sandesiel und versah seine ersten Wochen als Polizeianwärter in einer Außenstelle der Oldenburger Polizei. »Die Wildnis«, so hatten das einige seiner Kameraden genannt. Als es nämlich darum gegangen war, wer von ihnen wohin wollte, für den ›Ausbildungsabschnitt in der Praxis‹, hatten sich die meisten für die großen Städte entschieden. Hannover zum Beispiel oder Osnabrück. Er hatte sich nach Sandesiel schicken lassen, weil … Lena. Die hatte er in einer Diskothek in Oldenburg kennengelernt, und die kam aus Sandesiel.

So schöne Schultern und so beweglich.

Die Sache mit Lena hatte sich dann leider zerschlagen.

»Was heißt das, du bist jetzt in meiner Nähe?«, hatte sie gefragt, als er sie mit seinem Besuch überraschte.

»Na, dass ich mich wegen uns hierher habe versetzen lassen. Erste Erfahrungen sammeln in der Praxis.«

»Na, dann sammel mal, aber nicht bei mir. Ich wohne bei meinem Freund.«

So einfach, so erniedrigend, so schlimm. Denn die Liebe, insbesondere die zerbrochene, niedergetretene oder abgewürgte, ist ja nichts, was man einfach so wegsteckt.

Andererseits gab es das Deichhaus.

Eine Diskothek.

Ja, und da hatte er inzwischen einige Male mit einer getanzt, die Kirsten hieß. Er hatte sie vor dem alten Kurhaus kennengelernt. Der verrückte Moment mit der Wurzel der Birke, bin dann gleich voll in sie rein. Kirsten hat auch so was Leichtes. Aber doch etwas forscher und strenger als Lena oder auch …

Manz hing noch seinen Gedanken an Lena und Kirsten nach, als er sah, dass es hier doch mehr gab als endloses Grau, Deich, Weiden und Schafe.

Eine Art Stauwehr.

Er stieg ab und schob sein Rad auf den Deich. Von hier oben war die Topographie gut zu erfassen. Zu seiner Linken zum Beispiel … Ach? Draußen vor dem Deich zwei Dünen? Verrückt, dass es hier Dünen gibt. Und einen kleinen Hafen.

Was Manz zum Hafen erklärt hatte, war die Mündung eines schmalen Flüsschens. Das Wasser hatte sich tief in den Schlick der Nordsee eingegraben. Überhaupt gab es hier bei Ebbe eine Menge solcher geschlängelter Rinnen im Schlick. Rönne hatte ihm ein Wort dafür genannt …

Siel! Sande. Sandesiel. Ah! Deshalb eben auch Sand, und wo Sand ist, ist die Düne nicht weit, hätte ich auch gleich draufkommen können. Ja, nee, Siel stimmt nicht. Siel heißen hier, glaub ich, die kleinen Flüsse. So ähnlich wie Siel heißen diese Rinnen. Im Schlick … Tiel, Nil, Kiel … Ja, nee, Kiel wäre zwar logisch, weil die aussehen, als hätten die Kiele von Schiffen die Rinnen ins Weiche geritzt, aber … Wie denn nun? Ach ja, stimmt! Gott, das hat wieder gedauert …

Er hatte sich eine Eselsbrücke gebaut, als Rönne ihm sagte, wie diese schlängeligen Rinnen im Schlick hießen. Wie das Spülmittel, das wir benutzen, obwohl … Ganz sicher war er sich nicht. Das passierte dem jungen Manz öfter mal, dass er etwas eigentlich schon begriffen oder erkannt hatte und sich dann doch nicht sicher war. Sich lange nicht sicher war, bis er dann endlich draufkam, dass er es schon die ganze Zeit wusste.

Oha! Ganz schön groß.

Dort, wo das kleine Flüsschen den Deich durchbrach, hatte man ein Bauwerk aus rotem Backstein errichtet.

Eine Art Schleuse. Ja, verstehe, eigentlich logisch … So kann das Wasser bei Flut nicht rein ins Land, und bei Ebbe macht man auf, lässt den kleinen Fluss durch und entwässert die Gräben, dass nicht alles absäuft. Dieser kleine Fluss? Ist das ein Siel? Muss Rönne noch mal fragen.

Draußen, vor dem Deich, hatte man einen Vorhafen errichtet, der letztlich nicht mehr war als ein Rechteck, das auf der rechten Seite von einer hohen Kaimauer eingefasst war. Dort lag ein Kutter. Auf der anderen Seite kleine Segelboote.

Stehen direkt auf dem Schlick. Haben sich da die Mauer gespart. Drollig. Die Segelschiffchen sind alle ein bisschen auf die Seite gekippt, wie Spielkarten … Aber dass es hier richtige Dünen gibt … Hat Rönne gar nichts von gesagt.

Wie auch immer es sich mit den Dünen verhielt, aufrecht stand einzig der Kutter. Nur befand der sich, jetzt bei Ebbe, so tief unten an der Kaimauer, dass man gar nicht rauf- oder runterkäme. Obwohl, da sind so ’ne Art Metallklampen in die Mauer eingelassen, da könnte man runter.

Die Funktion des Kutters erklärte sich Manz, als er sich bis an den Rand der Kaimauer vorwagte, tief hinabblickte und die großen Kochtöpfe sah.

Krabben. Für die Kochtöpfe haben sie sicher auch wieder ein Fachwort, das keiner außer ihnen selber hier oben kennt.

Dass Manz, was die Krabben anging, richtig lag, zeigte sich, als er eine Art Minischultafel entdeckte, auf die mit vom Nieselregen leicht verwischter Kreide geschrieben stand:

FANGFRISCHEKRABBEN

(Tidenkalender beachten!)

Klar. Hängt natürlich an der Flut, wann er reinkommt mit seinen Krabben.

»Schade, dass er gerade keine verkauft.«

Es war weit und breit niemand zu sehen. Somit wunderte sich auch keiner darüber, dass hier ein junger Mann im Nieselregen neben einem alten Damenfahrrad stand und mit sich selbst sprach.

»Keine Menschenseele! Hallo!«

Manz fand, dass das Wort Menschenseele gut hierher in die graudunstig-feuchte Einsamkeit passte, in der er gerade sehr glücklich war. Das Glück drückte sich darin aus, dass er es erneut genoss, tief zu atmen und das Wort Menschenseele ein paarmal laut ins Leere hineinzurufen. Er bekam gar nicht genug von all dem hier. Nicht nur von der Luft, der Farbe des Lichts, der dunstigen Feuchtigkeit. Auch an der Weite sättigte er sich. Wobei diese Weite im Moment nur eine von Rinnen durchzogene Fläche aus Schlick war, über der die tief hängenden Wolken nach und nach wegdämmerten.

Blick auf die Uhr.

Noch nicht mal Mittag.

Die Welt hier schien sich in einem geheimnisvollen Zwischenzustand zu befinden. Obwohl … die Natur befand sich nicht nur in einem Zwischenzustand, sie war dann und wann auch gefährlich. Rönne hatte ihm von Badeunfällen erzählt. Wenn man ihm glauben durfte, dann war die Nordsee regelrecht …

»Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden, liegen die friesischen Inseln im Frieden«, hatte Rönne gesagt. Nun, gesagt trifft es nicht ganz, vorgebetet trifft es besser. Es waren jedenfalls Respekt und Andacht mit im Spiel, so wie Rönne sprach. War ein ziemlich langes Gedicht, und alles in allem ein bisschen verrückt und … tödlich zuletzt. Irgendwie haben sie es hier ein bisschen mit der Gefahr und dem Tod. In Gedanken aber wohl nur. Denn dass hier mal jemand ermordet wird, ist doch sehr unwahrscheinlich. Dafür sind sie vom Temperament her … Nee. Gewalt und Tod kommen hier eher aus der Natur, aus dem bewegten, flutenden, saugenden Wasser.

Die Alten auf der Station 4 jedenfalls hatten in Sandesiel und Umgebung schon einige Fälle mit Ertrunkenen gehabt.

Aber alles nur Unfälle, wie Rönne meinte.

»Conny zum Beispiel. Ein Mädchen, gerade mal sechzehn. Die Strömung hat sie rausgezogen. Ihre Schwester Wiebke hat sich erst im letzten Moment von ihrer Schwester freimachen können, zerkratzt, wie sie war.«

Zwei Kollegen von der Station 4 hatten genickt und den Namen Conny noch mal in einer Weise wiederholt, als würden sie sich sehr genau an vieles erinnern. Manz konnte zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht wissen, dass er es schon bald mit Wiebke zu tun bekommen würde und dass auch da von Krankheit, Wahnsinn und Tod die Rede wäre.

 

Für den Rückweg brauchte Manz viel länger als für die Strecke bis zum Wehr. Zum einen, weil seine Beine, vor allem die Waden, scheiß Wind!, ein bisschen schlapp machten, zum anderen, weil er zehn Minuten bevor er nach Sandesiel reingekommen wäre, zu seiner Rechten eine Gruppe von Häusern entdeckte.

Sind mir vorhin gar nicht aufgefallen.

Gut zweihundert Meter hinter dem Deich mitten zwischen dem riesigen Brachfeld und einigen Wiesen lagerten zwei Höfe. Flach, fast geduckt und mit einem Krüppelwalmdach wie die meisten Höfe in der Gegend. Ihnen gegenüber, an einer Art Kreuzung, stand ein hässliches dreigeschossiges Wohnhaus neuerer Bauart. Bis zur Kreuzung gab es vom Landesinneren her einen Zuweg mit Kopfsteinpflaster, das sie hier aber, wie Manz inzwischen wusste, anders nannten.

Katzenköpfe.

Gekreuzt wurde dieser Zuweg, der dann weiter bis zum Deich führte, von einem Treckerweg, der das brachliegende Feld und die Weiden rechts und links erschloss. Die Gebäude standen somit quasi in den Ecken einer Kreuzung, wobei zu den Höfen natürlich noch eine ganze Reihe von Nebengebäuden gehörten.

Die merkwürdige Zusammenstellung dieses Ensembles, vor allem aber die ihm aus seiner Zeit in Pankow vertraute Hässlichkeit des dreigeschossigen Klotzes, der so gar nicht in diese Landschaft und noch weniger zu den beiden Höfen passte, zog ihn an.

Samstag, 30. Mai 1964Sieben Sekunden

Der junge Manz bog also ab und radelte hin. Angenehm war das nicht. Das alte Fahrrad rasselte gewaltig auf dem Kopfsteinpflaster und gab jede Erschütterung über den ungefederten Sattel von unten her an seinen Körper weiter.

Als Erstes kam er linker Hand an einem der beiden Höfe vorbei. Niemand war dort zu sehen.

Ist auch ein bisschen vergammelt.

Das Gleiche galt für das blockartige Gebäude rechts. Es wirkte verlassen, im ersten Stock waren zwei Scheiben kaputt, und die hässliche hellgelbe Farbe kam an einigen Stellen in großen Placken runter.

Auf dem zweiten Hof links entdeckte er eine junge Frau. Sie war gerade damit beschäftigt, ein Trupp von zwanzig Hühnern zurück in einen Stall zu scheuchen. Wobei der Stall das Format einer Halle hatte und sich als eine nahezu geschlossene Wand aus braunschwarzen Brettern zeigte. Kaum waren die Hühner wieder da, wo sie hingehörten, drehte sich die junge Frau auf eine Weise um, als wüsste sie bereits, dass er da war.

Ihre Blicke begegneten sich.

Manz verstand nicht, was ihn dazu brachte, eine ihm völlig Unbekannte anzustarren, als wollte er etwas fragen.

Jetzt kam sie auch noch ein paar Schritte auf ihn zu. Was war los mit ihm? Wenn er sie schon anstarrte, warum sagte er nicht wenigstens »Hallo« oder »na«?

Siebzehn Jahre alt, kann auch sein, achtzehn.

Sie hatte etwas beinahe schon derb Bäuerliches, was aber vor allem an ihrer Kleidung lag.

Interessanter Rock. Wie aus schwarzem, sehr dickem Filz. Auch obenrum. Und zu all dem noch diese riesigen Gummistiefel.

Es dauerte zwei volle Sekunden, bis sich für Manz hinter diesem burschikosen Aufzug noch etwas anderes zeigte.

Die Stirn gewölbt, schön hoch, guter Haaransatz, ohne dass ihr Gesicht dabei zu sehr in die Länge gezogen wirkt. Liegt natürlich an den Augen, weil, die stehen nicht zu eng, und die Wangen haben was Gesättigtes, ich wette sie lacht manchmal und kann Nüsse knacken in ihren Backen, passt insgesamt alles gut zu den Augen. Grün sind die, prima. Dazu ein schöner Übergang zum Hals, zart, aber nicht karg, mit schön ausgeprägten Sehnen, und was für ein netter kleiner, frecher Kehlkopf und auch ihre Augenbrauen, die haben so gar nichts Bäuerliches, so akkurat, als würde sie die abends vor dem Spiegel mit der Pinzette zupfen. Nein, ihr Hals und ihre Augenbrauen, die sind perfekt! Gerade auch im Kontrast zu den Gummistiefeln. Herrlich, ganz herrlich, und ich wette, sie kann Nüsse knacken in ihren Backen.

Volle sieben Sekunden hatte der junge Manz auf diese kartographische Arbeit verwendet. Und zwischen seinen Gedanken der reinen Betrachtung gab es wohl auch noch andere. Davon darf man ausgehen. Dass Manz genau war in der Analyse dessen, was er sah, insbesondere wenn es um Frauen ging, hatte nichts mit seinem Naturell zu tun. Es verdankte sich … Seine Mutter war der Meinung gewesen, ein klein wenig Mühe bei der Betrachtung des anderen Geschlechts solle sich ihr Sohn schon geben, mochte er auch sonst denken, was er wollte.

Davon abgesehen: Was diese sieben Sekunden anging, war es natürlich auch denkbar, dass es im Grunde an dem Mädchen lag und gar nicht an ihm. Denn auch sie sah ihn auf eine Weise an, als ließe sie irgendwelche Vorstellungen in sich aufkommen.

Allein die Bewegung ihrer Zunge!

In ihrem vorgeblich abwartend stummen Gebaren war doch letztlich eine Haltung verborgen. Ein Wollen, nah an der Grenze zur Erwartung.

Genau das drückte ihr so betont nichtssagender Blick doch aus.

Dann kam etwas hinzu.

Eine Tür, rechts an der Halle, in die sie die Hühner gescheucht hatte, ging auf, und ein Mädchen, um die sechs Jahre alt, trat heraus. Die Kleine trug eine Schale vor sich her. Um die zwölf, fünfzehn Hühnereier lagen darin. Während sie ging, zeigte sich nun alles immer genauer für Manz. Rechts das lang gestreckte bäuerliche Wohnhaus, zwei üppig gelb blühende Kletterrosen rankten vor den roten Ziegelsteinen empor, wucherten sogar ein Stück weit das Dach hinauf, und es gab eine Bank zwei Meter links neben dem Eingang. Hinten, quer, der bereits erwähnte hallengroße Stall. Braun. Wie es schien einer für Hühner. Linker Hand, also dem Wohn- oder Haupthaus gegenüber, befand sich eine Reihe von mächtigen Schuppen, mit zum Hof hin weit geöffneten Toren, in denen landwirtschaftliche Geräte standen. Unter anderem sah Manz dort einen Leiterwagen, auf dem man mühelos eine ganze Fußballmannschaft hätte transportieren können.

Ach ja! Die bestimmt zweihundert Jahre alte Linde mit der uralten Egge, die sicher seit Ewigkeiten am Stamm lehnte, wurde noch gar nicht erwähnt.

Kurz: Manz’ topographisch geschulter Blick kam hier, hinter dem Deich voll zu seinem Recht.

Das kleine Mädchen war mit seinen Eiern mittlerweile an der grünen Haustür des Wohnhauses angelangt. Vor dieser Tür gab es eine gemauerte Plattform, auch wieder aus roten Ziegelsteinen. Nun ging ihre Hand hoch, und die Kleine kam so gerade eben an die Klinke. Schwankte dabei ein wenig. Na, wenn ihr jetzt mal nicht die Eier runterfallen. Es ging gut, die Kleine verschwand im Haus.

Exakt in dem Moment, als die Haustür ins Schloss fiel, hob die andere, die, welche ihn so sonderbar angesehen hatte, ihren Arm und wies, als hätte sie mir zu befehlen, mit der Hand in Richtung des Stalls. Wollte sie, dass er dort hinging, ihr folgte?

Und er selbst?

Wollte er zu ihr?

Die Gebäude waren noch immer die gleichen, das morgendlich einfallende graue Licht und die gedämpften Farben ebenfalls.

Manz wusste zuletzt gar nicht mehr, wie er aus dieser fast schon träumerischen Situation wieder rausfinden könne. Und so standen sie noch mal eine Weile da. Er, das Damenfahrrad der alten Frau Rönne zwischen den Beinen, sie, breitbeinig, mit ihrem nach schräg hinten weisenden Arm.

Dann löste sich die Situation auf. Die grüne Tür, durch die das Kind mit den Eiern ins Haus gelangt war, öffnete sich erneut, der Kopf einer weiteren jungen Frau lugte kurz raus und: »Heike, mal los! Du hast Arbeit.«

Da endlich drehte sich die erste um und trottete Richtung Stall.

Auch Manz war klar, dass es höchste Zeit war, weiterzuradeln. Nur fühlte er sich auf einmal total steif. Ein Gefühl wie Muskelkater im ganzen Körper.

Ach …

Eine singende Gruppe Schulkinder kam vorbei. Sie gingen den Treckerweg entlang, der den Kopfsteinweg kreuzte. Vorneweg eine Lehrerin, am Schluss noch eine. Die sah ihn an. Und ihr Gesicht wirkte, wie Manz meinte, als hätte sie sich bei seinem Anblick ganz furchtbar erschrocken.

Gott, Himmel auch!

Manz hatte nun endgültig genug von der Kreuzung. Er zog also sein Fahrrad, den Sattel unter dem Schambein, herum, um zurückzufahren und …

Gott, Himmel auch!

Da war auf einmal noch eine Frau. Mitte vierzig musste die sein. Offenbar war sie, während er erst die beiden Mädchen auf dem Hof, dann die singenden Kinder mit ihren Lehrerinnen angeglotzt hatte, aus dem hässlichen Klotz gekommen. Sie stand an einer primitiven Pforte aus Stahl und, tipp, tipp, tipp, hatte offenbar Spaß daran, die aus Stahl gefertigte Pforte mit der Kraft ihrer Hüfte ganz leicht und gleichmäßig gegen den ebenfalls stählernen Pfosten klappern zu lassen. Und dann noch ihr Blick! Spöttisch! Das selten gebrauchte Wort kam Manz sofort in den Sinn. Macht sich über mich lustig. Was soll das?

 

Als Manz zwanzig Minuten später gerade sein Fahrrad in den Schuppen schieben wollte, erwartete Frau Rönne ihn bereits.

»Man nich so schnell. Hier.«

Sie drückte ihm eine Bürste in die Hand und deutete auf den Blecheimer zu ihren Füßen, gefüllt mit vermutlich eiskaltem Wasser. »Fahrrad sauber machen, auch zwischen den Speichen.« Sie überreichte ihm einen Lappen. »Dann wischst du trocken, aber richtig.«

»Auch zwischen den Speichen?«

»Ein ganz kluger, ich merk schon. Dann erst kommt es in den Schuppen.«

»Mach ich, aber ich hab vorher noch eine Frage.«

»Na?«

»Ich hab eben, als ich am Deich langfuhr, drei Gebäude gesehen, zwei Höfe und einen gelben Klotz …«

»Da wo der Treckerweg quer rüber geht?«

»Ja, ich bin hingeradelt, weil das alles nicht zusammenpasst, weil das mit den alten Höfen und dem Klotz fast aussah wie damals bei uns in der DDR. Und da war eine, so um die achtzehn, die stand links auf dem zweiten Hof vom Deich her gesehen …«

Frau Rönne senkte den Kopf. Schwieg.

»Die kam mir komisch vor. Hat mich angesehen, als wollte sie was, hat aber nichts gesagt.«

»Traurig. Die Mädchen da auf dem Hof hat es schwer getroffen. Erst ist ihnen die Mutter gestorben. Gott ja …« Clara Rönne schien in ihren Gedanken zu versinken.

»Einfach so?«

»Husten. Wahrscheinlich Krebs. Oder Typhus, meinen hier einige. Die Frau von Feddersen nebenan ist auch an Krebs gestorben, manche sagen, es läge an dem Gift, das sie seit einigen Jahren auf die Felder sprühen. Drei, vier Jahre ist das jetzt her … Da, auf dem Hof, den du meinst, lebten damals drei junge Frauen, drei Schwestern. Dazu noch zwei Enkeltöchter, weil, die Wiebke ist ja auch schon Mutter. Bei der geht immer alles ganz flott. Patent, so sagt man.«

»Wenn eine früh mehrere Kinder kriegt?«

»Und plötzlich ist die Mutter tot, und Wiebke steht ganz allein da mit allem, weil ihr Vater … Na, man soll nicht schlecht reden. Die Mittlere, die Conny … Manche sagen, das wäre ein Badeunfall gewesen, andere meinen, sie sei absichtlich so weit rausgeschwommen. Die Wiebke hat noch versucht, sie zu retten, die wäre beinahe mit runtergezogen worden von ihr. Die konnte sich gerade noch so von ihrer Schwester losmachen. Hat bis zuletzt um ihr Leben gekämpft. Das sah man ja, zerkratzt wie sie war. Einige haben sich damals mächtig das Maul zerrissen. Statt Mitleid zu zeigen. Du verstehst, was ich sage?«

»Patent.«

»Dass Conny ertrunken ist, war hart für den Vater, weil … die Conny hat der alte Eggert wirklich sehr gern gehabt, die war von Anfang an seine Liebste. Das ist nicht schön, wenn ein Vater eine seiner Töchter bevorzugt. Und vorher ist auch noch die Mutter gestorben, die alles hätte ausgleichen können. Schrecklich, was den Mädchen da passiert ist.«

»Aber woran genau ist die Mutter denn nun gestorben? Am Husten?«

»Da werd ich jetzt nicht drüber reden. Gibt schon genug Geschwätz deswegen. Und nun mach mal los mit dem Rad. So, wie ich gesagt habe.«

»Muss das Rad wirklich nach jeder Fahrt sauber gemacht werden? Ich meine, so dreckig ist es ja nicht.«

»Es ist das Fahrrad meiner Mutter, und die hat es immer in Ordnung gehalten.« Für Clara Rönne war das eine mehr als ausreichende Erklärung. »Deine Schuhe sind auch dreckig. Warst du in den Schafskötteln? Besorg dir Stiefel. Bis du welche hast … Im Schuppen, ganz hinten unter dem alten Stromzähler stehen noch die von meinem Mann. Sind ein bisschen schwer, aber die werden dir passen. Wenn du dann fertig bist, gibt es Tee.« Ein Blinzeln. Lächelte sie? »Du willst doch bestimmt heute Abend wieder ins Deichhaus auf Brautschau.«

»Morgen Abend.«

»Dann bring deine Hose in Ordnung und hol dir schon mal ein gutes Hemd raus. Ruhig eins mit kurzen Ärmeln, es soll sehr heiß werden morgen. Das Hemd bringst du mir runter zum Bügeln, danach gibt’s Tee.«

Will unbedingt, dass ich bald eine Freundin finde.

Sonntag, 31. Mai 1964Pretty Woman

Das farbige Licht kam aus ausrangierten Scheinwerfern, die an alten Deckenbalken hingen, und die Paare tanzten auch hier nicht wie die Paare es früher mal taten. So mussten zum Beispiel beim Tanzen keine Schrittfolgen oder Figuren beachtet werden. Im Deichhaus reichte es im Sommer 64, wenn man in etwa vor dem Mädchen stand, mit dem man gerade tanzte. Natürlich war Manz auch in Berlin schon öfter in einer Diskothek gewesen, aber da hatten sie andere Musik gespielt. Weicher irgendwie. Hier war der Takt das Wichtigste.

Die alte Frau Rönne hatte recht behalten, was das Hemd anging. Heiß war es hier drin, denn die ausrangierten Scheinwerfer aus dem Oldenburgischen Staatstheater und die dicht gedrängt agierenden Paare erzeugten einiges an thermischer Energie. Auch draußen war es, nach dem Nieselregen am Vortag, sehr warm geworden. Luft aus Afrika, hatte jemand gesagt.

Während Manz mit Kirsten tanzte, behielt er die anderen Männer im Auge. Hin und wieder – meist, wenn Roy Orbison die Worte »Pretty Woman« sang – blickte er sie mit seinem besten Männerblick an. Wobei Manz’ bester Männerblick darin bestand, dass er Augenkontakt hielt und keine Miene verzog.

Kirsten hob beim Tanzen hin und wieder ihre Arme senkrecht über ihren Kopf, wobei die linke Hand sich am rechten Unterarm festhielt. Eine Art Wellenbewegung ging dabei durch ihren Körper. Und diese Wellenbewegung ihres Körpers machte etwas mit ihm. So dachte er zum Beispiel an diesem Abend an eine Meerjungfrau. Zu den Frauen passten solche speziellen Tanzfiguren. Bei denen sah das, wie er fand, gut aus. Bei den Männern dagegen …

Der junge Manz hatte Kirsten erst zehn Tage zuvor kennengelernt. Sie hatte ihm gleich gefallen, weil sie A: gut aussah. Richtig erwachsen schon und schöne dunkle Haare. Und diese Haare, die steckte sie immer wieder auf andere und neue Art hoch.

Vom Aussehen und ihrer Art abgesehen gefiel ihm an Kirsten B: dass sie groß war. Bestimmt 1,80, und mit ihren neuen Schuhen kamen noch mal zehn Zentimeter dazu. Das war wichtig, weil Manz, mit seinen 1,96, sich mit kleinen Frauen immer ein bisschen wie ein Monster oder Clown vorkam.

Und C: – darauf hätte er natürlich als Gentleman gleich als Erstes kommen müssen – gefiel sie ihm, weil sie gut reden konnte. Denken auch. Das geht so schnell bei ihr, dass er fast das Gefühl hatte, sie würde sich die ganze Zeit über ihn lustig machen. Wohl, weil ich so oft nachfragen muss. Alles in allem war er noch nicht zu hundert Prozent dahintergekommen, wie er Kirsten denn nun einzuschätzen hatte.

»Ich studiere«, hatte sie gesagt.

»Ich mache hier gerade einen Ferienjob«, hatte sie gesagt.

Vielleicht hätte er mehr nachfragen sollen. Aber gleich am Anfang? Doch eher nicht. Da wollte er sie ja erst mal richtig kennenlernen und nicht endlos reden.

Genau wie er wohnte auch Kirsten bei einer älteren Frau in einem Dachzimmer. Er wusste das, weil sie da immer hingingen, um zu knutschen und dann natürlich auch miteinander zu schlafen. Wie schon einige Male zuvor hatte Onkel Jochen – Urologe von Beruf – ihm vor seiner Abreise einen ordentlichen Vorrat an Kondomen mitgegeben.

Es lief gut. Außer, dass sie viel für ihr Studium lernen musste und nicht so oft, wie es ihm recht gewesen wäre, Zeit für ihn hatte. Nun, auch er musste ja seine Zeit in der polizeilichen Praxis bestehen.

Verrückt.

Was ein Liebesabenteuer auf Zeit wie das zwischen Kirsten und ihm anging, war die Welt, wie er erst vor Kurzem im stern gelesen hatte, inzwischen eine ganz andere als noch ein paar Jahre zuvor. Die Frauen seiner Generation waren, wie der Autor meinte, nicht immer gleich auf die große Liebe aus. Im Gegenteil. Die neuen Frauen wie sie im stern genannt wurden, waren frei und erlaubten sich was. Was man ja schon daran sah, wie sie sich anzogen. Hier im Deichhaus jedenfalls lief es ziemlich genau so, wie es im stern beschrieben wurde. Und der STERN hatte es sehr genau beschrieben. Auch das mit der lockeren Kleidung. Mit knackscharfen Fotos und so.

Nachdem Kirsten und er zwei Stunden getanzt hatten, schien ihr warm zu sein. Jedenfalls fächelte sie ihrem Gesicht ein paarmal demonstrativ mit der Hand Luft zu. Er hätte, als er das sah, schneller schalten müssen.