Fünf Frauen - Matthias Wittekindt - E-Book

Fünf Frauen E-Book

Matthias Wittekindt

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Beschreibung

Als Kriminalkommissar Manz und sein Kollege Borowski im Frühsommer 1983 in eine Neuköllner Altbauwohnung gerufen werden, in der die schon halb verweste Leiche eines Pfarrers entdeckt wurde, stellt sich ihnen vor allem eine Frage: Warum hat es eine ganze Woche gedauert, bis die Polizei alarmiert wurde, obwohl alle Mieter eine vertrauliche Beziehung zum Pfarrer Busse beteuern? Die Hausbewohner haben nur Gutes über ihren Nachbarn zu berichten: von seinem ehrenamtlichen Engagement in einem Hospiz und der von ihm gegründeten Aids-Stiftung, von seinem gutherzigen Wesen und dem Einsatz für die Hausgemeinschaft. Doch Manz beschleicht immer mehr das Gefühl, nach Strich und Faden belogen zu werden. Beinahe vierzig Jahre später, während der Konfirmation seines jüngsten Enkels Matti, werden bei Manz Erinnerungen an den Fall wach. Auch an die familiären Herausforderungen von damals muss er denken: Manz' Frau Christine war dienstlich verreist, und er hatte die drei Töchter allein zu versorgen. Aber nicht der Anblick der Kirche oder des Pfarrers werfen Manz in der Zeit zurück, sondern ein Gedicht, das Matti im Gottesdienst vorträgt: »Wer bin ich?« von Dietrich Bonhoeffer. Denn damals, 1983, war wirklich niemand, was er zu sein vorgab ...

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Matthias Wittekindt

Fünf Frauen

Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz

Roman

Kampa

Prolog

Die Kerzen haben keine Chance gegen das in den Raum flutende Licht.

Dieses Licht erzeugt gelbe, grüne, blaue und rote Flecke auf dem steingrauen Boden, deutlicher noch auf den gekalkten Wänden. Die gläsernen Bilder, die wie Diapositive diese Flecken erzeugen, lösen sich dabei so vollständig auf, dass man auf Wand und Boden nicht mehr erkennt, was sie darstellen. Die öffentliche Verbrennung einer Frau zum Beispiel. Die Zerstückelung eines schreienden Mannes mittels Äxten, die Tötung eines Drachens mittels Lanze, die Geburt eines Kindes, den Seelenstrahl eines Mannes, hervorstechend aus seinen Augen.

Zu all dem kommt noch ein Geruch, wie man ihn von soeben verlöschten Wachskerzen kennt.

»Wir wollen singen«, sagt nun der Mann vorne. Er ist nicht eben alltäglich gekleidet. »Ausgewählt wurde das Lied: ›Sag ja zu meinen Taten‹, Bachwerkeverzeichnis 194.«

Blätterrascheln, Hüsteln, einige räuspern sich, die Orgel gibt den Ton vor.

Hier drinnen ist es wenigstens kühl. Manz’ Empfindung ist korrekt, die Temperatur ist erträglich. Draußen dagegen beträgt sie zweiunddreißig Grad. Manz hat gelitten, als sie auf dem Platz vor dem aus vergrautem Sandstein gefügten Portal auf den Rest der Familie sowie einige Bekannte und Freunde warteten. Nun, sie hätten ohnehin warten müssen, die Gruppe vor ihnen, wie jeder sah, eine Taufe, hatte überzogen.

Die Sonne brannte fast senkrecht auf sie hinab, und mag Manz auch, was Kälte und Regen angeht, hart im Nehmen sein, Hitze liegt ihm nicht.

Andererseits …

Ist es nicht so, war es nicht schon immer so, dass bei Manz die Glut des Backofens hin und wieder, im Modus der Ermattung, Regionen des Verstandes in Tätigkeit setzt, die der gesteigerten Empfindung und dem Erspüren zuzuordnen sind? Oder, um es wissenschaftlich auszudrücken …

Ich hätte mir bequemere Schuhe anziehen sollen.

Manz’ Augen wandern über Wände und Interieur, während er, wie alle anderen, wartet.

Die Decke des Raums ist als Spitztonnengewölbe ausgebildet, die Wandstärke liegt bei, glatt ein Meter, da wurde fleißig gemauert, und die zu all dem passenden Fenster mit den aus gebrochenem Buntglas gefertigten Bildern sind schmal, sehr hoch, oben ebenfalls spitz zulaufend.

Taufstein, Altar, Kreuz, Opferstock, alles da, was sie für ihre Arbeit brauchen.

Und doch ist in dieser Kirche nicht alles so, wie man es üblicherweise kennt.

Na, die ist mutig.

Die Orgel steht nicht auf der Empore über dem Eingang, sie hängt, ähnlich einem Schwalbennest, hoch oben an der linken Wand, ist nur über einen leiterartigen Stieg zu erreichen und wird von einer Frau Mitte sechzig bedient.

Trotz all dieser Details wirkt die Innenausstattung der Kirche eher karg. Was niemanden wundern wird, denn erstens ist es eine protestantische Kirche, und zweitens steht sie in Berlin. In Charlottenburg, um genau zu sein, und wie jeder weiß, ist Charlottenburg zwar kein ärmlicher Stadtteil, aber eine protestantische Kirche ist und bleibt eine protestantische Kirche, und Berlin ist und bleibt Berlin.

Noch zögert Manz, gleich wird er sich seitlich zu seiner Frau hinüberbeugen. Und zwar so weit, dass seine Schulter ihre Schulter kräftig berührt und sein Mund beinahe ihr Ohr.

Die Gemeinde hat mittlerweile die letzte Zeile gesungen, die Organistin wiederholt zweimal eine komplexe, mehrfach gebrochene musikalische Figur. Improvisiert ein wenig, und wirkt in diesem Moment … Manz sieht ja, wie ihr Körper über den Tasten arbeitet … sehr engagiert, fast schon ein wenig entgrenzt.

Nach dieser letzten musikalischen Aufwallung senkt sich eine annähernde Stille über alle und alles. Ein leises Scharren von Füßen, ein Hüsteln an zwei, drei Stellen im Raum sowie ein dezentes Rascheln von Papier akzentuieren die Stille.

Weit ist es nicht mehr bis zu jenem Moment. Manz wird sich gleich seitlich nach links zu seiner Frau hinüberbeugen, er wird ihr Schultergelenk an seinem spüren, und …

»Dies, liebe Gemeinde, ist ein besonderer Tag.«

Der Pfarrer erklärt den Eltern und Verwandten, worum es geht. Eigentlich ist das überflüssig, denn die Anwesenden wissen natürlich ganz genau, weshalb sie hier sind. Und doch hören alle andächtig zu, weil … Dass der Pfarrer all diese gut geübten, jahrhundertelang gepflegten Sätze spricht und damit sie selbst meint und ihre Kinder, das kommt selten so deutlich und erhaben zum Ausdruck wie an diesem besonderen Tag.

Nun endlich ist es so weit. Manz’ Oberkörper kippt mit männlichem Akzent nach links gegen seine Frau, und sein Mund …

»Sag, Christine …«, fragt er im Flüsterton, und ihre Augen kippen augenblicklich ein gutes Stück weit nach oben, »… bist du dir sicher?«

»Womit?«, fragt sie leise zurück. Christine Manz sitzt mustergültig aufrecht in der Bank. Die Beine hat sie übereinandergeschlagen, ihr Blick geht gesammelt nach vorne zum Pfarrer. »Womit soll ich mir sicher sein?«

»Na, dass Matti das hinkriegt.«

»Was hinkriegt?«, fragt sie zurück, ohne ihren Körper auch nur um einen Millimeter zu bewegen oder den sprechenden Pfarrer aus den Augen zu lassen.

»Na, seine Rede. Meinst du, dass er das hinkriegt?«

»Ja, natürlich.«

»Aber kann Matti denn reden? Ich meine, in aller Öffentlichkeit?«

»Ich würde gerne dem Pfarrer zuhören.«

Manz und Christine haben eine halbe Stunde zuvor in der zweiten Reihe zwischen ihren Töchtern Claudia, Stefanie und Julia sowie fünf der sechs Enkelkinder Platz genommen. Claudias Ältester, Matti, sitzt nicht bei ihnen, ihm steht sein großer Auftritt bevor.

Alle in der Familie hatten sich gewundert, als Matti vor zwei Jahren zum ersten Mal den Wunsch geäußert hatte, konfirmiert zu werden. Da wurde viel geredet. Teils auch negativ oder zumindest besorgt. Verstanden, woher das kam, hatte eigentlich niemand. Mattis Mutter, Claudia, hat ihre drei Söhne ganz klar positiv-naturwissenschaftlich erzogen. Sie, wie auch Mattis Vater – Frank, um seinen Namen wenigstens einmal kurz zu nennen –, waren durchaus in der Lage gewesen, ihrem Ältesten die Welt und was darin zwischen den Menschen geschieht, vernünftig zu erklären. Das ging, wenn es sein musste, bis tief rein ins Politische, Psychologische und Psychosomatische. Dass nun ausgerechnet Matti, der in Mathe und Chemie fünfzehn Punkte und in Bio immerhin dreizehn hatte, aus dieser naturwissenschaftlichen Fahrrinne ausscheren wollte, um sich christlichen Werten hinzugeben …

»Ich mag es, mit anderen zusammen zu sein und über interessante wie auch traurige oder beängstigende Themen zu reden«, hatte Matti damals erklärt. »Da möchte ich eben mitmachen.«

Manz hatte diesen Wunsch seines Enkelsohns nicht sofort nachvollziehen können. »›Über beängstigende Themen zu reden …‹, solche Sätze hat er doch früher nicht benutzt, wo kommt das her?«

»Vielleicht vom Pfarrer?«

»Das ist nicht lustig, Christine. Das unbedingte Wollen und Glauben … In unserer aktiven Zeit hatten Borowski und ich einige Fälle, in denen das unbedingte Wollen und Glauben … Ich sage dir, so ein Glaube, so etwas Unbedingtes kann eine Gruppe von Menschen auf eine Weise zusammenschweißen, dass sie am Ende vor einem Richter stehen.«

»Ich glaube, Schatz, du übertreibst es ein wenig mit deinem Unbedingten. Gibst du mir recht?«

»Bedingt.«

Wie auch immer, Matti hatte sich durchgesetzt, und nun sitzen sie hier in der Kirche.

Auch Manz’ Mutter, Ingrid – vierundneunzig Jahre alt, selbst nicht gläubig, ja fast schon kirchenfeindlich eingestellt –, ist gekommen. Und das, obwohl es zwischen ihr und Mattis Mutter im Laufe der Jahrzehnte wegen verschiedener Vorstellungen von Kindererziehung immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen ist und Ingrid auch ganz genau weiß, dass ihre Anwesenheit ihre Schwiegertochter bis aufs Äußerste nervös macht. Zweimal war Christine allein schon beim Anblick ihrer Schwiegermutter so unglücklich mit dem Fuß umgeknickt, dass sie tagelang auf dem Sofa liegen musste. Wo Ingrid sie dann mit selbst hergestellten Salben heilte, was die Sache nicht besser machte.

Nun gut, die üblichen kleinen Querelen. Manz jedenfalls freut sich, dass seine Mutter gesund ist und rechts von ihm in der Kirchenbank sitzt.

»Wir wollen gemeinsam beten.«

Alle stehen auf, es folgt eine Art chorisches Brummen.

Ein perfekter Blickwinkel. Von schräg vorne und etwas von oben. Man sieht jetzt, wo sie stehen, alles sehr gut. Manz’ Familie nimmt fast die gesamte zweite Bank ein. Dazu kommen noch ein paar Verwandte und Freunde. Zum Beispiel Tante Rhabarber und ihr Mann Onkel Wolke, deren Tochter Sabine – über die besser kein Wort – mit ihren beiden nicht wirklich gut geratenen Söhnen. Wolfgang und Theo aus Manz’ Zizzwitzer Ruderverein sind natürlich gekommen. Der ehemalige Ruderkamerad Henning ist leider nicht mehr dabei. AfD. Schon seit einigen Monaten. Des Weiteren sind zwei alte Damen, drei jüngere Frauen sowie ein Mann genannt: Ach, der Henning, wie nett!, aus der weitverzweigten Verwandtschaft von Onkel Jochen erschienen. Allein was diesen Henning und seinen Hof bei Oldenburg angeht, gäbe es einiges zu erzählen! Weil doch Manz sich da, im Oldenburgischen, Mitte der Sechziger seine ersten Sporen als Ermittler verdient hatte, und natürlich, weil er und Christine sich dort auf einer Bank vor dem Dangaster Kurhaus damals kennengelernt haben. Nun, kennengelernt … Man sollte eher von einer ersten Begegnung sprechen. Einem Zusammenprall nicht nur von geistigen Welten. Die Geschichte also mit dem Dauerregen und dem extrem schmalen Bett neben dem glühheißen Bullerofen.

Es ist nicht der rechte Zeitpunkt, das hier auszubreiten, es geht um Mattis Konfirmation. Natürlich, aber das war zu erwarten, ist eine der beiden Töchter von Manz’ ehemaligem Kollegen Kriminalhauptkommissar Borowski gekommen. Sie vertritt ihren Vater, dem es nach seiner Bypassoperation noch nicht so gut geht, wie er es gerne hätte. Zwei ehemalige Mitarbeiterinnen von Christine sind ebenfalls da, eine davon noch sehr jung, sie ist extra aus Brüssel angereist, wo sie für die Grünen in einem Ausschuss des Europaparlaments dafür zuständig ist … Nun, alle zu nennen, mit ihren Geschichten, Geschichtchen, Karrieren, Lebensentwürfen und Schicksalen würde zu weit führen. Hier sollen nur kurz die genannt sein, die regelmäßig bei Manz und Christine in Zizzwitz zu Gast sind.

»Amen.«

Das Gebet ist gesprochen, wieder ertönt die Orgel. Noch mal Bach. Ganz zart diesmal. Ein paar Arabesken ohne Gesang. Alle setzen sich, hören andächtig zu. Fast alle hören andächtig zu, müsste man sagen.

»Aber Matti ist doch bestimmt furchtbar nervös.«

»Jetzt lass es doch einfach geschehen und bleib ruhig.«

»Aber wo sind die denn?«

»Die Konfirmanden?«

»Ja, wo sind die? Geht da gerade irgendwas schief?«

»Man merkt, dass du in Pankow aufgewachsen bist und nie konfirmiert wurdest.«

»Verstehe ich nicht.«

Der letzte Ton der Orgel verklingt, es folgt der feierliche Einzug der Konfirmanden.

»Matti ganz vorne. Wie ist es, Christine, kannst du gut sehen?«

»Ich sehe alles und würde gerne in Ruhe …«

»Viele sind es ja nicht.«

»Es lassen sich nicht mehr so viele konfirmieren.«

»Aber warum Matti? Bei uns war doch nie jemand besonders gläubig. Und die Kirche ist ja auch … Hast du den neuesten Spiegel gelesen?«

»Pssst!«, kommt es scharf von hinten. Manz verzichtet darauf, sich umzudrehen und den Mann zurechtzuweisen. Was seine innere Anspannung angeht, er hätte genügend Druck, das zu tun. Nun, er bleibt ruhig. Vermutlich Christine zuliebe. Stattdessen beugt er sich, kaum, dass Matti an der Spitze des kurzen Zugs an ihnen vorbei ist, vor, faltet die Hände mit Kraft zwischen den Knien. Auf seiner Stirn Schweißtropfen.

Der Pfarrer hält an diesem Tag keine Predigt. Er beginnt mit den Worten: »Heute werden wir …«, es folgen neun feierlich verlesene Namen, »… in die Gemeinde der Gläubigen aufnehmen.«

Noch zwei aufmunternde Sätze zu den neun in einem dreiseitigen Karree aufgestellten Konfirmanden, dann tritt er beiseite. Mehr hat der Pfarrer nicht zu tun, denn der heutige Gottesdienst wird, wie es Brauch ist, von den Konfirmanden gestaltet.

Die Gemeinde sitzt konzentriert in den Bänken, während eine rothaarige Vierzehnjährige mit extremem Kurzhaarschnitt vortritt und die zum Psalm verdichteten Kerngedanken der Konfirmanden vorträgt. Einzig ein Ehepaar in der vierten Reihe wirkt etwas nervös. Dass die Frau, die da neben ihrem Mann sitzt, die Mutter der Rothaarigen ist, sieht man sofort. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Mutter goldblonde, sehr lange perfekt wallende Haare … Klassisch. Ganz eindeutig Mutter und Tochter.

Die Rednerin endet mit den Worten: »Wer falsche Ratgeber durchschaut, der ist gut dran, und wer sich von schlechtem Vorbild verleiten lässt, der steht am Ende vor seinem Richter.«

Denkt Manz in diesem Moment bereits an die alte Geschichte mit dem Pfarrer? Oder an die hübsche Sara mit ihrem wippenden Pferdeschwanz?

Natürlich nicht.

Wohl aber denkt er an seine Zeit als Kommissar der Direktion 5 in Berlin.

Wer falsche Ratgeber durchschaut, der ist gut dran, und wer sie nicht durchschaut, steht irgendwann vor dem Richter. Damit hat sie die Hälfte aller Vorgänge beschrieben, die Borowski und ich damals bearbeitet haben.

Manz verliert sich in alten Gedanken. Sieht Gesichter, Flure, Autos, Tatorte, den Verhörraum. Ja, vor seinem inneren Auge erscheinen sogar Borowski, Ermittlungsleiter Rolfes und Frau Bächle. Alle noch jung, denn was er sieht, liegt vier Jahrzehnte zurück. So geht das Gebet der Gemeinde an ihm vorbei, die Lesung ebenfalls, und auch beim nächsten Lied brummt er nur so halb mit.

Manz taucht erst wieder auf, als sein Enkelsohn an der Reihe ist.

Gott, der Arme, jetzt steht er da ganz alleine …

Matti ist in einer Weise gekleidet, wie Manz ihn noch nie sah, und er trägt die zu einer Predigt geformten Gedanken der Konfirmanden mit ruhiger und doch kräftiger Stimme vor. Lässt eben genug Platz zwischen den Sätzen, dass man ihm folgen kann, ohne dass es langatmig klingt.

Na, bis jetzt funktioniert es ganz gut.

Zwanzig Minuten geht das so. Matti blickt sogar mehrfach auf, spricht frei.

Und kein Unheil geschieht, Manz’ Enkelsohn kommt ohne zu straucheln zum Schluss.

»Als Letztes möchte ich ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer vortragen. Das hat er in der Haft geschrieben, bevor er von den Nationalsozialisten ermordet wurde.«

Gott, jetzt mit denen zu kommen …

Manz wird heiß. Die Gemeinde bleibt ruhig.

»Der Titel des Gedichts ist eine einfache Frage: ›Wer bin ich?‹«

Mehr als diese drei Wörter sind nicht nötig. Mit einem lauten Knall klappt die aus dicken Bohlen gefertigte Luke zur Gruft auf, und etwas sehr Altes schlüpft behänd aus den tiefen Regionen von Manz’ Verstand empor. Und schon ist sie da, die fischschuppige Göttin der Erinnerung. Die, welche keiner rufen muss, denn sie fühlt sich angesprochen, wann immer sie will.

Erster Tag

Leichenfund

»Ja? … Hallo!« Manz’ Stimme klingt ungeduldig. »Wer ist denn da?«

»Rolfes«, erwiderte Kriminalhauptkommissar Rolfes am anderen Ende der Leitung. »Entschuldige, ich hatte gerade … Leichenfund im Leberstieg. Der Arzt sagt, das muss sich wer ansehen. Ihr kommt kurz zu mir, ich instruiere euch.«

Die stets gleichen dienstlichen Abläufe, die teils Wort für Wort gleichen Sätze. Mittwoch, 9. Juni 1983, 12:30 Uhr. Die Sonne hat das Dienstzimmer nicht so stark aufgeheizt, wie Borowski tags zuvor befürchtet hatte.

Blick durchs Fenster.

Na, wer weiß …

Da sich das Wetter nach einigen brütend heißen Tagen etwas ungestüm zeigte, war Manz bereits morgens auf den Balkon seiner Wohnung getreten, hatte über den Mariannenplatz geblickt und geschnuppert … Kann gut sein, dass es regnet. Somit hatte er, bevor er gegen acht Uhr die Wohnung verließ, besser ist besser, seine gummierte dunkelgrüne Regenjacke aus dem Schrank geholt.

Dann noch mal schnell ins Schlafzimmer, ein Kuss vor dem Bett.

»Ich mach mich auf den Weg!«, hatte er zu seiner Frau gesagt. Er stand dabei bereits wieder in der Tür.

»Du weißt, wann du zurück bist?« Christine sah ihn nicht an, als sie das fragte, sie war gerade dabei, ihren weißen Koffer zu packen.

»Theoretisch um fünf, aber du weißt ja, wie es ist in der Direktion 5 …«

»Du hast im Kopf, dass ich für zehn Tage weg bin und Lisa nur bis um siebzehn Uhr auf Julia aufpasst?«

»Zur Not ist ja Claudi da.«

Ohne aufzublicken, da sie gerade fast schon mit Liebe und Zärtlichkeit einen Packen Schriftliches in ihren Koffer legte, sagte Christine: »Julia ist vier Jahre alt, und Claudi ist kein Babysitter, sondern unsere Tochter. Außerdem bereitet sie sich auf ihr Abitur vor. Das heißt, du bist um spätestens 17 Uhr hier. Ganz egal, was ihr in der Direktion 5 … Jetzt geh, du machst mich nervös.«

»Gut, dann bin ich quasi schon weg. Viel Erfolg.«

»Und lass dir von Claudi zeigen, dass sie ihre Hausarbeiten auch wirklich gemacht hat.«

»Sie ist siebzehn!«

»Musst du mir bei jeder Kleinigkeit widersprechen?«

»Ich kümmere mich um alles. Und viel Erfolg in … Na …«

»München. Versuch doch mal dir zu merken, was hier im Haus, was in meinem Leben vorgeht.«

»Du bist jede zweite Woche in einer anderen Stadt, da ist mir München eben für den Moment weggerutscht.«

»Versuch trotzdem, ein klein wenig Anteil zu nehmen, wenn dir das möglich ist.«

»Du machst dir Sorgen wegen deiner Reise? Deiner Rede? Oder wird Frau Scholle auch da sein?«

»Wie kommst du auf Frau Scholle?«

»Jemand, der dich nicht so gut kennt wie ich, würde meinen, du wärst etwas gereizt.«

»Geh! Bitte. Ich habe noch sehr viel zu erledigen.«

Manz nahm also seine Regenjacke mit ins Büro. Die hatte er zwei Jahre zuvor während eines etwas verregneten Urlaubs mit Christine und den Mädchen an der Nordseeküste gekauft. Bald, so sein Plan, würde er sich eine Lederjacke anschaffen. Siebenhundert Mark. Viele Kollegen trugen solche, da wollte er nicht zurückstehen.

 

Eine halbe Stunde später ein letztes Zögern. Noch vor den Kleiderhaken in seinem und Borowskis Büro.

Könnte ihm seine Regenjacke mitbringen. Obwohl. Ach, soll er doch selber …

Manz holte Borowski im Besprechungsraum ab, wo der sich gerade einen Vortrag von Christoph Tanne, dem Leiter der Pressestelle der Direktion 5, anhörte. Offenbar ging es um den Umgang mit verdächtigen Schwarzafrikanern und die Frage, wie afrikanische Namen korrekt auszusprechen waren.

Manz schlich zu Borowski, beugte sich behutsam über ihn, sprach leise. »Wir müssen los. Leichenfund, männlich, im Leberstieg.«

»Leberstieg? Nie gehört.«

»Komm.«

Borowski faltete die Blätter mit seinen phonetischen Notizen zusammen und steckte sie in die Innentasche des Jacketts.

»Willst du noch kurz ins Büro?«, fragte Manz, nachdem sie den Besprechungsraum verlassen hatten.

»Wozu?«

»Dir deine Jacke holen. Es könnte regnen.«

»Liegt denn der Tote im Freien?«

Sie gingen zu Rolfes, der den Vorgang bis jetzt koordiniert hatte. Rolfes war, genau wie Manz und Borowski, vom Rang her Kriminalhauptkommissar, fungierte jedoch seit einiger Zeit als Ermittlungsführer. Das heißt, bei ihm liefen alle Fäden zusammen.

»Na, das ging schnell.« Rolfes stand auf. Eine Angewohnheit. Er hätte das nicht tun müssen.

»Also?«, fragte Manz.

Der Fußboden, die Möbel, die Wände. Grautöne in Abstufungen. Rolfes hatte die Angewohnheit, nur wenn es gar nicht anders ging, Licht zu machen in seinem Büro, das daher stets etwas düster wirkte. So auch jetzt. Trübes Tageslicht ohne Farbklang scharf von der Seite. Entsprechende Schattenpartien auf den Gesichtern.

Manz und Borowski standen nebeneinander wie aufgestellt. Annähernd gleiche Körperhaltung. Manz allerdings war einen Kopf größer. Und sein Kopf, sein Gesicht, der Unterkiefer vor allem … Das alles wirkte wie eine plastische Studie, gefertigt in Ton. Die Arbeit eines noch jungen, sehr wild und roh empfindenden Bildhauers. Es gab Frauen, die fanden dieses Gesicht anziehend, es gab aber auch solche, die das Rohe ein wenig ängstigte.

Manz hätte mehr tun können, den ersten, naturgegebenen Eindruck abzumildern. Zum Beispiel indem er seine Stimme sanft und besonnen hätte klingen lassen. Er tat es nicht. Jetzt vorschnell zu sagen, es sei eine andere Zeit gewesen, das Männerbild habe sich noch nicht gerundet … damals, 1983. Das zu sagen, hieße die Zeit verkennen. Das Männerbild hatte sich durchaus gerundet. Im Generellen. Nur galt das eben nicht für alle Männer.

»Heute um kurz nach elf«, begann Rolfes, »wurde die Feuerwehr telefonisch alarmiert. Und zwar …«, er sah noch mal auf seinen Zettel, »von drei Frauen.«

»Direkt nacheinander?«

»Gleichzeitig. Offenbar hingen sie zu dritt am Telefon. Sollen ziemlich aufgeregt gewesen sein und durcheinandergeredet haben.«

Manz’ Verstand produzierte ein Bild von drei Frauen an einem Telefonhörer.

»Offenbar sind die drei Mieterinnen des Hauses im Leberstieg Nummer … Hier.« Rolfes überreichte Manz seinen Zettel mit den handschriftlichen Notizen.

»Leberstieg?«, fragte Manz. »Ich kenne eine Leberstraße in Schöneberg, aber …«

»Wir in Neukölln haben einen Leberstieg. Geht vom Böhmischen Platz ab. Guckt auf dem Stadtplan nach. Die drei Frauen sagten, der Mieter der Erdgeschosswohnung habe bereits seit Tagen nicht auf ihr Klingeln reagiert und sei auch seit gut einer Woche nicht mehr gesehen worden. Was offenbar unüblich war.«

»Und da warten die so lange?«, fragte Borowski. Es war mehr ein Murmeln.

Rolfes reagierte nicht darauf. »Die Feuerwehr traf zwanzig Minuten nach dem Anruf ein …«

»Klingelte vermutlich an der Tür!«, brummte Manz. Es war nicht zu überhören, dass er loswollte.

»Klingelte. Ganz richtig«, erwiderte Rolfes. Da niemand reagierte und die Frauen, es waren noch immer die drei, die angerufen hatten, soweit ich das verstanden habe … die scheinen sehr gedrängt zu haben, dass sofort etwas unternommen wird.«

»Erst warten sie tagelang …«

»Darf ich weitermachen, Borowski? Danke. Die Tür wurde also von der Feuerwehr geöffnet. Sie leistete kaum Widerstand. Das hat der Leiter des Einsatzes dem Kriminaldauerdienst mitgeteilt.«

»Wer hatte die Leitung beim Dauerdienst? Schrode?«

»Gib noch mal den Zettel … Ja, Schrode, richtig. Hier: ›Tür war nicht abgeschlossen und ließ sich mit einem leichten Druck öffnen.‹ Da konnte also jeder rein.«

»Es gibt keinen Hausmeister?«

»Offenbar war der nicht greifbar. In der Wohnung wurde der Mieter auf dem Boden liegend vorgefunden. Die Feuerwehr informierte daraufhin den Kriminaldauerdienst.«

»Ohne den Tod festzustellen?«, fragte Borowski in seiner manchmal etwas anstrengenden, teils fast schon kleinkarierten Art.

»Der Mieter war offenbar bereits seit über einer Woche tot, es reichte ein Blick. Dazu der Geruch …«

»Trotzdem muss doch ein Arzt den Tod offiziell feststellen!«

»Natürlich wurde ein Arzt gerufen. Der Kriminaldauerdienst hatte nicht viel zu tun. Die Wohnung war eindeutig durchsucht worden. ›Durchwühlt und verwüstet‹, sagte Schrode am Telefon. Es muss dort ziemlich schlimm aussehen. Na, die Spurensicherung wird dankbar sein, dass weder die Männer von der Feuerwehr noch welche vom Dauerdienst in der Wohnung rumgelaufen sind. Der Arzt stellte den Tod fest und empfahl Schrode, eine genauere Leichenschau zu veranlassen.« Rolfes blickte auf seine Uhr. »Grossmann und die Spurensicherung sind sicher schon vor Ort, Schimmag ist unterwegs. Ich schätze, Grossmann und seine Mitarbeiter müssten dann auch bald so weit sein, dass ihr einen ersten Blick auf den Toten und die Räume werfen könnt.«

Mehr gab es offenbar nicht zu sagen. Jedenfalls nahm Rolfes wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Er verschwand damit in einer Art Dunkelfeld. Angeblich konnte er bei diesen Lichtverhältnissen besser arbeiten.

 

Der Flur. Der Fahrstuhl. Die Tiefgarage.

Es war nur eine Fahrt von zehn Minuten. Die Bäume am Straßenrand bewegten sich, die dunklen Wolken über ihnen veränderten rasch ihre Form.

»Tatsache!«, staunte Borowski, den Stadtplan auf seinen Knien. »Es gibt hier einen Leberstieg. Muss gleich da vorne links sein.«

»Warum sollte es in Neukölln keinen Leberstieg geben?«

»Weil ich hier aufgewachsen bin«, erklärte Borowski im Ton großer Selbstverständlichkeit.

Als sie in die kleine Stichstraße einbogen, war es, als führen sie durch ein rosafarbenes Tor. Links und rechts standen zwei überreichlich blühende Bäume, die Manz für Mandelbäume hielt. Die Sonne brach kurz durch.

Der Böhmische Platz wie auch der Leberstieg hatten, damals, etwas von leicht gehobener Wohnlage. Die Straße, vor allem aber die Trottoirs, waren breiter als in anderen Teilen Neuköllns. Außerdem standen im Leberstieg damals noch diese sehr speziellen Straßenbäume, die Manz auch auf den zweiten Blick für das hielt, was sie nicht waren.

»Das sind doch Mandelbäume, oder? Ungewöhnlich für Berlin. Sag was, Borowski?«

»Sieht aus wie rosa Schneegestöber.«

Die Blühzeit der Bäume schien dem Ende entgegenzugehen, denn der Wind zog die Blütenblätter mit Leichtigkeit von den Ästen, ließ sie ein wenig in der Luft herumwirbeln. Die Straße, die Gehwege … Man hätte meinen können, hier hätte gerade eine Hochzeit stattgefunden, bei der man es mit dem Konfetti etwas übertrieben hatte.

Zwei Wagen der Spurensicherung und einer der Gerichtsmedizin standen vor dem Haus, ein Uniformierter war neben dem Eingang postiert.

Das Gebäude fiel im wahrsten Sinne des Wortes aus der Reihe. So, wie ja auch bei Menschen bisweilen Zähne aus der Reihe fallen. Es wirkte heruntergekommen und war als einziges im Leberstieg nur dreigeschossig.

Die mit schwertscharfen Strahlen in die Häuserschlucht einstechende Sonne und das Spiel der wirbelnden Blütenblätter hübschten zwar alles ein wenig auf, doch das Gebäude, über dessen Eingang ein übergroßes, eigentlich überhaupt nicht passendes Halbrelief hing, war in wirklich sehr schlechtem Zustand. Das Mauerwerk lag teilweise frei und man sah die für Berlin seinerzeit noch charakteristischen Einschusslöcher im Putz. Ärmlich, hätte jemand aus Oldenburg oder Bielefeld vielleicht gedacht. Und doch gab es in diesem Haus, wie sich bald zeigte, Wohnungen von zweihundertsiebzig Quadratmetern.

Manz und Borowski betraten das Gebäude, nachdem sie ihre Dienstausweise am Eingang vorgezeigt hatten. Im Hausflur brannte schwaches gelbliches Licht, die Wände des Gangs waren vom Transport zahlloser Möbel abgestoßen, und jemand hatte Buchstaben auf die grüne Fläche gesprüht, die man im deutschen Alphabet nicht findet. Der Boden wiederum bestand aus einem diagonalen Mosaik, gefertigt aus weißen, schwarzen und grauen Steingutkacheln.

»Wird hier im Winter schön rutschig sein«, sagte Manz und spekulierte, dass der Hausmeister während der kalten Jahreszeit vermutlich Sackleinen und Decken auslegte. »Damit niemand hinfällt, verstehst du?«

Ein Gedanke. Borowski ging nicht darauf ein.

Nach fünf Metern eine Stufe, dann ein kleines Plateau. Links und rechts je eine Wohnungstür. Die rechte stand offen. In der Wohnung viel Licht, die Spurensicherung war bereits tätig.

Sechs Schritte weiter geradeaus begann das Treppenhaus. Manz ging hin und sah, was er sah. Drei Frauen. Zwei, einander haltend, auf dem ersten Zwischenpodest, eine dritte ein gutes Stück weiter oben, sie beugte sich recht gewagt über den Handlauf.

»Ist da was?«, fragte Borowski.

»Ja, nein.«

Das Treppenhaus hatte sicher einst etwas ausgedrückt. Wohlstand. Ein gewisses Selbstverständnis. Und doch war es nichts Besonderes. Es gibt in Berliner Vorderhäusern noch heute Zigtausende solcher Treppenhäuser. Sie ähneln sich bei aller Pracht teils bis ins Detail, denn Berlin, das Berlin der Jahrhundertwende, das Berlin des Kaisers, wie man früher sagte, entstand als Serienanfertigung nach Generalplänen. Die hübschen Details, Rosetten und Schnörkel waren in Musterbüchern festgelegt und wurden im Akkord in Abgussformen, genormten Rahmen und unter Stempeln gefertigt. Daran änderten auch all die Säulen, Gesimse, Karyatiden und Engelsgestalten nur wenig.

An diesem Haus im Leberstieg zum Beispiel gab es einen Prometheus. Er wuchs straßenseitig aus dem etwas expressionistisch anmutenden oberen Abschluss des Eingangs heraus. Er war riesig. Und dass an einem Haus im Leberstieg ein Prometheus klebte, war ohne Frage hintersinnig.

Manz und Borowski warteten geduldig vor der geöffneten Tür und blickten in einen kleinen flurähnlichen Eingangsraum mit drei Türen. Hinter der mittleren befand sich … Manz konnte durch die geöffnete Tür hin und wieder die Männer der Spurensicherung sehen, die dort ihrer Arbeit nachgingen. Werden erst mal alles fotografieren und … Na, das dauert.

Grossmann war ebenfalls da, schien das Tun seiner Männer aber nur zu überwachen. Auch der Gerichtsmediziner Thorsten Schimmag war zweimal kurz im Ausschnitt zu sehen.

Ein Geräusch. Das Klappen einer Wohnungstür.

Irgendwo oben im Treppenhaus.

Als Manz erneut hinging und hochsah, waren die drei Frauen verschwunden.

»Hm.«

»Was denn?«, fragte Borowski, der, das Gewicht seines fast schon bullig anmutenden Körpers gleichmäßig auf beide Beine verteilend, dastand und somit wie ein Bildnis unendlicher Geduld wirkte. Obwohl … Ein bisschen täuschte das Bild. Borowski war, wenn es drauf ankam, sehr schnell und beweglich. Er kannte auch bestimmte Griffe und Schlagtechniken, die selten, dann aber unbedingt nötig waren.

»Wenn es sein muss, mit Gewalt.« So galt damals die Anweisung. Die Anweisung gilt noch heute, sie wird allerdings anders ausgesprochen. Es gibt Seminare, in denen man lernt, wie man Herr über die inneren Gewalten bleibt. Es gibt diese Seminare sogar regelmäßig. Sie gehören zum Standard der Ausbildung.

»Ach, nichts«, sagte nun Manz. Er hatte sich mit seiner Antwort auf Borowskis Frage viel Zeit gelassen.

»Du hast ›hm‹ gesagt?«, hakte Borowski nach.

»Ja, aber nur so.«

Wieder erzeugte Manz’ Verstand das Bild von drei Frauen, die gleichzeitig und sehr aufgeregt in einen Telefonhörer sprachen. Haben aber erst mal ein paar Tage gewartet … Ein winziger Moment. Bild der Erkenntnis. Gleichnis einer Empfindung. Glaube, Ahnung, Fiktion. Ein feiner Lichtstrahl durch einen Schlitz, der bewirkte, dass der Gedanke noch mal kam, Wurzeln schlug, Äste ausbildete. Haben erst mal ein paar Tage gewartet. Dann ans Telefon. Dann sehr aufgeregt. Dann sollte es schnell gehen. Warum also zunächst diese Verzögerung?

»Komme gleich«, rief in diesem Moment Thorsten Schimmag. »Dauert noch einen kurzen Moment, ich bin gerade …«

»Das Licht im Treppenhaus ging aus, Manz drückte auf einen Knopf. Der war rund und leuchtete rot.

Dann geschah eine Weile nichts.

Manz und Borowski warteten. Niemals hätten sie die Wohnung betreten. Nicht bevor Grossmann ihnen spurentechnisch einen kleinen Weg freigeräumt hatte. So zu handeln, gebot nicht nur die Erfahrung, es stand in diversen Dienstanweisungen.

Warten also.

Warum dieses Misstrauen? Warum muss immer alles geprüft und kontrolliert werden? Claudi ist siebzehn, wenn sie jetzt noch nicht weiß, ob sie ihr Abi schaffen will oder nicht … Und ich wette, dass Frau Scholle auch in München auf dieser Konferenz ist, na, das wird ein … Frau Scholle, Frau Scholle, immer wieder Frau Scholle! Egal letztlich, wenn es wieder so warm wird wie letzte Woche, werden Julia und ich mit dem Krokodil im Prinzenbad unseren Spaß, oh! dran denken, sie braucht neue Ohrstöpsel, nicht, dass sie wieder Wasser … Wie bitte kann man Frau Scholle heißen? Das ist doch …

Weitere Zeit verging, Gedanken kamen und gingen. Sechsmal musste Manz auf den rot glühenden Knopf drücken, damit das Licht anblieb. Schließlich … zu dritt am Telefon … drehte er sich ein Stück weit nach links.

Lauschte.

Lauschte eine ganze Weile.

Ging schließlich ein paar Schritte Richtung Treppenaufgang.

Lauschte erneut.

Stieg die Stufen bis zum ersten Treppenpodest hoch.

Lauschte ein drittes Mal.

Hier oben war es heller, ja, es gab einen regelrecht grellen Strahl. Die Sonne war offenbar wieder rausgekommen, schien durch das Treppenhausfenster, flutete ein gutes Stück weit die Treppe hinab und trieb ihr Spiel, wie es typisch war für ein Berliner Treppenhaus im Frühsommer des Jahrs 1983 um kurz nach zehn. Manz wendete seine ganze Konzentration auf, um vielleicht doch etwas zu hören. Leider war seine Konzentration nicht ganz auf der Höhe, weil …

Wurde das so in Christines Familie gehandhabt? Jede Hausarbeit kontrollieren, alle in Richtung einer erstklassigen Ausbildung peitschen? Alle sollen Akademiker werden. Wenn möglich, ein Doktortitel oder noch besser, Professor. Vermutlich war es so, und jetzt soll unsere Claudi ebenfalls … Christines Schwester presst ihre bekloppte Tochter ja auch in Richtung eines dieser Internate für Hochbegabte. Leider jedoch … so helle ist ihre liebe Kleine nicht, ach …

Staub schwebte noch immer in der Luft. Kleinste Teilchen wurden noch immer vom gleichen und doch nicht gleichen Licht erfasst.

… dachte ich es mir doch.

Von oben war leises Gemurmel zu hören. Offenbar hatten sich die Frauen dorthin zurückgezogen, waren aber nicht in ihren Wohnungen verschwunden. Manz stieg weitere Stufen hoch. Ein Knarren. Leise klappte eine Tür zu. Dann noch eine. Danach war es still.

»Kommst du?«, hörte er Borowski von unten.

Thorsten Schimmag stand in der Tür. In voller Montur. Er grüßte Manz mit einem angedeuteten Nicken.

»Vorgequollene Augen, geplatzte Äderchen, wie wir es von Opfern kennen, die erstickt oder erwürgt wurden. Die Wohnung ist zudem extrem durchwühlt. Ich hab so was schon öfter gesehen, aber noch nie so. Grossmann sagt, hinten im Gang wären sogar die Bodendielen rausgerissen worden.«

Ein weiterer Mann trat zu ihnen.

»Hallo, Thomas«, sagte Manz. Sie gaben sich die Hand. Thomas Schrode war mit seinem Team vom Kriminaldauerdienst nur kurz in der Wohnung gewesen. Auch diesen Männern war klar, dass sie keine Spuren eintragen durften.

»Schon irgendwelche Vernehmungen durchgeführt?«, fragte Manz.

Schrode schüttelte den Kopf »Wir wollten euch nicht vorgreifen. Ich habe nur kurz versucht …« Er wies auf die Tür zur Wohnung gegenüber. »Da hat niemand aufgemacht.«

»Hm.«

»Sieht wirklich schlimm aus, da drin.«

Thorsten Schimmag nickte.

»Der Mann der hier lebte …«, fuhr Schrode fort, »ein Herr Busse … Der ist nach meinem Dafürhalten bereits seit wenigstens einer Woche tot. Man riecht es. Nicht so stark, wie man annehmen sollte, aber es wundert mich doch, dass die Hausbewohner so lange gewartet haben, ehe die Feuerwehr informiert wurde. Ich meine, der Leichengeruch muss auch im Hausflur …«

Nachdem Schrode fertig war mit seinem Bericht, schwieg er, hielt sich aber für eventuelle Nachfragen zur Verfügung. Alles lief wie immer, es war ein Vorgang. Manz und Borowski waren es gewohnt, in Treppenhäusern zu warten. Und manchmal stand, während sie warteten, Schrode neben ihnen.

Geduld also war nötig. Sie wussten, warum.

Die Spurensicherung arbeitete stets von außen nach innen. Spurenschonend. Erst nach der Sicherung einer Reihe von infrage kommenden Spurenträgern würde Grossmann ihnen den Weg zur Leiche, vielleicht auch in die hinteren, noch im Dunkeln liegenden Räume freigeben. Und nur exakt diesen Weg. Ein Herumstromern in der Wohnung war nicht gestattet.

Eine nähere Inspektion der Leiche war Manz und Borowski natürlich ebenfalls nicht erlaubt, da die nicht kontaminiert werden durfte. Davon abgesehen war es auch nicht so, dass Manz oder Borowski sich darum gerissen hätten, an einer etwa acht Tage alten Leiche herumzufingern.

»Ich mach mal weiter«, erklärte nun Schimmag. »Wie gesagt, der Mann wurde vermutlich erstickt. Das Kissen lag ja noch auf seinem Gesicht.«

»Auf dem Gesicht?«, fragte Schrode. »Als wir in die Wohnung kamen, lag es neben dem Kopf.«

»Sicher?«

»Ja.«

»War denn jemand in der Wohnung, bevor Schimmag und Grossmann mit ihren Leuten rein sind?«

»Solange wir da waren, nicht«, erklärte Schrode. »Außerdem haben wir die Tür natürlich geschlossen.«

»Versiegelt?«

»Wozu? Wir standen ja direkt vor dem Haus.«

»Bis Grossmann und Schimmag mit ihren Männern kamen.«

»Genau.«

»Wer war zuerst da?«

»Grossmann. Zehn, höchstens fünfzehn Minuten hat das gedauert. Schimmag kam etwas später.«

Manz machte Grossmann ein Zeichen. »Kommst du mal kurz?«

Grossmann kam zur Tür. Sie beschlossen, ins Treppenhaus zu gehen, da es eng wurde.

»Sag, als ihr rein seid, lag da ein Kissen neben dem Kopf von Herrn Busse?«

»Auf dem Gesicht, nicht daneben«, erklärte Grossmann.

»Und die Haustür?«

»Die ließ ich aufdrücken. Schrode sagte mir, sie ließe sich problemlos aufdrücken.«

Schrode nickte.

»Wir hatten kein Problem, in die Wohnung zu gelangen.«

»Aber sie war zu, als wir gingen!«, wiederholte Schrode. »Wir haben sie … Sie ließ sich noch zuziehen. Und das haben wir gemacht.«

»Dann habt ihr euch draußen vor den Eingang gestellt und auf Schimmag und Grossmann gewartet?«

»Der Geruch ist nicht gerade angenehm.«

»Hm.«

»Wir konnten nicht abschließen, da kein Hausmeister anwesend war. Sie ließ sich aber ohne Probleme aufdrücken und schließen. Die Feuerwehr musste sie auch nicht aufbrechen. Ein leichter Druck mit der flachen Hand reicht. Ich schätze, der Riegel greift nicht mehr richtig. Ihr seht ja, in was für einem Zustand das Haus ist.«

»Danke.«

»Aber was bedeutet das?«, wollte Schrode wissen.

»Nun«, sagte Manz. »Es bedeutet, dass offenbar jemand in der Wohnung war, während du mit deinen Männern draußen auf Grossmann und Schimmag gewartet hast.«

»Du meinst, wir hätten sie versiegeln sollen, für die zehn Minuten, bis Grossmann mit seinen Leuten da war?«

»Nein, meine ich nicht. Es sieht nur so aus, dass jemand das Kissen auf das Gesicht des Toten gelegt hat.«

»Jemand aus dem Haus.«

Schrode sah Borowski an, der zog die Schultern hoch. Sein Blick? Kein Vorwurf, kein Anzeichen von Verständnis, nichts.

»Gut«, entschied Manz und sah Schimmag an. »Du sagst …«

»Erwürgt oder erstickt. So gut wie sicher. Alles weitere später.«

»Schon klar. Ruf bitte den Untersuchungsrichter an, dass er die Leiche beschlagnahmt. Nicht, dass wir hier noch Ärger mit einem Bestatter kriegen.«

»Hab ich bereits gemacht. Die Leiche bleibt hier, bis wir sie abgeklebt haben, und kommt anschließend zu uns.«

»Gut. Dann fangen Borowski und ich schon mal an, mit der Zeugenbefragung.«

Grossmann und Schimmag kehrten in die Wohnung zurück. Manz klingelte an der Haustür der Wohnung gegenüber. Auf dem kleinen Schildchen neben einem Klingelknopf billigster Machart stand handschriftlich ein Name.

Frau Böhmer

Es dauerte erneut einige Zeit, weil … So war es eben mit der Zeit. So ist es heute noch. Bei Ermittlungen. Es wird nicht immer gefragt, geantwortet, gestritten, gefahren, gegangen, gelaufen, gerannt, gehechtet. Oft steht man einfach da. Wartet. Lange bisweilen. Gutes Schuhwerk ist wichtig. Beim Rumstehen nicht weniger als beim Gehen und Laufen. Es hat etwas mit dem Knochenaufbau und den Bandscheiben zu tun. Aber so sagt man ja auch: Die Beine in den Bauch stehen.

Endlich!

Nachdem Borowski viermal geklingelt hatte, kam jemand.

Von oben.

Das Treppenhaus herunter.

Langsam.

Ein frecher Sonnenstrahl.

Feinste Staubpartikel wurden vom Licht durchschossen, glühten auf in der Luft.

Schwebend, nicht sinkend.

Sie ging hindurch.

Langsam.

Blieb zuletzt auf der untersten Treppenstufe stehen.

»Sie wollen zu mir?«, fragte sie nach einer erneuten Pause. Vom Aussehen her schätzte Manz sie auf Ende dreißig.

Hat geweint. Ihre Haare waren etwas in Unordnung.

»Sie sind Frau Böhmer?«, fragte Manz, wobei er auf das Klingelschild zeigte.

»Ja?«, fragte sie in einem Tonfall, einer inneren Verfasstheit, als wäre für sie einiges nicht so ganz klar.

»Ich bin Kriminalhauptkommissar Manz. Direktion 5, Karl-Marx-Straße. Das ist mein Kollege Borowski. Wir haben ein paar Fragen zu Herrn Busse.«

Die Frau machte einen Ansatz, zögerte erneut. Es sah aus, als würde sie sich nicht zu ihrer Tür trauen.

»Bitte«, sagte Manz im geduldigsten und höflichsten Tonfall, den er konnte, und wies mit der Hand Richtung Tür.

Sie bewegte sich immer noch nicht.

Stand einfach nur da.

Das Licht ging aus.

Was blieb, war der freche Sonnenstrahl, der sie in einer Art von hinten beleuchtete, dass man hätte meinen können, sie würde schweben und sei von einer Aura umkränzt.

»Frau Böhmer? Ist alles in Ordnung? Sollen wir einen Arzt kommen lassen?«

Nun endlich schaffte sie die letzten Schritte zu ihrer Tür und schloss auf.

Der Flur war wie gegenüber eher eine Art Vorraum mit Garderobe und diente offenbar als Lagerstätte für Pakete verschiedener Größe, die zur Post sollten.

»Produzieren Sie etwas?«, fragte Borowski.

Da sie nicht zu verstehen schien, zeigte er. »Die vielen Pakete …«

»Alte Sachen?« Sie schien es kaum glauben zu können. »Das meiste geht an die Kirche.«

»Verstehe.«

Links ging eine Tür ab. Nach Manz’ architektonischer Einschätzung erschloss sie einen oder zwei Räume zur Straße hin. Die Tür rechts war etwas niedriger. DasGäste-WC. Zwischen diesen beiden Türen eine dritte. Die führte direkt in einen Raum von wenigstens siebzig Quadratmetern.

Berliner Zimmer.

Ganz hinten rechts gab es ein großes Fenster, das auf den Hof hinausging.

»Da könnten wir sitzen … Oder?« Frau Böhmer deutete auf zwei Stühle, gefertigt aus schwarzem Holz. Mit ihren extrem hohen senkrecht aufragenden Rückenlehnen hätten sie sich ganz wunderbar in einen Rittersaal aus dem zehnten Jahrhundert eingefügt. Um orthopädische Schäden zu verhindern, waren sie mit dicken Strickdecken und Kissen ausgelegt. Das Ganze wirkte etwas schlampig und unentschlossen, wie Manz fand.

Auch Frau Böhmer wirkte unentschlossen. Sie nahm auf einem gleichartigen Stuhl Platz und legte sich eine dicke Strickdecke mit mexikanischen Mustern wie einen Poncho um die Schultern.

Das Anfang Juni. Wie die wohl im Winter rumläuft?

Weiter als bis zu diesem Gedanken kam Manz nicht, denn Frau Böhmer krümmte sich zusammen und fing an zu schluchzen. Ihr ganzer Körper geriet in eine zuckende Aufwallung.

Manz und Borowski saßen aufrecht in ihren Ritterstühlen und warteten ab. Schließlich fragte Manz: »Können wir Ihnen irgendwie helfen, Frau Böhmer? Brauchen Sie etwas zu trinken? … Vielleicht was Starkes?«

Sie antwortete nicht, gab sich weiter ihrem gefühlsmäßigen Aufruhr hin. Eben im Hausflur hatte Manz gemeint, vor ihm stünde eine Frau Mitte, Ende dreißig. Inzwischen war Frau Böhmer gealtert. Es lag nicht daran, dass sie weinte, es lag an der Einrichtung des Zimmers.

Endlich hatte sie genügend Tränen vergossen. Ihr Oberkörper streckte sich, und sie zog eine Miene, als sei sie zu allem entschlossen.

»Geht es?«, fragte Borowski.

»Sie können Ihre Fragen stellen.«

Borowski begann. Es gab keine Abmachung zwischen Manz und ihm, es gab auch keine Rangfolge. Wenn man davon absah, dass Manz, wie bereits erwähnt, einen Kopf größer war und etwas an sich hatte, das dazu führte, dass Zeugen, Kollegen, Fachleute in der Regel mit ihm sprachen und auf Borowski nur reagierten, wenn er Fragen stellte oder sie direkt ansprach … Manz gefiel das im Fall von Befragungen gar nicht, er hörte lieber zu. Wenigstens am Anfang. Machte sich ein Bild von den Zeugen, weil … Man sagt doch so: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und ein Gesicht oder Veränderungen in der Haltung eines Körpers, so jedenfalls ging es Manz, sagten noch viel mehr als ein Bild.

»Sie kannten Herrn Busse?« Borowski ging es behutsam an. Erstens weil er vermeiden musste, dass die Zeugin erneut anfing zu weinen, zweitens weil das so seine Art war. »Ich meine, Sie kannten ihn besser, als dass man sich bei Gelegenheit im Hausflur begrüßt oder Pakete für den anderen annimmt?« Borowski war aus sehr altem Holz geschnitzt. Für ihn verdienten Frauen einen besonderen Schutz. Es gab so was wie ein hellsilbernes Herz in seiner Brust. Was das anging, saß er auf genau dem zu seinem Wesen passenden Stuhl.

»Ja, ich kannte ihn«, antwortete sie. Und selbst dafür hatte sie eine Weile gebraucht. »Ich habe ihm manchmal geholfen. Wenn es um seine Kirche ging.«

»Herr Busse war Pfarrer?«

»Ja.«

»Sie kannten ihn schon länger?«

»Seit mein Mann und ich hier eingezogen sind … Also seit sechs Jahren?«

»Das werden Sie besser wissen als ich.«

»Ja, seit sechs Jahren«, sagte sie mit Entschluss. Ihre Hände waren miteinander beschäftigt.

»Könnte man sagen, dass Sie mit ihm befreundet waren?«

Auf diese Frage erhielt Borowski keine Antwort. Er musste sich mit einem langen traurigen Blick begnügen. Da war zwar ein gewisser Glanz in ihren Augen, aber … Sie riss sich zusammen, wie ein Grobian sagen würde.

»Wobei haben Sie ihm geholfen?«

»Zum Beispiel mit seiner Aidsstiftung.«

»Was ist eine Aidsstiftung?«

»Die sammelt und verwaltet Gelder, um Aidskranken zu helfen.«

»Und was ist ein Aidskranker?«, hakte Borowski nach.

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein.«

Sie wirkte jetzt sicherer. »Aids ist eine schwere Krankheit. Eine Form von Lungenentzündung, die Menschen befällt, deren Immunsystem geschwächt ist. Viele sterben daran.«

»Eine tödliche Krankheit, die in Berlin grassiert?«

»Nicht nur in Berlin.«

»Komisch, dass ich davon noch nie gehört habe«, brummte Manz.

Ihre Augen waren größer, als man zuvor hätte meinen können. »Nun ja, die Behörden. Man weiß noch nicht viel darüber, da die Krankheit sozusagen noch neu ist. Aber sie wird wohl durch intime Kontakte übertragen. Angeblich vor allem im Bereich der Prostitution. Was zwar nicht stimmt, aber einer der Gründe dafür ist, dass viele offiziellen Stellen sich weigern, betroffenen Menschen zu helfen. Die Krankheit ist sozusagen noch nicht eingeordnet in unser System. Also müssen Privatpersonen einspringen. Oder eben die Kirche.« Eine kleine Pause entstand, und in dieser Pause durch irgendetwas – wohl eine Art Selbstbefeuerung – angestachelt, entwickelte Frau Böhmer Kraft. Sie war jetzt eine andere, als Manz und Borowski bis jetzt gemeint hatten. »Die Kirche ist nicht so, wie manche behaupten!« Nur dieser Satz. Er hatte offenbar kommen müssen. Und er kam mit einer Kraft, die Manz erschrecken ließ.

Wie auch immer: Das kurze Referat schien Frau Böhmer geholfen zu haben. Ihre Augen waren jetzt wirklich ganz erheblich größer, und ihr seegrüner Blick war knallwach.