Die Bucht des blauen Oktopus - Antonia Michaelis - E-Book

Die Bucht des blauen Oktopus E-Book

Antonia Michaelis

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Beschreibung

Beim Urlaub in Griechenland lernt die 11-jährige Kiki den Jungen Jorgos kennen, der allein mit seinem kleinen Bruder am Strand lebt. Jorgos träumt davon, einen Schatz zu finden, der im Meer verborgen liegen soll. Doch auch der fiese Alexis und seine Bande aus dem Dorf sind auf der Suche danach. Werden Jorgos und Kiki den Schatz als Erste finden? Und kann vielleicht der in der Bucht lebende geheimnisvolle, uralte blaue Oktopus ihnen dabei helfen? Eine spannende und magische Reise über das Meer beginnt …

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Über dieses Buch

Vor mir lag ein ganzer Ozean voller verborgener Geheimnisse. Ich spürte, dass dort etwas auf mich wartete.

 

Beim Urlaub in Griechenland lernt Kiki den Jungen Jorgos kennen, der allein mit seinem kleinen Bruder am Strand wohnt. Jorgos träumt davon, einen Schatz zu finden, der im Meer verborgen liegen soll. Doch auch Alexis und seine Bande aus dem Dorf sind auf der Suche danach. Werden Jorgos und Kiki den Schatz als Erste finden, und kann ihnen der geheimnisvolle blaue Oktopus dabei helfen, der in der Bucht lebt?

 

Eine magische, abenteuerliche Reise über das Meer beginnt …

Erstes Buch:Was in der Tiefe schläft

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Jorgos

 

Da war etwas Blaues.

Kurz über der Wasseroberfläche. Etwas wie eine Bewegung.

Anders blau als das Meer. Blauer.

Man hatte einen guten Blick auf das Meer von der Terrasse des alten Hauses: Man sah über das Dorf mit seinen eng aneinandergedrängten weißen Häusern, den Hang hinunter mit seinen Dornensträuchern, auf denen die Sonne brütete, und dann hinunter über die Felsen und weiter, über die Wellen, bis zum Horizont.

Ich kniff die Augen zusammen. »Da ist etwas Blaues«, sagte ich. »Pappoús?«

Und für einen Moment löste ich meinen Blick vom Meer und sah den Alten an, der auf seinem Stuhl vor der Brüstung der Terrasse saß, diesen uralten Mann mit seinen tausend Falten im Gesicht, die Augen im Schatten seiner schwarzen Kappe. Pappoús. Meinen Großvater.

»Das Meer ist blau«, knurrte er. »Der Himmel ist blau. Alles ist blau. Viel zu viel Blau in diesem Land.«

»Dreh dich um«, sagte ich. »Es ist … wie der Arm eines Oktopus. Eines riesigen Oktopus.«

Aber als ich selbst wieder hinsah, war das Blaue fort.

»Ich brauche mich nicht umzudrehen, ich kenne das Meer, in- und auswendig, seit 82 Jahren«, fauchte der Alte. »Ich will es gar nicht sehen. Du bildest dir Dinge ein.« Seine Hand schnellte auf einmal vor und umklammerte meinen Arm. »Jorgos! Wo hast du überhaupt gesteckt? Warst du in der Schule?«

Ich fragte mich, ob er wusste, wie lange ich nicht dort gewesen war. Wahrscheinlich nicht.

»Klar war ich in der Schule«, sagte ich und entwand meine Hand seinem Griff. »Ich bin gekommen, um dir deine Einkäufe zu bringen.«

Und ich ließ das Einkaufsnetz auf den Boden fallen: zwei Laibe Weißbrot, Konservendosen, Kaffee, Gurken, Tomaten. »Und du solltest deine Medikamente nehmen.« Ich griff in meine Tasche und zog die Pillendose heraus. »Hier. Lag in der Küche. Du hast die nicht genommen. Da sind noch viel zu viele drin.«

»Hab ich nachgefüllt«, knurrte er, aber ich sah, dass er log.

Im Lügen waren wir beide gut.

Ich ließ ihn sitzen und tauchte ins Dunkel des winzigen Wohnzimmers. Es war vollgestopft mit alten Kommoden und verstaubten Spitzendeckchen, alles war alt hier, alles war vergangen. Die Holzbalken der Decke waren so niedrig, dass ich sie leicht mit der Hand berühren konnte. Vor dem kleinen Fenster stand Pappoús’ ebenso altes Fernglas. Es glänzte wie ein Auge in der Dunkelheit.

»Da war doch etwas Blaues«, sagte ich und nahm das Glas von seinem dreibeinigen Ständer.

Der Alte schnappte es mir weg. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass er mir nachgekommen war.

»Fass das nicht an!«, zischte er. »Du weißt, dass du das nicht darfst! Lässt dich zwei Wochen nicht blicken, und dann tauchst du auf und schnüffelst in meinen Sachen rum. Die von der Schule waren hier und haben nach dir gefragt. Und du brauchst mir keine Einkäufe zu bringen. Genauso wenig, wie du meine Tabletten kontrollieren musst.«

»Wir haben das besprochen«, sagte ich. »Der Arzt und ich. Pappoús, bitte.«

»Pah.« Er schnaubte. »Wer von uns ist 82, und wer ist elf? Und wer kann sich wohl besser um sich selber kümmern?« Er drückte das Fernglas an sich wie einen Schatz.

»Scher dich zum Teufel, Jorgos«, sagte er. »Und geh zur Schule.«

Ich lachte. »Kommt aufs Gleiche raus, was?«

Pappoús hob das Fernglas, als wollte er mir Prügel androhen. »Stephanos wollte, dass du zur Schule gehst. Dein Vater. Er hätte …«

»Er ist nicht da«, sagte ich schroff.

Und ich schlüpfte an ihm vorbei in den Flur, war schon fast fort.

»Wo ist der Kleine?«, fragte der Alte und kam mir nach. »Wo ist dein Bruder? Du sollst auf ihn aufpassen, das weißt du.«

»Nikos? Spielt Fußball mit den anderen Kindern«, sagte ich.

»Jorgos, warte!«, rief der Alte, aber ich war schon draußen, in der Gasse.

Das Sonnenlicht malte gelbe Flecken auf die Pflastersteine. Das ganze verdammte Dorf war ein Mittelalterding, Touristen fotografierten es gern.

Es stimmte, die Kinder spielten auf der Gasse Fußball, dort, wo sie sich gabelte und mehr Platz war. Nur dass Nikos mitspielte, stimmte nicht.

Er stand hinter der Ecke der Kirche, im Schatten, und beobachtete die anderen.

Ich legte ihm eine Hand auf die schmale Schulter, und er zuckte zusammen.

»Lassen sie dich wieder nicht mitmachen? Oder hast du gar nicht gefragt?«

Nikos zuckte die Schultern und steckte die Hände in die Taschen seiner löchrigen Shorts. Er ist erst fünf, klein und dünn für sein Alter, und er zieht ständig die Nase hoch.

Aber ich habe ihn lieb. Wir haben sonst niemanden, nur uns.

Der Alte zählt nicht.

Jetzt sahen die anderen herüber, und Alexis rief:

»Hey, guckt mal! Stephanos’ Jungs! Wie sieht’s aus, haste deinen Vater inzwischen gefunden, beim Tauchen, da unten auf dem Meeresboden?«

»Halt den Mund«, sagte ich leise.

»Kommst du runter bis zu den Schwämmen?«

»Es gibt seit Ewigkeiten keine Schwämme mehr«, sagte ich.

»Ich weiß, wo noch welche wachsen«, sagte Alexis und holte ein Smartphone aus der Tasche. »Ich hab ein Foto davon. Aber das ist zu tief für dich, wetten? Ich komm runter …«

»Wetten! Wetten!«, riefen die anderen Jungs. »Taucht um die Wette!«

»Kannst mich ja anrufen, wenn du Lust auf ’ne Wette hast«, sagte Alexis und steckte das Telefon ein. Dann schlug er sich an die Stirn. »Ach nein, ich Dummkopf! Er hat ja gar kein Telefon!«

Sie lachten alle.

Nur ein kleines Mädchen, das ein bisschen abseits saß, guckte uns mit großen Augen an, ohne zu lachen. Alexis’ kleine Schwester Nephele. Die ließen sie auch nicht mitspielen. Weil sie kein Junge war.

»Gehen wir nach Hause«, sagte ich.

»Zu Pappoús?«, fragte Nikos zweifelnd.

»Nach Hause«, sagte ich.

Und dann verließen wir das Dorf und schlugen den Ziegenpfad zwischen den Sträuchern ein, den sonst niemand geht, hinunter zum Meer.

»Ich hab was gesehen«, sagte ich. »Von Pappoús’ Terrasse aus. Draußen, neben dem großen Felsen. Es ist was, was womöglich … nicht alle sehen.«

»Einen von den kleinen Drachen?«, fragte Nikos begierig.

Ich legte den Finger an den Mund. »Du sollst nicht über sie reden. Aber … nein. Etwas anderes.«

 

Kiki

 

Da war etwas Blaues.

Kurz über der Wasseroberfläche. Etwas wie eine Bewegung.

Anders blau als das Meer. Blauer.

Man hatte einen guten Blick auf das Meer, von meinem Platz im Restaurant aus, ich saß dem Bild genau gegenüber. Es war natürlich nur ein Bild. Eine Fotografie. Ziemlich alt und in einem protzigen Goldrahmen.

»Da ist etwas Blaues«, sagte ich laut in das Gläsergeklirr und Gerede. »Im Meer. Da draußen, neben dem großen Felsen. Wie der Arm von einem Oktopus.«

»Oktopus!«, sagte Dora und drehte an ihrem Hörgerät herum. »Oktopus willst du essen, Kiki? Barbarisch! Oktopusse lösen mathematische Gleichungen. Ich bestelle Kalbsschnitzel.«

»Dora, du übertreibst«, sagte Mama und seufzte. »Calamares lösen keine Matheaufgaben.«

»Nicht mehr, wenn sie als Ringe auf dem Teller liegen«, sagte Dora und nickte, zufrieden über das erschrockene Gesicht von Max.

Max war neu in der Familie und noch nicht gewöhnt an Dora. Er ist Mamas Freund und der Vater der Zwillinge, die auch neu sind, so neu, dass sie nicht viel tun außer Brüllen. Und er versucht, immer besonders nett zu Dora zu sein, weil Dora so etwas ist wie Mamas Mutter, obwohl sie eigentlich eine Tante ist und steinalt. Sie ist die eigensinnigste steinalte Tante, die man sich vorstellen kann.

»An diesem Tisch wird kein Oktopus gegessen«, sagte sie.

»Ich habe überhaupt nicht gesagt, dass ich einen essen will!« Ich beugte mich näher zu ihr. »Ich habe gesagt, da ist etwas auf diesem Bild, das aussieht wie der Arm von einem Oktopus. Einem blauen.«

»Da ist kein Oktopus, Kiki«, sagte Mama und gab Max den schlafenden Zwilling, um den anderen auf den Arm zu nehmen, der nicht schlief und hungrig war. »Es war nie ein Oktopus drauf. Wir müssen also nicht darüber streiten, ob jemand ihn isst.« Sie klang erschöpft.

»Kleo, niemand streitet«, sagte Max und streichelte ihren Arm. »Kiki hat nur etwas gesehen … vielleicht war es das Licht.«

Aber es war nicht das Licht gewesen. Es war eine Bewegung gewesen. Tausendprozentig.

Ich sah Tante Dora an. »Kann schon sein, dass da einer war«, sagte sie ganz leise – so leise, wie sie eigentlich gar nicht sprechen kann, weil sie doch so schlecht hört. Manchmal habe ich den Verdacht, sie hört gar nicht schlecht.

»Passt ihr nur alle auf, dass euch kein Oktopus in die Fänge bekommt«, sagte sie dann, lauter.

»Wir haben nicht vor, in nächster Zeit im Mittelmeer zu schwimmen«, erklärte Mama. »Können wir jetzt bestellen?«

»Teilt jemand mit mir die Nudeln mit Meeresfrüchten … Oh. Mit Schinkensoße«, sagte Max. Mama nickte müde. Sie hatte eigentlich genug damit zu tun, die Zwillinge mit ihm zu teilen.

»Oh, aber ihr werdet, ihr werdet im Mittelmeer schwimmen«, sagte Dora.

Und sie nahm ihre Gabel und schlug an ihr Weinglas. Der schlafende Zwilling wachte auf und schrie, und da fing der andere Zwilling auch an.

»Es ist nämlich so«, sagte Dora über das Geschrei hinweg, »dass dies ja nun mal mein achtzigster Geburtstag ist. Weshalb ich euch alle zum Essen einlade. Genau hier, in dieses schöne griechische Restaurant, das seit Jahrzehnten im Besitz unserer Familie ist. Mein Vater hat es immerhin schon geführt … Also. Ich habe einen Wunsch. Ich möchte im Sommer noch einmal auf die kleine griechische Insel fahren, auf der mein Onkel lebte und auf der ich als Kind meine Ferien verbracht habe, bis ich zwölf war. Und zwar will ich mit euch dorthin. Wird Zeit, dass Kiki ihre griechischen Wurzeln mal kennenlernt.«

Ich sah das Bild an, das in seinem Goldrahmen hing und tat, als hätte sich nie etwas darauf bewegt. Ich fragte mich, ob es die Küste der Insel zeigte, von der Tante Dora sprach.

Mama seufzte. »Aber Anna und Louise sind noch so klein, und dann dein Rollstuhl …«, begann sie.

»Kiki kann mir helfen«, sagte Dora.

Ich schluckte. »Okay. Wenn man da tauchen kann.«

»Das Mittelmeer ist ideal zum Tauchen«, sagte Max fröhlich. »Wenn du willst, können wir zusammen …« Aber ich wollte nicht mit dem Vater meiner Halbgeschwisterzwillinge tauchen. Auch wenn er sich Mühe gab.

»Danke«, sagte ich. »Nur weißt du … du bist ja nun mal Maler. Nicht Taucher. Ich kann allein tauchen. Ich habe zwei Kurse im Schwimmbad gemacht. Mit Sauerstoff.«

»Kiki hat immer gehofft, da unten irgendetwas Geheimnisvolles zu finden«, sagte Mama zärtlich »In fünf Metern Tiefe, im Freibad.«

»Okay, okay«, sagte Max. »Du wirst sehen, es wird ein ganz wunderbarer Urlaub für alle.«

In diesem Moment kotzte ihm einer der Zwillinge aufs Hemd, und er machte eine fahrige Bewegung mit einer Hand und stieß Doras Weinglas um.

Ich sah das Bild an, während er mit Aufwischen beschäftigt war. Einen Moment lang war ich mir sicher, dass ich das Blaue wieder gesehen hatte. Aber es verschwand sofort.

Stattdessen sah ich im Glas des Bildes jetzt mein Spiegelbild: einen Kopf voll schwarzer Korkenzieherlocken: ich, Kiki, eigentlich Kiriaki, elf Jahre alt und wie immer zu verloren in Träumen.

1

Kiki

 

Sechs Wochen später stand ich an Bord eines Schiffs und sah aufs Meer. Und es waren Ferien. Mama stand hinter mir.

»Mein Gott«, sagte sie. »Wie ich wünschte, diese Reise wäre schon vorbei.«

»Aber es ist doch schön hier«, sagte ich und drehte mich um und sah sie an. Sie hatte Augenringe, wie immer in letzter Zeit. Auf dem Flug hatten die Zwillinge nicht schlafen können und die ganze Zeit abwechselnd geschrien.

»Ich hoffe, wir haben genug Sonnencreme mit für die Zwillinge«, sagte Mama. »Und die Hüte, habe ich die Hüte eingepackt?«

»Hast du«, sagte ich. Und dann sah ich den Delfin springen. Er sprang einfach aus den Wellen, ein silberner Streifen. Mein Herz sprang mit ihm. Irgendwo dort draußen in der Tiefe war etwas anderes. Etwas, das blauer war als das Meer.

Und ich würde es finden.

 

Der Besitzer unserer Ferienwohnung holte uns mit dem Auto am Hafen ab. Die Wohnung war klein und wunderschön und befand sich in einem weißen Würfelhaus am Hang, direkt oberhalb des Strandes. Dahinter führte die Straße hinauf in die Berge und zum Dorf.

Dora beschwerte sich, dass man zur Dachterrasse eine sehr schiefe Treppe erklimmen musste und dass früher die Treppen auf der Insel nicht so schief gewesen wären. Und Mama sagte, das heiße Wasser ginge nicht, und Max sagte, die Fensterläden klemmten – und ich ließ sie alle reden und stand am offenen Fenster und atmete tief ein.

Die Luft war ein wenig salzig, mit einem Geschmack nach Fisch. Und ein wenig süß, mit einem Geschmack nach reifen Feigen. Und ein wenig herb, mit einem Geschmack nach Abenteuer.

Meine Familie dachte nicht an Abenteuer oder Feigen.

Tante Dora diskutierte mit Mama darüber, ob sie den klappbaren Rollstuhl wirklich zum Strand mitnehmen mussten, und die Zwillinge schrien, weil Mama versuchte, sie mit Sonnencreme einzuschmieren.

Mein Handy vibrierte, und als ich es aus der Tasche nahm, war es eine Nachricht von Anni aus meiner Klasse, die Grüße und Einhorn-Herzchen schickte und schrieb, es wäre total cool im Ferienlager und echt relaxed ohne Eltern.

Ich seufzte und nahm eine der viele Taschen mit Badesachen, und so machten wir uns auf den Weg zum Strand.

Der Weg führte an einem kleinen Restaurant vorüber, aus dem griechische Radiomusik dudelte. Auf einer Wäscheleine auf der Terrasse trockneten zwei merkwürdige braune Dinge mit Fransen. Oktopusse. Zwei tote Oktopusse. Man sah ihre seltsamen Schnäbel, die denen von Papageien ein wenig glichen.

Ich guckte zu Tante Dora hinüber, die sich von Max schieben ließ. »Mord«, zischte sie. »Das ist Mord.«

»Nein, das sind Calamares«, sagte Mama seufzend. »Komm, Dora. Sie hatten ein schönes Leben im Meer, irgendwann endet es. Du isst auch andere Tiere.«

»Keine Oktopusse«, murmelte Dora, und Max schob sie schnell weiter.

Und dann waren wir am Strand. Weil Pfingstferien waren und nicht Sommerferien, war es nicht einmal voll. Die anderen fingen an, darüber zu diskutieren, wo der richtige Platz sei, in der Sonne oder im Schatten der Tamariskenbäume, und ob es Seeigel gäbe und wo die Sonnenhüte der Zwillinge wären … Ich streifte meine Sachen ab, schlüpfte in die Flossen, stülpte die Taucherbrille über und rannte über den Sand ins Wasser.

Tauchte in eine andere Welt, durchsichtig und blau und still.

Unter mir breitete sich eine Landschaft aus Felsen aus, eine Landschaft voller Algenwälder, aus denen glitzernde Fische herausschossen, für Momente reglos schwebten und sich plötzlich wieder versteckten. In den Ritzen zwischen den Felsen, auf dem hellen Sandboden, sah ich Muscheln leuchten, und ich holte tief Luft und tauchte, um eine heraufzuholen: eine perlmuttern glitzernde Hälfte mit einer Reihe von Löchern an einer Seite: ein Seeohr. Eigentlich war es eine Schnecke. Ich kannte sie aus Büchern.

Ich tauchte auf, um zu atmen. Ich musste einen Ort finden, an dem sie Sauerstoffflaschen verliehen. Richtiges Tauchzeug. Natürlich durfte ich eigentlich nur in Begleitung tauchen, aber vielleicht drückten sie ein Auge zu und ließen mich allein losziehen.

Vor mir lag ein ganzer Ozean voller verborgener Geheimnisse. Und ich spürte, dass dort etwas auf mich wartete.

Wenn Dora es nicht angeordnet hätte, wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, dass man in Griechenland Urlaub machen könnte. Ich hasste es, wenn Mama mich daran erinnerte, dass ich zu einem Viertel Griechin war, ich fühlte mich völlig ungriechisch.

Aber jetzt war ich froh, dass ich hier war.

Und ich schwamm und schwamm, tauchte nur ab und zu auf, um Luft zu holen, so wie die Delfine und Wale und Schildkröten es machen. Nur, dass sie natürlich länger unten bleiben. Schwärme von Fischen flogen unter mir vorüber wie Vögel am Himmel dieser anderen Welt. Als ich wieder einmal hochkam und zurücksah, war der Strand weit weg.

Schließlich holte ich tief Luft und tauchte senkrecht abwärts, ließ mich tiefer und tiefer sinken. Die Felsen kamen näher. Der Druck auf meinen Ohren verstärkte sich. Und dann sah ich ihn. Den Schatten.

Er war weit unter mir, verborgen in einer Felsspalte, und er schimmerte blau – blauer als das Meer. Diesmal sah ich sein Auge. Es blickte mich an, sah direkt in mich hinein, und ich konnte nicht wegsehen. Ich hatte keine Angst, es war nur … seltsam. Dann schwamm ein Schwarm kleiner goldener Fische vorüber, ich wandte den Kopf – und als ich wieder zu der Felsenritze sah, war dort nichts mehr.

Der Druck auf meinen Ohren wurde zu groß; ich ließ mich langsam nach oben treiben. Das Merkwürdigste an dem Blauen war: Es war, als hätte es zu mir gesprochen. Ohne Laut, ohne Worte. Da bist du ja endlich, hatte es gesagt. Ich habe gewartet. Über ein halbes Jahrhundert.

 

Am Strand war Mama dabei, die Zwillinge abzutrocknen, die quengelten, und Max sagte: »Ich hab sie mit den Beinchen ins Wasser getaucht, es war sooo niedlich«, und Tante Dora knurrte: »Sie haben geschrien, wie immer. Und es ist viel zu heiß. Früher war es nicht so heiß. Wo warst du, Kiki?«

»Ein bisschen schwimmen«, sagte ich und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht.

»Das war aber ein langes bisschen«, sagte Tante Dora aus ihrem Klapprollstuhl. »Hast du da was gesehen?«

»Wie – was gesehen? Klar«, sagte ich. »Eine Menge Wasser.«

Sie legte nur den Kopf auf ihrem irgendwie schildkrötigen Hals schief und musterte mich prüfend. »Ich will jetzt spazieren fahren. Kiki kann mich schieben.«

»Was?«

Ich ließ mich mit einem kleinen Japsen auf ein Handtuch fallen.

»Komm«, sagte Tante Dora. »Weiter oben gibt es einen schönen Weg, an der Küste lang.«

»Ich kann dich schieben, Dora«, sagte Max. Er tut wirklich alles, was sie will.

»Nein«, sagte Tante Dora entschieden. »Kiki macht das.«

Ich nickte mit einem Seufzen. Es gab eine Menge Dinge, die ich in diesem Moment lieber getan hätte, als Tante Doras Rollstuhl einen staubigen, heißen Weg entlangzuschieben.

 

Und der Weg war heiß und staubig.

Er bog von der heißen, staubigen Asphaltstraße ab und führte an der Küste entlang, während die Asphaltstraße sich vernünftigerweise den Berg hinaufschlängelte, um weiter oben etwas kühlen Wind zu finden.

Doch dieser dumme Weg folgte störrisch der Küste, und zwar hinter einer Reihe von dornigen Büschen, die jeden Lufthauch vom Meer abfingen.

»Sieh nur, wie dunkelblau das Meer ist, wenn man von hier aus guckt«, sagte Tante Dora.

Sieh nur, wie ich mich auflöse in Schweißtropfen, dachte ich.

»Sehr schön«, murmelte ich und stemmte mich gegen den Rollstuhl. Er war nicht für steinige Sandwege gemacht.

»Und schau, die Agaven, sind sie nicht schön?«, fragte Tante Dora. »Ihre Blütenstände wachsen so hoch hinauf, dass viele Leute sie für Telegrafenmasten halten. Der hier ist ganz verholzt.«

»Das ist ein Telegrafenmast«, sagte ich. »Aus Holz.«

»Oh, äh, ja«, sagte Tante Dora. »Aber die anderen. Die anderen sehen nur so aus. Guck, da drüben!«

Tatsächlich waren die Stiele der Agave ziemlich hoch. Sie blühten weiß. »Früher haben wir uns Geschichten darüber ausgedacht, dass das die Telegrafenmasten einer anderen Welt sind«, wisperte Tante Dora. »Wir haben uns vorgestellt, wie seltsame Wesen sich nachts über unsichtbare Telefonkabel zwischen den weißen Blüten Nachrichten schicken …«

»Ihr?«, fragte ich. »Du und wer?«

»Ich und … ach, ich eben«, sagte Tante Dora, plötzlich ausweichend. »Du weißt ja, dass ich als Kind hier war. Bei meinem reichen Onkel. Damals lebten wir noch mit Stil. Neben jedem Teller gab es vier Gabeln und vier Messer, eines für den Fisch, eines für die Muscheln, eines für den Pudding …«

»Ihr habt Pudding mit Messern geschnitten?«, fragte ich. »War er so hart?«

»Na ja, ich meinte nur, viele Bestecke«, sagte Tante Dora. »Alle aus Silber natürlich. In der Villa.«

»Natürlich, in der Villa.« Ich seufzte. »Wo genau … war die Villa?«

»Hier … irgendwo.« Tante Dora wedelte mit der Hand in mindestens fünf Himmelsrichtungen, in denen keine Villa stand. Alles, was ich sah, waren trockene Dornenbüsche und Felsen. Und eine winzig kleine weiße Kapelle mit Kreuz obendrauf. »Es gab ständig Abendempfänge, und ich hatte Spitzenkleider an, vorne durchgeknöpft, weiß. Oder meerschaumfarben.«

»Ist Meerschaum nicht weiß?«, fragte ich vorsichtig.

»Meerschaum, mein Kind«, sagte Tante Dora, »ist eine viel elegantere Sorte von Weiß.« Sie sah ihre altersfleckigen Hände an und seufzte. »Damals trugen Damen Handschuhe. Mein Onkel hat mir ein Paar geschenkt. Perlenbesetzt.«

Ich wuchtete den Rollstuhl um einen großen Stein herum, der im Weg lag.

»Wo ist dein Onkel jetzt?«

»Mausetot«, sagte Tante Dora, fast zufrieden. »Oh, ich wünschte, du hättest es sehen können. Damals. Die Feste. Die Bucht. Die Lichter. Die Tänzer. Wie sich die Figuren drehten, wenn alle gegangen waren … im Mondlicht … Manchmal fielen Sterne ins Meer. Bis zu dem großen Blau.«

»Moment«, sagte ich und blieb stehen. »Welches Blau? Und … wenn alle Tänzer gegangen waren, welche Figuren drehten sich dann?«

»Figuren? Habe ich das gesagt? Ach«, meinte Tante Dora »Wenn man so alt ist wie ich, weiß man nicht mehr, was man sagt. Nein, nein, nichts drehte sich.« Sie reckte den Hals. »Kommt denn da gar nichts Interessantes mehr auf diesem Weg?«

»Nein«, sagte ich. »Ich fürchte, nicht. Nur Büsche.«

»Natürlich«, murmelte Tante Dora. »Sie haben alles weggenommen. Ich hätte es mir denken können.« Sie klang auf einmal traurig, und viel älter als sonst. »Ich möchte zurück.«

»Gern«, sagte ich, erleichtert. Aber es war gar nicht so einfach, den Rollstuhl zu wenden. Tante Dora schien Tonnen zu wiegen, trotz ihrer hageren Hände. Vielleicht waren ihre Erinnerungen so schwer. Komischer Gedanke.

 

Jorgos

 

»Ich schaff das nicht«, sagte Nikos. »Das sind zu viele.«

»Gib schon her die Bretter, ich trag deine mit«, sagte ich und seufzte. »Die beiden kleinen gehen aber?«

»Nee, die gehen nicht, die muss ich auch tragen«, sagte Nikos und grinste.

Ich zerrte meinen Bretterstapel unter dem kaputten Zaun der Müllhalde durch, und Nikos krabbelte mir nach.

»Hey!«, brüllte da jemand.

Der Aufpasser in seinem Häuschen hatte uns gesehen. Ich weiß wirklich nicht, warum er Dinge bewacht, die andere Leute weggeschmissen haben, aber sie sagen, das ist EU und wir müssen das machen, auch in Griechenland, es ist dann aufgeräumter, für die Touristen.

Die Touristen konnten mich mal. Die brauchten keine alten Bretter.

Und hungrig sind waren auch nie.

Okay, das klingt jetzt, als wollten wir die Bretter essen, das taten wir natürlich nicht, aber auf einem Umweg sorgen sie vielleicht dafür, dass wir irgendwann mehr zu essen haben würden. Wenn wir das Boot fertig hätten. Wenn wir damit hinausführen und fänden, was alle suchen. Es würde nicht leicht. Unser Vater hatte versucht, es zu finden. Stephanos. Er war dabei ertrunken.

»Lasst das Zeug fallen!«, schrie der Aufpasser.

Wir ließen nichts fallen, kein einziges Brett. Wir rannten. Wir sind gut im Rennen, denn ab und zu braucht man im Leben Dinge, die man nur bekommen kann, wenn man schnell rennt. Der Aufseher brüllte uns hinterher. »Ich hau euch windelweich, verflixte Diebesbrut!«

»Dazu musst du uns kriegen!«, rief ich. Er war stark und groß, aber nicht flink.

Das wusste ich, seit wir beim letzten Mal die drei Hände voll Nägel vom Schrottplatz geholt hatten. Aber diesmal hatten wir Pech, denn hinter dem Aufseher, am Hafen, tauchte der Lieferwagen von Alexis’ Vater auf. Alexis saß hinten auf der Ladefläche neben den weißen Plastikkisten mit dem Fisch.

»Haltet die Diebe!«, schrie er. Sein Vater hielt den Wagen an, sprang heraus und rannte in unsere Richtung, um dem Müllplatzaufseher zu helfen. Er war jünger und sportlicher. Alexis blieb mit verschränkten Armen auf dem Lastwagen stehen. Ich sah ihn voller Hass an, eines Tages würde ich ihn zu Fischfilet verarbeiten. Aber es war keine gute Idee, ihn anzusehen. Ich verlor Zeit. Und jetzt war Alexis’ Vater da und packte mich am Kragen, während der Aufpasser keuchend näher kam.

»Hier hast du deinen Bretterdieb«, sagte Alexis’ Vater. »Kannst ihn direkt oben bei der Polizei abgeben, den suchen sie sowieso, weil er sich nie in der Schule blicken lässt. Erziehungsanstalt auf dem Festland wäre die bessere Alternative. Wir können solche Rumtreiber auf unserer Insel nicht brauchen.«

Der Aufpasser holte aus, um mir eine überzuziehen, er war verdammt sauer. Doch in diesem Moment flog ein kurzes Stück Brett durch die Luft und landete auf der Hand von Alexis’ Vater, die mich festhielt. Er jaulte auf und ließ los.

Ich war in einer Sekunde bei Nikos, der das Brett geschleudert hatte. Und dann rannten wir wieder, erreichten den Ziegenpfad, tauchten zwischen die Dornbüsche. Ließen uns auf den Boden fallen und pressten uns dicht an die warme Erde, wo sie uns nicht finden würden. Wir sind nicht nur gut im Rennen, wir sind auch gut darin, uns unsichtbar zu machen.

Und eines Tages würden wir es ihnen zeigen, dem Aufpasser und Alexis und seinem Vater und Pappoús und allen. Wir würden mit unserem eigenen Boot hinausfahren. Ich würde tauchen, so tief, wie noch nie jemand getaucht ist. Und wir würden finden, was nie jemand gefunden hat.

Es war ein Geheimnis. Etwas Unaussprechliches. Wunderschönes.

Und sie würden sagen: Da gehen die Jungs von Stephanos, und sie haben es geschafft.

2

Kiki

 

Und dann passierte es. Als ich Tante Dora zu den anderen zurückgeschoben hatte.

Es wäre nicht passiert, wenn Mama und Max nicht gestritten hätten.

Sie waren beide müde, und Mama versuchte, Anna auf dem Badehandtuch zu wickeln, und Max hielt Louise, die gerade eingeschlafen war, und sagte, sie könnten tauschen und er könnte Anna wickeln, und Mama fauchte ihn an wie ein Tiger.

»Kannst du das besser, ja?«, fauchte sie. »Verdammte Stoffwindeln, nie halten sie, und heute Abend müssen wir waschen, ich weiß nicht, ob es bis dann heißes Wasser gibt …«

»Ich kann hoch ins Dorf wandern«, sagte Max, »und Pampers kaufen.«

»Dann produzieren wir einen Müllberg, in dem die Kinder ersticken, wenn sie erwachsen sind. Willst du die Welt unserer Kinder zerstören?«

»Ich meinte nur … für den Urlaub …«

»Und außerdem kriegen sie Zähne«, sagte Mama.

»Oh, wie schön«, sagte Max, aber Mama sagte: »Sie beißen beim Stillen.«

»Ich könnte Pulvermilch besorgen, aber das ist dir sicher nicht ökologisch genug, und dann zerstöre ich wieder die Welt unserer Kinder«, sagte Max. »Ich stecke jetzt Louise in die Trage und gehe malen.«

»Ja, und sobald sie schreit, gibst du sie mir und sagst, sie hat Hunger. Sie hat alle fünf Minuten Hunger. Mal ruhig, du bist Maler, also mal.«

»Als wir uns kennengelernt haben, fandest du es interessant und romantisch, mit einem Künstler zusammen zu sein«, knurrte Max.

In diesem Moment fingen Anna-Louise gleichzeitig an zu schreien, und Mama sagte: »Geh, geh und sei interessant und romantisch! Gib das Kind her, ich kümmer mich!«

»Ähm, ich könnte«, begann ich, aber Mama fauchte: »Nein, ich mach schon.«

Auf meinem Handy, das im offenen Rucksack lag, leuchtete eine Nachricht auf. Frieda aus meiner Klasse schickte ein Foto von sich und ihrem Vater, die zusammen angeseilt in den Alpen durch Felsen kletterten, glücklich lächelnd.

»Max?«, rief Dora. »Gibt es hier eigentlich irgendwo irgendwas zu trinken?«

»Ich bringe ihr Wasser«, sagte Max, und Mama sagte: »Ja, der bringst du Wasser«, und Max sagte: »Aber du wolltest doch gar kein Wasser!«

»Max, meinst du, man kann da, wo das Schiff ankam, Taucherausrüstungen leihen?«, fragte ich vorsichtig, und Mama fuhr herum und schnappte: »Kannst du nicht einmal so schwimmen wie alle anderen Leute auch?«

Da murmelte ich etwas von Muschelnsuchen und ging.

Früher hatte Mama es gut gefunden, dass ich tauchte.

Ich stapfte am Strand entlang und ließ das Zwillingsgeschrei und das Gestreite hinter mir. Ich ging an zwei anderen Familien vorüber, Familien mit kleinen Kindern, die sich mit Sand bewarfen, Vätern, die schimpften, und Müttern, die genervt auf ihren Telefonen herumwischten. Ich wollte nur weg – weg von den bunten Handtüchern und Kühltaschen und dieser ganzen großen Illusion, Familien könnten zusammen Ferien machen und sich lieb haben.

Früher war ich neidisch gewesen auf meine Freunde, die Väter und Geschwister hatten. Und als Mama gesagt hatte, sie hätte einen Mann kennengelernt, hatte ich das aufregend gefunden. »Wie sieht er aus?«, hatte ich gefragt, und sie hatte gesagt: »Das weiß ich nicht genau, er stand auf einer Leiter und hat gemalt und war von oben bis unten blau und gelb.«

Als ich Max zum ersten Mal gesehen hatte, war er nicht blau und gelb gewesen, sondern schwarz, und ich hatte das nicht sagen wollen, weil man es nicht sagt, aber er hatte erklärt, Schwarz sei schön. Und zwar in breitestem Bayrisch, weil er in München geboren war.

Inzwischen bemühte er sich, hochdeutsch zu sprechen.

Und ich hatte gedacht, gut, jetzt habe ich einen durch und durch deutschen Vater, der blau oder gelb oder schwarz ist, und vielleicht können wir eine Familie werden. Und eine Weile hatten wir Sachen zu dritt gemacht, wir waren schwimmen gegangen, und er hatte versucht, mir meine Lieblingsbücher vorzulesen, ohne bayrisch zu sprechen, und ich hatte sie ihm vorgelesen, damit er hörte, wie das ging.

Aber dann waren die Zwillinge gekommen, und seitdem war alles anders.

Ich kletterte am Ende der Bucht die Felsen hoch, fand in einer Wasserpfütze einen Seeigel und fragte mich, ob ich zurückgehen sollte. Ich hatte keine Schuhe. Andererseits hatte der Seeigel auch keine Schuhe.

Er war auf merkwürdige Art schön, eine kleine dunkle Sonne, so geheimnisvoll wie alles im Meer. Und ich ging vorsichtig um ihn herum und kletterte weiter in die Felsen hinauf. Schließlich sah ich zurück auf die Bucht, auf die bunten Familien: Ihre Welt kam mir merkwürdig eng vor. Salziger Wind wehte mir um die Nase. Ich, hier oben, war frei.

Und so fand ich die andere Bucht.

 

Ich betrat sie zum ersten Mal, indem ich hineinfiel.

Ich war einfach immer weiter geklettert, und dann rutschte ich ab und stürzte und schlug mir das Knie im Fallen an einem Felsen auf. Einen Moment lang saß ich benommen im Sand und hatte das Gefühl, jemand würde mich beobachten. Doch als ich aufsah, war niemand da.

Die Bucht war still und leer. Sie wurde an allen Seiten von Felsen gesäumt, in denen sich hier und da verkrüppelte kleine Bäume festkrallten. Ein paar Ziegen kletterten in den Felsen herum.

Diese Bucht gehörte nicht den Menschen.

Sie gehörte den Möwen, die über sie hinwegstrichen, den Krabben, die seitwärts über den Sand liefen, dem Wind, der zwischen den Felsen sang. Ich begann, die Bucht entlangzuwandern. Meine Wut war verraucht.

Draußen in der Bucht lag ein großer Felsen. Die Wellen brachen sich daran, schäumten um ihn herum. In all ihrer Stille hatte die Bucht etwas Wildes. Etwas Ungezähmtes.

Und dann sah ich den blauen Arm. Einen leuchtend blauen Arm, wie auf dem Bild im Restaurant. Er schien zu winken. Und versank.

»Warte!«, rief ich und streifte mein T-Shirt ab. »Bleib hier!« Die kurzen Hosen fielen in den Sand, die Unterhose … und dann rannte ich ins Meer. Es war seltsam, ohne Flossen zu schwimmen. Und nach zwanzig Metern kam ich nicht weiter, vor mir blockierten Felsen die Bucht, die ich nicht gesehen hatte, sie reichten bis gerade unter die Wasseroberfläche, seepocken- und seeigelbesetzt, nichts für bloße Füße. Vielleicht gab es einen Weg hindurch, im Wasser, doch ich kannte ihn nicht, ich kam nicht dorthin, wo der Blaue war.

»Du, da draußen! Bist du wirklich ein blauer Oktopus?«, flüsterte ich. »Es gibt keine blauen Oktopusse …«

Eine Welle baute sich an dem Felsen unter Wasser auf, rollte auf mich zu, höher und höher, riss mich mit und schleuderte mich zurück an den Strand. Ich kam hustend hoch und strich die ungehorsamen Kringellocken aus meinem Gesicht. Die Landung war nicht gut für das aufgeschürfte Knie gewesen, Blut sickerte heraus.

Wieder hatte ich das Gefühl, dass jemand mich beobachtete.

Da waren Spuren im feuchten Sand. Etwas war direkt neben mir ins Meer gelaufen, eben erst, etwas Kleines mit winzigen Pfoten.

»Eine Wasserratte«, sagte ich laut. »Gehören Wasserratten nicht in Flüsse?«

Ich sah das Wasser an, aber es spuckte keine Ratte aus.

Schließlich schüttelte ich den Kopf, streifte meine Unterhose über und ging weiter die Bucht entlang, während die Sonne meine Haut und mein Haar trocknete.

Und dann – ja, und dann fand ich das Skelett. Es lag am anderen Ende der Bucht zwischen zwei hohen Gesteinsbrocken im Sand, es war riesig und … Moment. Es war kein Skelett. Es war ein Ding aus Brettern, wie ein Rückgrat mit Rippen.

Ein Boot.

Aber auf das Boot war ein Autolenkrad geschraubt. Mit einer roten Fahrradklingel daran. Verrückt. Ich streckte die Hand aus, klingelte – und erschrak über den lauten Ton.

Und schließlich wanderte ich zurück zu meinen Kleidern. Als ich die Hose anzog, fand ich in meiner Tasche einen Zettel. Was darauf stand, war in griechischer Schrift geschrieben. Mama hatte darauf bestanden, dass ich es lernte, und zum ersten Mal war ich froh darüber.

Hau ab. Das ist unsere Bucht.

Ich sah mich um. Die Felswände starrten zerklüftet und stumm zu mir zurück. Voller Verstecke. Voller Geheimnisse.

»Okay, ich hau ja ab!«, rief ich. Auf Griechisch. »Weil meine Mutter sich sonst Sorgen macht. Aber ich komme wieder. Die Bucht kann euch nicht gehören. Buchten gehören keinem.«

Und ich zog mein T-Shirt über und ging zurück zu den Felsen, über die ich gekommen war. Es war schwieriger, sie hinaufzuklettern, als sie hinunterzufallen.

Schließlich hatte ich die ersten Meter überwunden und saß keuchend auf einem Felsabsatz.

Und da biss mich etwas in die Schulter. Nein. Jemand hatte einen Stein geworfen.

»Ich warne dich«, sagte der Jemand. »Komm nicht wieder. Wenn du wiederkommst, passieren schreckliche Dinge.«

Er musste direkt neben mir stehen, in einer Felsritze. Und er hätte mich leicht packen und in die Tiefe stoßen können.

»Macht ihr wieder so schreckliche winzige Pfotenspuren im Sand?«, fragte ich. »Da mach ich mir aber in die Hose.«

»Hast du die gesehen?«, fragte der Er, verwundert.

»Klar, ich bin ja nicht blind«, sagte ich. »Kann sein, ich werde demnächst taub, wegen der Zwillinge, aber blind bin ich nicht. Und draußen vor der Bucht ist ein blauer Oktopus. Es gibt eine ganze Menge Dinge hier, die es eigentlich nicht geben dürfte, was?«

»Wie … heißt du?«, fragte der Er.

»Kiki«, antwortete ich. »Eigentlich Kiriaki. Aber das klingt zu sehr nach Kikiriki. Ich … gehe jetzt. Abendessen und Eltern und so.«

»Wir essen zum Abendessen einen Fisch. Wenn wir einen fangen«, sagte eine kleinere Stimme. Und, sehnsüchtig: »Kriegst du Pommes? Touristen essen dauernd Pommes.«

»Ich fange immer einen Fisch«, sagte die ältere Stimme. »Geh jetzt, Kiki. Wenn es dunkel wird, willst du nicht hier sein.«

Da sah ich zum Himmel und merkte, dass er dabei war, sich tiefblau zu färben. Als hätte ein riesiger Tintenfisch dort oben seine Tinte auslaufen lassen.

Und ich kletterte weiter über die Felsen. Das letzte Stück, über den Sand der Touristenbucht, rannte ich. Mama und Max packten gerade die Handtücher ein. Plötzlich merkte ich, wie hungrig ich war.

»Hast du schöne Muscheln gefunden?«, fragte Mama.

»Jaja«, sagte ich. »Aber ich hab sie im Meer gelassen, da gehören sie hin. Gibt es Pommes in dem Restaurant mit der Terrasse?«

 

Jorgos

 

Da ist ein Mädchen aufgetaucht, das sich die Knie aufschlägt und nicht heult.

Sie ist in die Bucht gefallen wie Regen vom Himmel, sie war einfach da.

Keine Ahnung, wie wir sie wieder loswerden.

Und genau zu dem Zeitpunkt, als sie auftauchte, ist auch der Blaue wieder aufgetaucht, zum ersten Mal seit Wochen. Nikos hat gesagt: »Der bringt Unglück, ganz bestimmt, guck besser weg.«

Aber ich habe nicht weggesehen. Und dann ist er fortgetaucht. Ich frage mich, was er bedeutet.

Dieses Mädchen! Es ist einfach ohne Sachen ins Wasser gerannt und geschwommen.

Das Felsenlabyrinth unter der Wasseroberfläche hat sie aufgehalten, sie kennt den Weg nicht, und das ist gut. Dann kam eine Welle und hat sie zurück an den Strand geworfen.

Ihre schwarzen Kringelhaare waren voller Sand, und ihr Knie hat wieder geblutet, aber sie hat immer noch nicht geheult.

Zum Glück ist sie jetzt weg. Sie ist gegangen, weil sie mit ihrer Familie Abendbrot essen muss. Nikos hat den ganzen Abend von Müttern und Vätern und Pommes geredet.

Dieses Mädchen bringt alles durcheinander.

Das Verrückteste ist: Sie sieht die Spuren. Ich dachte, niemand sieht sie – außer uns. Fehlt noch, dass sie anfängt zu sehen, wer die Spuren macht.

3

Kiki

 

Als ich in dieser Nacht aus dem Fenster sah, lag der Mond auf dem Wasser. Das Fenster war direkt über meinem Bett, es war wie ein Rahmen um ein Bild. Ich stand auf und blickte in die indigoblaue Dunkelheit, während im anderen Bett Tante Dora leise schnarchte.

Mama, Max und die Zwillinge schliefen im zweiten Zimmer, alle in einem großen Bett, und ich spürte einen kleinen Stich. Eine Familie in einem Familienbett.

Andererseits wollte ich auch nicht jede Stunde von einem schreienden Familienzwilling geweckt werden.

Der Mond trieb weiß auf den Wellen, und ich fragte mich, ob der in der anderen Bucht ihn auch ansah. Vielleicht konnte er nicht schlafen, so wie ich. Hau ab, hatte er geschrieben.

Aber da war etwas gewesen in dem »Hau ab«, das sich anfühlte, als wollte er eigentlich sagen »Komm wieder«. Ich meine, er hätte ja gar nichts schreiben müssen, wenn er nichts mit mir zu tun haben wollte, wozu der Zettel?

Ich konnte den Strand sehen und darüber ein Stück der Restaurant-Terrasse, wo wir abends gegessen hatten. Die Zwillinge hatten ein Glas über die Tischkante gestoßen, und Tante Dora hatte gesagt, früher wäre der Salat besser gewesen.

Wenn ich lange genug warte, dachte ich, kommt etwas aus dem Meer. Etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles. Die Ozeane sind in ihrer tiefsten Tiefe noch überhaupt nicht vollständig erforscht, und womöglich werden sie es nie sein.

Ja, und dann kam etwas. Erst war es nur ein Schatten im Mondlichtwasser, dann eine schwimmende Form, und dann … Dann kroch es aus dem Wasser. Doch es war kein unbekanntes Wesen. Es war ein Mensch. Jetzt ging er über den Sand. Er trug zerschlissene Shorts, sonst nichts: ein magerer Junge, ungefähr so alt wie ich, mit zerzaustem schwarzem Haar bis etwas über die Ohren.

Jetzt war er bei der Terrasse des Restaurants angekommen, stieg die paar Stufen hinauf und fing an, den Mülleimer zu durchsuchen. Wirklich.

Er zog zwei leere Flaschen aus der Tiefe, Pfandflaschen, fand ein Weißbrot und eine Tüte mit irgendetwas. Und er setzte sich auf die Stufen und begann, das Brot zu essen.

Man bekam diese kleinen Laibe Weißbrot im Restaurant, in niedlichen Bastkörben; Mama hatte gesagt, man müsse es frisch essen oder gar nicht, sonst würde es trocken wie Papier. Sie hatte eine Weile in Athen studiert und damals in einem Restaurant gejobbt.

Und da saß also dieser Junge und aß das papiertrockene Brot.

Er aß die Hälfte, den Rest stopfte er in die Tüte zurück.

Dann stieg er auf einen Tisch und streckte sich nach der Wäscheleine, und er löste die Klammern und nahm die Oktopusse ab. Dabei wandte er den Kopf, und für Sekunden konnte ich sein Gesicht im Mondlicht sehen. Er hatte das nachdenklichste, ernsteste Gesicht, das ich je bei einem Jungen gesehen habe, und er sah hundertprozentig konzentriert aus, als wäre es die wichtigste Sache der Welt, die toten Oktopusse zu klauen.