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Geliebter Mörder? Atemlos spannend - ein Meisterwerk von Antonia Michaelis! Abel Tannatek ist ein Außenseiter, ein Schulschwänzer und Drogendealer. Wider besseren Wissens verliebt Anna sich rettungslos in ihn. Denn es gibt noch einen anderen Abel: den sanften, traurigen Jungen, der für seine Schwester sorgt und der ein Märchen erzählt, das Anna tief berührt. Doch die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Was, wenn das Märchen gar kein Märchen ist, sondern grausame Wirklichkeit? Was, wenn Annas schlimmste Befürchtungen wahr werden? Ein temporeicher Thriller und eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte - lässt nicht los! Eindrucksvoll, begeisternd und abwechslungsreich - eine ganz neue Antonia Michaelis.
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Für Anna K. und den Leuchtturmwärter, deren Namen ich geliehen habe. Für Charlotte R., Bea W. und Fine M., die mehr oder weniger bald 18 sind. Für Kerstin B., Beate R. und Eva W., die irgendwann 18 waren. Und für all jene, die es niemals sein werden.
Ballad For The Young
My child I know you’re not a child
but I still see you running wild
between those blooming trees
your sparkling dreams, your silver laugh
your questions for the stars above
are just my memories
and in your eyes the ocean
and in your eyes the sea
the waters frozen over
with your longing to be free
yesterday when you’d awoken
the world seemed incredibly old
this is the age you are broken
or turned into gold
you had to kill this child, I know
to break the arrow and the bow
to shed your skin and change
the trees are flowering no more
there’s blood upon the marble floor
this place is dark and strange
I see you standing in the storm
holding the curse of youth
each of you with your story
each of you with your truth
some words will never be spoken
some stories never be told
this is the age you are broken
or turned into gold
I didn’t say the world was good
I hope by now you understood
why I could never lie
I didn’t promise you a thing
don’t ask my wintervoice for spring
just spread your wings and fly
though in the hidden garden
down by the green, green lane
the plant of love grows next to
the tree of hate and pain
So take my tears as a token
they’ll keep you warm in the cold
this is the age you are broken
or turned into gold
You’ve lived too long among us
to leave without a trace
you’ve lived too short to understand
a thing about this place
some of you just sit there smokin’
and some are already sold
this is the age you are broken
or turned into gold
this is the age you are broken
or turned into gold
Zuerst
Blut.
Überall ist Blut. An seinen Händen, an ihren Händen, auf seinem Hemd, seinem Gesicht, auf den Fliesen, in Schlieren verschmiert, auf dem kleinen runden Teppich, es tränkt ihn, dunkel, schwarz beinahe, der Teppich war einmal blau, er wird nie mehr blau sein.
Auf dem Weiß der Fliesen ist das Blut rot. Er kniet im Blut. Er hat nicht gewusst, dass es so rot ist, so hellrot: große herabgefallene, zerborstene Blutstropfen gleich Mohnblumen. Sie sind schön, schön wie ein Frühlingstag auf einer sonnigen Wiese, draußen beim Wald … der Frühling ist fern. Die Fliesen sind kalt und weiß, weiß wie Schnee, und es ist Winter.
Es wird immer Winter bleiben.
Unsinniger Gedanke, warum sollte es immer Winter bleiben?
Er muss etwas tun. Etwas gegen das Blut. Ein Meer aus Blut, ein rotes, unendliches Meer, purpurne Wogen, karminrote Gischtkämme, spritzende Farbe. All diese Worte in seinem Kopf!
Wie lange kniet er schon so da, mit den Worten im Kopf? Das Rot beginnt zu trocknen, Ränder zu bekommen, etwas von seiner Schönheit zu verlieren, die Mohnblumen verwelken, vergilben wie die Worte, wenn man sie auf Papier schreibt …
Er schließt die Augen. Reiß dich zusammen. Denk jetzt der Reihe nach. Was muss getan werden? Was zuerst? Was ist das Wichtigste?
Das Wichtigste ist, dass niemand etwas erfährt.
Handtücher. Er braucht Handtücher. Und Wasser. Einen Lappen. Die Spritzer an der Wand gehen schlecht ab, in den Zwischenräumen der Fliesen werden sie bleiben. Wird jemand es sehen?
Seife. Seine Fingernägel haben dunkle Ränder. Eine Bürste. Er schrubbt, bis seine Hände rot sind, von einem anderen Rot, einem warmen, schmerzenden, lebendigen Rot.
Sie sieht ihm nicht zu. Sie hat den Blick abgewandt, aber sie hatte immer den Blick abgewandt, sie hat so gelebt – mit abgewandtem Blick. Er wirft die Handtücher in die Waschmaschine.
Sie sitzt da, gegen die Wand gelehnt; weigert sich, mit ihm zu sprechen.
Er kniet sich noch einmal vor sie, auf den Fußboden, der wieder weiß ist, nimmt ihre Hände in seine. Flüstert ihr eine Frage zu, ein einziges Wort: »Wohin?«
Und er liest die Antwort in ihren kalten Händen:
Weißt du noch? Der Wald? Es war Frühling, und diese kleinen weißen Blumen blühten überall unter den Buchen … wir gingen Hand in Hand, und du fragtest mich, was für Blumen das wären … ich wusste es nicht … Der Wald. Der Wald war unser einziger gemeinsamer Ort, und damals war unsere einzige gemeinsame Zeit, unsere einzige wirklich gute Zeit, nur wir beide, weißt du noch, weißt du noch, weißt du noch …
»Ich weiß«, flüstert er. »Ich erinnere mich. Der Wald. Buschwindröschen. Ich habe später jemand anderen gefragt, wie sie heißen. Buschwindröschen …«
Er hebt sie auf seine Arme wie ein Kind. Sie ist schwer und leicht zugleich. Sein Herz pocht im Rhythmus der Angst, als er sie trägt, hinaus in die Nacht. Halt dich doch fest. Hilf mir doch. Hilf mir doch ein einziges Mal!
Die Kälte schlägt ihm entgegen, draußen, er riecht den Frost in der Luft, den kommenden Frost.
Noch ist der Boden nicht gefroren. Er hat Glück. Es ist ein seltsamer Gedanke, Glück zu haben, in dieser Februarnacht. Es ist nicht weit zum Wald hinaus. Es ist zu weit. Er blickt sich um.
Niemand ist da. Niemand sieht. Niemand weiß und niemand wird sich erinnern.
Und im Wald blühen keine kleinen weißen Blumen. Der Boden ist ein einziger braun-schlammiger, aufgeweichter Sumpf. Die grauen Buchen tragen keine Blätter. Er nimmt dies alles nur schemenhaft wahr, es ist zu dunkel. Es ist gerade dunkel genug. Hier gibt es keine Straßenlaternen mehr. Die Erde gibt nur widerwillig nach, der Spaten ist stumpf. Er flucht, lautlos. Sie sieht ihn noch immer nicht an. Sie sitzt an einen der dunklen Bäume gelehnt und scheint in Gedanken versunken. Und plötzlich packt ihn die Wut.
Er kniet zum dritten Mal in dieser Nacht vor ihr, er schüttelt sie, versucht, sie auf die Beine zu ziehen, er will sie anschreien, er schreit sie an, nur in Gedanken, stumm, mit offenem Mund.
Du bist das selbstsüchtigste, gedankenloseste Geschöpf, das ich kenne! Was du getan hast, ist unverzeihlich. Du weißt, du weißt doch, was geschehen wird! Du hast natürlich nicht darüber nachgedacht, oh nein, du nicht, deine Gedanken kreisten nur um deine eigene, erbärmlich kleine Welt. Du hast eine Lösung für dich gefunden, nur keine Lösung für mich, für uns, du hast keine Sekunde daran gedacht … Und dann weint er, weint wie ein Kind, an ihrer Schulter.
Sie streicht ihm über den Kopf, sachte, sachte. Aber nein, es ist nur ein Ast.
1
Anna
Es war der erste wirklich kalte Tag des Winters, an dem Anna die Puppe fand.
Ein blauer Tag, hoch und klar wie eine Glaskuppel über der Stadt. Sie zog die Handschuhe an, ehe sie auf ihr Rad stieg. Auf dem Weg zur Schule dachte sie, dass sie ans Meer fahren würde, gleich mittags, um zu sehen, ob es an den Rändern zugefroren war. Es würde zufrieren, wenn nicht heute, dann in ein paar Tagen.
Das Eis kam immer im Februar.
Und sie atmete die kalte Luft mit einer Art kindischer Vorfreude, schob den Schal vom Gesicht, streifte die Mütze von ihren dunklen Haaren und betrank sich an der Kälte, bis ihr schwindelig war. Sie fragte sich, in welcher der vielen Kisten im Keller ihre Schlittschuhe waren und ob es schneien würde und ob ihre Langlaufskier auch im Keller auf sie warteten oder auf dem Dachboden und ob sie Gitta überreden könnte, den alten Schlitten herauszuholen, den mit dem roten Band. Wahrscheinlich, dachte sie, würde Gitta sich zu alt fühlen. Mein Gott, wir sind achtzehn, würde sie sagen, oder du bist es jedenfalls fast, willst du dich wirklich auf einen alten Schlitten mit rotem Band setzen und dich komplett lächerlich machen? Du machst im Sommer Abitur, mein Kind, du solltest wirklich über andere Dinge nachdenken. Anna lächelte, als sie ihr Fahrrad vor der Schule abstellte. Gitta nannte sie von jeher »mein Kind«, es war ein wenig, als hätte man eine große Schwester, obwohl Gitta nur ein halbes Jahr älter war. Aber sie tat all die Dinge, die man tat, wenn man erwachsen war oder glaubte, es zu sein, all die Dinge, die Anna nie tun würde. Sie verbrachte die Freitagabende beim Tanzen im Fly In. Sie fuhr seit zwei Jahren mit dem Moped zur Schule, und sie würde es in ein Motorrad umtauschen, sobald sie das Geld dafür hatte. Sie trug nur Schwarz, sie trug Tangas, sie schlief mit den Jungen – mein Kind, wir sind achtzehn, lange, lange alt genug, du solltest dir langsam Gedanken machen –, sie lehnte mit Hennes an der Schulmauer und rauchte.
Anna stellte sich dazu und sah den Wolken nach, die ihr warmer Atem in die Luft malte.
»Na«, sagte Hennes, »fängst doch noch an, was?«
Anna schüttelte den Kopf. »Keine Zeit.«
»Ist auch besser so«, meinte Gitta freundlich und legte einen Arm um Annas schmale Schultern. »Wenn du einmal anfängst, kannst du nicht wieder aufhören. Das ist die Hölle, mein Kind, merk dir das. Bleib du lieber bei deinen Luftwolken.«
»Im Ernst«, sagte Anna. »Ich wüsste nicht, wann ich rauchen sollte. Es gibt genug andere Dinge zu tun.«
Hennes nickte. »Die Schule, was?«
»Ach ja«, sagte Anna leichthin, »die auch.«
Und sie wusste genau, dass Hennes nicht begriff, was sie meinte, aber es war ihr völlig egal. Sie konnte Hennes nicht erklären, dass sie zum Meer musste, um nachzusehen, ob es zugefroren war. Und dass sie über Gittas Schlitten mit dem roten Band nachgedacht hatte. Er hätte es nicht begriffen. Gitta würde sich zieren, den Schlitten rauszurücken, aber sie verstand Anna ganz gut. Und wenn niemand zusah, wirklich niemand, würde sie mit Anna Schlitten fahren und sich aufführen wie eine Fünfjährige; sie hatte es im letzten Winter getan und vorletzten Winter. Genauso wie alle Winter davor.
Und Hennes und alle anderen würden über der Vorbereitung der nächsten Kursarbeit sitzen.
»Es ist Zeit«, sagte Hennes und sah auf die Uhr. »Wir sollten gehen.« Er drückte seine Zigarette auf der Mauer aus und blies sich das rötliche Haar aus der Stirn. Golden, dachte Anna, rotgolden. Und sie dachte, dass Hennes vermutlich zu Hause vor dem Spiegel jeden Morgen übte, sich dieses Haar aus der Stirn zu pusten. Hennes war perfekt, Hennes war groß, er war schlank, er war klug, er hatte die Winterferien mit Snowboarden verbracht, irgendwo in Norwegen. Er hatte ein »von« im Nachnamen, das er beim Unterschreiben wegließ, was ihn noch perfekter machte. Es gab durchaus Gründe dafür, dass Gitta gerade mit Hennes an der Mauer stand und rauchte, Gitta verliebte sich ständig neu, und jedes dritte Mal in Hennes.
Anna konnte seinen Mund nicht leiden; dieses leicht ironische Lächeln, mit dem er seine Umwelt bedachte. Wie jetzt. Genau jetzt.
»Wollen wir unserem polnischen Kurzwarenhändler Bescheid sagen?«, fragte Hennes und nickte zu den Fahrradständern hinüber, wo eine Gestalt in grüner Militärjacke hockte, geduckt, die schwarze Strickmütze tief ins Gesicht gezogen, die Stöpsel eines alten Walkmans in den Ohren. Die Zigarette in seiner Hand war beinahe verglüht, und Anna fragte sich, ob er es nicht merkte. Und ob er nicht hätte herüberkommen können, zu Gitta und Hennes, zum Rauchen.
»Tannatek!«, rief Hennes. »Acht Uhr. Kommst du mit rein?«
»Vergiss es«, sagte Gitta. »Der hört dich nicht. Lebt in seiner eigenen Welt. Gehen wir.«
Gitta beeilte sich, Hennes’ langen Schritten die Treppe hinauf zur gläsernen Eingangstür zu folgen, sie waren im gleichen Englischkurs, doch Anna hielt sie auf.
»Hör mal … es ist wahrscheinlich eine dumme Frage«, begann sie, »aber …«
»Es gibt nur dumme Fragen«, antwortete Gitta gutmütig.
»Bitte«, sagte Anna ernst. »Erklär mir den Kurzwarenhändler.«
Gitta sah zu der Gestalt mit der schwarzen Wollmütze hinüber. »Den kann dir niemand erklären«, sagte sie. »Die halbe Abiturstufe fragt sich, weshalb der in der Elften hergekommen ist. Er ist doch im Deutschkurs 1, genau wie du …«
»Erklär mir das Wort«, beharrte Anna. »Warum heißt er bei allen so? Der polnische Kurzwarenhändler? Ich habe bisher nie darüber nachgedacht.«
»Liebes Kind.« Gitta seufzte. »Ich muss wirklich gehen. Die Siederstädt kann Unpünktlichkeit in ihrem Leistungskurs nicht leiden. Und wenn du dein kluges Köpfchen ein wenig anstrengst, kommst du schon darauf, was unser polnischer Freund verkauft. Ich gebe dir einen Tipp: keine Rosen.«
»Stoff«, sagte Anna und merkte, wie lächerlich das Wort aus ihrem Mund klang. »Bist du sicher?«
»Du meine Güte, die ganze Schule weiß das«, erwiderte Gitta, ein wenig ungeduldig jetzt. »Anna. Natürlich bin ich mir sicher.« Sie drehte sich in der Tür noch einmal um und zwinkerte. »In letzter Zeit ist er teurer geworden«, sagte sie. Dann winkte sie und verschwand durch die Glastüren nach drinnen.
Anna blieb allein draußen stehen und kam sich dumm vor. Sie wollte wieder an den alten Schlitten mit dem roten Band denken, aber stattdessen dachte sie das Wort »Seifenblase«. Ich lebe, dachte sie, in einer Seifenblase. Die ganze Schule weiß Dinge, die ich nicht weiß. Aber vielleicht will ich sie gar nicht wissen. Und ich werde doch ans Meer fahren, ganz allein, ohne Gitta. Und ich habe es satt, dass sie mich »liebes Kind« nennt, denn im Gegensatz zu ihr weiß ich, was ich will, im Gegensatz zu ihr weiß ich, dass ich nach dem Abi nach England gehe, ich weiß, was ich studieren werde. Und es ist viel kindischer, in schwarzen Klamotten herumzulaufen und sich einzubilden, man würde dadurch schlauer aussehen.
Und dann, nach der sechsten Stunde, nach einem absolut tödlichen Biokurs, fand sie die Puppe.
Später dachte sie oft darüber nach, was geschehen wäre, wenn sie sie nicht gefunden hätte. Nichts, wahrscheinlich. Alles wäre für immer so geblieben, wie es war, sie in ihrer Seifenblase, einer schönen und irgendwie auch eigensinnigen Seifenblase – aber kann denn irgendetwas so bleiben, wie es war, wenn man beinahe achtzehn ist? Natürlich nicht.
Die Kollegstufe besaß einen eigenen Raum, einen schäbigen Raum mit zwei ausrangierten Tischen, einer Menge zu kleinen Holzstühlen und einem alten Sofa sowie einer ständig kaputten Kaffeemaschine. Anna war die Erste, die in dieser Mittagspause ins Kollegstufenzimmer kam. Sie hatte in der Pause versprochen, auf Bertil zu warten, der irgendeinen Zettel von ihr kopieren wollte, irgendetwas wegen Deutsch. Bertil war der typische Zettelverlierer, er war ständig etwas zerstreut, und seine unkleidsam dicke Brille nützte ihm dabei nichts. Anna dachte, dass er vermutlich auch in einer Seifenblase lebte, aber seine war von innen beschlagen.
Sie hätte die Puppe nicht gefunden, wenn sie nicht auf Bertil gewartet hätte. Sie hätte die Puppe nicht gefunden, wenn sie ihre Sachen nicht ausgepackt hätte, um Bertils Zettel zu suchen, und wenn dabei ihr Bleistift nicht unter das Sofa gerollt wäre und wenn –
Anna bückte sich, um den Bleistift hervorzuholen.
Und da lag die Puppe.
Sie lag ganz hinten an der Wand, zwischen Staubflusen und Kaugummipapieren, ein wenig verloren. Anna versuchte, das Sofa von der Wand abzurücken. Es war zu schwer. Unter den durchgesessenen Polstern musste es aus Stein sein, ein Marmorsofa, oder ein Sofa voller schwarzer Weltraumlöcher mit unendlichem Gewicht. Sie legte sich davor auf den Bauch, streckte ihren Arm aus – bekam die Puppe zu fassen und zog sie hervor. Und einen Moment lang war sie allein mit der Puppe, ehe die anderen kamen.
Sie hielt sie im Staub vor dem Sofa auf dem Schoß und sah sie an, und es war, als erwiderte die Puppe ihren Blick. Sie war so groß wie Annas Hand, leicht, ganz aus Stoff. In das Gesicht zwischen den dunklen Zöpfen waren zwei blaue Augen gestickt, ein roter Mund, eine winzige Nase. Die Puppe trug ein geblümtes kurzes Kleid – blaue Blumen auf weißem Grund –, dessen unterer Saum ein wenig ausfranste, und eine Art Hose, die jemand, der nicht besonders gut nähen konnte, aus einem alten Stück Jeansstoff gemacht hatte. Die Blumen auf dem kurzen Kleid waren beinahe völlig verblichen, ein verschwundener Garten, nur noch zu erahnen. Die blauen Stickgarn-Augen waren abgewetzt, als hätten sie schon zu viel gesehen, sie blickten müde und ein wenig ängstlich. Anna entfernte die Staubflusen aus den Haaren der Puppe.
»Woher kommst du?«, flüsterte sie. »Was tust du hier? Welches Kind hat dich verloren?«
So saß sie auf dem Boden, als der erste Schwall der anderen hereinströmte, und sie hatte für einen Moment das seltsame Gefühl, die Puppe vor ihren Blicken schützen zu müssen. Natürlich war das Unsinn. Sie stand auf und hielt sie in die Höhe.
»Gehört die jemandem?«, fragte sie, so laut, dass die Puppe zusammenzuzucken schien. »Ich habe sie unter dem Sofa gefunden. Hat einer von euch sie da verloren?«
»Klar«, sagte Tom, »das ist meine Lieblingspuppe, Mensch, die suche ich schon seit Tagen!«
»Quatsch, das ist meine!«, rief Hennes. »Die nehm ich jeden Abend mit ins Bett! Ohne die kann ich gar nicht einschlafen.«
»So, so«, sagte Nicole, »na ja, andere Leuten machen es mit Hunden, warum also nicht mit Stoffpuppen …«
»Lass mal sehen, vielleicht ist es auch meine«, mischte sich Jörg ein und nahm Anna die Puppe aus der Hand. »Ach nein, meine hatte eine rosa Unterhose. Diese hier hat gar keine Unterhose … das ist ja sehr unziemlich.«
»Gib sie mir mal!«, rief irgendwer, und dann flog die Puppe durch die Luft, während Anna dastand und zusah, wie sie sie hin und her warfen. Wie sie über sie lachten. Und etwas in ihr zog sich krampfhaft zusammen. Sie ballte die Fäuste, aber sie sagte nichts. Es war, als wäre sie sechs Jahre alt, als wäre es ihre Puppe, und sie sah wieder die Angst in den abgewetzten, müden blauen Augen vor sich.
»Hört auf!«, rief sie schließlich. »Hört auf damit! Sie gehört irgendeinem Kind und ihr könnt nicht … wenn sie kaputtgeht … irgendwem gehört sie doch! Ihr benehmt euch wie in der ersten Klasse!«
»Das ist der Stress vor dem Abi, davon wird man unerhört kindisch«, sagte Tom entschuldigend. Aber er ließ die Puppe nicht los. »Fang sie doch«, sagte er und klang wirklich, als wäre er sechs Jahre alt. Anna fing die Puppe nicht, Bertil tat es, Bertil mit seinen zu dicken Brillengläsern. Er gab sie ihr schweigend zurück. Sie gab ihm schweigend das Blatt, das er kopieren wollte. Und die anderen vergaßen die Puppe.
»Die Putzfrau«, sagte Bertil, ehe er ging. »Vielleicht hat die Putzfrau ein Kind … könnte doch sein.«
»Könnte sein«, sagte Anna und lächelte ihn an. »Danke.«
Aber als er ging, dachte sie, dass sie nicht hätte lächeln sollen. Bertil hatte diesen flehenden Hundeblick hinter seinen Brillengläsern, wenn er sie ansah, und sie wusste genau, was er bedeutete.
Nachdem die anderen alle gegangen waren – zu ihren Nachmittagskursen, zur Bäckerei im Einkaufscenter, nach Hause –, nachdem das Kollegstufenzimmer wieder leer und still war, saß Anna noch immer auf dem Sofa, allein, die Puppe auf den Knien. Draußen war der Tag noch immer blau. Der Raureif an den Bäumen glitzerte silbern. Doch, sicherlich fror das Meer.
Sie ließ ihren Blick über die Reihe der Bäume gleiten, die vor der Siebzigerjahre-Fensterwand draußen standen, sah ihre Äste winken, schwer von Eiskristallen. Und dann blieb ihr Blick an einer Gestalt hängen, die auf der Heizung an der Fensterwand saß, und sie erschrak.
Sie hatte die Gestalt vorher nicht bemerkt.
Es war Tannatek, der polnische Kurzwarenhändler, und er sah sie an. Er musste mit den anderen gekommen sein und seitdem dort sitzen, sie hatte ihn nicht bemerkt. Anna schluckte.
Er trug immer noch die schwarze Wollmütze, auch drinnen, genau wie im Deutschkurs, in dem er wie immer kein Wort gesagt hatte. Unter dem offenen Militärparka sah man ein Böhse-Onkelz-Logo auf seinem schwarzen Pullover. Seine Augen waren blau.
Anna wusste nichts über ihn, nur dass er nach der Zehnten hergekommen war, ein Quereinsteiger von der Realschule. Im Moment fiel ihr nicht einmal sein Vorname ein. Sie war ganz allein mit ihm. Es war sehr still. Und auf einmal hatte sie Angst. Ihre Hände krallten sich um die Puppe.
Er räusperte sich. Und dann sagte er etwas, das Anna nicht erwartet hatte.
Er sagte: »Sei vorsichtig mit ihr.«
»Wie?«, fragte Anna, perplex.
»Du hältst sie zu fest. Sei vorsichtig mit ihr«, wiederholte Tannatek.
Anna sah auf ihre Hände, die noch immer in den Stoff gekrallt waren, begriff und ließ die Puppe los. Sie fiel auf den Fußboden. Tannatek schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, kam auf Anna zu – sie saß ganz steif da, versteinert, gefroren – und bückte sich nach der Puppe. Er hob sie auf und trat einen Schritt zurück.
»Ich war es«, sagte er. »Ich habe sie verloren. Verstehst du?«
»Nein«, sagte Anna ehrlich.
Er schüttelte wieder den Kopf. »Natürlich nicht.«
Tannatek sah die Puppe einen Moment lang an, er hielt sie wie etwas Lebendiges. Dann setzte er sich wieder auf die Heizung, bückte sich nach seinem Rucksack, der dort stand, und legte sie hinein, oben auf die Bücher und Ordner. Dann setzte er sich wieder auf die Heizung, holte eine einzelne Zigarette aus der Tasche, erinnerte sich offenbar, dass er hier nicht rauchen durfte, zuckte die Achseln und steckte die Zigarette wieder ein.
»Tja«, sagte Anna, und ihre Stimme klang noch immer zu ängstlich. Sie stand vom Sofa auf. »Tja, wenn die Puppe wirklich dir gehört … dann ist ja alles in Ordnung. Dann kann ich ja jetzt gehen. Ich hab heute nichts mehr. Keine Kurse.«
Tannatek nickte. Doch Anna ging nicht. Sie stand mitten im Raum, als hielte etwas sie dort fest, und dieser Moment gehörte zu denen, die sie später nicht erklären konnte, sich selbst nicht und auch niemand anderem. Was geschah, geschah einfach.
Sie blieb so lange stehen, bis er etwas sagen musste, und er sagte: »Danke.«
»Danke wofür?«, fragte sie. Sie wollte eine Erklärung. Irgendeine.
»Danke, dass du sie gefunden hast«, sagte er und nickte zu seinem Rucksack hin, aus dem Anna eine Stoffhand der Puppe lugen sah.
»Ja, hm, oh, bitte«, sagte Anna. »Ich …«
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst und versuchte, ein Lachen hervorzuholen, ein kleines, belangloses Lachen, mit dem man ein Gespräch rettet, das zu versiegen droht, ehe es begonnen hat.
»Du siehst aus, als wolltest du eine Bank überfallen«, sagte sie und, als er sie verständnislos ansah: »Mit der Mütze, meine ich.«
»Es ist kalt«, sagte er.
»Hier drin?«, fragte Anna und fand neben dem versiegten Lachen noch so etwas wie ein Lächeln, obwohl sie nicht wusste, ob es überzeugend aussah.
Er sah sie noch immer an. Und dann nahm er die schwarze Wollmütze ab, ganz langsam, wie ein Ritual. Sein Haar war blond und durcheinander. Anna hatte vergessen, dass es blond war. Er trug die Mütze seit einer Weile – einer Woche? Zwei? Von Zeit zu Zeit kam er mit einem Drei-Millimeter-Schnitt zur Schule, aber jetzt reichte sein Haar bis fast über die Ohren.
»Die Puppe, ich dachte … ich dachte, sie gehört einem kleinen Mädchen …«, begann Anna.
Er nickte. »Sie gehört einem kleinen Mädchen.« Und plötzlich war er es, der lächelte. »Was dachtest du? Dass sie mir gehört?«
In dem Moment, in dem er lächelte, fiel Anna sein Vorname ein. Abel. Abel Tannatek. Sie hatte ihn in irgendeiner Liste gesehen, im letzten Jahr.
»Wem gehört sie denn?«, fragte Anna, die Großinquisitorin Anna Leemann, dachte Anna, die zu viele Fragen stellte, hartnäckig, neugierig.
»Ich habe eine Schwester«, sagte Abel. »Sie ist sechs.«
»Und warum …« Warum trägst du ihre Puppe mit dir herum? Warum verlierst du sie unter dem Kollegstufensofa?, wollte die Großinquisitorin Anna Leemann fragen. Doch dann ließ sie es. Großinquisitoren sind nicht sehr sympathisch.
»Micha«, sagte Abel. »Sie heißt Micha. Sie wird sich freuen, dass die Puppe wieder da ist.«
Er sah auf die Uhr, stand auf und schulterte den Rucksack.
»Ich muss los.«
»Ja, ich … ich eigentlich auch«, sagte Anna rasch. Sie traten nebeneinander in den blauen, kalten Tag und Abel sagte: »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich meine Mütze wieder aufsetze?«
An den Bäumen glänzte der Raureif jetzt so hell, dass man die Augen zusammenkneifen musste, und die Sonne spiegelte sich in den Pfützen auf dem Schulhof, gleißend, blendend.
Alles war heller geworden, beinahe gefährlich hell.
Bei den Fahrradständern hatte sich eine Horde von Fünft- oder Sechstklässlern versammelt. Anna sah zu, wie Abel sein Rad aufschloss. Sie hatte noch so viele Fragen, sie musste sie jetzt stellen, rasch, ehe dieses Gespräch zu Ende ging, ehe Abel Tannatek sich wieder in die anonyme, geduckte Gestalt mit den Ohrstöpseln verwandelte, in den polnischen Kurzwarenhändler, den die anderen mit einem Spitznamen versehen hatten wie mit einer Hülle, die sie davor schützte, den Inhalt berühren zu müssen.
»Warum hast du nichts gesagt, als sie die Puppe durch die Luft geworfen haben?«, fragte Anna. »Warum hast du gewartet, bis die anderen weg waren?«
Er schob sein Fahrrad rückwärts aus dem Gewirr der anderen Fahrräder heraus. Er war schon fast fort, schon fast nicht mehr dort, wo Anna sich befand, schon fast wieder in seiner eigenen Welt.
»Sie hätten es nicht verstanden«, sagte er. »Es geht auch niemanden etwas an.«
Inklusive mir, dachte Anna.
Abel holte den uralten Walkman aus der Tasche seines Militärparkas und entwirrte die Kabel.
Warte!, wollte Anna rufen.
»Hörst du tatsächlich die Onkelz?«, fragte sie und nickte zu seinem Pullover hin, dessen weiße Aufschrift man unter der nicht ganz geschlossenen Jacke sah.
Da lächelte er wieder. »Wie alt bin ich, zwölf?«
»Aber … der Pullover …«
»Geerbt«, sagte Abel knapp. »Er ist warm. Das ist die Hauptsache.«
Er gab ihr einen Ohrstöpsel. »White noise«, sagte er.
Anna hörte nichts als knisterndes, lautes Rauschen. White noise, das, was ein Radio ausspuckt, das keinen Empfang hat. »Es hilft, die anderen fernzuhalten«, sagte Abel, nahm ihr den Ohrstöpsel weg und stieg auf sein Rad. »Wenn man denken möchte.«
Und dann fuhr er weg und Anna stand da und alles war anders als zuvor.
White noise.
Sie fragte Gitta nicht nach dem alten Schlitten mit dem roten Band. Sie fuhr allein zum Meer, später, als es schon dämmerte. In der Dämmerung am Meer war es am leichtesten, sich über die eigenen Gedanken klar zu werden, sie vor sich im Sand auszubreiten und sie zu ordnen. Es war gar kein richtiges Meer. Nur der Bodden, seichtes Flachwasser. Wenn es wirklich zufror, konnte man hinüberlaufen zur Insel Rügen.
Anna stand lange am verlassenen Strand von Eldena und sah aufs Wasser hinaus, das eine Eishaut bekam. Es war jetzt glatt, poliert, es glänzte wie die Dielen zu Hause, gebohnert und abgeschliffen von der Zeit.
Das Haus war alt, seine hohen Räume atmeten Vergangenheit. Es stand in der Fleischervorstadt, zwischen anderen alten Häusern, verfallen und grau zu sozialistischen Zeiten, renoviert und herausgeputzt nach der Wende. Seltsam, an diesem Tag hatte sie das Haus auf ganz andere Weise gesehen. Als ginge sie nicht alleine durch die hohen Räume, sondern mit Abel Tannatek an ihrer Seite.
Sie sah die hohen Bücherregale mit seinen Augen, die Sessel, die dicken, sichtbaren Balken in der Küche, die Bilder an den Wänden, modern, schwarz-weiß, unerkennbar, den Kamin im Wohnzimmer, den Strauß von Winterzweigen auf dem großen Esstisch. Alles war schön, schön wie auf einem Bild, unberührbar und unwirklich schön.
Sie ging mit Abel an ihrer Seite die breite hölzerne Innentreppe hinauf in ihr Zimmer, wo der Notenständer am Fenster stand. Sie versuchte, Abel Tannatek aus ihrem Kopf zu schütteln, die schwarze Mütze, den alten Militärparka, den geerbten Pullover, die verblichene Puppe. Sie wog die Querflöte in der Hand. Auch die Querflöte war schön.
»Ich werde Musik studieren«, sagte Anna laut in den Raum. »Vielleicht. Auch das ist zu schön … zu …«
Aber sie wusste nicht, zu was. Und die silbernen Töne der Querflöte klangen verkehrt an diesem Tag. Sie ertappte sich dabei, wie sie versuchte, der Flöte etwas ganz anderes zu entlocken, etwas Unmelodisches und Disharmonierendes, etwas gewaltsam Kratzendes und Widerspenstiges: white noise.
Die Querflöte schien sich in ihren Händen zu winden, sie begriff nicht, was man von ihr wollte. Vor dem Fenster hatte der Nachmittag sich dunkelblau auf den Garten gelegt, jenen Hinterhofgarten, in dem sie so viele Sommer lang mit Gitta gesessen und gelacht hatte. Als sie jetzt das Fenster öffnete, hörte sie die Spatzen in den vertrockneten Ranken des Geißblatts, das neben ihrem Fenster die Wand überzog. Im Sommer würde es wieder blühen und es würde die Luft mit seinem Duft schwer und melancholisch machen … im Sommer, in einer Million Jahren.
An diesem Tag blühte eine einzige Rose am Rosenstrauch. Sie war so einzeln, dass sie unerträglich kitschig wirkte, und Anna hatte dem Versuch widerstehen müssen, sie abzuschneiden. Heute hatte sie keinen Sinn für Rosen.
Die Luft über dem Wasser war jetzt dunkelblau. Irgendwo hing ein Fischerboot zwischen Wasser und Himmel. Anna zerstörte die dünne Eisschicht mit der Spitze ihres Stiefels und hörte das leise Knacken und das Wasser darunter.
»Er wohnt mit hundertprozentiger Sicherheit nicht in so einem Haus«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wie so jemand wohnt. Anders.«
Und dann trat sie mit dem Fuß ganz ins Wasser, bis das Wasser durch den Stiefel drang und die Kälte sie erreichte.
»Ich weiß überhaupt nichts!«, schrie sie dem Meer zu. »Überhaupt nichts!«
Worüber denn?, fragte das Meer.
»Über die Dinge außerhalb der Seifenblase!«, rief Anna. »Ich will … ich will …« Sie hob die Hände, wollene, gemusterte Handschuhhände, hilflos, und ließ sie wieder sinken.
Da lachte das Meer, aber es hatte kein freundliches Lachen. Es machte sich lustig. Bilde dir bloß nicht ein, du könntest so einen kennenlernen wie Tannatek, sagte das Meer. Und denk mal an den Drei-Millimeter-Haarschnitt. Bist du sicher, dass du dich da nicht mit einem Rechten anlegst? Nicht jeder, der eine kleine Schwester hat, ist ein guter Mensch. Was ist überhaupt ein guter Mensch? Und hat er überhaupt eine kleine Schwester? Vielleicht …
»Sei doch still«, sagte Anna zum Meer und drehte sich um, um über den kalten Sand zurückzugehen.
Hinter dem Strand zur Linken erhob sich der Wald, schwer und schwarz. Im Frühling würden die Buschwindröschen zwischen den hohen Buchen blühen, aber bis dahin war es noch eine Weile hin.
2
Abel
»Bilde dir bloß nicht ein, du könntest so einen kennenlernen wie Tannatek«, sagte Gitta. »Denk mal an den Drei-Millimeter-Haarschnitt…« Sie schlug ihre Füße unter und wippte ein wenig auf der Ledercouch auf und ab. Anna dachte daran, wie sie als Kinder genau diese Couch als Trampolin benutzt hatten. Die Couch stand vor einer Glaswand und dahinter lag irgendwo der Strand. Man sah den Strand nicht, das halbe Neubaugebiet lag dazwischen. Das Haus mit der Glaswand im Wohnzimmer war ein Teil des Neubaugebietes, ein Klotz von einem Haus, völlig quadratisch, irgendwie modern, aber auf eine misslungene Art.
Der Garten war zu ordentlich. Gitta hatte erklärt, sie wäre sich fast sicher, dass ihre Mutter in unbeobachteten Momenten die Blätter der Buchsbaumhecke steril abwusch.
Gitta kam nicht besonders mit ihrer Mutter aus. Sie war Chirurgin an der Klinik, so wie früher Annas Vater, aber er war auch nicht besonders mit ihr ausgekommen und in eine weniger ordentliche Praxis geflohen.
»Anna?«, sagte Gitta. »Worüber denkst du nach?«
»Ich dachte… ich dachte über unsere Eltern nach«, sagte Anna. »Und dass sie alle Ärzte sind oder sonst was.«
»Sonst was«, sagte Gitta, stieß die Luft verächtlich durch die Nase aus und drückte ihre drinnen verbotene Zigarette auf einer Untertasse aus. Sie rauchte sie vermutlich nur, weil sie verboten war. »Ganz genau. Was hat das mit Tannatek zu tun?«
»Nichts«, sagte Anna und seufzte. »Alles. Ich habe mich gefragt, was seine Eltern sind. Woher er kommt. Wo er wohnt.«
»Ostseeviertel«, sagte Gitta. »Ich seh ihn da immer langfahren. Plattenbau, da beim Aldi.«
Sie rutschte auf dem Sofa ganz nach vorne und sah Anna scharf an. Ihre Augen waren blau. Wie die von Abel, dachte Anna, aber anders. Wie viele Arten von Blau gab es auf der Welt? Theoretisch unendlich viele… »Warum willst du all diese Dinge wissen?«, fragte Gitta mit einem gewissen lauernden Unterton.
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