Die Amazonas-Detektive (Band 1) - Verschwörung im Dschungel - Antonia Michaelis - E-Book

Die Amazonas-Detektive (Band 1) - Verschwörung im Dschungel E-Book

Antonia Michaelis

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Beschreibung

+ Beliebtes Thema: Detektive + Hochwertiges Hardcover + Mit vielen Illustrationen + Ausgewogenes Text-Bild-Verhältnis + Große Schrift + Kurze Kapitel + Eine neue Kinderbuch-Reihe mit einer starken Botschaft: Mutige Kinder können die Welt verändern! Der Straßenjunge Pablo lebt allein in einer alten Ruine in der Großstadt Manaus. Eines Tages verschwindet sein Freund, der Student Miguel. Als Pablo einen Hilferuf erhält, ist klar: Er wird in den dichten Dschungel hinausfahren, um Miguel zu finden. Mit von der Partie sind die abenteuerlustige Ximena und ein cleverer Hund. Doch was wird die Kinder in der grünen Wunderwelt erwarten? Schon bald wird klar: Nicht nur die Freunde, sondern auch der Dschungel ist in Gefahr. Tief im dichten Urwald wartet der erste Kriminalfall auf die Amazonas-Detektive. Eine spannende und unterhaltsame neue Detektiv-Reihe mit starker und brandaktueller Umweltthematik für Jungs und Mädchen ab 9 Jahren rund um Klimaschutz, Umweltzerstörung, verschiedene Kulturen, Brasilien, Regenwald und die Natur. Großartig erzählt von der unvergleichlichen Antonia Michaelis und mit coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Sonja Kurzbach. Für Fans von Kirsten Boie und Annelies Schwarz.  Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Für alle mutigen Kinder,die nie aufhören, die verschwundenen Dinge und Leute zu suchen.

INHALT

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Letztes Kapitel

ERSTES KAPITEL,

in dem Pablo eine Botschaft erhält und der Fluss noch schläft

Die Villa war marode. Sagten die Leute.

Das bedeutete: Kaputt. Hinüber. Einsturzgefährdet.

Sie stand zwischen anderen weniger kaputten und bunt angestrichenen Häusern – hellblau, gelb, lila, aber die Villa selbst hatte keine Farbe. Und aus den Ritzen wuchsen Bäume, kleine und große: auf dem Dach, den Balkons, aus den Fenstern. Schlingpflanzen umrankten die alten Mauern, Gras bedeckte die Eingangsstufen, kleine lila Blüten regneten durch die Fenster.

Pedro liebte die Villa.

Sie war sein Zuhause.

Bei gutem Wetter schlief er oben auf dem Dach, auf einem kleinen Türmchen. Bei Regen kletterte er durch ein Loch in den Raum darunter. Von dort aus sah man die ganze Stadt, die bunte, laute, chaotische Stadt – und dahinter den Urwald, in der Ferne, grün, unendlich.

Es war der Urwald, der die Villa zurückerobert hatte. Es geschah überall dort, wo etwas von den Menschen verlassen wurde: Die Pflanzen, die vor Jahrtausenden hier gestanden hatten, kamen einfach zurück. Das gefiel Pablo.

Die Villa war wie ein Stück von dem Grün da draußen, ein Stück Wildheit.

Pablo war noch nie dort gewesen.

Im wahren Urwald.

»Eines Tages«, sagte er zu sich selbst, »eines Tages lerne ich ihn kennen. Irgendwo da draußen wartet das Abenteuer.«

Es war ein Dienstag, an dem er das sagte, und er saß auf dem Turm und ließ die Beine baumeln.

Dann nahm er die Spiegelscherbe in die Hand, die neben ihm lag, und wischte sie an seinem schmutzigen T-Shirt ab. Ein Junge von etwa zehn Jahren blickte ihn an, mit wachen dunklen Augen und zimtfarbener Haut, auf der Nase eine lange Schramme, das Gesicht im Allgemeinen nicht unbedingt sauber. Auf dem drahtigen schwarzen Haar saß schräg eine alte schwarze Schiebermütze und unten sah man gerade noch den ausgefransten Ausschnitt des gelbgrünen Fußball-T-Shirts, das bessere Tage gesehen hatte.

Alles in allem, fand Pablo, sah er aus wie ein echter Abenteurer.

»Blöd«, sagte er zu seinem Spiegelbild, »dass ich nie ein Abenteuer erlebe. Ich meine, so abenteuerlich ist es nicht, auf der Straße Leute anzubetteln oder ihnen für Geld Einkäufe nach Hause zu tragen. Es wäre besser, ein reicher Adeliger zu sein. Auf einem Pferd mit Silbersporen. Oder auf einem Dreimaster, an dessen Reling man stolz stehen und fremden Ländern entgegensehen kann. Oder mit dem Degen in der Hand die Schlangen im Urwald zu bekämpfen. Oder …«

Er hielt inne und beugte sich weiter vor.

Da war etwas gewesen, eine Bewegung unten zwischen den Büschen vor der Villa. Ein Schatten …

»Miguel?«, rief Pablo leise. Denn es war Miguel, auf den er da oben auf seinem Turm wartete.

Miguel kam jeden Freitag vorbei, setzte sich zu ihm auf die Stufen vor der Villa und unterhielt sich mit ihm. Meistens brachte er Pablo ein Sandwich oder einen gegrillten Maiskolben mit. Aber am letzten Freitag war er nicht gekommen, was Pablo gewundert hatte.

Miguel war Student.

Er trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern und lustigem rotem Rahmen und er hatte so große Träume wie Pablo. Oft saßen sie freitags zusammen auf den Stufen der Villa und träumten: von Abenteuern, von den Meeren und den Sternen und dem grünen Geheimnis des Waldes rund um Manaus, ihre Stadt.

An diesem Tag ahnte Pablo noch nicht, wie bald er den Wald besser kennenlernen würde. Wie bald er in ein Abenteuer hineinrutschen würde. Allerdings ohne Degen und Silbersporen.

»Miguel, bist du das?«, rief Pablo. Niemand antwortete.

Unten in der Villa klirrte etwas. Glas. Eine Scheibe.

Das war seltsam. Pablo begann, außen am Turm an einer Kletterpflanze herunterzuklettern, denn die Treppe unten war seit Langem nicht mehr begehbar.

Unten sprang er ins Gras und zog sein altes Taschenmesser heraus und so schlich er vorwärts, dorthin, woher das Klirren gekommen war.

Denn leider besaß er keinen Degen.

Er besaß eine bunte gewebte Umhängetasche, drei Unterhosen mit Löchern, das Messer, eine durchgelegene Matratze und eine kleine Bibel, die ihm ein netter Priester einmal geschenkt hatte und die er verwendete, um Kerzen darauf festzukleben.

Es klirrte wieder unten in der Villa. Pablo mochte die unteren Räume nicht so sehr, sie waren zu dunkel und zu groß und die Leute warfen Müll hinein, den er lieber den Ratten und Katzen überließ.

»Miguel, bist du das? Spielst du Verstecken mit mir? Komm raus da«, sagte Pablo. »Wir können uns auf die Stufen setzen wie immer. Hast du was zu essen dabei? Wie … wie waren die letzten Prüfungen …?«

Noch ein Rascheln in der Villa. Und dann ein seltsames Geräusch, kläglich, leise – ein Weinen.

Die Tür hinter den Stufen war mit Holzbrettern zugenagelt. Pablo holte tief Luft und kletterte durch das nächste Fenster. Drinnen landete er zwischen Plastiktüten, alten Blättern und Saftkartons und auf einmal war alles dunkel. Die bunt angemalte, laute, verrückte Stadt blieb hinter ihm zurück. Hier war alles gedämpft und schattig.

Pablo rückte seine Kappe zurecht.

»Wer immer du bist, ich komme jetzt«, sagte er, ein leichtes Zittern in der Stimme. »Hab keine Angst.«

Pablo schlich Schritt für Schritt voran, stieg über Pappkartons und leere Flaschen und dann sah er die zusammengekauerte Gestalt auf dem Fußboden. Es war kein Mensch.

Es war ein Tier. Ein großes und struppiges, mageres Tier. Ein Jaguar, dachte Miguel. Ein verletzter Jaguar.

»Der Urwald ist zu mir gekommen«, wisperte er. »Er hat einen Botschafter geschickt …«

Da hob der Jaguar den langen, schmalen Kopf und sah ihn an. Es war kein Jaguar. Es war ein Hund. Kurzfellig, grau, zerzaust, dreckig … riesig.

»O Dios«, sagte Miguel. »Was ist denn mit dir passiert?«

Er trat ganz vorsichtig näher und dann sah er, dass der Hund die linke Vorderpfote seltsam hielt. Seine Läufe waren lang und schmal, elegant fast, aber etwas mit der Pfote stimmte nicht.

»Bist du angefahren worden?«, flüsterte Pablo. »Oder hat jemand … etwas nach dir geworfen? Einen Stein?« Er kniete sich neben den Hund und der Hund sah ihn an und hechelte. Er schien Pablo zu vertrauen.

»Miguel wird wissen, was wir mit dir machen«, sagte Pablo. »Er studiert an der Universität, um Arzt zu werden. Er mag Hunde. Er mag alle Tiere. Obwohl er Menschenarzt werden will. Er mag eben alle, so ist Miguel. Er ist mein Freund.« Der Hund stellte jedes Mal beim Namen »Miguel« die kurzen, dreieckigen Ohren auf.

»Sag nicht, du kennst Miguel!«, sagte Pablo. »Nein. Du kennst jemanden, der auch Miguel heißt, richtig? Ich habe ihn länger nicht gesehen …«

Um den Hals trug der Hund statt eines Halsbandes einen Strick und unter dem Strick … »Verflixt, da klemmt ja ein Stück Papier«, flüsterte Pablo, auf einmal aufgeregt. »Was … was ist das?«

Der Hund ließ zu, dass er das Papier herauszog, und als er es auffaltete, fand er darauf seinen Namen und erschrak.

PABLO.

Miguel hatte ihm vor einem Jahr Lesen und Schreiben beigebracht und eigentlich hatte Pablo es immer irgendwie überflüssig gefunden, aber jetzt war er froh, dass er es konnte. Die Schrift auf dem Zettel sah ein bisschen krakelig aus. Fast, als hätte ein Kind die Worte geschrieben.

»Pablo, wenn du das hier liest«, entzifferte er mühsam Wort für Wort, »… dann hat der Hund dich gefunden. Was ein kleines Wunder ist. Vielleicht hast du gemerkt, dass ich verschwunden bin. Glaub mir, ich bin nicht freiwillig verschwunden. Keiner von uns ist das. Du musst uns helfen. Wir sitzen hier fest. Der Hund gehört einem Freund. Ich weiß nicht, was sie mit uns vorhaben und …«

Das letzte Wort war halb verrutscht und mehr stand da nicht. »Und … was?«, flüsterte Pablo und sah dem Hund in die dunklen Augen. Aber der Hund hatte keine Antworten. Er leckte vorsichtig seine verletzte Pfote. »Miguel hat das geschrieben«, wisperte Pablo. »Aber warum ist es so krakelig? Und … er ist beim Schreiben gestört worden, er musste plötzlich aufhören … Warum? Wer sind sie?«

Er knüllte den Zettel in seiner Hand zu einem kleinen Ball. Dann erschrak er, entknüllte ihn wieder und strich ihn auf seinem Knie glatt. »Der Zettel ist ja alles, was wir haben«, flüsterte er. »Als Anhaltspunkt. Miguel ist etwas passiert, richtig? Wir müssen ihm helfen.«

Er nahm den Kopf des Hundes zwischen seine Hände. »Ich wollte ein Abenteuer«, wisperte er. »Aber ehrlich gesagt … hätte ich jetzt doch lieber ein Sandwich. Hund? Ich habe ein bisschen Angst.«

Als der Nachmittag sich neigte, saß Pablo an der Mauer beim Fluss und sah zu, wie die großen Amazonasdampfer ausgeladen wurden.

Eine Menge Leute saßen mit ihm da, die Mauer war bunt vor lauter Menschen – Menschen, die Dinge verkauften oder bettelten oder sich unterhielten und den Nachmittag genossen, Liebespaare, alte Leute, Kinder. Unten an der Anlegestelle wuselten noch mehr Menschen herum, Menschen, die Kisten und Taschen und Tüten trugen.

»Manchmal kommen um diese Zeit Touristen an«, sagte er zu dem Hund neben sich. »Ich führe sie herum, weißt du. Erzähle ihnen was über die Geschichte der Stadt. Darüber, wie die Spanier die Stadt gebaut haben und reich geworden sind mit dem Kautschuk von den Gummibäumen. Über die Indios, die auf ihren Farmen gearbeitet haben und alle gestorben sind wie die Fliegen. Das weiß ich von Miguel.« Er streichelte den Hund, der ihn ernst betrachtete. »Du solltest meine Geschichten hören! In dieser Villa, meine Damen und Herren, lebte ein versklavtes Indiomädchen, das mit dem reichen Sohn eines Kautschukbarons durchgebrannt ist. Sie sind nachts auf einem kleinen Kanu geflohen und beinahe ertrunken, als es umkippte, aber dann haben die rosa Flussdelfine sie gerettet … Ich bin gut im Geschichtenerfinden. Touristen mögen so was.« Er seufzte. »Aber heute … Ich glaube, heute führe ich niemanden. Ich muss nachdenken.«

Er sah dem Fluss nach, der das Wasser gemächlich durch sein breites Bett schob, an den Hafenanlagen vorbei, an den Fabriken, die weiter hinten ihre giftigen Dämpfe in den Himmel spien wie riesige Drachen, an den letzten Hütten der Slums vorüber und in den Urwald. Der Fluss kam aus dem Urwald und floss in den Urwald, der Fluss war Teil des Urwaldes, war sein Herz.

Rio Negro. Schwarzer Strom.

Allwissende Mutter des Lebens.

»Du weißt, wo er ist, nicht wahr?«, flüsterte Pablo dem Fluss zu. »Miguel. Fließt du an dem Ort vorbei, an dem er festsitzt? Hast du ihn gesehen? Geht es ihm gut?« Er beugte sich vor und starrte den glänzenden Strom an, als könnte er ihn zu einer Antwort zwingen. »Wer hat Miguel eingesperrt?«, fragte er eindringlich. »Er hat sich mit jemandem angelegt, mit dem er sich besser nicht angelegt hätte, richtig? Es gibt eine Menge Leute, mit denen man sich besser nicht anlegt. Große Leute. Mächtige Leute. Leute, denen alles gehört. Aber was soll ich … ich allein gegen sie tun? Ich muss etwas tun. Miguel wartet auf mich. Aber die Stadt ist so groß! Wie soll ich da jemanden finden?«

»Hör mal, redest du immer mit dem Fluss?«, fragte eine hohe, klare Stimme hinter ihm und er fuhr herum. Vor ihm stand ein Mädchen mit feinem braunem Haar, das zu einem langen Zopf geflochten war, hellblauen Augen und kleinen Sommersprossen auf der blassen Nase. Sie platzierte sorgfältig zwei glänzende Münzen in Pablos Mütze, die neben ihm auf der Mauer lag. Dann strich sie ihr blaues Sommerkleid glatt und legte den Kopf schief, um ihn zu mustern. »Er antwortet nämlich nur nachts«, sagte sie.

»Ach was«, sagte Pablo. »Hallo, Ximena.«

»Wirklich«, meinte sie. »Tagsüber schläft er. Guck es dir an, das träge Wasser. Das sieht man doch.«

Sie sah sich um und Pablo folgte ihrem Blick. Eine sehr ordentlich gekleidete junge Dame war ein paar Meter weiter dabei, mit einem schmutzigen kleinen Jungen zu feilschen, der Topfschrubber verkaufte. »Die ist für den Moment abgelenkt«, sagte Ximena und grinste. »Sag mal, was ist das für ein Hund?«

Pablo seufzte schon wieder. »Er ist verletzt. Seine Pfote. Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll. Er gehört dem Freund eines Freundes und der Freund hat ihn mir geschickt.«

»Eine Menge Freunde«, sagte Ximena, kniete sich hin und nahm vorsichtig die Pfote des Hundes in ihre Hand. »Das ist ein Schnitt. Er hat sich an etwas Scharfem verletzt, einem Draht oder so etwas. Die Wunde muss desinfiziert und verbunden werden.« Sie sah zu Pablo auf. »Komm nachher vorbei, wenn es dunkel ist, und pfeif unter dem Badezimmerfenster. Ich versuche rauszukommen.«

Ximena wohnte in derselben Straße, in der Pablos marode Villa stand. Sie wohnte in einer richtigen Villa, einer mit Blumentöpfen vor dem Eingang und einem Zaun und einer blank polierten Messingklingel. Die Villa gehörte Ximenas Großvater, einem griesgrämigen alten Herrn, den man nur selten auf der Straße sah. Ximena wohnte bei ihm, da ihre Eltern nicht mehr lebten.

Wenn sie bei Pablo vorbeikam, schenkte sie ihm jedes Mal ein paar Münzen.

»Also. Warum hat dir der Freund des Freundes einen Hund geschickt?«, fragte Ximena.

Aber jetzt kam die ordentlich gekleidete junge Dame auf sie zu.

Pablo konnte nur noch »Später!« flüstern, ehe sie Ximena missbilligend ansah und mit sich wegzog.

Die ordentliche Dame war die Haushälterin von Ximenas Großvater und ohne sie durfte Ximena nicht auf die Straße.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht mit diesem Jungen reden sollst«, hörte Pablo sie rufen und dann lotste sie Ximena über die Straße zur alten Markthalle hinüber. Ximena drehte sich einmal um und winkte, ehe sie im Gewühl der bunten Menschen verschwanden.

ZWEITES KAPITEL,

in dem jemand bei Mondlicht verarztet wird, der Silberbaron gefährliche Zeitungen versteckt und ein Betrunkener die Kinder warnt

Pablo wartete, bis es ganz dunkel war.

Der Hund neben ihm auf der Treppe der alten Villa war eingeschlafen. Pablo hatte von Ximenas Geld ein Sandwich gekauft und es mit ihm geteilt und nun lag er da wie ein großer, erschöpfter Fellhaufen. Pablo streichelte ihn eine Weile gedankenverloren und sah dem Mond zu, wie er über die Häuser von Manaus am Nachthimmel hinaufkroch. Die Blätter der Ranken, die die Villa umgaben, wippten im leisen Nachtwind. Grillen zirpten, Autos rauschten in der Ferne vorbei, irgendwo lief Musik. Pablo wippte mit dem Fuß im Takt: Samba, der Rhythmus der Stadt.

»Wenn ich erwachsen bin«, flüsterte er dem schlafenden Hund zu, »und ein richtiger Held, dann werde ich ein Mädchen haben und ich werde es in eine dieser Bars führen und mit ihm Samba tanzen. Ich werde eine schickere Mütze haben als jetzt, oder besser noch einen Hut, und eine Blume am Kragen und ich werde den Musikern eine Handvoll Münzen zuwerfen und mit meinem Mädchen über die Tanzfläche wirbeln – sie wird die Schönste von allen sein, natürlich …«

Er seufzte. »Aber noch bin ich kein Held. Vielleicht werde ich einer, wenn ich Miguel finde und ihn zurückhole. Wo immer er ist.«

Er rüttelte den Hund sacht. »Komm! Kümmern wir uns um deine Pfote! Der alte Herr schläft jetzt bestimmt. Ximena wartet auf uns!«

Kurz darauf krochen sie durch eine ziemlich dichte Hecke und standen zwischen Rosenbüschen hinter einem hoch aufragenden Gebäude voller Verzierungen und Erkern: Das große Haus war ein Schmuckstück und aus altem, glänzend grauem, fast silbernem Stein. »Das Silberhaus«, flüsterte Pablo dem Hund zu. »So nennen es die Leute hier. Und den alten Herrn nennen sie den Silberbaron. Er hat silbernes Haar und einen schwarzen Spazierstock mit silberner Spitze und silbernem Griff. Aber jetzt schläft er …«

Pablo schlich näher an das Haus heran, hob einen kleinen runden Kieselstein auf, einen von vielen Tausend runden Kieseln, die den Boden zwischen den Bäumchen bedeckten. Er warf ihn an eines der Fenster im zweiten Stock des Silberhauses, wo er mit einem kaum hörbaren »Pling« gegen die Scheibe schlug, und zehn Minuten später öffnete sich die Hintertür. Eine kleine Gestalt mit Nachthemd, bloßen Füßen und einer Taschenlampe trat hinaus, etwas außer Atem vom Treppenlaufen. Ihr braunes Haar fiel jetzt offen um ihr helles Gesicht, niemand zwang es mehr nach hinten zu einem Zopf.

»Da seid ihr also«, sagte Ximena, schloss behutsam die Tür und setzte sich auf die Treppe, neben sich eine kleine, verbeulte Aluminiumkiste mit einem roten Kreuz darauf. Der Erste-Hilfe-Kasten.

»Dann lass mal sehen«, sagte sie ruhig und leise und nahm die verletzte Vorderpfote des Hundes in die Hand, um sie eingehend im Licht ihrer Taschenlampe zu betrachten. Dann nahm sie eine Flasche Desinfektionsspray und eine weiße Binde aus der Kiste und der Hund zuckte leicht.

»Keine Angst«, wisperte Pablo und streichelte ihn. »Sie kann das, glaub mir. Mich hat sie auch schon verarztet.«

»O ja«, sagte Ximena und begann, mit einem Stück weißen Stoff die Wunde des Hundes zu säubern. »Als Pablo sich mal wieder geprügelt hatte mit den anderen Jungs auf der Straße, aber das sollte er lassen, hörst du, Hund? Ich werde zwar später Ärztin, aber er muss sich wirklich nicht extra grün und blau schlagen lassen, nur damit ich ihn verbinde!«

»Ich habe mich nicht extra …«, knurrte Pablo, doch in diesem Moment ging drinnen im Silberhaus das Licht an und sie zuckten alle drei zusammen.

»Das ist mein Großvater«, wisperte Ximena, kaum hörbar. »Er schläft doch nicht! Er ist in der Bibliothek. Das ist gleich das Fenster da drüben. Schaut, da brennt eine Leselampe!« Sie zuckte mit den Schultern. »Immer wenn er nicht schlafen kann, geht er nachts in die alte Bibliothek und liest, bis er einschläft, und dann findet Marina ihn, mit dem Kopf auf seinem Buch, und macht ›tz, tz, tz‹.«

Pablo lachte. »Du hörst dich genauso an wie sie, wirklich.«

Ximena nickte und wickelte den Verband um die Pfote des Hundes. »Ich muss es mir ja auch jeden Tag anhören. Schnalz hier, Schnalz da … ›Also dieses Kiiind, Senhor, was tue ich nur mit diesem Kiiind, ständig träumt es nur … Iss dein Essen auf, Ximena. Lies abends nicht mehr so lange, Ximena, diese wilden Abenteuergeschichten sind sowieso nichts für junge Damen, geh nicht alleine hinaus, Ximena! Wasch dir die Hände, was hast du da draußen schon wieder angefasst?‹« Sie steckte den Verband mit einer kleinen Metallklammer fest und nickte zufrieden. »So, fertig. Du bist so gut wie neu.«

Der Hund legte seinen großen Kopf auf Ximenas Knie und Ximena kraulte ihn und sah Pablo an.

»Also? Was ist mit deinem Freund? Er ist … verschwunden?«

»Ungefähr«, sagte Pablo.

Und dann holte er den Zettel aus der bunten Umhängetasche und gab ihn Ximena. Sie überflog ihn, für sie war Lesen kein Problem, sie hatte Privatunterricht im silbernen Haus und eines Tages würde sie eine Dame werden. »Ph«, sagte Ximena, als Pablo das laut aussprach. »Dame! Ich würde lieber eine Abenteurerin werden. Wetten, meine Mutter war das auch?«

»Sie kam aus Europa«, sagte Pablo. »Oder? Also war sie eine Dame. In Europa sind alle reich.«

»Pfft«, machte Ximena wieder. »Das glaubst auch nur du. Der alte Herr meint, sie hatten nichts, meine Eltern, nicht einen Centavo, und dass meine Eltern verrückt waren, beide, und dass ich froh sein soll, dass er mich aufgenommen hat. Er hatte immer das Geld, nur er. Mein Vater hätte es erben können, aber er ist nach Europa gegangen und hat meine Mutter da getroffen und wetten, sie waren auch Abenteurer?«

»Sie sind nach Brasilien zurückgekommen und … haben was genau gemacht?«

Ximena zuckte mit den Schultern. »Darüber redet der alte Herr nicht. Wenn ich ihn frage, tut er, als hätte er nichts gehört, und fummelt an seinem Hörgerät herum. Dabei hört er prima, das weiß ich. Ich wette, sie haben ein wahnsinnig tolles Abenteuer erlebt und dann …«

Sie verstummte. »Ich weiß nicht. Dann sind sie irgendwie gestorben. Oder verschwunden.«

»Verschwunden«, sagte Pablo. »Wie … Miguel.«

»Nein, anders«, sagte Ximena. »Ohne Nachricht und Hund. Vielleicht haben sie mich auch einfach hiergelassen, bei dem alten Herrn im Silberhaus, weil sie mich nicht wollten. Weil sie ohne mich bessere Abenteurer sein konnten.« Sie sah so traurig aus, dass Pablo einen Arm um sie legte, aber dann blickte sie auf und ihre blauen Augen blitzten. »Aber ich werde auch ohne sie eine Abenteurerin, das sollst du mal sehen«, flüsterte sie. »Und jetzt gehen wir los und bringen in Erfahrung, wo Miguel steckt. Irgendwer in der Stadt muss doch was wissen.«

»Die Stadt ist groß«, sagte Pablo. »Und es ist ein verschwundener junger Mann. Nur einer.«

»O nein«, sagte Ximena geheimnisvoll. »Ich habe den alten Herrn reden hören. Es ist eine ganze Gruppe. Er war Student, oder?«

»War? Er ist immer noch Student«, sagte Pablo.

In diesem Moment öffnete sich fünf Meter entfernt ein Fenster unten im Silberhaus. »Ist da jemand?«, fragte eine heisere Stimme aus dem Fenster. »Hallo?«

Der Kegel einer starken Taschenlampe wanderte über den Kieselsteinplatz und die Treppe vor der Hintertür.

Aber Ximena und Pablo saßen längst nicht mehr dort. Sie hatten sich hinter die Stufen geduckt und winzig klein gemacht. Nur der Hund saß verwirrt noch immer vor der Tür.

»Ach, bloß ein Hund«, murmelte der alte Herr. »He! Du! Geh weg!« Und dann flog etwas durch die Luft, und der Hund sprang auf und kroch winselnd durch die Hecke.

»Teufel auch, ich hätte schwören können, dass die Hecke dicht genug ist, um nichts und niemanden durchzulassen«, sagte der alte Herr und schloss das Fenster. »Wir bleiben hier alle schön in unserem Bereich, Hund, hörst du? Nicht dass das Kind eines Tages auf Ideen kommt. Zu gefährlich da draußen. Viel, viel zu gefährlich.«

Ximena und Pablo atmeten beide langsam aus, sahen sich an und lachten. Allerdings ganz leise.

»Nichts und niemanden durchzulassen, der hat eine Ahnung«, flüsterte Ximena.

»Was hat er denn nun gesagt, über Miguel?«, wisperte Pablo.

»Über Miguel gar nichts, er kennt ihn ja nicht«, sagte Ximena. »Aber neulich saß er vor seiner englischen Zeitung vorne am Gartentisch und hat den Kopf geschüttelt und zum Gärtner gesagt, der vorbeikam: ›Schau dir diese Studenten an, Juan, fahren die da doch wirklich raus und glauben, sie könnten etwas ändern.‹

Juan hat mit ihm in die Zeitung geguckt und ›Ja, Senhor‹ gesagt, das sagt er immer.

›Ich werde dir was sagen, Juan‹, hat der alte Herr gesagt, ›die werden allesamt verschwinden, diese verrückten Studenten, die sieht keiner je wieder.‹

Und ich habe ihn gefragt, worüber er redet. Ich saß am Tisch und habe Hausaufgaben gemacht. Aber er hat nur geknurrt und gesagt, dafür wäre ich noch zu klein, und hat die Zeitung mitgenommen und ist ins Haus gegangen, obwohl er seinen Kaffee nicht ausgetrunken hatte, und seine Schultern waren ganz krumm, krummer als sonst, und irgendwie glaube ich, er dachte an seinen Sohn. Meinen Vater. Der auch nie wiedergekommen ist – von wo auch immer.«

»Das heißt, eine ganze Gruppe von Studenten ist verschwunden?«, wisperte Pablo. »Hast du dir die Zeitung angeguckt?«

»Die ist auch verschwunden«, sagte Ximena. »Wie die Studenten. Ich habe sie in seinem Arbeitszimmer gesucht, als er nicht da war, aber er hat sie zu gut versteckt. Er will nicht, dass ich diesen Artikel lese.«

»Weil es gefährlich ist«, wisperte Pablo. »Es ist sogar gefährlich, den Artikel nur zu lesen.«

Und er spürte, wie es in ihm kribbelte vor Aufregung.

»Gefährlich«, wiederholte Ximena. »Wie alles draußen vor der Hecke.« Dann stand sie auf. »Dein Hund wartet da draußen.«

»Ja, ich … sollte gehen«, sagte Pablo.

Ximena nickte, er sah es nur gerade so im Dunkeln. »Ich wette, es gibt eine ganze Menge Leute in der Stadt, die die eine oder andere Sache wissen. Und die um diese Zeit nicht schlafen. Es ist gerade halb elf.«

Pablo nickte langsam. »Ich habe ein paar Freunde, die am Theaterplatz … arbeiten«, sagte er. »Man hört eine Menge, wenn man da arbeitet. Es ist die Mitte der Stadt. Die Mitte aller Mitten.«

»Dann sollten wir gehen«, sagte Ximena.

»Moment – wir?«, fragte Pablo.

»Natürlich«, flüsterte Ximena, huschte barfuß über den Kieselsteinplatz, um sich auf alle viere niederzulassen. Da saß sie, in ihrem weißen Nachthemd, vor dem Durchschlupf in der Hecke, und ihre Augen blitzten wieder. »Komm! Wir sind dabei, in ein Abenteuer zu geraten, ist dir das nicht klar? In ein richtiges Abenteuer! Das ist die Chance!«

»Aber du kannst nicht …«, begann Pablo. Da war Ximena schon durch die Hecke gekrochen und er seufzte und kroch ihr nach. »Das gibt Ärger«, wisperte er. »Das gibt verdammt Ärger mit dem alten Herrn vom Silberhaus.«

»Ach was«, sagte Ximena. »Bis morgen früh bin ich wieder da.«

Aber Pablo dachte, dass man das nie wusste.

Es war merkwürdig, mit Ximena durch die nächtlichen Straßen von Manaus zu wandern. Er hatte darauf bestanden, sie an der Hand zu nehmen, obwohl sie ihn ausgelacht hatte. Sie wusste nicht, welche tatsächlichen Gefahren in den Schatten lauerten. Sie wusste nicht, wie recht ihr Großvater hatte.

Sie war nie nachts hier draußen gewesen. Oder überhaupt alleine draußen.

Der Hund lief neben ihnen her.

Und dann spuckten die Schatten ganz plötzlich eine Gestalt aus, die vor ihnen auf die Straße taumelte: einen Betrunkenen. »Hey … hey!«, lallte er. »Was … sucht denn so eine junge Dame um die… diese Zeit auf der Straße?« Er kam direkt vor ihnen zum Stehen und dann schnellte sein Arm plötzlich vor und packte den weißen Kragen von Ximenas Nachthemd. »Was … sucht sie, hmmm?«

»Lass sie los!«, fauchte Pablo. »Hau ab!« Aber der Betrunkene, der ein ganzes Stück größer war als Pablo, lachte nur, wobei man seine fauligen Zähne sah. »Na? Ein kleiner Kavalier, hm? Hey, du bist doch der Junge, der auf dem Turm dieser Bruchbude schläft, was? Ein Turm auf einem Müllplatz voller Schlingpflanzen? Was machst du denn mit … so einer feinen kleinen Dame?«

Pablo sah es vor sich: Wie er seinen silbernen Degen aus der Scheide holte. Wie er ihn durch die Luft sausen ließ und dem Betrunkenen ein Stück seines ungepflegten Bartes absäbelte. Wie er pfiff und ein feuriger Rappe angeschossen kam, auf den er Ximena hinaufhob, sein Rappe, wie er den Hut lüftete, einen breitkrempigen Stohhut mit einer Blume daran – und mit Ximena in die Nacht davongaloppierte. Ein echter Abenteurer.

Der Betrunkene ließ Ximena los und taumelte rückwärts. »Ist ja gut, schon gut«, stotterte er beschwichtigend. »Brauchst mich nicht gleich umzubringen …«

Erstaunt schüttelte Pablo sich. Dann sah er, dass der Betrunkene nicht mit ihm gesprochen hatte, sondern mit dem Hund. Der hatte sich ganz nah zu Ximena gestellt und die Zähne gebleckt. Er reichte ihr bis zur Brust und er sah wirklich Furcht einflößend aus mit seinem Wolfsgebiss.

Ximena legte ihm eine blasse Hand auf den graufelligen Kopf.

»Wenn Sie wirklich wissen wollen, was ich suche«, sagte sie sanft. »Es ist ein Student, der verschwunden ist. Ein Freund meines Freundes. Miguel.«

»Verschwunden?«, echote der Betrunkene. »Oh, meine Kleine, wenn jemand verschwindet, davon sollte man die Finger lassen, glaub mir, niemand hat je einen Verschwundenen zurückgebracht. Wer verschwindet, verschwindet einfach, so ist das, leg dich bloß mit keinem an, das ist ein Fall für …«

»… die Polizei?«, flüsterte Ximena ehrfürchtig.

»Die … die … die Akten«, lallte der Betrunkene. »Aufschreiben, abheften, in den Schrank stellen – vergessen. Da kann man sowieso nichts machen.«

»Für einen Privatdetektiv kommt das nicht infrage«, sagte Ximena entschlossen. »Wir schwören, unseren Ort zu be…«

»Oh, wenn du ein Privatdetektiv wärst, würdest du genauso die Finger davon lassen«, antwortete der Betrunkene. »Dann wüsstest du, dass du am Ende auch nur verschwinden würdest. Da ist ein … ein schwarzes Loch da draußen, das … das saugt die Leute auf, die … die zu viel ändern wollen, glaub mir, junge Dame, Studenten sind immer gefährdet, sie denken zu viel, ja, denken viel zu viel …«

»Oh, ich denke nicht, dass wir auch verschwinden werden«, sagte Ximena ganz ruhig, ohne die Hand vom Kopf des Hundes zu nehmen. »Wenn sie uns jetzt bitte durchlassen würden? Wir haben zu tun.«

Damit schritt sie, hocherhobenen Hauptes, an dem Betrunkenen vorbei, den Hund an ihrer Seite, und Pablo beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten.

»Privatdetektiv?«, fragte er, als der Betrunkene außer Hörweite war.

»Ja, das sind wir jetzt doch, oder nicht?«, fragte Ximena und wandte sich ihm zu und das Lodern in ihren Augen passte gar nicht zu ihrem lieblichen Äußeren.

»Ich … äh … dachte, wir sind zwei Kinder, die einen Studenten suchen«, sagte Pablo nüchtern. »Und ganz ehrlich, ich suche ihn, weil er mir jede Woche ein Sandwich kauft.«

»Du suchst ihn, weil er dein Freund ist«, sagte Ximena. »Und wir sind die … die Furchtlosen Drei vom Rio Negro. Die … ersten und einzigen Amazonas-Detektive. Und wir versprechen einander, nie, niemals zu verschwinden.«

»Okay«, sagte Pablo zweifelnd.

Ximena reichte ihm feierlich ihre blasse Hand und die Berührung ihrer kühlen Finger jagte einen kleinen Schauer über seinen Rücken.