Morgenstern - Antonia Michaelis - E-Book

Morgenstern E-Book

Antonia Michaelis

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Beschreibung

"Anstelle von Füßen hatte dieses Wesen eine Unmenge von Nasen, auf denen es sich fortbewegte. Das Tier machte eine merkwürdige Bewegung, die tatsächlich den Eindruck erweckte, es würde all seine Nasen in großer Besorgnis ringen wie Menschen die Hände. Und dann sprach es. Es klang ziemlich hektisch und auch etwas kurzatmig." An einem grauen Tag am Hemmelighet Fjord kriecht Theo und Sophie ein überaus seltsames Wesen über den Weg. Es bewegt sich auf zahlreichen Nasen fort und stellt sich als das Nasobem vor. Und es warnt die beiden. Wovor, verrät es leider nicht. Doch kaum ist das Nasobem davongenäselt, ziehen acht rote Raben über den Geschwistern ihren unheilvollen Kreise. Sie kommen näher und näher. Und schon sind Theo und Sophie mittendrin in einem magischen Abenteuer – und in großer Gefahr.

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Für meine Mutter,die mir statt Grimms MärchenMorgensterns Gedichte beibrachte, als ich klein war.

Inhalt

Nachtbild

Die Möwen

Das Nasobēm

Palmström

Der Zwölf-Elf

Galgenberg

Die Korfsche Uhr

Das Löwenreh

Das aesthetische Wiesel

Der Rabe Ralf

Mondendinge

Sagen und Nichtsagen

Nachtbild

Sophie konnte sich nicht vom Anblick des Gartens trennen. Er war voller Geheimnisse.

Es war alles, dachte Sophie später, weil sie dieses Haus erbten.

Sie erbten es an einem Tag am Ende der Sommerferien. Die Sonne stand schon nicht mehr so hoch am Himmel wie zu Beginn der Ferien, und in zwei Wochen würde die Schule wieder losgehen.

Könnt ihr euch das vorstellen? Da wohnt man an einem Tag im achten Stock in der Rosenborg-Gata mitten in Oslo wie tausende von anderen Menschen, und am nächsten Tag besitzt man plötzlich ein ganzes Haus am Hemmelighet Fjord.

Sophie und Theo saßen auf dem breiten Fensterbrett in der Küche und zählten unten auf dem Parkplatz vor dem Haus die grünen Autos, welche selten sind in Oslo. Sie fragten sich gerade, was sie mit dem Tag anfangen sollten – einem dieser endlosen, zeitlosen Ferientage –, als die Wohnungstür aufflog.

Sie flog so heftig auf wie sonst nie, und Mama kam hereingefegt. Theo und Sophie hörten, wie sie im winzigsten aller Flure ihre Schuhe abstreifte und ihre Jacke irgendwo in die Ecke feuerte. Gleich darauf stürmte sie weiter in die Küche.

Die beiden warfen sich einen bedeutsamen Blick zu. Was war los?

Mama sollte in der Arbeit sein, nicht hier. Sophie hatte erwartet, sie würde sofort anfangen, wie ein Wasserfall zu reden, so aufgeregt sah sie aus. Aber sie stand einfach da, mitten in der Küche, schnaufte vom Treppen-Rennen, weil der Fahrstuhl mal wieder kaputt war, und sagte gar nichts. Nur in der Hand – in der Hand hielt sie einen Brief.

Ab und zu fuhr sie sich mit der anderen Hand durch die kurzen Haare, die sie abgeschnitten hatte, als Papa damals weggegangen war und die winzige Wohnung im achten Stock plötzlich ein Zimmer zu viel gehabt hatte. Trotzdem war sie immer noch zu klein: die Küche zum Beispiel – Mama sagte immer, die Küche wäre höchstens so groß wie ein Badehandtuch. Und in dieser Badehandtuch-großen Küche stand sie nun und fuhr sich durch die Haare und wedelte mit dem Brief. Theo und Sophie sahen ihr eine Weile dabei zu. Schließlich fragte Sophie: „Was ist los?“

Da machte Mama ihre Stimme ganz tief und offiziell wie die eines alten Mannes mit Schlips und Kragen und las vor:

Sehr geehrte Frau Kunkel,

heute sehe ich mich zur Abwechslung in der Lage, Ihnen eine gute Nachricht zu überbringen. Wie mir soeben vom zuständigen Anwalt mitgeteilt wurde, geht nach Ableben eines gewissen Herrn F. Kunkel sein Haus am Hemmelighet Fjord samt Mobiliar in Ihren Besitz über. An Sie auszuzahlen ist außerdem ein beträchtlicher Betrag an Bargeld, dessen Übereignung sich allerdings an die Bedingung knüpft, dass das Haus so schnell wie möglich von Ihnen bezogen wird. Weitere Formalitäten würde ich gern in meiner Kanzlei in der Kirkegata mit Ihnen persönlich besprechen.

Mit freundlichen GrüßenT. Hano

Sie verstummte und sah Theo an. Dann sah sie Sophie an. Und dann lächelte sie.

Herr T. Hano war Anwalt, und normalerweise hatte er keine guten Nachrichten zu überbringen. Im Gegenteil: Er überbrachte eine Menge schlechter Nachrichten, die meistens etwas mit Papa zu tun hatten, der nicht mehr da war, oder mit dem Geld, von dem Mama nie genug verdiente.

„Wer ist F. Kunkel?“, fragte Sophie.

Mama zuckte mit den Schultern, hob den Brief über ihren Kopf und fing an, sich im Kreis zu drehen wie in einem seltsamen Tanz. Vielleicht, dachte Sophie besorgt, war Mama ganz plötzlich übergeschnappt?

„Mama!“, sagte Theo, der wohl Ähnliches dachte. „Mama, hör doch mal auf damit! Was soll das alles heißen? Und wer ist dieser F.?“

Sie blieb stehen und legte die Arme um ihn.

„Ich weiß es nicht, Theo“, antwortete sie ernst. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe noch nie von einem F. Kunkel gehört. Offenbar war er irgendwie mit uns verwandt, und jetzt ist er tot. Sieht ganz so aus, als würden wir umziehen. An den Hemmelighet Fjord. Hemmelighet Fjord … Hemmelighet Fjord …“ Sie schloss die Augen, als sie es sagte. „Wie hört sich das an?“

„Hmm“, meinte Theo unbehaglich. „Weit weg, würde ich sagen.“

Der Hemmelighet Fjord war weit weg. Sie guckten ihn sich noch an diesem Nachmittag auf der Karte an. Er war lang und flach und leer, lag an der Westküste und ähnelte dem großen roten Fleck, der Oslo war, nicht im Geringsten.

„Vielleicht“, sagte Sophie beim Abendbrot, „wohnen überhaupt keine Leute da.“

„Ach, Unsinn“, antwortete Mama fröhlich. „Natürlich wohnen Leute da. Die kleinen Punkte auf der Karte sind Orte. Eben kleine Orte.“

„Mit kleinen Leuten“, sagte Theo.

Sophie kicherte und sprühte dabei eine Käsebrot-Krümel-Fontäne über den Tisch.

„Wo gehen wir denn dann in die Schule?“, wollte Theo wissen. Darüber hatte sich Sophie noch gar keine Gedanken gemacht, aber die Ferien hörten schließlich irgendwann auf.

„Ach“, meinte Mama leichthin, „einer von den kleinen Orten wird schon eine Schule haben.“

Mama war wirklich keine Hilfe. Sie fand den Brief und das Haus und den Umzug und alles ganz wunderbar. Man selbst konnte sehen, wie man damit klarkam.

Als sie an diesem Abend in ihren Betten lagen, sagte Theo: „Ich habe überhaupt keine Lust darauf umzuziehen. Wenn die Ferien vorbei sind, will ich mich verflixt nochmal mit Jan und Sören an der Ecke treffen und mit ihnen zur Schule gehen wie immer. Ich will Papierkügelchen auf die Tauben im Park schießen und auf dem Parkplatz vor dem Einkaufscenter inlineskaten gehen und mich mit den anderen aus meiner Klasse beim Kino verabreden, wo die größeren Jungs immer stehen und rauchen … Aber bestimmt will ich in keine einsame Gegend ohne Kino und ohne Parkplätze ziehen, wo es nichts gibt als ein paar Kühe!“

Er schlug mit der flachen Hand auf die Bettkante, dass es nur so knallte.

„Na ja …“, flüsterte Sophie in die Dunkelheit, „aber denkst du denn gar nicht darüber nach, wie es dort sein wird?“

„Darüber muss ich nicht nachdenken“, erwiderte Theo. „Scheußlich wird es sein, was sonst.“

„Ich weiß nicht …“, wisperte Sophie.

„Du bist ja auch erst elf“, sagte Theo. „Wenn man erst elf ist, weiß man so etwas eben noch nicht. Mit dreizehn ist das anders.“

Sophie schwieg eine Weile, weil sie sich über Theo ärgerte.

„Vielleicht ist es ja auch schön“, sagte sie schließlich. „Vielleicht gibt es eine Menge Kinder da und Pferde und Katzen und Hunde, und man kann im Meer schwimmen und …“ Sie verstummte.

„Das glaubst du doch selbst nicht“, murmelte Theo. Dann verkroch er sich unter seiner Bettdecke, und Sophie wusste, dass er in die Ecke seines Kissens biss, um nicht zu weinen. Denn wenn man schon dreizehn Jahre alt ist, weint man wohl nicht mehr.

Mama, dachte sie, Mama wollte nicht einmal ihre Betten mitnehmen. Sie hatte beschlossen, alles dazulassen, was nicht unbedingt gebraucht wurde. Aber in Wirklichkeit – das wusste Sophie auch mit elf – in Wirklichkeit wollte sie gar nicht die Möbel loswerden oder die Wohnung. Sie wollte endlich Papa loswerden, der bis vor einem Jahr hier mit ihnen gewohnt hatte und dessen Anwesenheit noch immer in den Wänden und dem Sofabezug hing.

Sie fuhren drei Tage später.

Mama war noch ein paarmal in der Kirkegata bei T. Hano gewesen, um eine Menge Dinge zu unterschreiben und eine noch größere Menge Fragen zu stellen. F. Kunkel, hatte Herr Hano gesagt, war Mamas Großcousin dritten Grades und hatte außer ihnen kaum Verwandte. Doch weshalb er unbedingt wollte, dass sie sein Haus bewohnten, anstatt es zu verkaufen, das hatte Mama nicht herausgefunden.

Theo und Sophie halfen, vier braune Pappkartons und eine Reisetasche in den alten weißen Lieferwagen einzuladen. Mehr nicht. In drei Pappkartons waren Dinge, die ihnen beiden gehörten: Bücher, Kleider, Brettspiele. Weder Sophie noch Theo wussten, was sich im vierten Karton befand. Nichts, was klapperte. Sophie fragte sich, ob Mama auch das Geschirr dagelassen hatte. Zuzutrauen war es ihr.

Der zerkratzte weiße Lieferwagen wandte seine Schnauze in den Wind und hoppelte mit ihnen davon. Fort von Oslo, fort von den hohen Häusern, fort von der alten Schule und von ihren Freunden.

Sophie blickte zu Theo hinüber, der so beharrlich schwieg, dass man es fast schon hören konnte.

Seine Nase klebte an der Fensterscheibe, und er sah den bunten Reklameschildern nach und den Menschen, die keine Häuser am Hemmelighet Fjord geerbt hatten und durch die Stadt krabbelten wie geschäftige Insekten. Hinter ihnen verhallte der Lärm der Stadt.

„Ist das nicht aufregend?“, fragte Mama und legte eine alte Kassette ein. „Wir fahren in ein komplett neues Leben. Alles wird anders. Ist das nicht unheimlich abenteuerlich?“

Theo sagte nichts dazu, aber Sophie nickte zögerlich. Denn immerhin konnte man versuchen, den Hemmelighet Fjord aufregend zu finden, wenn man doch wusste, dass man dorthin ziehen musste. Sie ballte ihre Fäuste in den Taschen und bemühte sich, ein sehr entschlossenes Gesicht zu machen.

Hemmelighet Fjord, sagte es in ihrem Kopf vor sich hin, als sie durch die Landschaft fuhren. Hemmelighet, Hemmelighet, Hemmelighet.

Allein schon der Klang des Wortes jagte ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Es klang wie der Name eines Fjordes, an dem alles geschehen konnte, alles – die verrücktesten Dinge.

Eine Stadt, die Oslo hieß, in der konnte nicht viel Seltsames passieren, aber ein Fjord, dessen Name Hemmelighet lautete …

Als Sophie zum letzten Mal auf die hohen, rauchenden Häuser zurückblickte, die nun immer mehr schrumpften, kam es ihr vor, als hätte sie die ganze Zeit über dort nur gewartet. Elf Jahre lang. Auf einen Brief, der ihnen befahl, in ein großes Haus in einer kahlen Gegend zu ziehen.

Quatsch, sagte sie zu sich. Wer wartet schon auf so einen Brief? Sie lehnte sich im Autositz zurück und lauschte Mamas alter Musik. Mama klopfte den Takt auf dem Lenkrad mit. Sie sah aus, fand Sophie, als ginge es ihr zum ersten Mal seit einem Jahr wieder richtig gut.

„Was wirst du dort arbeiten?“, fragte Sophie.

„Ach, ich weiß nicht“, antwortete Mama sorglos, „irgendwas wird sich schon finden.“

In Oslo hatte Mama bei einem Mann gearbeitet, der in einer kleinen Werkstatt am Stadtrand Fensterrahmen verkaufte. Mama konnte alle Sorten von Fensterrahmen machen: rechteckige und quadratische, große und kleine, Rahmen mit und ohne Kreuz … sogar runde, bestimmt. Sophie überlegte, ob Mama nun die ganze Küste mit Fensterrahmen versorgen würde. Brauchten Boote Fensterrahmen für ihre Bullaugen?

„Gar nichts wird sich finden“, murmelte Theo. „In einer Gegend, wo es nichts gibt. Was soll man da arbeiten? Die Bäume kannst du zählen und die Raben, sonst nichts.“

Sophie wusste, dass er traurig war, und deshalb legte sie ihm ihre Hand auf den Arm, aber Theo schüttelte die Hand ab und sah weg.

Oh, ja, die Raben zählen! Wenn er da schon gewusst hätte, wie Recht er hatte … Aber so weit sind wir noch nicht.

Als sie das kleine Dorf erreichten, das Mama sich auf der Karte eingekringelt hatte, ging der Tag schon zu Ende. Das späte goldene Licht lag träge auf den Blättern der Birken am Rand der kleinen Straße.

In der Ferne zog eine Schar Raben in einer weiten Schleife über den Himmel. An den Dächern der wenigen, geduckten Häuser im Dorf perlten die letzten Sonnenstrahlen ab wie Regen. Doch nirgends tönten fröhliche Kinderstimmen durch die Gassen des Dorfes, so wie Sophie gehofft hatte. Überhaupt war niemand auf den Straßen zu sehen. Wäre nicht aus manchen Fenstern ein Lichtschein gedrungen, hätte man glauben können, das Dorf sei verlassen. Das Haus jedoch, ihr Haus, stand nicht im Dorf. Es stand außerhalb auf einer Anhöhe, und gleich dahinter begann der Wald. Ein großer, rauschender Wald aus Tannen und Fichten und dunklem Unterholz, in dem das Abendlicht einfach verschwand. Er warf keinen einzigen Schimmer davon zurück.

Kurze Zeit später wühlten sich die Reifen knirschend in den Kies der Auffahrt. Mama sprang als Erste aus dem Wagen und atmete einmal tief durch.

„Wir sind da“, sagte sie. Und das waren sie wohl.

Als Sophie an diesem allerersten Abend auf der Auffahrt neben Mama stand und sich umsah, wurde ihr mit einem Mal schwer ums Herz. Theo hatte Recht gehabt. Hier gab es wirklich weit und breit nichts Freundliches, Fröhliches, Buntes. Der Wald erhob sich jetzt ganz nah als düstere, drohende Wand vor dem Himmel. Der Wind sang in den Ästen der Bäume in dem großen Garten. Traurig sang er und verlassen. Ein Lied ohne Worte, dessen Inhalt man nicht verstehen konnte. Aber es erzählte von Weite und Stille und Einsamkeit. Die Zweige reckten sich einem entgegen, als suchten sie Trost an diesem kalten, seltsamen Abend. Oh, und wie kalt es war! Vom Meer wehte ein kühler Luftzug und griff mit langen, klammen Fingern nach ihnen.

Sophie merkte, dass sie zitterte, und zog ihre Jacke enger um sich. Das einzig Lebendige, was es hier gab, waren die Kühe auf den Feldern ringsum, doch selbst die machten einen verlorenen Eindruck.

Theo verzog das Gesicht. „Das also“, flüsterte er, „ist das Haus.“

„Ja“, flüsterte Sophie.

Sie legten die Köpfe in den Nacken und sahen empor. Sophie hatte sich ein kleines, gemütliches Haus vorgestellt, voller behaglicher Nischen und Winkel. Ein Haus, in dem jemand, der von ihrem Kommen wusste, bereits ein helles Licht angemacht hatte. Ein Haus mit Blumenkästen auf den Fensterbrettern, mit einem rauchenden Schornstein und niedrigem Dach …

Dieses Haus war groß. Es ragte vor ihnen auf wie die Kulisse in einem Film. So einem, in dem es um alte Lords und Vampire geht und in dem überall Fackeln flackern und Nebel herumwallt.

Der Himmel war jetzt rosa. Er spiegelte sich in den Fenstern des Hauses, und man konnte sehen, dass im obersten Stockwerk zwei davon gesplittert waren. Efeu hatte sich im Lauf der Zeit über die gesamte Vorderfront nach oben gearbeitet. An einigen Stellen waren Teile von ihm an Altersschwäche gestorben und baumelten schlaff und grau herunter. Von den Fensterbrettern hing die Farbe in Streifen herab und schaukelte im kalten Wind.

Neben dem Haus aber und hinter dem Haus und überhaupt um das ganze Haus herum wuchs der Garten.

Es war ein riesiger Garten, aus düsteren, verschlungenen Wegen und Hecken und hohen Bäumen. Ein Garten, in dem selbst das große Haus beinahe klein wirkte, und Sophie kam sich vor, als würde sie ganz und gar verschwinden, wenn sie ihn nur zu lange ansah. Das ganze Grundstück war einst von einem hohen, abweisenden Zaun gesäumt worden, doch nun lagen die meisten seiner Latten zusammengebrochen im Gras.

Ein Käuzchen schrie. Sophie zuckte zusammen, aber dann merkte sie, dass es gar kein Käuzchen gewesen war, sondern die linke hintere Autotür, die schon seit Jahren quietschte. Mama fing tatsächlich an, die Kisten aus dem Wagen zu zerren.

„Du willst nicht wirklich … hier … ich meine … einziehen?“, fragte Theo entsetzt.

„Nun, es sieht etwas … reparaturbedürftig aus“, gab Mama zu. „Aber das kriegen wir schon hin.“

„Sie ist verrückt“, murmelte Theo, „sie ist absolut verrückt.“

Doch er half trotzdem, die Pappkartons auszuladen. Sie schleppten ihre paar Kisten vor die Haustür, eine schwere, dunkle Eichentür, und Mama kramte eben in ihren Taschen nach dem Schlüssel, als sich im Haus plötzlich etwas regte.

Sie erstarrten alle drei gleichzeitig in der Bewegung. Da näherten sich ganz eindeutig Schritte von innen. Sophie tastete unwillkürlich nach Theos Hand. Das hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan. Doch sie spürte, dass auch er froh über ihre Hand war, denn er drückte sie ganz fest. Sie wusste nicht, was Theo dachte, aber sie selbst dachte, dass jetzt etwas Großes, Schreckliches die Tür aufreißen würde. (Später gab Theo natürlich nicht zu, dass er etwas Ähnliches gedacht hatte.)

Was jedoch gleich darauf geöffnet wurde, war nicht die Tür, sondern ein kleines Fenster neben der Tür. Und da sahen sie auch, dass hinter diesem Fenster Licht brannte. Kein helles Licht – die Farben des Sonnenuntergangs, die sich in den Scheiben spiegelten, hatten es sozusagen übertönt –, aber immerhin Licht. Freundliches, warmes Lampenlicht. Es hatte also doch jemand auf sie gewartet. Und dieser Jemand streckte jetzt seinen Kopf aus dem Fenster.

Es war eine alte Frau mit weißem Haar und in einer dicken Strickjacke, doch im Gegensatz zu den Hexen im Märchen trug sie türkisfarbene Lockenwickler auf dem Kopf und drehte an einem Hörgerät in ihrem Ohr herum. Und sie hatte eine große, sehr verblichene Schürze an, die bestimmt genauso alt war wie sie selbst.

Vorne beulte sich die Schürzentasche etwas aus, als steckte ein platter, rechteckiger Gegenstand darin, ein Buch vielleicht.

„Frau Kunkel?“, fragte sie.

Mama nickte. Die alte Frau streckte durch das Fenster ihre Hand aus, um die von Mama zu schütteln.

„Nolte“, sagte sie, und das bedeutete wohl, dass sie so hieß. Aber genau wusste man es nicht, denn die alte Frau gab keine weitere Erklärung ab. Sie verschloss das Fenster sorgfältig wieder und öffnete gleich darauf die schwere Eichentür für uns. Danach sagte sie noch: „Ich wohne hier“, wobei sie auf eine Tür zeigte, die von dem finsteren Eingangsflur aus nach links führte. „Zwei Zimmer. Der Rest gehört jetzt Ihnen. Wir haben bloß dieselbe Haustür und den gemeinsamen Flur am Eingang.“

Und dann sagte sie für diesen Tag nichts mehr. Sie half zwar, einen Umzugskarton in den Flur zu tragen, und zeigte ihnen den Lichtschalter und nickte noch ein paarmal – doch das alles tat sie stumm. Und schließlich hängte sie die sehr ausgeblichene bläuliche Schürze an einen Kleiderhaken im Flur und verschwand mit einem letzten Nicken hinter ihrer Tür.

Mama und Theo und Sophie standen ratlos herum und sahen müde die Pappkartons an.

„Kommt“, sagte Mama. „Dort oben sind bestimmt die Schlafzimmer. Morgen klärt sich alles andere.“

Dort oben befand sich oberhalb einer alten, ausgetretenen Holztreppe. Es gab genau zwei Schlafzimmer. Durch die Fensterritzen pfiff der Wind mit gespitztem Mund eine eisige Melodie. Aber das Glas war heil. Die Möbel ragten vom Fußboden auf wie der Wald hinter dem Haus, groß und dunkel. Mit ihren alten Gesichtern schienen sie einen zu beobachten.

Die altmodischen Betten waren noch bezogen – oder hatte Frau Nolte das getan? In einem Zimmer standen zwei davon, im anderen eines.

„Sieht aus, als wäre das mit den beiden Betten eures“, sagte Mama. „Ganz wie für uns drei gemacht.“

Sie versuchte, fröhlich zu klingen, aber man merkte den Versuch, und das machte die Fröhlichkeit in ihrer Stimme nur noch schlimmer. Theo blieb im klobigen Türrahmen des Schlafzimmers mit den beiden Betten stehen. Er sieht nicht aus, als wolle er hineingehen, dachte Sophie. So schob sie ihn sanft beiseite. Dann schlüpfte sie aus Schuhen und Socken und lief barfuß über den alten Dielenboden zu einem der Betten, die rechts und links des Fensters standen. Sie wusste nicht, warum, aber mit einem Mal war der unbändige Wunsch in ihr emporgeschwappt, genau das zu tun: barfuß über genau diese Dielen zu gehen und sich auf das rechte Bett fallen zu lassen. Sie schlug die Decke zurück, fuhr über das Laken und sog tief den Geruch nach frischer Wäsche ein. Nach frischer Wäsche und ein bisschen nach alt.

Sie setzte ihren Teddybären ans Kopfende des Bettes, tappte weiter zum Fenster und blickte hinaus.

„Sophie?“, fragte Theo hinter ihr. „Was ist los? Alles in Ordnung?“

Sie antwortete ihm nicht. Was hätte sie antworten sollen? Dass die Dielen sich gut anfühlten unter den Füßen? Dass es ihr vorkam, als hätte das Bett auf sie gewartet? Theo hätte es nicht verstanden, und so schwieg sie. Nur der Wind pfiff ohne Unterlass weiter.

Als sie sich umdrehte, stand Theo nicht mehr im Türrahmen. Sie hörte, wie er sich auf der Treppe mit dem Karton abkämpfte, in den Mama ihre Bettwäsche gesperrt hatte. Sie wollte ihm helfen, aber irgendetwas hielt sie am Fenster fest. „Alte Möbel, alte Mauern und alte, undichte Fenster sind schön und gut“, murmelte Theo, als er den Karton schließlich die Treppe hinaufgewuchtet hatte. „Aber danke sehr, damit ist es genug. Unter einer Decke, von der niemand weiß, vor wie vielen Jahrzehnten zum letzten Mal jemand darunter geschlafen hat, werde ich wirklich nicht liegen.“

Sophie sah ihm zu, wie er ihre mitgebrachten Laken und Bettbezüge mit den fröhlichen, bunten Farben auspackte.

„Steh du nur am Fenster herum, und unterhalte dich mit dem Wind“, knurrte er. „Und komm ja nicht auf die Idee, mir zu helfen.“

„Gleich“, sagte Sophie, ohne sich umzudrehen. „Ich helfe dir gleich …“

Doch sie konnte sich nicht vom Anblick des Gartens trennen. Da lag er unter ihr, der Garten, und er war voller Geheimnisse.

Die letzten Tropfen Licht beleuchteten noch die Umrisse seiner hohen Hecken und den Zottelteppich aus ungemähtem Gras. Dieser Garten war keinem ähnlich, den sie je gesehen hatte. Sie kannte die Gärten in den Vororten von Oslo: ordentliche, geradlinige Angelegenheiten, deren Blumen in aufeinander abgestimmten Farben blühten und deren Büsche ihre Blütenfülle über gemähte Rasenflächen ergossen. Alles an diesen Gärten war bunt und heiter – ganz darauf aus, zu gefallen.

Der Garten dieses Hauses legte keinerlei Wert auf Heiterkeit. Vielleicht war es ihm egal, ob er den Leuten gefiel. Wenn die Leute Glück hatten, gefielen sie ihm. Diese Leute, stellte Sophie sich vor, ließ er auf den bemoosten Steinbänken sitzen, die überall ohne sichtbare Ordnung aus dem Gras ragten, und er gestattete ihnen, den Vögeln im Schutz seiner undurchdringlichen Hecken zu lauschen. Sie durften den Fischen in seinem kleinen Teich zusehen, und vielleicht rauschte er mit seinen Bäumen eine besondere Melodie für die Besucher, die ihm willkommen waren. Aber selbst jenen Besuchern würde er nicht ohne weiteres erlauben, das Geheimnis zu ergründen, das sich in seinen tiefen Schatten verbarg. Schatten voll von steinernen Figuren und wabernden Seltsamkeiten.

Je länger sie hinabsah, umso mehr fühlte Sophie sich zu diesem Garten hingezogen. Am liebsten wäre sie trotz der Dunkelheit gleich jetzt die Treppen hinabgelaufen und hätte ihre Finger auf die raue Rinde der Bäume gelegt, um dem Garten Guten Tag zu sagen.

Aber etwas war da, das sie zurückhielt. Zuerst wusste sie nicht, was es war. Doch dann merkte sie, dass der Garten nicht so einsam in der Dämmerung lag, wie es zunächst schien. Die Zweige seiner Bäume waren voller Krähen. Großer schwarzer Krähen, die lautlos dort saßen. Obwohl es ihr unsinnig erschien, hatte sie das Gefühl, sie würden alle zu ihrem erleuchteten Fenster herüberstarren.

„Theo“, flüsterte sie. „Die Krähen.“

Theo trat hinter sie und sah mit ihr hinaus. Er schien nicht mehr böse zu sein wegen der Betten, die er nun ganz alleine bezogen hatte. „Was ist mit den Krähen, Sophie?“, fragte er.

„Ich weiß nicht“, flüsterte Sophie. „Sie sind … sie sind mir nicht geheuer. Es ist beinahe, als … als würden sie uns beobachten.“

Da gab Theo ihr einen freundschaftlichen Knuff in die Seite und lachte.

„Es sind einfach Krähen“, sagte er, „und sonst nichts. Ganz normale, dumme schwarze Krähen. Wahrscheinlich ist ihnen langweilig, und deshalb finden sie es interessant, dass jemand Neues hier angekommen ist.“

Er sah an Sophie vorbei aus dem Fenster, hinunter auf die verschlungenen Hecken und die knorrigen Bäume. „Scheußlich da unten“, bemerkte er. „Kein Wunder, dass du auf solche Ideen kommst. Hitchcock hätte es hier gefallen.“

„Mir gefällt es auch“, sagte Sophie leise. „Auf eine merkwürdige Weise …“

Im Zimmer verbreiteten die bunten Bettbezüge ein warmes Leuchten von Zuhause. Sophie lächelte. Zu Hause. Ob dieses seltsame Haus ein Zuhause werden konnte? Vielleicht, dachte sie.

Später, lange nachdem Mama ihnen Gute Nacht gesagt und sie das Licht gelöscht und sich unter den Decken verkrochen hatten, als draußen ein blasser Mond durch die Wolken schien und selbst der Wind sich müde geheult hatte, lag Sophie noch immer wach. Wenn sie sich bewegte, knarzte das alte Bett, und so lag sie ganz still. Neben sich hörte sie Theos gleichmäßiges Atmen. Sie streckte vorsichtig ihren Arm aus und strich über die Bretter, welche sich am Kopfende des Bettes zu einer Rundung erhoben. Und da fand sie sie.

Ganz ohne danach gesucht zu haben.

Jene merkwürdigen Zeichen.

Zunächst wusste sie nicht, was es war. Ihre Finger ertasteten nur die geschnitzten Muster, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Ganz leise knipste sie die kleine Lampe neben dem Bett an, so leise, dass nicht einmal eine Maus davon aufgewacht wäre – und Theo schon gar nicht. Die Lampe warf ein freundliches Licht, und in diesem Licht las Sophie die Worte, die jemand vor Urzeiten in das Holz geritzt hatte, und wunderte sich. Die Worte gaben nämlich nicht besonders viel Sinn.

„Fisches Nachtgesang“, stand da. Es sah aus wie die Überschrift von etwas, das fehlte. Es dauerte eine Weile, bis Sophie merkte, dass es nicht fehlte. Es war bloß nicht in der Schrift geschrieben, die sie kannte. Unter den Worten Fisches Nachtgesang tummelten sich einige Reihen ordentlicher kleiner Striche und Halbkreise; Buchstaben einer Geheimschrift vielleicht, halb fertige Zeichnungen … oder vielleicht nur Verzierung?

Ein geheimnisvoller Schauer durchlief Sophie, und sie knipste das Licht schnell wieder aus. Sie wollte noch darüber nachdenken, was alles zu bedeuten hatte, doch der Tag war lang gewesen. Er hatte ihre Lider schwer gemacht, sodass sie zufielen, ehe Sophie überhaupt anfangen konnte nachzudenken.

In ihren Träumen jedoch schwamm ein Fisch vorbei, der öffnete stumm das Maul und erzählte nichts als Blasen.

Die Möwen

Hatte Theo den Raben wirklich gesehen? Einen Raben so rot wie die Blätter der Blutbuche.

Womöglich erwachte Theo davon, dass auf dem Fensterbrett eine Krähe saß und hereinsah. Er schlug die Augen auf und blickte direkt in die ihren: kleine schwarze Knopfaugen, die ihn aufmerksam beobachteten.

„Theo“, sagte er zu sich, „Theo, du spinnst. Die Krähe sitzt nur zufällig da. Sie sieht dich wahrscheinlich nicht einmal.“ Wer wusste schon, was Krähen überhaupt sehen? Vermutlich wunderte sie sich über den bunten Fleck der Bettdecke, der ungewohnt in ihrem verschwommenen Weltbild aufgetaucht war.

Er warf einen Blick zu Sophie hinüber. Seine Schwester gähnte, und das Bett quietschte, als sie sich darin streckte.

„Theo“, murmelte sie verschlafen. „Können Fische singen?“

„Wie?“, fragte er irritiert. „Singen? Fische? Natürlich nicht. Das hast du geträumt.“

„Es steht über meinem Bett“, erklärte Sophie schläfrig.

Jetzt, dachte Theo, sind hier alle endgültig übergeschnappt.

„Komm und sieh es dir an“, meinte Sophie, drehte sich auf den Bauch und fuhr mit dem Zeigefinger ein Muster im hölzernen Kopfteil des Bettes nach.

Theo schlüpfte unter seiner Bettdecke hervor und ging über den Dielenboden zu ihr hinüber.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Krähe jede Bewegung aufmerksam verfolgte.

Über Sophies Bett stand tatsächlich etwas.

„Fisches Nachtgesang“, las Theo und schüttelte den Kopf.

„Es ergibt nicht besonders viel Sinn“, sagte Sophie.

„Nein“, antwortete Theo. „Das tut es wirklich nicht. Wer es wohl ins Holz geritzt hat?“

Das wusste Sophie auch nicht, und so zogen sie sich schließlich an und gingen die schiefe Treppe hinunter in die Küche. Theo sah noch, wie die Krähe wegflog. Ganz so, als gäbe es für sie jetzt nichts Interessantes mehr zu beobachten.

Unten in der Küche kämpfte Mama mit dem Gasherd. Offenbar versuchte sie, Tee zu kochen.

„Guten Morgen“, sagte sie zum Gasherd und fluchte gleich darauf leise, weil sie sich verbrannt hatte.

„Guten Morgen“, sagte Theo – auch zum Gasherd, wie es ihm schien, denn Mama sah nicht auf. Stattdessen füllte sie einen uralten, metallenen Kessel mit Wasser und platzierte ihn auf der Flamme. Dann endlich drehte sie sich um.

Ihre Haare sahen trotz der Kürze verstrubbelt aus, eine Spinnwebe hatte sich an ihrem linken Ohr verfangen, und über ihre linke Wange zog sich ein schwarzer Streifen – Ruß oder Dreck oder keine Ahnung was.

„Mama!“, sagte Theo. „Wie siehst du denn aus!“

„Glücklich“, antwortete Sophie. „Glücklich sieht sie aus.“

Und das stimmte.

Mama krempelte die Ärmel ihres karierten Hemdes hoch und grinste. „Dieses Haus ist wirklich riesig. Ich habe schon mal angefangen, mich ein wenig umzusehen“, erklärte sie.

„In einer Spinnwebe?“, fragte Theo.

Sie lachte. „Nicht direkt. Aber hier muss wirklich einiges gemacht werden. Eigentlich ist alles da: Töpfe und Pfannen und Teller und Tassen …“

Aha, dachte Theo. Sie hatte ihr altes Geschirr tatsächlich zu Hause gelassen.

„Und was hast du mit deinem Hemd gemacht?“, fragte Sophie. „Wieso ist es so … so verbläut?“

Mama sah an sich hinunter. „Oh, äh“, sagte sie und kicherte ein bisschen. „Ich wollte nur nachsehen, was für Farbe in den alten Dosen auf dem Dachboden ist. Blau, wie man sieht. Und dann habe ich gleich mal einen Fensterrahmen gestrichen, probeweise.“

„Du solltest etwas über das Hemd drüberziehen“, sagte Theo.

„Stimmt“, sagte Mama und griff nach dem erstbesten Kleidungsstück, das herumlag. Da sie sich in der Küche befanden, war das eine Schürze.

Theo schüttelte den Kopf. „Doch keine Schürze“, sagte er. „Zum Malern braucht man einen Kittel. Das weiß doch jeder.“

„Ich habe aber keinen Kittel“, erwiderte Mama fröhlich und wischte sich ein paar immer noch blaue Finger an der Schürze ab. „Und jetzt ist sie sowieso im Eimer“, sagte sie und lachte wieder.

Also manchmal, dachte Theo, ist Mama ganz schön verrückt.

„Was ist das auf dem Tisch?“, erkundigte sich Sophie vorsichtig.

„Das ist das Frühstück“, sagte Mama. Auf dem Tisch standen zwei sehr verstaubte Gläser, auf denen man mit einiger Mühe das Wort Kompott entziffern konnte. Theo öffnete eines – äußerst vorsichtig – und roch daran. Himbeere.

„Irgendwo waren doch Löffel …“, murmelte Mama und wühlte in den Schubladen.

Kurze Zeit später saßen sie zu dritt um den Küchentisch und löffelten mindestens hunderttausend Jahre altes Himbeerkompott aus dem Glas und tranken dünnen schwarzen Tee, den Mama auch in irgendeiner verstaubten Ecke gefunden hatte. Theo rümpfte die Nase. Aber Mama sah so begeistert aus, als wäre sie erst acht und erlebte gerade ihr erstes Pfadfinderlager.

„Es muss unglaublich viel an diesem Haus getan werden“, verkündete sie. „Ich fahre gleich los in die nächste Stadt und besorge ein paar Dinge … Bretter und Farbe … und ich muss mal sehen, wo ich in dieser Gegend Handwerker herbekomme …“

„Sieh doch mal nach“, schlug Theo vor. „Vielleicht findest du welche auf dem Dachboden.“

„Ach, Theo“, sagte Mama und drückte ihn kurz, ehe er sich wehren konnte. Danach drückte sie auch Sophie und wirbelte davon.

„Der Schlüssel liegt auf der Fensterbank“, rief sie noch, während sie sich bereits in ihre Jacke hangelte. Sie warf die Haustür zu, dass es nur so krachte, und tauchte gleich darauf vor dem Küchenfenster auf. „Ach, und fallt nicht ins Meer, und lasst euch nicht von einer Kuh treten!“, schrie sie durch die Scheibe. „Bis später!“

Sie hörten den alten Lieferwagen auf der Auffahrt röhren und zetern. Der Kies spritzte nach allen Seiten auf wie Wasser, dann fand Mama den Vorwärtsgang, und der Wagen schoss los. Sein Rattern verklang unmelodisch in der Ferne.

„Tja“, sagte Sophie. „Jetzt sind wir allein.“

„Sieht so aus“, sagte Theo.

Und wenn man schon allein war, konnte man sich ja wohl wenigstens mal ein bisschen umsehen! Also begannen Theo und Sophie, sich umzusehen.

Das Haus hatte insgesamt drei Stockwerke, alle voll gestopft mit verstaubten Möbeln und uralten gelblichen Tapeten, auf denen sich winzige Blümchen aus einer längst vergessenen Zeit tummelten wie übermütige Großmütter. Unten im Erdgeschoss befanden sich die Küche, der Flur und ein großes Wohnzimmer. Im Flur hing neben ihren Regenjacken noch immer die ausgeblichene Schürze der alten Frau, und Theo dachte, man könnte sie gut für ein Theaterstück über Großmütter verwenden. Im Wohnzimmer stand ein Klavier. Sophies Finger hinterließ eine Spur in der Staubschicht auf seinem Deckel. Er sträubte sich ein wenig, als sie ihn hochklappte. Vielleicht war das Klavier beleidigt, weil so lange niemand mehr auf ihm gespielt hatte. Sophie ging mit ihren Fingern auf den alten Tasten spazieren, und die verstimmten Töne erhoben sich zögernd in die Luft, wo sie eine Weile ratlos herumzuhängen schienen. Über dem Klavier befand sich ein Bild von einem Mann mit Bart, der den Kopf ein wenig schief hielt, als müsste er für ein Passfoto das linke Ohr frei machen. Er sah ein bisschen nachdenklich aus. Offenbar war er sich nicht ganz sicher, ob er im nächsten Moment schmunzeln oder es lieber bleiben lassen sollte.

„Christian Morgenstern“, las Sophie unter dem Bild. „Wer ist das?“

Theo zuckte die Achseln. „Frag Mama. Wolltest du sie nicht auch wegen diesem Fisch fragen? Und den komischen Zeichen?“

„Sie hatte es so eilig“, sagte Sophie.

Sie erforschten das Haus von oben bis unten und fanden neben einer Menge alter Möbel noch drei weitere Bilder von dem Mann mit dem Bart.

Auf einem saß er in einem Garten auf einer steinernen Bank, auf einem lehnte er an einem Baum, und eines war ein Porträt von der Seite. Aber auf keinem hatte er sich zu dem Schmunzeln durchgerungen. Es saß irgendwo in seinen Mundwinkeln und wartete noch immer darauf, geschmunzelt zu werden.

Was noch herumsaß, waren die Krähen.

Sie hockten auf den Fensterbrettern und lugten durch das schmutzige Glas herein, sie folgten den Geschwistern von Zimmer zu Zimmer, sie blinkerten mit ihren schwarzen Augen und steckten die Köpfe zusammen, als würden sie tuscheln.

„Hab ich es dir nicht gesagt?“, fragte Sophie. „Sie spionieren uns nach. Ich mag sie nicht.“

Theo tippte sich nur mit dem Zeigefinger an die Stirn. Sophie stellte sich an ein halb zerbrochenes Fenster, machte ihre Augen ganz schmal und starrte die beiden Krähen an, die sich dort in einer Ecke herumdrückten. Die Krähen wichen zurück.

„Was wollt ihr?“, fragte sie eindringlich. „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als hier rumzulungern?“

Da musste Theo beinahe lachen, so verlegen wirkten die Krähen auf einmal. Sie wanden sich unter Sophies Blick, und schließlich hopsten sie vom Fensterbrett und flogen mit langen, unschönen Flügelschlägen über die Wiese fort. Die Kinder sahen zu, wie sie auf einem der hohen Bäume im Garten landeten und in das unmelodiöse Kraaahkraaah ihrer Artgenossen einstimmten.

Sophie schüttelte sich. „Was sie wohl sagen?“

„Sie sagen gar nichts“, erklärte Theo nachdrücklich. „Es sind einfach nur Krähen, die nichts mit sich anzufangen wissen. Und wir sind neu und interessant. Bald haben sie sich an uns gewöhnt und fliegen weg.“

Aber als die beiden wenig später auf der kiesigen Auffahrt standen und in die Bäume emporsahen, da waren die Äste schwarz von den seltsamen Vögeln, und die Luft war schwarz von ihrer heiseren Art, sich zu unterhalten, und selbst Theo wurde es seltsam zu Mute – gar nicht so, als wären es nur Krähen und als flögen sie bald weg.

Da beschlossen sie, lieber die Welt außerhalb des Gartens erforschen zu gehen, wo vielleicht keine Krähen waren.

„Wir könnten ans Meer gehen“, schlug Sophie vor und blickte trotzig zu den düsteren Wolken hinauf. „Ist nicht hier irgendwo das Meer?“

„Wo ein Fjord ist, ist auch das Meer“, sagte Theo.

Es gab nur eine Straße, die von dem Haus wegführte, und so brauchten sie nicht lange darüber nachzudenken, wo sich das Meer befand. Dass es nicht auf der anderen Seite des Hauses lag, war ohnehin klar, denn dort wucherte der wilde, undurchdringliche Wald, und ein Meer kann schließlich nicht auf einem Baum liegen.

Als sie durch die weiten Wiesen wanderten, sahen sie von Ferne die Häuser des Dorfes, und Theo entdeckte eine kleine Horde Kinder, die bunte Drachen steigen ließen. Er blieb stehen und sah zu ihnen hinüber.