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Die Welt gehört den Kindern! Ein Hilferuf erreicht die Amazonas-Detektive: Im dichten Urwald soll ein Fotograf verschwunden sein! Doch aus seiner letzten Botschaft, in der von einer mysteriösen Geisterfrau die Rede ist, werden Pablo, Ximena, Davi und der Hund einfach nicht schlau. Kurzerhand machen sich die Detektive auf den Weg ins grüne Dickicht und stoßen dort auf eine eigenbrötlerische Unbekannte – die Geisterfrau! Als dann auch noch raffgierige Gauner auftauchen und eine Erdölquelle entdecken, nimmt der Fall überraschende Wendungen an Band 3 der spannenden Detektivreihe! Springende Flussdelfine, himmelhohe Baumriesen, Hausboote auf dem Amazonas: Rund um die Stadt Manaus wartet der Dschungel. Doch im Geheimen geschehen erschreckende Verbrechen … Tief im dichten brasilianischen Dschungel wartet der zweite Kriminalfall auf die Amazonas-Detektive. Eine spannende und unterhaltsame Detektivreihe mit starker Umweltthematik für Jungs und Mädchen ab 9 Jahren rund um Klimaschutz, Umweltzerstörung, Kulturen, Brasilien, Regenwald und die Natur. Großartig erzählt von der unvergleichlichen Antonia Michaelis und mit coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Sonja Kurzbach. Für Fans von Kirsten Boie und Annelies Schwarz. Der Titel ist auf Antolin gelistet.
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Seitenzahl: 227
Für alle mutigen Kinder, die nie aufhören, die verschwundenen Dinge und Leute zu suchen.
INHALT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Letztes Kapitel
ERSTES KAPITEL,
in welchem ein Sandwich, kein schwimmendes Schwein und ein unheimlicher Schatten vorkommen
Pablo saß auf dem Turm der alten Villa, sah über die Stadt und dachte an Sandwiches.
Dann dachte er daran, dass schon eine ganze Weile nichts passiert war – niemand entführt worden, niemand verschwunden, keine seltsamen Hilferufe angekommen, kein Verbrechen in Sicht.
Hinter der Stadt winkte der grüne Urwald, aber er behielt seine Geheimnisse für sich.
Pablo dachte an die geheimnisvollen Schatten da draußen, die ungelösten Rätsel, die verborgenen Schätze – und dann dachte er wieder an Sandwiches.
Sein Magen knurrte.
Er hatte an diesem Tag kein Glück gehabt. Kein Tourist hatte einen kleinen, heruntergekommenen Reiseführer gebraucht, kein Autobesitzer hatte einen Parkwächter bezahlen wollen, kein einziger Kirchenbesucher hatte Lust gehabt, einem recht dreckigen Jungen mit einem löchrigen Hemd ein paar Real in die Hand zu drücken.
Und Ximena war auch schon lange nicht mehr vorbeigekommen.
Sie saß bei ihrem Großvater fest, der in letzter Zeit zu gut auf sie aufpasste, aß viergängige Menüs mit fünf verschiedenen Gabeln und langweilte sich zu Tode.
»Hey! Pablo!«
Pablo sah hinunter. »Hund!«, rief er erstaunt. Der Hund war riesig und grau und ein Freund von Pablo, aber gewöhnlich rief er nicht seinen Namen. Er rief auch jetzt nicht, er wedelte nur.
Da sah Pablo, wer gerufen hatte: Miguel. Er war schon auf dem Weg hinauf zu Pablo, über die Kletterpflanzen, und ein paar Minuten später schwang er sich oben außer Atem auf die Plattform.
»Pablo!«, keuchte er und holte etwas aus seinem Rucksack: ein Sandwich.
Die Welt wurde um 100 % besser.
»Es ist Freitag, ich weiß, ich bin spät, ich wollte früher kommen«, sagte Miguel und pustete sich das verstrubbelte Haar aus dem Gesicht. Er war Student und hatte meistens kein Geld für einen Haarschnitt, zum Glück aber für ein Sandwich. »Aber ich fürchte, wir … ich … es … es ist etwas passiert.« Er schüttelte sich. »Etwas Unheimliches. Etwas, das wir klären müssen. Da draußen … im Urwald.«
Die Welt wurde um 200 % besser.
»Was denn?«, fragte Pablo zwischen zwei Bissen.
»Du weißt doch, wir betreiben jetzt dieses Reisebüro nebenher und wir hatten endlich einen Kunden, einen zahlenden Kunden«, sagte Miguel und seufzte. »Einen Fotografen. Aus Amerika. Gita und ich, wir haben wirklich alles für ihn getan. Wir haben einen ortskundigen Touristenführer, der ihn da draußen herumführt, denn der Fotograf wollte in ein ganz bestimmtes Gebiet … Wir haben seine Reise organisiert, vom Moskitonetz bis zum Proviant, Amazonas-Abenteuer-Reisen, individuell, naturnah und einzigartig!«
»Ja, ich weiß, das steht auf euren Reklamezetteln«, sagte Pablo und verschlang den Rest des Sandwiches. »Und?«
»Und der ortskundige Führer ist heute zurückgekommen. Allein«, erklärte Miguel.
»Er hat unseren Klienten verloren. Mitten im Urwald. Einfach verloren.«
»Ver…loren?« Pablo stippte die letzten Krümel auf, um nichts zu verschwenden. »Er ist nicht … auf geheimnisvolle Weise verschwunden?«
Miguel seufzte. »Doch. Genau das. Er wollte immer tiefer in den Wald, an einem Ort, an dem es nicht ratsam ist, tiefer in den Wald zu gehen. Unser Touristenführer hat versucht, ihn davon abzuhalten, und dann …« Er hieb mit der Faust auf den Boden, so stark, dass Pablo etwas Angst bekam, die marode Villa würde ganz einstürzen. »Und dann ist der verdammte Fotograf allein weitergegangen, so ein störrischer, dummer Tourist, und er war weg. Unauffindbar. Geht nicht mehr an sein Handy. Hat keine Spur hinterlassen. Vom Erdboden verschluckt. Nein. Vom Wald.«
»Und warum genau … ist es nicht ratsam, an dieser Stelle tiefer in den Urwald zu gehen?«, erkundigte sich Pablo vorsichtig. Er spürte ein bekanntes Kribbeln in sich. Etwas begann zu geschehen. Genau jetzt. Dies war der Beginn von etwas Großem.
»Ach, was weiß ich, zu dicht, felsig, Stacheln, unwegsames Gelände«, sagte Miguel und zuckte mit den Schultern. Er blickte in die Ferne. »Und irgendwelche dummen Gerüchte unter den Leuten da draußen am Fluss. Aber du weißt, wie die Leute sind. Sie erfinden gerne Geschichten über unheimliche Dinge, die im Wald sind.«
»Geschichten? Was für Geschichten? Wie damals die von dem menschenfressenden Riesenfaultier?«
Miguel winkte ab. »Du weißt, dass es das gar nicht gab. Da ist nichts im Wald außer Wald. Und das ist auch gut so. Der Wald gehört nicht den verflixten Touristen, er gehört den Tieren und den Pflanzen. Wir hätten vielleicht nie ein Reisebüro aufziehen sollen.«
Pablo legte eine Hand auf Miguels Arm. »Natürlich hättet ihr«, sagte er. »Es ist doch gut, wenn die Leute den Wald ein bisschen kennenlernen und helfen, ihn zu schützen. Das hast du selbst gesagt. Irgendwo sägen sie jeden Tag riesige Stücke davon ab, also muss man dem Rest irgendwie helfen.«
»Jaja, das klingt immer gut«, knurrte Miguel. »Aber wie finde ich jetzt den verdammten Fotografen wieder, dort draußen? Unser sogenannter ortskundiger Fremdenführer weigert sich zurückzugehen. Die Leute vom Fluss da draußen gehen auch nicht in dieses Stück Wald, wir haben schon versucht herumzutelefonieren.«
»Warum … weigert sich der Fremdenführer?«
Miguel schüttelte den Kopf, unwillig. »Er hat viel zu viel Angst«, murmelte er dann leise. »Er hat da draußen etwas gesehen.«
»Was?«
»Ich glaube, ich sollte wieder los«, sagte Miguel. »Ich hab gleich noch Vorlesung an der Uni. Und dann müssen wir weiter herumtelefonieren, Gita und ich. Und außerdem haben wir in einer Woche Prüfungen, ich sollte über meinen Büchern sitzen, verflixt …«
Und er begann, über die Kletterpflanzen wieder nach unten zu klettern.
Pablo sah ihn davonhasten. Je älter die Leute wurden, desto mehr waren sie im Stress. Aber der Hund wartete auf Pablo. Und fünf Minuten später stand Pablo neben ihm, unten vor der verfallenen Villa, die sein Zuhause war und aus deren Fenstern zwischen Müll und Unrat überall die Botschafter des Urwaldes wucherten: Lianen, blühende Büsche, kleine Bäume. Er streichelte den grauen Kopf des Hundes.
»Hör mal, Hund«, sagte er leise. »Wenn kein Reiseführer an dieser bestimmten Stelle in den Wald will und auch sonst niemand …«
»Woff?« Der Hund ahnte schon, wie es weiterging.
»… dann gibt es nur eine Möglichkeit, Miguels ersten und einzigen zahlenden Kunden wiederzufinden«, flüsterte Pablo. »Wir müssen selbst nach ihm suchen.«
Eine halbe Stunde später kroch Pablo durch die Hecke hinter der Villa des Silberbarons. Einen Moment kauerte er im Schatten, dann huschte er über den Kiesplatz hinter dem Haus zu den Fenstern. Sie lagen im Hochparterre, und er musste klettern, ehe er eines erreichte. Der Hund stand geduldig Wache.
Pablo hasste es, Ximena abzuholen. Es war besser, sie kam zu ihm, aber sie war zu lange nicht da gewesen. Also musste er es tun. Er brauchte sie, sie und Davi.
Er fröstelte, obwohl es drückend heiß war: Die Villa schüchterte Pablo ein, sie war so ganz anders als seine eigene Villa. Sie war heil und schön und wertvoll – und kalt und abweisend. Vorne sicherte eine Alarmanlage sie, aber irgendwie schien niemand zu wissen, dass Ximena und er immer hinten durch die Hecke krochen.
Pablo drückte sein Gesicht ans Fenster und sah in die Bibliothek. Die Bibliothek war ein Wald, ein Urwald aus Büchern, die Regale türmten sich bis zur hohen Decke, und in einem alten Ledersessel saß, neben einer kleinen Leselampe, der Silberbaron. Pablo gab sich Mühe, mit dem Fensterglas zu verschmelzen. Der Silberbaron hatte einen offenen Bildband auf den Knien. Pablo erkannte nicht viel, der Arm des Barons lag quer über der Seite und verdeckte das halbe Bild – aber es war bunt, und da war etwas, das oben rund war. Es war komisch, dachte Pablo, dass der Baron, der immer so ernst war, Bücher mit Fotos von so bunten Dingen ansah. Er hatte immer gedacht, der Baron würde eher Bücher ohne Bilder lesen, Bücher mit winziger Schrift und hauchdünnem Papier.
Pablo wollte gerade wieder zu Boden springen und leise weiter nach Ximena suchen, da sah er sie: Sie saß ebenfalls in einem alten Ledersessel. Im Gegensatz zu ihrem Großvater saß sie im Schneidersitz und hatte einen ganzen Stapel Bücher vor sich auf dem Boden aufgetürmt. Eines sah sie an, blätterte sorgfältig jede Seite um.
»Sie sucht etwas«, wisperte Pablo dem Hund zu.
Er pfiff leise. Dann noch einmal. Die alten Fenster waren undicht und ließen Luft und Pfiffe durch. Ximena hob den Kopf. Dabei bewegte sie auch das Buch, das sie gelesen hatte, und Pablo sah das Foto auf dem Umschlag: ein Bild von einem schwimmenden Schwein. Ach nein. Von einem rosa Flussdelfin: einem Boto.
Auch auf den anderen Büchern ihres Stapels waren Flussdelfine zu sehen.
Jetzt hatte Ximena ihn entdeckt und hob die Hand zum Winken. Um ihr Handgelenk war mehrfach eine rote Schnur gewickelt, eine alte rote Schnur, die nicht zu dem neuen, makellosen hellblauen Rüschenkleid passte, das sie trug – oder zu ihren sorgsam gebändigten, streng nach hinten zusammengebundenen Locken. Pablo kannte die Schnur an ihrem Handgelenk. Er wusste, was daran hing: ein winziger, abgegriffener hölzerner Delfin.
Aber warum befand sich Ximena in der Bibliothek?
War die Bibliothek in ihrer verstaubten Dusternis nicht das Reich des Silberbarons? Seine Höhle, in die er sich zurückzog vor der Welt, dieser alte, knurrige Mann?
Ximena rutschte von ihrem Sessel und kam leise zum Fenster herüber. Sah sich nach dem Silberbaron um, der weiterschlief, und öffnete das Fenster.
»Pablo!«, flüsterte sie. »Ich kann nicht raus! Ich hab seit einer Woche Hausarrest!«
»Wieso das denn?«, fragte er.
Ximena strich sich eine entkommene wilde Locke hinter ihr Ohr und grinste breit über ihr ganzes Gesicht. »Weil ich vor einer Woche nachts abgehauen und zum Fluss gegangen bin«, murmelte sie. »Er hätte das nie gemerkt, wenn mich nicht so ein blöder Polizist rausgezogen hätte, der zufällig mit einem Patrouillenboot vorbeikam.«
»Du bist nachts im Rio Negro geschwommen?«
»Na, außerhalb kann man wohl schlecht schwimmen«, wisperte Ximena. »Mann, Pablo. Du weißt doch, dass ich hier drin wahnsinnig werde. Seit der Sache mit dem Riesenfaultier ist das Kindermädchen noch häufiger da als sonst, und mein Privatlehrer denkt sich Berge von Aufgaben aus, nur damit ich nicht wieder irgendwo ein Abenteuer erlebe. Aber ich träume, Pablo, ich träume jede Nacht von den Botos! Davon, wie ich mit ihnen geschwommen bin, im Urwald. Sie sind hier. Im Rio Negro. Selbst da, wo die Boote mit ihrem Diesel das Wasser verpesten, selbst da, wo die Fabriken ihren Dreck hineinleiten. Ich stand am Ufer und ich habe sie gespürt. Sie warten auf mich.«
»Es sind einfach rosa Flussdelfine, die im Fluss schwimmen«, flüsterte Pablo mit einem Seufzen. »Sie sind nicht besonders schlau, deshalb schwimmen sie auch da im Fluss, wo er giftig und dreckig ist. Vermutlich hoffen sie auf Fischabfälle, das ist alles. Sie rufen niemanden zurück in den Wald.«
»Oh doch«, wisperte Ximena und strich über den Holzdelfin an ihrem Handgelenk. »Das tun sie. Ich muss endlich herausfinden, warum ich … diese komische Beziehung zu ihnen habe. Was damals passiert ist, als ich klein war. Ehe mein Großvater mich im Wald gefunden hat.«
»Deshalb wälzt du Bücher über Botos?«
Ximena nickte. »Es ist erstaunlich, wie viele Bücher davon es hier in der Villa gibt. Als hätte der Silberbaron jedes Buch, das über die Delfine des Amazonas geschrieben wurde. Obwohl er sich kein Stück für sie interessiert.« Sie legte den Kopf schief. »Und warum klebst du da draußen vor dem Fenster an der Wand wie ein Lizard?«
»Weil uns vielleicht etwas ganz anderes ruft«, flüsterte Pablo. »Nicht irgendwelche schweinchenfarbenen Delfine. Sondern …« Er legte eine kleine Kunstpause ein. »… ein neuer Fall.«
Ximenas Augen leuchteten auf. »Ein neuer Fall … für die Furchtlosen Drei? Mord? Diebstahl? Wieder irgendwelche ausgestorbenen Monster?«
»Im Moment«, sagte Pablo, »nur ein Fotograf, der sich höchstwahrscheinlich verlaufen hat. Aber die Zukunft von Miguels und Gitas Reisebüro hängt davon ab. Flüstern wir weiter durch ein Fenster oder kommst du raus?«
Ximena warf einen Blick auf ihren Großvater, der im Schlaf mit einer Hand seinen Gehstock mit dem silbernen Knauf umklammerte. Dann stieß sie das Fenster ein wenig weiter auf.
»Ich möchte ihn nicht stören«, wisperte sie, »indem ich die Vordertür benutze. Sie quietscht. Hallo, Hund, geh mal beiseite, ich springe.«
Als sie in der winzigen Seitengasse ankamen, in der das kleine Büro Turismo verde novo lag, stand davor ein altes Moped, das Pablo nicht kannte. Der Auspuff war mit Draht befestigt. Drinnen hörte er Stimmen – die von Miguel und Gita und noch einer Person. Einer aufgeregten Person.
»Sie sind also entweder mit ihrer Vorlesung an der Uni fertig oder nicht hingegangen, weil das hier wichtiger ist«, sagte Pablo.
Das Reisebüro bestand nur aus einem einzigen Raum in einem alten Haus hinter einem Gewirr von Telefon- und Stromdrähten in einem Hinterhof. Man sah von hier aus die strahlende Kuppel des Theaters, aber im Gegensatz zum Theater verliefen sich hierher sicherlich nur wenige Touristen. Oder gar keine. Aber einen anderen Ort für ihr Büro konnten sich Gita und Miguel nicht leisten. Immerhin hatten sie eine Menge alter Töpfe voller Pflanzen in den Hof gestellt und die Tür, die schief in den Angeln hing, mit einer Urwaldszene bemalt.
»Ich frage mich, wie dieser Fotograf auf Turismo verde novo gekommen ist«, überlegte Ximena.
»Oh, übers Internet«, sagte Pablo. »Sie sind ein Geheimtipp.«
»So geheim, dass niemand von ihnen weiß«, meinte Ximena und lachte.
Der Hund kratzte an der Tür, er wollte zu Gita, der er eigentlich gehörte. Als Gita öffnete, schlüpften Pablo und Ximena mit in den kleinen Raum, in den der Schreibtisch, der uralte Computer und die vier Klappstühle kaum hineinpassten. Die Wände waren mit Landkarten von Brasilien und dem Amazonas bedeckt, und auf dem Bücherbrett an der Wand hockte neben Papierstapeln ein alter Plüschjaguar, dem ein Auge fehlte.
Hinter dem Schreibtisch saß Miguel und vor dem Schreibtisch ein Mann, den Pablo noch nie gesehen hatte und der einen Motorradhelm umklammerte, sichtlich nervös. Auf dem Tisch zwischen den beiden lag ein Handy, offenbar das des Helm-Typen. Gita legte den Finger an die Lippen und zog die Tür hinter den Kindern und dem Hund zu.
Pablo hatte nicht mal aufgesehen. Er starrte auf das Display des Handys, gemeinsam mit dem Helm-Typen.
»Noch mal«, sagte Miguel. »Können wir das in Zeitlupe sehen?«
Der Helm-Typ beugte sich über das Handy. »Bitte, aber das Bild wird nicht klarer«, meinte er. »Das ist alles, was wir haben, und ich versichere dir, Junge, ich gehe da nicht wieder rein, nicht für alles Geld der Welt. Ich habe sie nicht gesehen, aber sie war da, die ganze Zeit. Sie hat uns beobachtet, ich habe ihre Blicke im Nacken gespürt. Mir egal, wie du den Mann da rausholst, aber vergiss es, da musst du dir einen anderen suchen.«
Pablo und Ximena sahen sich an, nickten beide und krabbelten unter dem Tisch durch, um rechts und links von Miguel wieder aufzutauchen und auch einen Blick auf das Handydisplay zu erhaschen. »Kinder!«, rief der Moped-Typ. »Was tun die hier?«
»Oh, wir arbeiten für Turismo verde novo«, sagte Ximena rasch. »Im … Außendienst. Was ist das?«
»Dieses Video hat der Fotograf unserem Reiseführer geschickt, ein paar Stunden, nachdem er verschwunden war«, erklärte Pablo.
»Das ist sein letztes Lebenszeichen«, murmelte Gita, legte ihre Arme um den Hund und seufzte.
»Was zeigt es?«, fragte Ximena.
»Nichts«, sagte Miguel und schüttelte den Kopf. »Verwischte Schatten.«
»Oh doch, es zeigt etwas«, sagte der Moped-Typ, offenbar der Fremdenführer, den Miguel und Gita angestellt hatten. »Es zeigt ein Wesen, das seit Jahren in dem Stück Wald umgeht, in das der verrückte Amerikaner unbedingt wollte. Das Wesen, das ihn geholt hat. Der Fotograf hatte Angst, als er das Video geschickt hat, das hört man auf der Sprachnachricht. Das Video zeigt … die Baumfrau.«
»Die Baumfrau?«, wiederholten Ximena und Pablo gleichzeitig.
»Es gibt jede Menge Geschichten bei den Caboclos, die am Fluss wohnen«, wisperte der Moped-Typ. »Manche sagen, sie ist eine Tote. Manche sagen …«
»… Geschichten!« Miguel schnaubte.
Und dann begann das Video erneut: Pablo sah grüne Flecken, Blätter, Äste, nichts war scharf. Dann den Boden, Füße in wertvollen amerikanischen Wanderschuhen, verwackelt, dann wieder den Boden, ein Stück Erde ohne Laub. Spuren. Da waren menschliche Spuren, eindeutig, schmale Spuren. Dann schwenkte die Handykamera hoch, wieder war da nur Grün – und dann eine Bewegung, etwas schwang oder huschte durch die Äste, war fort, noch ein Kameraschwenk und wieder das Springen oder Schwingen oder Huschen. Dann eine Figur, weit weg von der Kamera. Eine Gestalt, die in einem Baum schwebte. Oder war das gar keine Gestalt? War es nur ein weiterer dicker Ast? Die Kamera schwenkte weg, zurück auf den Boden. Pablo sah etwas Silbernes, Glänzendes. Wasser, dachte er, das Ufer eines Sees oder Flusses. Und darunter glitzerte etwas, etwas warf das Licht zurück wie tausend winzige Spiegel. Danach brach das Video ab.
Der Helm-Typ wischte über das Display, und eine Stimme füllte den kleinen Raum, verschwommen wie das Video, aber eindeutig panisch. Eine Stimme, deren Portugiesisch einen starken Akzent hatte.
»Sie ist hier«, sagte die Stimme gehetzt. »Hören Sie, holen Sie mich hier raus! Ich bin gefallen, ich weiß nicht, wie ich zurückkomme … Mein Bein ist vielleicht gebrochen und ich habe mich verirrt … Zuerst wollte ich wissen, wer sie ist, ich war fasziniert, da sind diese Spuren … Aber jetzt … Sie ist überall. Und sie will nichts Gutes. Sie wird kommen, um mich …« Damit brach die Nachricht ab.
Pablo spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.
»Die Baumfrau«, wisperte er noch einmal. Ximena hatte seine Hand genommen und drückte sie so fest, dass es wehtat.
Der Helm-Typ schnappte sich sein Handy und stand auf. »Ich bin fertig hier«, sagte er. »Ich habe euch erzählt, was ich erzählen konnte, ihr wisst, um welche Gegend es geht. Ihr könnt die Leute am Fluss fragen, auch wenn ich nicht glaube, dass da einer für euch arbeiten will. Ich suche mir bei einem anderen Reisebüro Arbeit, eine Menge Büros brauchen Touristenführer, die sich mit dem Urwald auskennen. Ich mache wieder Motorbootführungen zu Vogelbrutplätzen. Angeseiltes Baumklettern für Touristen. So was. Tchau.«
Damit setzte er den Helm auf, steckte das Handy ein und war zur Tür hinaus, ehe irgendjemand etwas sagen konnte.
Gita stand ebenfalls auf und legte eine Hand auf Miguels Arm. »Wir finden unseren Fotografen, bestimmt«, murmelte sie tröstend. »Sicher sitzt er irgendwo unter einem blühenden Baum und wartet auf uns, und alles, was er gesehen hat, war nur Einbildung. Es ist heiß da draußen. Es gibt Malariamücken. Leute sehen alles Mögliche.«
»Wann?«, fragte Miguel knapp. »Wann fahren wir?«
Gita zuckte mit den Schultern. »Morgen?«
»Wo genau müssen wir überhaupt hin?«, wollte Ximena mit leuchtenden Augen wissen. »Welches Schiff nehmen wir?«
Miguel seufzte. »Ihr nehmt überhaupt kein Schiff. Ihr bleibt hier und … und passt auf unser Detektivbüro auf. Nein, Reisebüro. Ich meinte Reisebüro. Keine Detektivspielchen. Diesmal ist es zu gefährlich.«
Pablo und Ximena sahen sich an. »Okay, okay«, sagte Ximena und lächelte brav. »Wir bleiben hier. Versprochen.«
Aber Pablo sah genau, wie sie hinter dem Rücken die Finger kreuzte.
ZWEITES KAPITEL,
in welchem ein Silberkettchen und ein altes Foto auftauchen und eine erstaunliche Tatsache über Tom Weißfeder ans Licht kommt
Als der Abend über Manaus hereinbrach, war der Platz vor dem alten Theater voller Musik. Senhor Gonzalez, der immer traurig aussah, spielte Geige zu einem unsichtbaren Orchester vom Band. Tom Weißfeder sang an einer anderen Stelle des Platzes seine Arien, Mama Maria verkaufte ihre hundert Sorten Saft aus dem Saftwagen, um den ihre auch ungefähr hundert kleinen Kinder wuselten. Und der Reisende im Rollstuhl hielt den Hut auf.
Die Cafés am Rand des Platzes waren voll mit jungen Leuten und Touristen, die möglicherweise Geld für Sänger und Geiger hatten – oder für einen Straßenjungen mit hungrigem Magen.
Alles war wie immer.
Aber dann war es doch nicht wie immer.
Pablo saß auf einer Bank, auf den Knien eine Karte, und dachte nach. Er hatte an diesem Abend nicht den Nerv zum Betteln und immerhin hatte er Miguels Sandwich im Magen.
Er fuhr mit dem Finger die Linien auf der Karte entlang, blaue Linien im Grün: Flüsse. Da war ein eingekreistes Gebiet, ganz im Norden des Landes, vor der Grenze zu Venezuela.
Miguel wusste nicht, dass die Karte an der Wand seines Reisebüros fehlte. Pablo war noch einmal zurückgegangen und durchs Fenster geklettert, um die Karte auszuleihen. Vermutlich hatte Miguel eine zweite in seinem Reisegepäck, also brauchte er diese nicht.
»Serra do … Aracá«, entzifferte Pablo. Buchstaben waren immer noch nicht seine besten Freunde. Miguel hatte sie ihm beigebracht, genau wie das Kartenlesen.
»Serra … das sind Berge«, sagte Pablo in die beginnende Nacht. »Hohe Berge. Felsen, Wasserfälle … Und der Fluss, den man hinauffahren muss, ist …« Er beugte sich tiefer über die Karte. »… der Rio Demini.«
Er schüttelte den Kopf. »Derselbe Fluss, den wir schon einmal raufgefahren sind. Der Fluss, in dem sie fast einen Staudamm gebaut hätten. Nur diesmal müssen wir viel, viel weiter. Vielleicht«, wisperte er, »gehen wir eines Tages zu weit. Zu weit in den Wald hinein. Vielleicht kommen wir eines Tages nicht wieder. Wie der Fotograf.«
»Welcher Fotograf?«
Pablo fuhr herum. Hinter ihm ragte Tom Weißfeder auf: zwei Meter nordamerikanischer Indigener.
»Der, der Miguel und Gita verloren gegangen ist«, erklärte Pablo. »Er war der erste Kunde ihres Reisebüros. So ein Typ aus Amerika. Er wollte tiefer in den Wald, obwohl der Touristenführer gesagt hat, er soll es sein lassen … und dann … Keiner weiß, was dann geschehen ist. Der Fotograf hat ein Video geschickt, von einem … komisch huschenden Schatten. Etwas ist da im Wald. Etwas Böses.«
»Oder nur ein Tier?«, fragte Tom und grinste.
Pablo nickte langsam. »Möglich. Aber ich habe kein gutes Gefühl.«
Tom klappte seinen langen Körper zusammen und setzte sich neben Pablo auf die Bank. Dann streckte er die großen Hände aus und tastete, fand die Karte, strich über das raschelnde Papier. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Landkarten«, murmelte er träumerisch. »Oh … lange her, dass ich Karten gelesen habe … Karten vom Urwald und den Flüssen. Damals, als ich noch sehen konnte … weißt du, ich war nicht nur Opernsänger. Ich war auch Abenteurer. Ich war jung …« Er seufzte. »Gleich als sie mich eingeladen haben, für eine Saison in Manaus am Theater zu singen, wusste ich, dass ich den Urwald sehen musste. Und ich habe ihn gesehen. Er ist ganz anders als mein Land im Norden, die Steppen, die Weite, all das. Er ist das Gegenteil. So grün und voller Leben, so voller Geheimnisse. Ich habe mein Herz verloren da draußen, ja, Pablo, ob du’s glaubst oder nicht.«
»Und dann hat er sein Augenlicht verloren«, sagte der Reisende im Rollstuhl, der neben sie gefahren war. Eine Gruppe Touristen spazierte vorüber und Tom Weißfeder legte lauschend den Kopf schief. »Entschuldigt mich«, sagte er und stand auf. »Da läuft Geld.«
Er stellte sich den Touristen in den Weg, nahm den Hut ab, hielt ihn vor sich und begann zu schmettern:
»Nessun dorma! Nessun dorma!
Tu pure, o Principessa, nella tua fredda stanza …«
»Schon wieder Puccini«, sagte der Reisende im Rollstuhl und seufzte. »Immer diese schlaflose Prinzessin, die die Sterne ansieht …« Er schnaubte. »Unser alter Tom sieht keine Sterne mehr. Der Urwald schluckt eine Menge Dinge. Er hat Toms Augenlicht geschluckt. Sieh dich vor, Pablo, wenn du wieder dort hinauswillst.«
»Quatsch«, stieß Pablo aus und lachte. Aber ihm war etwas unbehaglich zumute.
»Es stimmt«, meinte Mama Maria, die ihren Saftkarren herangerollert hatte. »Er kam wieder und war blind.«
»War abgerissen und schlief auf der Straße«, fiel Senhor Gonzalez, der mit seiner Geige ebenfalls herübergekommen war, ein. »Da draußen ist irgendetwas passiert. Etwas, das ihn mitgenommen hat. Über ein Jahr lang konnte er nicht singen, keinen Ton. Na ja, und jetzt kriegt er das Mitleid der Leute, verdient besser als ich, mich beachtet ja keiner.« Er knurrte ungehalten. Aber er war eigentlich immer knurrig.
»Was … ist denn mit seinen Augen?«, fragte Pablo. »Ich meine, hatte er einen Unfall?«
»Seine Augen sind völlig intakt«, sagte Mama Maria und hinderte eines ihrer kleinen Kinder daran, in eine Saftkanne zu fallen. »Er sieht nur nichts. Keiner weiß, warum das so ist. Wir glauben …« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Wir glauben, er hat da draußen etwas gesehen, das schuld an der Sache ist. Etwas, das ihn so sehr erschreckt hat, dass sein Gehirn sich einfach weigert, Dinge zu sehen.«
»Wo genau war er damals?«, fragte Pablo.
»In den Bergen ganz im Norden«, sagte Senhor Gonzalez. »Im Gebirge Serra do Aracá.«
Ximena drehte den winzigen Holzdelfin an der Schnur um ihr Handgelenk und stocherte dann mit der Gabel in ihrem Essen. Sie hatte keinen Hunger. Sie war zu aufgeregt.
»Was ist los?«, fragte der Silberbaron vom anderen Ende des Tisches. Er saß sehr weit entfernt, der Tisch war zu groß für sie beide.
Es gab nur einen Stuhl am Kopf- und einen am Fußende.
Dazwischen saß auf unsichtbaren Stühlen eine Art Abwesenheit. Die Abwesenheit ihrer Eltern, dachte Ximena. Sie saß seit fast zehn Jahren dort.
»Du brütest irgendwas aus«, sagte der Silberbaron und löffelte bedächtig seine Suppe mit dem Silberlöffel aus der kleinen Ansammlung komplizierter Bestecke, die neben seinem Teller aufgereiht lagen. »Wirst du krank oder planst du ein neues Abenteuer?«
Er lächelte kurz, merkte, dass er lächelte, und stellte das Lächeln ab.
»Krank kann sein«, entgegnete Ximena und bemühte sich, krank auszusehen. »Mir ist ein bisschen … na ja. Ich glaube, ich gehe heute früh ins Bett.«
Der Silberbaron schob den Teller beiseite, und das Hausmädchen trug den nächsten Gang auf, irgendeine Pastete aus Mais und Bohnen und lauter gesunden Dingen. Anderer Gang, anderes Besteck. Ximena hasste all diese komplizierten, veralteten Rituale, sie hätte viel lieber draußen auf der Straße ein Sandwich mit ihrem Freund Pablo gegessen.
»Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, dass du dich schon wieder weggeschlichen hast, als ich in der Bibliothek eingenickt bin«, sagte der Silberbaron.
Ximena verschluckte sich fast an ihrem Saft. »Ich … war nur im Garten!«
»Der Gärtner war anderer Meinung.« Der Silberbaron tupfte mit der weißen Serviette an seinem Mund herum. »Und was ist das für ein Bücherstapel?«
»Ein, äh, Schulprojekt«, murmelte Ximena und legte schützend die Hand auf die Bücher. »Ich habe sie nur aus deiner Bibliothek ausgeliehen. Es ist ein Projekt über Botos.«
Sie berührte wieder den winzigen Holzdelfin an ihrem Handgelenk.
Der Baron seufzte. »Ich hätte dir dieses verflixte alte Stück Schnur nie zeigen sollen. Du steigerst dich in irgendetwas rein. Du willst herausfinden, was es bedeutet, weil es alles war, was du anhattest, als ich dich als Baby gefunden habe, da draußen im Wald. Aber du wirst es nicht herausfinden. Es ist unmöglich. Lass die Vergangenheit ruhen.«
»Warum?«
»Weil sie gefährlich ist.« Er seufzte wieder. »Es reicht doch, dass ich deinen Vater verloren habe, meinst du nicht?«
Dann aß er eine Weile schweigend und sehr umständlich die Pastete. Ximena hätte ihre Pastete gern geworfen. Nach dem Silberbaron. Damit er endlich aufhörte, so steif und gefroren zu sein. Als er sie das letzte Mal gerettet hatte, war er in einem Flugzeug in den Urwald geflogen. Verflixt, warum taute er immer nur für so kurze Zeit auf?