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Im Schatten der Vergangenheit: Wer bist du, wenn dein Vater ein Mörder war? Viel Zeit ist vergangen, seit Abel Tannatek, der Märchenerzähler und Wolf, den Tod fand. Sein Sohn Elias weiß nicht, ob er ihn hassen oder vermissen soll. Doch dann, kurz vor seinem 18. Geburtstag, macht Elias eine merkwürdige Entdeckung: Seine Mutter Anna schreibt dem Märchenerzähler Briefe – und bekommt Antworten. Elias beginnt ihr nachzuspionieren. Lebt sein Vater etwa noch? Wer ist der Schatten im Wald, den er manchmal zu sehen glaubt und was verheimlicht Micha, Abels Schwester? In den geheimnisvollen Briefen liest er ein neues Märchen, ein gefährliches, mörderisches Märchen, so wie jenes vor 18 Jahren. Auf den Spuren der Liebe seiner Eltern verliebt sich Elias selbst zum ersten Mal. Und er beginnt, sich vor sich selbst zu fürchten. Was wenn er wie sein Vater ist? Der Jugendroman »Im Schatten des Märchenerzählers« von Antonia Michaelis ist packender Thriller und Liebesgeschichte in einem. Erwachsenwerden unter einem dunklen Stern - Antonia Michaelis erzählt fesselnd von erster Liebe und von der Suche nach Identität. - Die Fortsetzung von Der Märchenerzähler ist ein mitreißender Mix aus Mystery und Coming of Age. - Spannender Lesestoff für junge Menschen ab 16 Jahren. - Wird Elias herausfinden, ob sein Vater, der Mörder und Märchenerzähler noch immer lebt? - Der Märchenerzähler Band 1 war nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.
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18 JAHRE DANACH.
Im Schatten von Abel, dem Märchenerzähler, dem Wolf, wächst sein Sohn Elias auf. Eines Tages entdeckt Elias etwas Merkwürdiges: Seine Mutter Anna schreibt dem Märchenerzähler Briefe. Und sie erhält Antworten. Elias beginnt, Anna nachzuspionieren.
Ist es möglich, dass sein Vater noch lebt? Wo und wovor versteckt er sich? Wer ist der Schatten, den Elias manchmal zu sehen glaubt? Und was verbirgt seine Tante Micha? In den Briefen an Anna liest Elias ein neues Märchen. Und dieses Märchen ist nicht weniger tödlich als jenes vor 18 Jahren
Der Nachfolger des Bestsellers »Der Märchenerzähler«
Liebe*r Leser*in,
wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de
Schau gern auf S. 458, dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)
Für die Totenkopfkinder dieser Welt,
die Jacksons und die Mandy Ketows
und all jene, die ihnen eine Chance geben
Song for a shadow
So beautiful and broken
you’re nothing but a memory
so hated by the world
you’re still beautiful to me
everybody telling me
to finally let you go
your letters are all melting in my hands like silent snow
Though you’re out there in the shadows … the shadows … far away
come to me … wait for me … just another day
you’re out there in the shadows … invisible
the shadows … untouchable
the shadows … the shadows … where I belong
you’re nothing, you’re nothing now
but a song
You’ve killed and you have suffered
all through a sea of pain
you’re hated by the world
but nothing was in vain
everybody telling me
to finally forget
but you’re not gone, it’s all a lie, I have no tears to shed
for everyplace we met I can still see you in my head
You’re out there in the shadows … the shadows … I can feel you
come to me … wait for me … I can hear you
you’re out there in the shadows … invisible
in the shadows … untouchable
the shadows … the shadows … I can’t be wrong
you’re nothing, you’re nothing now
but a song
There’s someone who needs you,
who longs for you, too,
talk to him, do,
or he’ll suffer like you
Your guilt and your pride
are the places you hide
those oceans so wide
in the deepest black night
look for the flowers,
the meadow so wild,
the summer’s last hours
in the eyes of your child
I’m out here in the shadows … the shadows … near to you
I’m in the wood where your secrets are hidden
I’ve seen all those memories that were forbidden
in the shadows … invisible
the shadows … untouchable
the shadows … the shadows … where we belong
I’ll be nothing, be nothing but a song …
Kalt.
Alles ist kalt. Seine Hände, ihre Hände, sein Gesicht, die Kälte wächst wie Ranken, breitet sich aus, in Schlieren auf dem kleinen Körper unter ihm, überzieht ihn, gleißend, weiß beinahe, der Körper war einmal warm, er wird nie mehr warm sein.
Auf dem Braun des alten Sofas sind die Eiskristalle silbern. Er kniet in Kristallen. Er hat nicht gewusst, dass sie so hell glänzen können: filigrane, zarte Muster gleich Eisblumen. Sie sind schön, schön wie ein Sommertag auf einer sonnigen Wiese, draußen am Waldrand … der Sommer ist fern.
Der blauviolette Schal, noch um den Hals des kleinen Körpers geschlungen, ist das einzig Bunte zwischen dem hässlichen braunen Sofa und all dem Weiß.
Es wird immer Winter bleiben.
Unsinniger Gedanke, warum sollte es immer Winter bleiben?
Er muss etwas tun. Etwas gegen die Kälte. Eine Welt aus Kälte; der Frost durchsetzt das weiche blonde Haar auf dem Sofa mit gleißenden Lichtpunkten, funkelnden Bändern, mondlichtschillernden Diamanten. All diese Worte in seinem Kopf!
Wie lange kniet er schon so da, mit den Worten im Kopf?
Der glitzernde Frost ist natürlich nur Einbildung, ist nur für ihn sichtbar, er weiß das.
Mein Gott, der Schal. Er muss den Schal lösen. Rasch, rasch, seine Finger zittern so stark, dass er es kaum schafft, warum hilft denn keiner, warum?
Weil es seine Schuld ist. Nur seine.
Der Schal will sich nicht von dem Hals trennen, er nimmt die Zähne, wie ein Tier, arbeitet fieberhaft, und dann ist sie frei, und er zieht sie hoch, aber sie regt sich noch immer nicht. Sie ist wie eine Puppe, und die Schuld ist so eisig wie tausend Winter.
Er hat sie kaputt gemacht.
Er dreht sich um, jetzt ist da etwas Warmes auf seinem Gesicht, Tränen. Könnte er nur geradeaus denken, könnte er nur begreifen, könnte er nur er selbst sein! Sein Geist ist umnebelt, umnebelt wie immer in diesem Raum, sie haben ihn in seinem eigenen Kopf eingesperrt, die Wirklichkeit ausgeschaltet, und sonst ist er fast dankbar darüber, weil er die Wirklichkeit nicht aushalten würde.
Doch in diesem Moment würde er alles dafür geben, klar zu denken.
»Helft mir«, hört er sich flüstern. Mit wem spricht er? Mit ihnen? Mit ihnen will er doch eigentlich gar nicht sprechen, nie hat er in all diesen Wochen mit ihnen gesprochen, nicht freiwillig, aber jetzt ist sein Flüstern flehend. »Helft mir. Bitte.«
Und der Sand ist so kalt wie der unsichtbare Frost. Februar.
Das Meer wirft Eisschollen gegen seine gefrorenen Ränder, mit einem Klirren wie Musik.
Wie ist er hierhergekommen? Da fehlt ein Stück Zeit in seinem Kopf.
Oben, hinter dem Weg, steht das Auto, sie sind also mit dem Auto gefahren.
Der Strand ist leer, die windschiefen Kiefern gleichen riesigen Knochen. Im Sommer ist der Wald so schön, hier, wo er ans Meer grenzt.
Er trägt sie. Sie ist leicht.
Nur ein Kind. Ist sie ein Kind?
Und er? Wann hört man damit auf, ein Kind zu sein, wer definiert das?
Als seine Mutter ihn in den Armen hielt, war er ein Kind. Als sie ihn noch vor der Welt beschützen konnte. Tausend Jahre her. Wenn sie wüsste, was er hier tut, würde sie weinen?
Die Nässe auf seinem Gesicht beginnt zu gefrieren, so scharf ist der eisige Wind hier draußen. Der Körper in seinen Armen ist nackt, er hat den blauvioletten Seidenschal darum geschlungen, wenigstens das, ein letzter Rest der Würde.
Er legt sie auf den Sand.
Arrangiert den Schal. Er bedeckt wenig, ist mehr wie ein Rahmen für ihre Nacktheit. Der Sand ist weiß wie ihre Haut, und da sind Rosen in seiner Hand. Weiße und rosafarbene Rosen.
Er nimmt sie, legt sie auf ihre Brust.
Hinter ihm das Auge der Kamera. Auch das: kalt.
Und dann denkt er einen einzigen klaren Gedanken: Zu viel. Es war zu viel von dem Zeug. Sie haben ihm zu viel gegeben. Und ihr auch. Daher die Stille, daher die Kälte.
Es ist gar nicht meine Schuld, dass sie so still ist.
Oder doch?
Und warum gerade Rosen? Woher haben sie sie?
Haben sie das alles … schon länger geplant?
Er trägt sie auf seinen Armen auf das dünne Eis hinaus, nur am Rand ist es fest genug, zwei, drei Meter weit. Und er legt sie dort ab, so wie sie es wollen. Moment. Wann haben sie ihm gesagt, was er zu tun hat? Er erinnert sich nicht, alles ist Nebel.
Er schiebt sie ins offene Wasser, und eine Welle packt sie, der Wind ist ablandig, jemand hat daran gedacht, dass der Wind ablandig sein muss.
Gott. Oder das Auge der Kamera.
Er kniet auf dem Eis und sieht sie davontreiben, hinaus aufs Meer, und dann dreht sie sich halb, und er sieht, wie sie einen Arm bewegt. Als griffe sie nach etwas. Verzweifelt.
Und er springt auf und bricht sofort ein, steht dort, bis zur Hüfte im Wasser.
Sie lebt! Sie hat sich bewegt!
Er will ihr nach, versucht hinauszuwaten, doch jetzt sieht er sie nicht mehr, das Wasser hat sie verschluckt, und dann sieht er gar nichts mehr, nur seine eigenen Tränen: Er ist ein Kind, nicht mehr als ein verzweifeltes Kind. Schließlich ziehen sie ihn aus dem Wasser, und er ist an Land.
Gut, sagen sie. Vergiss es jetzt. Vergiss alles.
Ja. Es wäre schön, zu vergessen. Er wird niemandem je erzählen, was hier geschehen ist. Oder was vorher geschehen ist. Auf dem Sofa. Heute. Und an den anderen Tagen.
Niemals wird er es erzählen, denn sonst werden sie ihn hassen. Er muss es alleine schaffen, alles zu vergessen, ganz allein. Alleinsein tut weh.
Wird er jemals jemanden finden, mit dem er nicht mehr allein sein muss? Ein Kind, das er retten kann, statt es kaputt zu machen? Einen Menschen, dem er vertraut? Ist es möglich? Wenn er es schafft, alles, alles zu vergessen, ist es möglich, eines Tages … zu lieben?
Der Tag, an dem Elias das Märchen fand, war der erste wirklich goldene Tag des Herbstes.
Es war ein windiger Tag, ein Tag voller zerrissener graublauer Wolken, und vor dem Himmel wirbelte das Gold. Fetzen, Scherben, Blattgold: Goldblätter. Die Luft war voll davon.
Sie hatten Sturm angesagt.
Er mochte Sturm.
Er war mit dem Rad zum Strand hinausgefahren, und er fühlte sich betrunken vom Wind. Zwischen den Zehen spürte er den Sand, er hatte Turnschuhe und Socken ausgezogen. Es war natürlich kindisch, barfuß durch den Oktobersand zu laufen, wenn man beinahe achtzehn war. Egal, niemand sah ihn.
Bis auf den Hund.
Aber der Hund trug schließlich auch keine Schuhe.
Sie waren oft zusammen kindisch, er und der Hund, sie durchstreiften die Wälder, seit er ein kleiner Junge und der Hund ein Welpe war. Jetzt war der Hund alt. Ein Wolfshund. Manche Spaziergänger erschraken, wenn sie ihn sahen, weil sie ihn für einen echten Wolf hielten. Elias erklärte ihnen geduldig, dass er keiner war. Und er hörte aufs Wort, wenn man pfiff, kam er angesaust wie ein Komet. Kometenhund. Micha hatte das gesagt.
Früher war sie oft mit Elias und dem Hund durch die Wälder gewandert. Sie hatten den Hund zusammen erzogen, sie war dreizehn gewesen und er sechs, und sie war ihm immer so erwachsen vorgekommen.
Sie hatte gesagt, sie könnten sich heute hier treffen, mal wieder zusammen spazieren gehen, sie bräuchte eine Pause vom Lernen fürs Examen. Die Uni fraß sie auf.
Sie würde mit ihm barfuß durch den Sand laufen, Micha war auch gerne kindisch.
Er sah auf sein Handy. Er hatte noch Zeit, bis sie kam.
Er würde zur Landspitze hinauswandern, wo der Wind am stärksten war, und vielleicht konnte er filmen: die dunklen Kiefern, die rotgoldenen Herbstbuchen: Sie waren Kunstwerke. Er musste das Handy benutzen, die Kamera lag zu Hause.
Die Filme waren so eine Sache; er hatte immer schon Dinge gesehen, die andere Menschen nicht sahen, winzige Dinge, schöne Dinge, Ausschnitte. Manchmal auch schlimme Dinge.
Auf seinem Rücken steckte in ihrer alten braunen Hülle die Gitarre, die ihn begleitete wie der Hund. Die auch die Filme begleitete. Aber eigentlich hatte er sie dabei, weil Micha ihn gebeten hatte, für sie zu spielen.
Für die Filme gab es Regeln: Erstens, sie durften nicht länger sein als eine Minute. Zweitens, sie mussten ästhetisch sein. Drittens, sie mussten etwas aussagen, das er formulieren konnte, aber niemals formulieren würde, denn darauf kam der Betrachter entweder selbst, oder der Film war Müll. Und viertens: Es würde keine Betrachter geben.
Noch nicht.
Er war noch nicht perfekt.
Eines Tages, wenn er gut genug war, würde er versuchen, auf der Filmhochschule aufgenommen zu werden.
Er warf einen Stock für den Hund, der davonraste, wanderte durch den Goldwald und suchte Bildausschnitte: brechende Äste, wirbelnde Bewegung, Schönheit und Zerstörung.
Zur Linken blitzte das blaue Wasser durch die Stämme, die Wellen trugen weiße Schaumkronen, fast kitschig, märchenhaft. Vielleicht waren seine Kurzfilme Märchen: schön und symbolbeladen.
Sein Vater hatte Märchen erzählt.
Aber manche Märchen waren zu traurig.
Er war so alt gewesen wie Elias jetzt, als er sich das Leben genommen hatte. Er hatte nichts von Elias Existenz gewusst.
Der Hund war wieder da, hechelnd, stolz, und Elias grinste und nahm ihm den Stock ab.
»Das ist überhaupt nicht der, den ich geworfen habe«, sagte er. »Du schummelst.«
Er warf den Stock noch einmal, in dem Wissen, dass der Hund, dessen Geruchssinn nachließ, ihm einen anderen bringen würde. Er würde beim nächsten Mal so tun, als merke er es nicht. Er fing den Hund mit dem Auge des Handys ein, seinen Übermut, die Sprünge, die er trotz seines Alters vollführte.
Die Blattgoldfetzen im Wind.
Das Meer zwischen den Stämmen.
Wellen, auf denen weiße Schwäne wippten.
Und dann, als er am Ende des Strandes war, wurde der Wind zum Sturm, und Elias stand da und begrüßte ihn. Wolken verdunkelten den Himmel, Böen bliesen ihm das helle Haar ins Gesicht, er sah nicht mehr, was er filmte. Er rief den Hund, steckte das Handy ein und stemmte sich gegen den Wind, der die Bäume bog. Äste fielen krachend im Wald hinter der Küste.
Es geschah, dachte er mit plötzlicher Sorge, zu schnell.
Er war sich nicht mehr sicher, dass es eine gute Idee war, gerade jetzt hier draußen herumzuwandern. Er ging den Pfad zwischen den Bäumen entlang, geduckt, vorbei an den gestürzten Kiefern am Strand, die andere Stürme gefällt hatten: Sie glichen Knochen, blass, von Wetter und Wind entrindet, schön auf eine makabre Art. Als Kind war er auf ihnen balanciert, an der Hand seiner Mutter. Anna. Und Micha war vorausgelaufen, seiltänzerisch sicher.
Seine wunderbare Schwester.
Dabei war sie gar nicht seine Schwester.
Es war kompliziert. Sie war die Schwester seines Vaters, aber sie waren aufgewachsen wie Bruder und Schwester. Genauso wie Linda und Magnus seine Großeltern waren, aber eigentlich immer gewesen waren wie Eltern.
Vielleicht wartete Micha jetzt auf ihn, dort, wo der Strand begann, bei der Straße.
Der verdammte Sturm war zu stark, er kam nicht voran, kämpfte sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Die Wellen waren grau jetzt, der Tag verschwunden unter einem Mantel aus zu früher Nacht, Blitze zuckten übers Meer. Der Hund drückte sich zitternd gegen Elias’ Beine. In der Luft war der Geruch von Elektrizität.
Vermutlich war Micha schlau genug gewesen, gar nicht nach Ludwigsburg rauszufahren, vermutlich hatte sie die Sturmwarnung ernster genommen als er.
Es gab eine Geschichte über seine Mutter, hier draußen, in einem Sturm. Aber es war ein Schneesturm gewesen. Sie hatte ihm die Geschichte erzählt, als er klein gewesen war, er hatte im Bett gelegen, unter der warmen Decke, und sie hatte erzählt, wie sie fast aufgegeben hatte und dann gerettet worden war. Von einem Freund mit einem Auto.
Es war schön, solche Geschichten zu hören, wenn man im Bett lag und nicht fror.
Er fror jetzt. Und er war kein Kind mehr, alle Betten und Sicherheiten waren weit fort.
Er fand eine alte Kiefer, die vor langer Zeit gestürzt war, aber weitergelebt hatte, ihr riesiger Wurzelballen war halb aus der Erde gerissen worden und bot Schutz vor dem Wind. Dort, wo sie einmal im Boden gesessen hatte, gab es eine Vertiefung, eine Grube, umwuchert von den Zweigen einer wilden Kletterrose: Zweigen mit winzigen roten Hagebutten und ein paar letzten Blüten. Er kletterte über die Dornen und kauerte sich hin, an seiner Seite der Hund.
Seine Hände brannten, die Dornen hatten die Haut aufgerissen.
Er zog das Handy wieder aus der Tasche und filmte, durch einen Spalt im Astwerk, die brechenden Bäume. Die Brandung, die über den Sand hinaufkam und Welle für Welle das Ufer fraß.
Da waren Pappkartons, Plastiktüten, eine Flasche. An der Wurzel vor ihm flatterte ein alter Stofffetzen, blauviolett, brüchig, vor Unzeiten dort festgeknotet: Die Handykamera fing auch das ein, ein Farbfleck im Chaos. Das Ende der Welt in Sekundenaufnahmen.
Der Hund winselte.
»Verdammt«, flüsterte Elias. »Wenn das Wasser noch höher kommt, fließt unsere Grube voll. Wir sollten …«
Und in diesem Moment krachte etwas direkt über ihnen. Elias reagierte blitzschnell, rollte sich zusammen, hielt die Arme über den Kopf, schützte mit seinem Körper den Hund.
Etwas neigte sich, stürzte, fiel, direkt auf sie zu. Er dachte an die Gitarre auf seinem Rücken, die zerquetscht werden würde, und er dachte, dass es Wahnsinn war, an die Gitarre zu denken, wenn er selbst vielleicht zerquetscht wurde. Er dachte auch an den alten Mann, der in einer einsamen Wohnung saß und traurig wäre, wenn Elias nie mehr für ihn spielen könnte. Und an seine Mutter und das Silber der Querflöte in ihren Händen.
Was man so denkt, wenn man glaubt, es ist vorbei.
Er hob den Kopf.
Es war jetzt dunkel um ihn. Das Handy, das er immer noch festhielt, filmte die Dunkelheit. Er hörte, ganz nah, das Atmen des Hundes. Er tastete. Da war eine Handbreit Luft zwischen der Gitarre auf seinem Rücken und dem Dach der Höhle. Dach?
Es war ein Dach aus rauer Rinde.
Ein Nachbar der Kiefer war gefallen und lag jetzt quer über der Grube, in der Elias kauerte. Verschloss sie. Aber ihm war nichts geschehen. Es war ein Wunder.
Er legte das Handy auf den Boden und stemmte sich mit beiden Armen gegen den Stamm über ihm. Der Stamm ruckte – und lag wieder still. Elias bekam den Baum ein wenig angehoben, aber lange nicht weit genug, um hinauszuklettern. Beim zehnten Versuch gab er auf, kauerte sich in der Dunkelheit zusammen, sammelte Kraft. Seine Arme schmerzten, sein Rücken schrie.
Das Handy hatte kein Signal hier unten, er konnte niemanden anrufen, der half.
Stell dir vor, du schaffst es nicht. Gar nicht. Stell dir vor, niemand findet dich. Was für ein absolut bescheuertes Ende. Unter einem Baumstamm, drei Wochen vor deinem achtzehnten Geburtstag.
Dein Vater hat es nicht geschafft, achtzehn zu werden.
Vielleicht ist es ein Fluch, der auf dir lastet. Vielleicht wirst du es auch nicht schaffen.
Er schüttelte sich. Stemmte sich noch einmal gegen den Stamm, wieder hob er sich um ein wenig … und dann ging es ganz plötzlich leichter. Und ein dicker Ast wurde von außen zwischen den Stamm und den Rand des Grabens geschoben, ein Ast, mit dem sich der gestürzte Baum vielleicht weghebeln ließ.
Da war jemand, da draußen. Micha, dachte Elias, sie ist hier.
Doch dann sah er die andere Person – ausschnittsweise im Blättergewirr: einen blassen Arm, eine schwarze Haarsträhne, ein halbes Gesicht mit grünen Augen. Und noch einen Arm, dünner, eine kleinere Hand: Die da draußen waren zu zweit. Ein Erwachsener und ein Kind.
»Los, noch mal«, sagte die Person, und Elias nahm all seine Kraft zusammen und stemmte den Baum nach oben, und diesmal griff der Hebel. Es lebe die Physik. Der Baum bewegte sich zur Seite, gerade weit genug, und Elias und der Hund zwängten sich ins Freie.
Die beiden, die geholfen hatten, waren verschwunden.
Einen Augenblick lang saß Elias einfach auf dem Boden, mitten im Heulen des Sturms. Dann fiel ihm das Handy ein, und er griff noch einmal in die Grube und holte es heraus.
Es hatte die ganze Zeit über gefilmt.
Er sah sich die Aufnahme an: Sturm, Goldblätter, die Landspitze, stürzende Bäume, Treibgut auf schäumenden Wellen, Dunkelheit … Und da waren sie. Seine Retter. Er fand den Schemen eines Kindes und das Gesicht eines Mädchens mit langem dunklem Haar, es war nur flüchtig zu sehen, ehe sie sich umdrehte und zwischen dem wirbelnden Gold verschwand.
Elias schüttelte den Kopf.
Dann löste er das alte blauviolette Tuch von der Wurzel und schlang es um sein Handgelenk: eine Erinnerung an seine Rettung. Ein Glücksbringer.
So watete er ins Wasser hinaus, den Hund auf dem Arm. Er würde hier, im Wasser, zurückgehen. Es war mühsam. Aber wenigstens konnte so kein Baum auf einen fallen. Es begann zu regnen.
Als Elias bei dem alten Restaurant am Beginn des Strandes ankam, war er klitschnass und fühlte sich völlig zerschlagen. Er torkelte über die Wiese hinauf zur verlassenen Terrasse. Über dem Meer zogen die Wolken zurück und entblößten einen blassblauen Abendhimmel. Blassblauviolett wie das Stück Stoff.
Es hatte aufgehört zu regnen.
Und dann sah er, dass jemand dort saß – an die Wand gelehnt, unter dem Vordach bei der Tür, so sehr in sich zusammengekrochen, dass die Person mit der Wand zu verschmelzen schien.
Micha. Er spürte, wie sich ein warmes Lächeln über sein Gesicht breitete, war mit drei Schritten bei ihr und ließ sich neben sie auf den Boden fallen.
»Hey«, sagte er, außer Atem. »Hast du lange gewartet? Ich bin zu spät, weil … ich mich noch schnell fast von einem Baum erschlagen lassen musste.«
Sie lachte nicht. Nickte nur. Saß einfach da, die Arme um die Knie geschlungen, in einer Hand ihr Handy, und sah ihn an, aber es war, als sähe sie eigentlich durch ihn hindurch.
Ihr helles Haar war zerzaust, ihre Augen wirkten riesig, das Hellblau ein weiter Himmel voll von kaltem Wind.
»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, sagte Elias und legte einen Arm um sie.
Sie nickte. Schüttelte dann den Kopf.
Warf einen kurzen Blick auf das Handy, steckte es in die Jackentasche und streichelte den Hund, der sich an sie drückte. Ihre Stimme war seltsam, als sie sprach. Belegt.
»Ich habe nur … eine Nachricht bekommen.«
»Von wem?«, fragte Elias. »Einem Typen?«
Männer waren bisher eigentlich nie wichtig gewesen in ihrem Leben, sie hatte ab zu und einen, aber es war nie etwas Festes daraus geworden.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie.
Micha sah über die verlassene Terrasse mit den angeketteten Stühlen, die auf den Sommer warteten, zum aufgewühlten Meer.
»Wenn er das öffentlich macht«, wisperte sie, so leise, dass er sie kaum hörte. »Dann bring ich ihn um. Ich finde ihn, und ich bringe ihn um. Zehntausend. In zwei Wochen. Unmöglich.«
»Zehntausend was?«
Sie fuhr zusammen wie ertappt, schüttelte den Kopf. »Ich habe nur laut gedacht. Vergiss es.«
»Nein!«, sagte er. »Erzähl mir, worum es geht. Wir haben immer alle Probleme zusammen gelöst.«
»Ja«, sagte sie. »Als du klein warst. War eine schöne Zeit.« Sie fuhr ihm durchs nasse Haar wie einem Kind, legte dann den Kopf an seine Schulter, als wäre sie das Kind. »Und jetzt«, flüsterte sie, »bist du verdammte zehn Zentimeter größer als ich.«
»Geht es um Geld? Ersteigerst du ein Rennpferd?«
»Erraten.« Sie lachte plötzlich. Lachte allen Ernst weg. »Wie geht’s deiner Filmerei? Irgendwas Neues?«
»Vielleicht«, sagte er zögernd. »Ich habe den Sturm mitgefilmt. Aber es war etwas … bizarr. Etwas Seltsames ist passiert. Ich … heute Abend sehe ich, was man von den Aufnahmen brauchen kann.«
»Zeig sie mir«, sagte sie. »Sie sind gut, ich bin sicher. Was du machst, ist immer gut. Du solltest es endlich auch der Welt zeigen.«
»Quatsch.«
Er holte sein Handy heraus, und da war sie, die Schönheit des Waldes. Das wirbelnde Blättergold, Wolken, die den Himmel verschlangen. Seltsames Licht, gelb und türkis, unwirklich, Spannung, die sich aufbaute. Die kippte, brach. Naturgewalten, stürzende Äste, Schaumkronen auf sich überschlagenden Wellen. Die See, die das Ufer fraß: Rache des Meeres am Menschen, der es zerstörte. Plastiktüten auf dem Wasser. Eine Dose. Das flatternde Stück blauen Stoffs.
Und eine kleine wilde Rose im Bild, ganz vorne, der zarte Stiel voller Dornen. Symbolisch.
Dann kam der Baum herunter. Chaos, Blätter, Rinde, Dunkelheit.
Schemen im hereinsickernden Licht: Ausschnitt eines Gesichts, ein Hund und ein Junge, zwei Verschüttete. Arme, die sich im Dunkel gegen den Stamm über der Höhle stemmten. Und auf einmal: mehr Licht. Der Ast, der von außen in die Ritze geschoben wurde, um den gefallenen Baum wegzuhebeln. Dann war der Stamm fort, der Ausgang frei, man sah die beiden Figuren für eine halbe Sekunde deutlich: ein Mädchen mit wildem dunklem Haar, ein Kind an seiner Seite. Und sie tauchten in den Wald und waren fort.
Elias sah auf. »Ein Märchen von einer Rettung.«
»Das ist … großartig«, flüsterte Micha. »Wenn du das noch aneinanderschneidest … Die ganze Tragik der Welt in einer Minute. Schönheit. Sich rächende Naturgewalten. Der Untergang der Welt. Die Erlösung. Vielleicht gewinnst du einen Umweltpreis damit.«
Er lachte. »Viel zu kitschig.«
»Oh, Leute stehen auf Kitsch. Und auf Märchen. Und dieses Mädchen hat dich … quasi … gerettet? Wer ist sie?«
»Ich habe keine Ahnung. Sie war einfach da. Ich werde versuchen, Musik zu finden, für die Aufnahmen. Heute Abend. Etwas einzuspielen. Ich schicke dir einen Link, wenn der Film fertig ist.«
Sie lächelte. »Und du willst nicht wissen, wer sie ist?«
Er schüttelte wieder den Kopf.
»Irgendwann wirst du dich verlieben«, flüsterte Micha und legte eine Hand an seine Wange.
Er schnaubte. »Nein. Liebe geht am Ende immer schief. Anna hat geliebt, und es ist schiefgegangen. Liebe ist kein rosa Zuckerwölkchen, das man auf Instagram postet. Liebe ist etwas Großes und Schreckliches, sie frisst dich auf, foltert, ist grausam. Ich … verstehst du … ich war immer der Gegenpol. Zur Traurigkeit. Wenn Anna in ihr schwarzes Loch gefallen ist, habe ich sie getröstet, schon als Kind. Wie soll ich ein Gegenpol sein, wenn ich selbst eines Tages liebe? Wenn ich selbst … verletzt werde?«
»Du klingst wie das Gedicht eines Hundertjährigen.« Micha grinste. »Du bist siebzehn, verdammt.« Sie stand auf, streckte eine Hand aus, zog ihn auf die Füße. »Und du zitterst. Du bist klatschnass und eiskalt. Du musst nach Hause, ruf deinen Hund.«
»Kommst du mit?«
Sie schüttelte den Kopf, während sie hinübergingen zu den Rädern auf dem verlassenen Parkplatz. »Ich muss zurück in meine WG. Die Bücher warten. Nur noch vier Wochen bis zum Staatsexamen.«
Elias schüttelte den Kopf. »Ich werde nie begreifen, warum du ausgerechnet Medizin studierst.«
»Das weißt du doch«, sagte Micha. »Weil ich Pathologie machen will.«
»Leichen obduzieren.« Er schüttelte sich. »Muss ich das begreifen?«
»Jeder hat seinen Spleen. Du machst Filme, ich obduziere Leichen. Irgendwer muss doch herausfinden, woran die Leute gestorben sind.«
»Ich weiß nicht«, sagte Elias. »Tot ist tot.«
»Nein«, sagte Micha.
Elias öffnete sein Fahrradschloss mit klammen Fingern. Als er aufsah, stand Micha immer noch neben ihrem Rad, nachdenklich.
»Eins noch«, sagte sie.
»Hm?«
»Kann ich dich was fragen? Es ist … du und der Hund, ihr seid viel in den Wäldern hier unterwegs. So wie ich, du weißt ja, ich renne ab und zu im Wald rum und klettere auf Bäume.« Sie sah zu Boden, malte mit dem Stiefel Muster in den Dreck. »Ich stelle mir vor, dass ich wieder ein Kind bin«, flüsterte sie. »Dumm, was? Dass er zu Hause auf mich wartet. Und Pfannkuchen macht und Märchen erzählt. Dass er lebt.« Sie sah auf, sah Elias an, holte tief Luft. »Okay, hier ist die Frage. Siehst du manchmal einen Schatten? Im Wald? Jemanden, der sieht, aber nicht gesehen werden will?«
»Einen … Schatten? Siehst du einen?«
Sie nickte. »Aber wenn ich genau hinsehe, ist er jedes Mal verschwunden.«
Er schüttelte sich, unbehaglich. »Hast du einen Verdacht, wer es sein könnte?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich bin nicht mal sicher, dass es ein Mensch ist. Manchmal denke ich, es ist ein Tier. Ein Wolf. Ich sehe ihn schon seit Langem. Seitdem ich alleine in den Wald komme. Ich war dreizehn, als ich damit angefangen habe.«
»Das klingt … merkwürdig«, sagte Elias, und sie nickte. »Ich weiß. Es ist kein furchteinflößender Schatten, weißt du. Vielleicht ist es der Wolf aus dem alten Märchen. Anna hat es dir erzählt, oder? Der silberne Wolf.«
»Er hat Leute totgebissen.«
»Ja, aber nur, um mich zu beschützen«, flüsterte sie. »Damals, als ich die kleine Königin war. Manchmal habe ich das Gefühl, er versucht noch immer, mich zu schützen. Aber er ist so allein, da draußen im Wald.«
»Oh, Micha«, sagte Elias und umarmte sie, in seiner nassen Jacke, ungeschickt. »Komm mit nach Hause. Zu Linda und Magnus. Kakao trinken vor dem Kamin. Über fröhliche Dinge reden.«
»Ein andermal«, sagte sie. »Ich muss wirklich lernen. Und du musst nach Hause, sonst holst du dir den Tod. Oder der Hund holt sich den Tod, er ist so nass wie du, du willst keinen hustenden Hund zu Hause. Fahr.«
Er fuhr.
Als er sich umdrehte, stand sie immer noch neben ihrem Rad.
So eilig schien sie es nicht zu haben, zu ihren Büchern zu kommen. Sie wollte, dachte er, allein sein. Mit einem Schatten im Wald und einer Nachricht auf ihrem Handy, die niemand sehen durfte.
Er gab dem Film einen Namen. Märchen. Nur so, aus Jux vielleicht.
Aber es stimmte, es war ein Märchen; all das Blättergold, und diese unwahrscheinliche Rettung durch ein Mädchen, das aus dem Nichts erschien.
Und dann reichte Micha das Video bei dieser Jury ein, wo er mit voller Absicht nichts eingereicht hatte, obwohl er natürlich wusste, dass der Preis existierte.
Kurzfilmwettbewerb für jungen Film auf Landesebene: Der Weiße Wolf.
Er war noch nicht so weit.
Er brauchte Zeit.
Der Plan war, erst einmal eine ganze Weile zu reisen, nachdem er das Abi in der Tasche hatte. Seine Augen mit Licht und Farben zu füllen, zu sehen, zu sammeln, zu lernen, ehe er sich auf der Filmhochschule bewarb.
Aber dann kam der Anruf, es war ein Sonntag, und er war auf einmal ein Preisträger.
Die Lokalzeitung wollte ein Interview.
Er stotterte. Sie fragten, woher er dieses Talent hatte, diese Fähigkeit, Dinge in der Realität zu sehen, die zu einem Märchen werden konnten, und er wusste nicht, was er sagen sollte, und sagte schließlich etwas über seinen Vater, der auch Märchen erzählt hatte, und dass er den Film seinem Vater widmen würde, wenn er könnte.
»Er wird sehr stolz auf Sie sein«, sagte der Mensch von der Zeitung.
»Er ist sehr tot«, sagte Elias. »Wir haben uns nicht gekannt.«
Später dachte er, dass die ganze Sache damit begonnen hatte. Dass sie nicht passiert wäre, wenn nicht sein Bild in der Zeitung aufgetaucht wäre. Wenn er nichts über seinen Vater gesagt hätte.
Aber in Wahrheit hatte alles natürlich längst begonnen.
Achtzehn Jahre zuvor.
Die anderen standen in einer kleinen Gruppe bei den Fahrradständern, als er ankam.
Es war Montag, und an den Bäumen im Schulhof brannten die Blätter in warmem Rot.
Aber eine Menge Blätter hatte der Sturm heruntergerissen, irgendwer hatte sie zu einem Haufen zusammengefegt, ein Haufen aus Rot und Gold zu den Füßen des Abiturjahrgangs.
Man hätte hineinspringen können in den Blätterhaufen.
Er fragte sich, ob manche es taten, wenn niemand hinsah.
Theo Jansen zum Beispiel, der immer tat, als wäre er schon lange Student, Theo mit der Psychologenbrille und dem Dreitagebart, sprang Theo heimlich in Blätterhaufen?
Er wischte auf seinem Smartphone herum, neben sich Helena, die eine blassblonde, lange Haarsträhne hinter ihr Ohr schob. Sie sah mit ihm auf den Bildschirm des Handys.
Sie sahen alle auf ihre Handys. Aber als Elias zu ihnen trat, sahen sie auf.
Auf seltsame Art. Alle. Sahen ihn an.
»Ich … äh … Guten Morgen«, sagte Elias. »Wie spät ist es? Sollten wir nicht reingehen?«
»Die Musik ist schön«, sagte Helena und trat einen Schritt vor, sah ihn direkt an, zu direkt. »Von wem ist die?«
»Welche Musik?« Er sah von einem zum anderen, verwirrt.
»Dein Film«, sagte Kristina. »Die Musik zu deinem Film.«
»Der Weiße Wolf!«, sagte Karsten, der an Kristina hing wie immer, physisch hing, sie gingen überall zusammen hin, meistens auf Demos. »Mann!« Und er boxte Elias gutmütig gegen die Schulter. »Glückwunsch, Mister Junges Talent!«
»Märchen«, sagte Kristina. »Schatten. Was genau bedeutet das?« Sie hauchte ihre Frage fast. Auf der Suche nach etwas Tieferem. Sie träumte davon, in Berlin Philosophie zu studieren und in eine existenzielle vegane WG zu ziehen, natürlich nicht ohne Karsten, der existenziell und vegan war, wenn sie es war.
»Ich … weiß nicht«, murmelte Elias. »Ich weiß nicht, was es bedeutet.« Er lehnte sich an sein Fahrrad im Radständer, irgendwie rutschte ihm der Boden unter den Füßen weg.
Sein Blick fiel auf das uralte Stück Stoff, das er immer noch ums Handgelenk geschlungen trug, dünn wie ein Armband, sein Andenken an den Sturm, den er überstanden hatte.
Wer einen Sturm überstanden hat, sollte auch ein bisschen Interesse von anderen Menschen überstehen. Oder.
Denn das war es, was sie alle auf ihren Bildschirmen hatten: seinen Film. Seinen verdammten Kurzfilm, den Micha für den Weißen Wolf eingereicht hatte und der nie hätte gewinnen dürfen, weil er erstens gar kein Kurzfilm war, sondern nur eine Minute lang, und zweitens nicht fertig, nicht perfekt, nicht gut genug.
»Du bist in der Zeitung«, sagte Lani und hielt triumphierend eine Ausgabe der Lokalzeitung hoch. »Heute Morgen. Kultur – Elias Leemann gewinnt den Weißen Wolf, Interview Seite dreizehn.«
Elias griff nach der Zeitung, versuchte, sie ihr wegzuschnappen, doch sie hielt sie über ihren Kopf und ließ ihn nicht daran kommen, lachte ihn aus, flirtend.
»Ich habe nur Unsinn erzählt in dem blöden Interview«, knurrte er. »Und es war nicht meine Idee, den Film einzureichen. Das war meine Schwester. Sie hat mich nicht gefragt.«
»Aber jetzt bist du froh, dass sie es gemacht hat, was?«, sagte Karsten und legte einen Arm um Elias’ Schultern.
»Nein«, sagte Elias.
»Na, schau dich um, du bist über Nacht berühmt geworden«, meinte Theo und nickte zu den anderen auf dem Schulhof hin, überall standen kleine Grüppchen und starrten auf ihre Handys. Hatten sie alle mitbekommen, dass sein verflixter Film im Netz war?
»Der Fluch von fame und celebrity«, sagte Theo und lachte. Aber seine Augen sahen nicht nach Lachen aus, und er streckte eine Hand aus, um Helena wieder an sich zu ziehen, eine Hand wie eine Leine. »Wir sollten reingehen. Jungs? Mädels? Die Pflicht ruft.«
»Wenn die Pflicht ruft, hab ich’s auf den Ohren«, sagte Lani, aber sie gingen alle mit, betraten durch die schwere alte Tür die dustere, Jahrhunderte atmende Aula.
Nur Helena blieb zurück, hatte Theos Hand gelöst und ihn allein durch die Tür gehen lassen.
»Von wem war die Musik?«, fragte sie jetzt, ganz leise. »Kannst du mir sagen, wie die Band heißt?«
Elias lachte trocken. »Band? Das war eine einzelne Gitarre. Akustisch. Weiter nichts.«
»Aber es war schön.«
»Ich weiß auch nicht, von wem sie war«, sagte Elias, »ich habe sie im Netz gefunden. Sie ist eigentlich crap. Kitschig. Wie der ganze Film.«
Mein Gott, dachte er. Mein Gott, sie darf nie erfahren, dass ich sie geschrieben und eingespielt habe. Die Musik. Und sie ist kitschig. Aber in ihm floss das Blut wärmer durch die Adern, wenn er an Helenas Lächeln dachte. Die schöne Helena, sie hatten sie seit der Sechsten so genannt, als sie die Griechen und die Römer hatten. Dieses blonde, feine, glatte Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Diese großen, klaren blauen Augen. Himmel, sie war Theo Jansens Mädchen, so jedenfalls hätte Theo es gesagt.
Er war völlig verwirrt, er war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen.
Er wollte weg. Irgendwo mit dem Hund durch den Herbstwald laufen, irgendwo, wo keine Menschen waren. In Ruhe nachdenken.
Lani hatte die Zeitung auf dem ersten Fensterbrett der Aula liegen lassen, aufgeschlagen auf der richtigen Seite. Er hob sie auf. Von der rechten Seite blickte ihm sein Gesicht entgegen, ein Gesicht mit blondem Haar, etwas länger als kurz, etwas zerzaust, und einem ernsten Blick. Sie sagten immer alle, dass Elias aussah wie er.
Alles stimmte, das helle Haar, die Augenbrauen, die Wangenknochen. Nur die Farbe der Augen nicht. Elias’ Augen waren braun. Seine Augen waren blau gewesen, blau und tief und kalt wie Eis. Wenn ich den Film jemandem widmen könnte, würde ich ihn meinem Vater widmen. Da stand er, der Satz, in der Mitte der Seite. Er hätte die Filme verstanden. Die Märchen.
Warum hatte er das gesagt? Es ging niemanden etwas an.
Er saß sich durch zwei Stunden Literatur der Neuzeit, zwei Stunden Quantenphysik und die Desertifikation des afrikanischen Kontinents und spürte die Blicke der anderen. Er hatte nichts gegen sie. Er wollte nur nicht gefragt werden, was sein Film bedeutete. Er wusste es nicht. Vielleicht bedeutete er einfach gar nichts.
Und endlich, endlich packten sie alle ihre Sachen, und er war fast aus dem Raum –
»Elias. Warten Sie.« Der Ostendorf legte ihm eine Hand auf den Arm. »Sie haben es in die Zeitung geschafft. Herzlichen Glückwunsch zu dem Preis.«
Elias wand sich, sah zu Boden. »Danke.«
»Was Sie gesagt haben, in dem Interview …«
»Vergessen Sie es. Bitte. Es war höchstwahrscheinlich Unsinn.«
»Nein.« Der Ostendorf schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht. Aber es besorgt mich. Als ich das Bild gesehen habe, heute Morgen, da habe ich für einen Moment gedacht, ich sehe ihn. Ihren Vater. Es war …« Er lächelte. »Ein Schock.«
»Hm.«
»Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, ich hatte nichts gegen ihn, aber ich habe mich an damals erinnert. Daran, was geschehen ist. Sie haben Ihrem Vater diesen Film gewidmet.«
Er zog etwas aus der Tasche seines hellbraunen Jacketts. Die Zeitung. Er entrollte sie.
»Ihre Filmminiatur erinnert stark an Märchen, sie steckt voller verborgener Symbole«, las er. »Haben Sie einen besonderen Bezug zu Märchen? Elias Leemann: Vielleicht habe ich die Märchen von meinem Vater geerbt. Er hat Märchen geschrieben. Er war gut mit Worten. Er hat Bilder damit gemalt, Musik damit gemacht. Ich nutze die Bilder, die ich finde.« Er sah auf. »Das klingt, als wäre er ein Vorbild.« Und jetzt seufzte er. »Bitte, Elias, eifern Sie ihm nicht nach. Ich habe Ihren Vater damals hierherkommen sehen, an diese Schule, er wollte Abi machen. Ich habe ihn sich bemühen und scheitern sehen, ihn aufsteigen und fallen. Und am Ende …« Er schüttelte den Kopf mit dem an den Schläfen bereits silbernen Haar. »Damals war ich ein junger Lehrer.« Er nahm seine Brille ab, zog ein weißes Tuch aus der Hemdtasche und putzte sie. »Zwei Punkte. Er hatte zwei Punkte in Geografie. Er hat ständig geschlafen im Unterricht, war kaum weckbar. Und man kann nicht alles mit einer brillanten Leistung in Deutsch ausgleichen. Zwei Punkte hätten nicht gereicht. Ich …« Er räusperte sich. »Ich bin kein Unmensch. Ich hätte ihm drei gegeben. Niemand wollte, dass es so endet.«
Elias lachte beinahe.
»Er hat sich nicht wegen seiner Erdkundenote umgebracht«, sagte er.
»Nein.« Der Ostendorf setzte die Brille wieder auf. »Natürlich nicht. Sie … haben seine Gene. Das ist eine gewisse Gefahr. Die Dinge sind in Ihnen angelegt. Aber es ist an Ihnen, zu wählen, was Sie sein wollen.«
»Ich glaube nicht, dass es an den Allelen auf irgendwelchen Chromosomen liegt, wenn jemand, der kaputt gemacht wird, reagiert«, sagte Elias leise.
»Ich habe keine Ahnung, was Ihre Mutter Ihnen erzählt hat«, sagte der Ostendorf. »Anna.« Er seufzte wieder. »Sie war eine meiner besten Schülerinnen. Ich … weiß nicht, wie viel Sie wissen. Über Ihren Vater.«
Elias ballte die Fäuste. Er wollte gehen. Jetzt. Er riss seinen Arm los.
»Danke, ich weiß so ziemlich alles«, erklärte er steif. »Es waren drei Morde. Drei Menschen. Rainer Liersky, Sören Marinke und der Knaake, sein Lehrer. Aber Knaake hat überlebt, er hat ihn selbst gerettet. Und ja, ich weiß, womit er nachts sein Geld verdient hat, ich kenne die ganze bescheuerte, tragische Geschichte, wir haben keine Geheimnisse zu Hause. Also, falls Sie gehofft hatten, irgendwelche Skandale aus dem Ärmel zu ziehen, die mich schockieren – tut mir leid.«
Damit drehte er sich um und ging, ließ den Ostendorf stehen, hörte ihn sagen: »Aber ich wollte doch nur …« Und dann hörte er nichts mehr, er rannte, wie er als kleiner Junge gerannt war, wenn die anderen zu viel geredet hatten, wenn sie geflüstert und auf ihn gezeigt hatten, weil irgendwer irgendwem irgendwas erzählt hatte, er brauchte Luft.
Im Hof saß Helena auf dem Fahrradständer. Neben Elias’ Fahrrad. Ihr helles Haar hatte fast exakt die Farbe der Herbstblätter.
Elias ging hinüber, versuchte, ruhig zu atmen. Helena Ostendorf, Tochter des Geografielehrers. »Was ist los?«, fragte sie.
Elias schüttelte den Kopf. »Nichts. Nur ein dummes Gespräch mit deinem Vater. Er macht sich Sorgen um mich.«
»Warum?«
»Weil ich einen Filmwettbewerb gewonnen habe. Nein. Keine Ahnung. Ich wünschte, dieses Bild wäre nicht in der Zeitung gewesen. Ich wünschte, ich hätte in dem Interview einfach meinen Mund gehalten.« Er schnaubte, trat einen Stein weg. »Ich wünschte, du wärst eben in diesen Blätterhaufen gesprungen. Es wäre ein schönes Bild gewesen.«
»Soll ich?« Sie lachte. »Soll ich hineinspringen?«
Doch er schüttelte den Kopf. »Ich filme nur Dinge, die von selbst passieren. Ohne Regie.«
»Was machst du jetzt?«, fragte Helena und spielte mit ihrer blonden Haarsträhne. »Wir haben noch Zeit vor Mathe. Wir könnten zum Bäcker gehen, einen Kaffee trinken und was essen. Und du könntest mir Dinge über deine Filmerei erzählen.«
»Ich weiß nicht.« Er wand sich. Helena war nett. Helena war interessiert. Helena war das hübscheste Mädchen an der Schule. Andererseits wollte er nach Hause. Er sehnte sich nach den Saiten der Gitarre unter seinen Fingern.
»Wo hast du Theo gelassen?«, fragte er und schloss sein Rad auf.
»Oh, Theo.« Sie winkte ab. »Er hat noch irgendwas im Sekretariat zu erledigen. Elias«, sagte sie sanft. »Theo und ich sind seit zwei Jahren zusammen, wir sind quasi ein altes Ehepaar. Es ist nicht so, dass ich nicht mit anderen Menschen Kaffee trinken gehen darf. Es ist nur Kaffee. Ich wollte dich nicht heiraten.«
»Helena?«
Sie drehten sich beide um, und da stand Theo, den Rucksack lose über die Schulter geworfen, und musterte sie einen Moment lang durch die schwarz berandete Brille. Dann legte er einen Arm um Helena, strich sich das dunkle Haar aus der Stirn, als wäre es ihm lästig, und Elias dachte das Wort Übersprungshandlung.
»Und da ist ja auch unser großer Regisseur«, sagte Theo, so als hätte er Elias eben erst bemerkt. Und ein bisschen väterlich, von oben herab. Er war älter, das war wahr, irgendwann in den unteren Klassen hatte er eine Ehrenrunde gedreht, damals war er einer der schwierigen Jungs gewesen, einer der über Tische und Bänke ging. Theos Vater war Apotheker, seine Mutter hauptberuflich Erbin, sie hatten zu viel Geld, und Theo war lange nicht bereit gewesen, sich an irgendetwas anzupassen. Aber dann hatte er sich gefangen, die Schule war stolz darauf, dass sie ihn »hingekriegt« hatten, und seit einer Weile war er ein Bestnotenschüler und ein vernünftiger junger Mann, der auf ein Studium der Wirtschaftspsychologie zusteuerte.
Elias und er waren einmal befreundet gewesen. In der Grundschule. Elias’ Großvater kannte Theos Vater, Herrn Jansen.
Aber während Theo in der Schule Wutanfälle bekam, hatte Elias, damals noch eine Klasse unter Theo, still am Fenster gesessen und sich hinausgeträumt zwischen die Farben und Töne der Äste neben dem vierten Stock. Irgendwie hatte die Freundschaft sich im Sand verlaufen.
»Diskutiert ihr ein neues Drehbuch?«, fragte Theo und grinste gutmütig.
»Ich bin kein Regisseur«, sagte Elias. »Ich bin Dokumentarfilmer.«
»Ah«, sagte Theo und sah Helena an. »Und heute dokumentierst du die schöne Helena?«
Helena warf ihm einen genervten Blick zu. »Wir wollten zur Bäckerei.«
»Na dann«, sagte Theo, nahm den Arm von ihren Schultern und fasste sie stattdessen an der Hand. »Kommt, ihr Turteltäubchen. Essen fassen. Auch Berühmtheiten brauchen Kalorien.«
»Ich … hatte eigentlich sowieso was anderes vor«, sagte Elias. »Geht ohne mich.«
Und dann zerrte er sein Rad zwischen den anderen heraus und schwang sich in den Sattel. Er spürte Theos und Helenas Blicke im Rücken. Vor allem Theos. Es passte Theo überhaupt nicht, dass alle über Elias redeten. Aber da hatten sie etwas gemein. Es passte Elias auch nicht.
Sonst fuhr er in der Mittagspause nicht nach Hause. Es lohnte kaum.
Aber heute war er erleichtert, als er die Tür aufschloss und die stille Luft des alten Hauses betrat.
Als ich das Bild gesehen habe, heute Morgen, da habe ich für einen Moment gedacht, ich sehe ihn.
Es war ein Schock.
Er schüttelte den Kopf, hängte seine Jacke über eine andere ins Chaos der Jackenhaken.
Sie … haben seine Gene. Das ist eine gewisse Gefahr. Aber es ist an Ihnen, zu wählen, was Sie sein wollen.
Er verließ den mit Stiefeln, Jacken, Angelhaken und Apfelkisten vollgestopften Vorflur, trat in die Küche.
Ich … weiß nicht, wie viel Sie wissen. Über Ihren Vater.
Auf dem Küchentisch stand eine weiße Rose in einer schmalen Vase. Die offenen Balken über der Anrichte atmeten lautlos. Elias schloss die Augen.
Anna sagte, die Luft in diesem Haus wäre blau. Es stimmte. Sie war blau. Blauer noch, wenn man sie nicht sah.
Eine Weile stand er nur so da und lauschte dem Ticken der verrinnenden Zeit. Dann öffnete er die Augen und ging hinüber ins Wohnzimmer. Blieb vor dem Kamin stehen, über dem das gerahmte Foto hing.
Da war er, sein Vater, das blonde Haar ein wenig verstrubbelt, den Blick in die Ferne gerichtet.
Staubkörner tanzten in einem Lichtstrahl, der durchs Fenster hereinfiel.
Und für einen Moment glaubte Elias, jemanden in dem großen alten Ohrensessel sitzen zu sehen, jemand, der ihm den Rücken zuwandte – nein. Da war niemand.
Er dachte daran, was Micha gesagt hatte. An den Schatten im Wald. Den Schatten, der vielleicht einem Menschen gehörte. Oder einem Wolf.
Klickende Krallen näherten sich über die Dielen zwischen den Teppichen, und für einen Moment erschrak Elias. Dann lachte er über sich selbst. Es war nur der Hund. Natürlich.
Er kniete sich hin und streichelte ihn.
»Du hast mich tatsächlich erschreckt«, flüsterte er und zauste eines der weichen Ohren des Hundes. »Du hast ein bescheuertes Herrchen, was? Als könnte hier plötzlich ein Wolf auftauchen. Und dann noch einer aus einem Märchen.«
Auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel lag die Zeitung von heute Morgen, Magnus musste sie dort hingelegt haben, ehe er in die Praxis gegangen war, verdammt, und sie war auf der Seite mit dem Interview aufgeschlagen. Vom Papier aus blickte Elias sein eigenes Gesicht entgegen.
»Wir sind jetzt gleich alt«, flüsterte er zu dem Bild über dem Kamin hinauf. »In ein paar Wochen werde ich achtzehn sein. Du bist nie achtzehn geworden.«
Der Hund drückte sich enger an seine Beine.
Du hast seine Gene.
»Unsinn«, sagte Elias, und auf einmal spürte er die Wut in sich aufsteigen, die ihn als Kind heimgesucht hatte. Er hatte nie Dinge zerstört wie Theo, er war für sich allein wütend gewesen, war meilenweit gelaufen, allein, um die Wut loszuwerden. Die Wut auf seinen Vater, der ihn im Stich gelassen hatte.
»Warum bist du nicht da?«, wisperte er. »Wenn du geblieben wärst, hättest du die Dinge geraderücken können. Aber du bist abgehauen. Du hast es dir leicht gemacht.« Er ballte die Fäuste, hob sie, als wollte er gegen die Wand schlagen, doch dann ließ er sie sinken.
»Sie hat dich so sehr geliebt«, sagte er leise. »Allein schon deshalb hättest du bleiben können, verdammt. Sie haben dich beide geliebt. Anna und Micha. Und jetzt glaubt Micha, da wäre ein Schatten, der durch den Wald streift. Das ist Unsinn. Du bist tot, und Tote streifen nicht durch Wälder.« Er schüttelte den Kopf.
»Aber wer hat das Mädchen geholt, das mir geholfen hat?«, flüsterte er. »Sie war nicht da, als der Baum umgestürzt ist, ich hätte sie gesehen. Wer hat ihr gesagt, dass da jemand festsitzt, der Hilfe braucht?« Noch ein Kopfschütteln. »Tote holen auch keine Hilfe«, sagte Elias. »Du. Bist. Nicht. Hier. Nur die Erinnerung ist ständig im Weg in diesem Haus.«
Er ging zurück in die Küche und die offene Treppe zum ersten Stock hinauf, den Hund auf den Fersen. Oben wartete die Gitarre, seine Finger sehnten sich nach den Saiten.
Doch in dem schmalen, schattigen Flur oben blieb er stehen. Die blaue Luft war anders als sonst. Wie Wasser, in dem jemand Wellen verursacht hatte.
Er war nicht alleine hier. Jemand war da.
Jemand, der still darauf wartete, dass Elias das Haus wieder verließ. Jemand, der nicht wollte, dass er von ihm wusste.
Aber es musste jemand sein, den der Hund duldete, sonst hätte er Alarm geschlagen.
Linda war in der Universität bei ihren Literaturstudenten, Magnus war in der Praxis, Anna war in der Stadtbücherei, in ihrer Welt aus Buchseiten und Geschichten. Oder vielleicht war sie im Jugendzentrum.
Elias grinste ein wenig, wenn er daran dachte: Anna, seine Anna, die sanfteste und zärtlichste Person, die er kannte, in engen Jeans und Lederjacke mit Aufnähern, zwischen den Jugendlichen. Die Lederjacke zog sie nur an den Zentrumstagen an. Dann redete sie mit den Jugendlichen über Filme und strich Wände und baute Tischkicker auf und reparierte Fahrräder und war tough und cool und zu allem bereit.
Sie schickten sie von der Bücherei aus dorthin, aber vermutlich wussten sie nicht, wie wenig das, was sie tat, mit Büchern zu tun hatte. Im Winter, wenn es zum Radfahren zu kalt war, hatten Magnus und Elias Anna manchmal abgeholt, und es war immer seltsam gewesen, sie inmitten der Jugendlichen zu sehen: all die kettenrauchenden Jungs und Mädchen in ihren schwarzen Klamotten mit weißen Schriftzügen oder Totenköpfen, mit ihrem Trotz. Anna war auch trotzig. Vielleicht war sie, trotz ihrer Sanftheit, die eigensinnigste Person der Welt.
Sie hatte sich geschworen, mit den Jugendlichen da draußen zu arbeiten, und nichts und niemand konnte sie davon abbringen. Jemand muss ihnen eine Chance geben, sagte sie immer. Wir haben eine Wand angesprüht, und sie ist bunt, das ist doch was? Keine Gewalt heute, keine rechten Lieder, keine Bierflaschen, nur Farbe. Wir haben zusammen gelacht.
Elias’ Vater war von da draußen gewesen. Aus der Platte. Ihm hatte niemand eine Chance gegeben.
Außer Anna.
Elias stand noch immer im Flur und lauschte. Winzige, filigrane Papiermöwen tanzten in der blauen Luft an den Fäden eines Mobiles. Zu schön, sagte Anna manchmal. Es ist zu schön hier.
Das sagte sie an den Tagen, an denen sie nicht tough war. Nur traurig. Und voll von Erinnerungen an seinen Vater.
Er hatte sie so gern.
Er ging den Flur entlang, auf seine Zimmertür zu, die Gitarre wartete. Doch dann blieb Elias vor einer anderen Tür stehen – der Tür zu Annas Arbeitszimmer.
Da war ein Rascheln wie von Papier. Leise.
Stand ein Fenster offen, hatte der Wind Papiere vom Schreibtisch gefegt? War eine Katze hereinspaziert? Jemand räusperte sich. Katzen räuspern sich selten.
Elias streckte die Hand aus – und stieß die Tür auf.
Das Fenster war offen, tatsächlich. Ein Windstoß blähte die hellblauen Vorhänge.
Aber es war nicht der Wind gewesen, den er gehört hatte.
Am Schreibtisch saß jemand in einem schwarzen Kapuzenpullover, über ein Blatt Papier gebeugt.
Der Pullover war ein Männerpullover. Quer über den Rücken lief ein roter Schriftzug, die Druckfarbe rissig: BÖSEONKELZ. Darunter Beine in Jeans, bloße Füße –
Und dann richtete die Person am Schreibtisch sich auf und drehte sich um.
Es war Anna.
Anna in einem Pullover, der ihr nicht gehörte.
»Elias«, sagte sie, ihre warmen braunen Augen erschrocken. »Hast du mich erschreckt. Ich dachte, ich hätte unten etwas gehört, und dann dachte ich, ich hätte es mir eingebildet …« Sie lächelte, und während sie lächelte, schob sie das Blatt, das auf dem Tisch lag, ein Stück weg, unter einen Aktenordner. »Was bringt dich hierher?«
Er zuckte die Schultern. »Wir haben noch Zeit vor Mathe. Ich wollte Gitarre spielen.«
Ich bin vor den anderen geflohen, dachte er. Vor meinem eigenen Film. Vor meinem Bild in der Zeitung.
»Und du bist heute … nicht in der Bücherei?«, fragte er und streichelte den Hund, der sich vor Annas Füße gelegt hatte. Sie beugte sich hinunter, um ihn ebenfalls zu streichen.
»Es ist Montag. Ich tue das, was ich immer montags tue.«
»Oh«, sagte er. »Und was tust du?«
»Na ja …« Da war ein winziger Moment des Zögerns. »Papierkram für die Bücherei eben. Im Moment fülle ich Förderanträge aus«, sagte sie und gähnte. »Es ist ein bisschen langweilig.«
Sie sah nicht gelangweilt aus. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Pupillen groß, ihre Augen strahlten, und gleichzeitig wirkte sie ein wenig nervös.
Es war ein seltsamer Gedanke, dass sie ein Leben besaß, von dem er nichts wusste, ein Montagsleben.
»Das … ist nicht dein Pullover«, sagte Elias.
»Nein.« Die Röte ihrer Wangen vertiefte sich. »Er ist zu groß, ich weiß. Er gehört deinem Vater.«
»Ich wusste nicht, dass du diesen Pullover hast.«
Da stand Anna auf und kam zu ihm herüber, um ihm übers Haar zu streichen.
»Es gibt Dinge«, sagte sie leise, »die du nicht weißt.«
Sie stand so nah bei ihm, dass er ihren Duft roch, einen Duft von Rosenblättern und etwas, das er nicht beschreiben konnte. Vielleicht hatte der Wind es mit sich hereingetragen und in ihr feines braunes Haar geweht, ein Geruch wie von Schnee. Vom Winter, dachte Elias, der kommen würde. Oder – von einem Winter vor langer Zeit.
Einem Winter, voller Blut und Schnee, in dem ein Märchen erzählt und ein Grab ausgehoben worden war. Und ein altes Foto über einen Kamin gehängt.
»Anna«, sagte er leise.
»Ja.«
»Ich … ich weiß so vieles nicht. Der Pullover ist nur eine Sache. Erzähl mir von ihm.«
»Von dem Pullover?« Sie lachte leise.
»Du weißt, wen ich meine.«
»Du hast ihm deinen Kurzfilm gewidmet«, flüsterte sie. »Ich habe das Interview gelesen. Hajo hat es auch gelesen. Er hat angerufen. Ich soll dir gratulieren. Die Musik zum Film ist gut, hat er gesagt. Ich zitiere: ›Sie gehört zum Besten, was er geschrieben hat.‹«
Elias grinste. Er sah ihn vor sich, Hajo Marks, den alten Kirchenmusiker, der an seiner Orgel saß und zuhörte, wie Elias spielte, mit schief gelegtem Kopf. Er war vielleicht sein einziger wirklicher Freund, trotz des Altersunterschiedes.
Sie hatten so viel zusammen erlebt. So viel Musik gemacht. Hajo hatte ihm seine erste Gitarre geschenkt, und er hoffte immer noch, dass Elias Musik studieren würde.
»Du hast in dem Interview gesagt, dein Vater hätte Märchen mit Sprache erzählt und du würdest sie mit Bildern erzählen. Und mit Musik. Das klingt schön.«
»Es klingt furchtbar, es klingt wie eine Kitschpostkarte«, sagte Elias. »Ich finde nie die richtigen Worte. Er hätte sie gefunden. Er hatte so viele Worte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es kommt nicht auf die Menge an, sondern auf die richtigen. Er war kein Mensch vieler Worte. In der Schule hat er meistens geschwiegen, und das Märchen hat er nur erzählt, wenn wir allein waren. Die Welt der Märchen war eine andere Welt, eine Welt aus Farben, man konnte hineingehen wie durch eine Tür … Aber in einem Zeitungsinterview hätte er wahrscheinlich nur genickt oder den Kopf geschüttelt. Hoffnungslos.« Sie lachte, ihre Wangen immer noch gerötet, ihre Augen leuchtend. Sie stand ganz nahe bei ihm, er konnte ihren Herzschlag spüren. Ein Flattern wie das eines kleinen Vogels.
Sie trat einen Schritt zurück und strich sich das Haar hinter die Ohren, sie sah jünger aus als sonst, mädchenhaft.
»Und der Pullover ist von ihm?«
»Er hatte ihn von irgendwem geschenkt bekommen. Geerbt. Einmal hat er ihn mir geliehen, als ich draußen vor einer Kneipe stand und fror. Ich war rausgegangen, weil ich frische Luft schnappen wollte, und da war er, ganz plötzlich, er stand da mit diesen Typen aus seinem Block, sie haben Geschäfte gemacht … Du weißt, dass er gedealt hat … Die Typen haben mich gesehen und blöde Bemerkungen gemacht, und ich hatte Angst vor ihnen. Dein Vater hat sie weggejagt wie Hunde. Sie hatten Respekt vor ihm. Damals war ich für ein paar Minuten eine Prinzessin.« Sie schloss kurz die Augen, öffnete sie dann wieder und schüttelte den Kopf. »Danach hat er sich drinnen in der Kneipe meinetwegen mit jemandem geprügelt. Das heißt, nur fast. Es endete damit, dass ich ihn angebrüllt habe, und dann ist er gegangen.«
»Klingt … romantisch«, sagte Elias und schnaubte. »Was hast du gebrüllt?«
»Alle Menschen sind gleich.«
»Was?«
»Es war eben so ein Satz. Man kann ihn gut brüllen. Aber er stimmt nicht. Ich wollte nur, dass er stimmt.« Sie zuckte die Schultern. »In dieser Nacht habe ich die Typen aus meiner Schule gehasst. Und die Typen aus der Platte genauso. Aber Hass nutzt nichts. Heute arbeite ich mit solchen Typen. Ich meine, denen aus der Platte. Es ist genau die Sorte. Manche von ihnen sind in ihrem Herzen fünf Jahre alt.«
Sie nahm seine Hand. »Was ist das eigentlich an deinem Handgelenk?«
Elias lachte. »Eine Erinnerung. Daran, dass ich den Sturm überstanden habe. Ich dachte, wenn ich das nicht vergesse, überstehe ich auch alles andere, keine Ahnung, eine Art Aberglauben.«
»Aber was ist es?«
Er zuckte die Schultern. »Ein Stück Stoff. Es hing an der Wurzel, unter der wir uns versteckt haben, der Hund und ich. Vielleicht ist es irgendwann angespült worden, wie die Schuhe, die Flaschen, die Plastiktüten. Und jemand hat es aufgehoben und da festgemacht. Es sieht aus, als hätte es eine Geschichte, aber wir werden sie nie herausfinden, und deshalb mag ich es.«
Anna lächelte. »Das ist fast schon wieder der Beginn eines Märchens.«
Dann sah sie auf ihre Armbanduhr. »Ich muss noch diesen Antrag fertig kriegen. Und dann zur Post.«
Sie gab dem Hund einen freundlichen Klaps, und er kam auf die Beine, lange nicht so schnell wie früher, und lief hinaus in den Flur. Du willst uns loswerden, dachte Elias.
Als er sich in der Tür noch einmal umdrehte, saß sie wieder am Schreibtisch, vornübergebeugt, und schrieb. Was sie schrieb, sah nicht aus wie ein Antrag. Es sah aus wie … ein Brief.
Er schloss die Tür lautlos hinter sich.
Als er in seinem Zimmer war und das beruhigende Holz der Gitarre unter den Fingern spürte, wuchsen Töne hinter der Wand, Anna hatte Musik angemacht, leise, verhalten, sie wollte ihn nicht stören. Es war eine Melodie, die er von Kind an kannte.
Cohen, sein Vater hatte Cohen gehört, und Anna hatte die Lieder geerbt. Lieder, die Geheimnisse enthielten. Poesie, sagte Anna, könne man nicht verstehen. Nur fühlen.
I set out one night
When the tide was low
There were signs in the sky
But I did not know
I’d be caught in the grip
Of the undertow
Ditched on a beach
Where the sea hates to go …
Elias Finger spielten von selbst auf der Gitarre mit, er spürte die Worte auf seinen Lippen.
With a child in my arms
And a chill in my soul
And my heart the shape
Of a begging bowl …
Draußen leuchteten die Fassaden der alten Häuser im späten Oktobersonnenschein, die Blätter tanzten vorüber wie ein goldener Reigen – und jetzt war jemand darin, mitten im Blätterwirbel, jemand, der auf ein Fahrrad stieg. Jemand mit einem Umschlag in der Hand. Elias hörte auf zu spielen.
Anna.
Die Musik drüben lief noch immer, aber sie war gegangen. Und für einen Moment hatte er das seltsame Gefühl, dass sie die Musik hatte laufen lassen, damit er dachte, sie wäre noch da. Weil sie nicht wollte, dass er wusste, dass sie ging.
Der Umschlag, den sie in der Hand hielt, war ein normaler Brief. Gewöhnlich verschickte sie Dokumente für die Bücherei in großen, steifen Umschlägen. Und dann war sie am Briefkasten, der in der Straße stand, samt Briefmarkenautomat. Und sie fuhr vorbei.
Das war der Punkt, an dem es wirklich bizarr wurde.
Ehe Elias wusste, was er tat oder warum, war er im Hausflur, schlüpfte in Jacke und Schuhe, war draußen, schloss sein Fahrrad auf. Pfiff dem Hund. Hier war eine Geschichte, die auf ihn wartete.
Vielleicht ein neuer Film.
Ein Film über eine Frau, die einen Brief schreibt, ihn aber nicht in einen Briefkasten wirft. Eine Frau mit roten Backen, eine strahlende Frau, die wirkt, als wäre das, was sie trägt, ein Liebesbrief.
Schrieb sie jeden Montag einen Brief und brachte ihn mit dem Fahrrad weg?
War Montag eine andere Welt? Eine Welt, die man betreten konnte wie durch eine Tür – wie die Märchen, die sein Vater erzählt hatte?
Der Wind griff in Elias’ Haar, trieb ihn voran, als wäre das Rad ein Vogel, auf dem er die Straße entlangsegelte. Der Hund segelte hinterher, sein dichtes graues Fell zerwühlt von den Böen. Er war alt, aber er lief immer noch gerne. Elias hatte seine Jacke vergessen. Egal, die Kälte machte ihn nur wacher, aufmerksamer: ein Aufputschmittel.
An der Europakreuzung sprang die Ampel auf Rot.
Er holte das Handy heraus, filmte: Anna, die davonfuhr. Dann fuhr er ihr nach. Es war nur ein bisschen rot.
Er dachte an Micha und Anna und daran, wie er als Kind mit ihnen über diese Kreuzung gerannt war, auf das Stadttheater zu, das auf der anderen Seite aufragte. Bei Grün natürlich. Sie hatten Karten gehabt für irgendein Weihnachtsstück. Drüben, vor dem erleuchteten Theater, hatte Anna ihre Arme um ihn und um Micha gelegt und beide kurz an sich gedrückt.
»Es wäre so schön, wenn er mit uns hier wäre«, hatte sie geflüstert. »Ich glaube, er hat nie ein Weihnachtstheaterstück gesehen.«
Und Elias hatte ihre Tränen weggewischt und gesagt: »Er ist doch hier. Bloß unsichtbar.«
»Klar«, hatte die elfjährige Micha gesagt. »Und das ist ganz gut so, sonst müssten wir nämlich noch eine Karte kaufen. Er guckt gratis.«
Die Szene existierte als Film in Elias’ Kopf, wie so viele andere. Schattenfilme.