Enia und der Regenzauber - Antonia Michaelis - E-Book

Enia und der Regenzauber E-Book

Antonia Michaelis

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Beschreibung

Auf der Suche nach dem Regenmacher Die 11-jährige Enia und ihr Biologen-Papa reisen nach Madagaskar, um auf die Suche nach einem als ausgestorben geltenden Tier zu gehen: einem winzigen Lemuren mit Flügeln. Angekommen in einem kleinen Dorf im Süden des Landes erfahren sie, dass dieses Tier magische Fähigkeiten haben soll: Es kann angeblich Wasser finden! Und das brauchen die Bewohner des Dorfs unbedingt, denn schon viel zu lange ist es trocken. Wenn die Regenzeit auch dieses Jahr ausbleibt, müssen sie ihre Felder endgültig aufgeben. Zusammen mit einigen Kindern aus dem Dorf macht Enia sich auf eine gefährliche Suche nach dem Lemuren. Denn auch eine skrupellose Räuberbande, die Dahalos, möchte das Tier unbedingt in die Finger bekommen … Enia und der Regenzauber: Ein großes Abenteuer auf Madagaskar - Empathisch und inspirierend: Ein wunderbares Kinderbuch ab 10 Jahren über die tiefe Freundschaft zwischen Enia und den Kindern des Dorfes, welche zeigt, dass Zusammenhalt und Mut Berge versetzen können. - Abenteuerliche Geschichte: Eine spannende Abenteuergeschichte mit dem Zauber ferner Länder - ideal für alle, die von Abenteuern und fernen Welten träumen. - Magischer Realismus: Eine faszinierende Mischung aus magischer Fantasy und realistischen Elementen, die die Fantasie der Kinder beflügelt. - Starke Figuren: Die wunderbaren Charaktere sind mutig, eigensinnig und ideenreich und zeigen die Kraft, die entsteht, wenn man fest an etwas glaubt. - Wichtiges Thema: Der Kinderbuchroman sensibilisiert junge Leser*innen für die Folgen des Klimawandels und regt zum Nachdenken an. - Erfahrung aus Madagaskar: Autorin Antonia Michaelis bringt ihre persönlichen Erlebnisse aus Madagaskar ein, wo sie eine Dorfschule gebaut und ein Patenprogramm für Kinder ins Leben gerufen hat.

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Über dieses Buch

Enia und ihr Vater reisen nach Madagaskar, um auf die Suche nach einem fast ausgestorbenen Tier zu gehen: einem winzigen Lemuren mit Flügeln, der magische Fähigkeiten haben soll. Taucht er auf, bringt er Wasser. Und darauf warten alle sehnsüchtig, denn schon viel zu lange herrscht große Trockenheit. Zusammen mit den Kindern aus dem Dorf macht Enia sich auf eine gefährliche Suche nach dem Lemuren. Denn auch eine skrupellose Räuberbande möchte das Tier unbedingt in die Finger bekommen …

1.Kapitel,

in welchem ziemlich viel Staub vorkommt, jemand fast von einem Fahnenmast fällt, eine Ziege Schluckauf hat, ein Lemur in der Schule gefunden wird und es nicht regnet

Sie kam mit dem Wind.

Don sah sie zuerst, und sie kam mit dem Wind.

Eine Wolke aus rotem Staub, die über die weite, trockene Ebene fegte. Sie wirbelte zwischen den vereinzelten Büschen entlang, zwischen den Hütten, unter dem weiten blauen Himmel.

Don sah sie immer zuerst. Er stand an der Straße wie jeden Morgen und sah ihr entgegen. Es war natürlich keine richtige Straße, nur die tiefen Spuren von Wagenrädern in der roten Erde.

Da! Da war der Ton der Fahrradklingel: hell und klar und beinahe magisch. Der Ton kam direkt aus dem Staubwirbel.

Und dann war sie da, dann sprang sie vom Rad: Maitresse Tohizantsoa, kurz Tui.

»Salama, Don!«, sagte sie. »Guten Morgen. Manahoana?«

»Danke«, sagte er, ein wenig verlegen. »Mir geht’s gut. Und Ihnen?«

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Auch. Heute ist ein wunderbarer Tag. Wir werden ein Abenteuer erleben.«

»Die Klasse wartet schon«, sagte Don. »Werden wir essen?«

»Natürlich werden wir essen«, sagte Maitresse Tui.

Sie schob ihr Fahrrad neben Don her, über die rissige Erde zur Schule.

Das Rad war rot und alt, doch um den Lenker und den Gepäckträger waren hübsche purpurfarbene Rosengirlanden aus Stoff gewunden, sodass es aussah wie ein fahrender Garten. Eigentlich war es nicht möglich, dass sich dieser leuchtende Garten bis eben komplett in einer Staubwolke versteckt hatte.

»Unsere Augen lassen sich zu leicht täuschen«, sagte Maitresse Tui und zwinkerte Don zu.

Hinten war eine Holzkiste befestigt, in die man Dinge legen konnte. Wenn man Dinge hatte. An diesem Morgen war sie leer.

»Sie haben gar nichts mit«, sagte Don enttäuscht. »Zum Lesen.«

Immerhin war er elf Jahre alt, also fast ein Mann, und er konnte lesen. Sie hatte es ihnen allen beigebracht. Aber er brauchte mehr Übung. Und mehr Zahlen. Und französische Wörter.

Maitresse Tui lachte. »Nur, weil du nichts sieht, heißt das nicht, dass nichts da ist«, sagte sie.

Don sah sie an, während sie das Rad neben ihm herschob. Sie war so schön! Er hätte sie sofort geheiratet, aber das sagte er niemandem. Maitresse Tui trug ein weißes Kleid bis zu den Knien, mit kleinen Rüschen, die sich am Rand ein bisschen ablösten. Ihr Haar hatte sie in viele winzige Zöpfe geflochten wie die meisten Frauen, aber sie hatte es hinten zu zwei Knoten gewunden, die nebeneinandersaßen wie weiche schwarze Kätzchen, die sie auf ihrem Kopf spazieren trug.

Und sie ging, als würde sie schweben. So leicht.

Jetzt waren sie fast bei der Schule. Ihre Wände bestanden aus Ästen, tief in die Erde gesteckt, mit einem Dach aus mehr losen Ästen. Vor der Schule stand eine Wolke aus bunten Kindern in allen Größen, und sie alle winkten jetzt: eine Explosion aus Farben im rotbraunen, trockenen Nichts. Die Tücher, die die Mädchen als Röcke umgeschlungen hatten, waren wie strahlende Blumen in der Wüste.

Doch an diesem Tag wuchs auf dem Fahnenmast neben der Schule noch eine Blume. Eine leuchtend gelb-rote Blume.

»Fenomeine«, sagte Don. »Was tut sie da oben?«

Und dann löste sich ein anderer bunter Fleck aus der Wolke aus Kindern und stürmte auf sie zu, ein kleiner Wirbelwind, neben dem eine weiß-braun gefleckte Ziege herrannte. Er stürzte sich in die Arme von Maitresse Tui, die ihn auffing und lachte. Don fing das Fahrrad auf, das sonst gefallen wäre. Es war schwer. Aber es fühlte sich wunderbar an, es festzuhalten für Maitresse Tui.

»Fito«, sagte er und seufzte. »Lass Maitresse Tui los.«

»Aber! Aber! Aber!«, rief Fito und hopste jetzt vor ihnen auf und ab. »Es ist … es ist alles passiert! Feno ist auf die Fahne geklettert und sagt, es wird was kommen, aus der Ferne. Und sie weigert sich, runterzuklettern. Und die Dorfchefs sitzen hinten bei den Bäumen und haben ein Geheimnis, und Tianay hängt kopfüber am Schul-Mangobaum. Und die Ziege hat schon den ganzen Morgen Schluckauf, das bedeutet, dass etwas im Gange ist.«

»Mora, mora, Fito. Laaangsam«, sagte Don. »Und hör auf, zu hüpfen.«

Fito war anstrengend. Er war immer überall, mit seiner Ziege, und er war – leider – Dons kleiner Bruder. »Die Ziege hat Schluckauf? Und wieso ist Tianay in der Schule? Der ist sowieso seltsam, das wissen alle. Und der ist viel zu alt für die Schule, der ist mindestens siebzehn!«

»Ist er nicht, er hängt nur an der Mango, der Verrückte«, sagte Fito ungeduldig. »Er sagt, er hört den Regen.«

Maitresse Tui schloss die Augen. »Den Regen«, sagte sie leise. »Ich wünschte, ich könnte den Regen hören. Es ist das dritte Jahr, dass er ausbleibt. Aber die Ziege hat recht. Und Fenomeine auch. Es fühlt sich so an, als ob etwas kommt. Als ob sich etwas verändert. Bald. Ich weiß nicht, ob es etwas Gutes oder etwas Gefährliches ist. Vielleicht beides. Es kommt darauf an, was wir daraus machen.« Dann öffnete sie die Augen. »Und du sollst nicht sagen, dass Tianay verrückt ist.«

»Aber er ist anders«, sagte Fito. »Also, als wir. Sagt Nenibe.«

Maitresse Tui nahm Don das Fahrrad ab und schob es weiter.

»Wir sollten Fenomeine von der Fahne holen. Ziege? Kommst du mit?«

»Hicks«, sagte die Ziege.

 

Maitresse Tui stellte das rote Blumen-Rad im Schatten der Mango ab, damit die Reifen in der Sonne nicht platzten. Die Mango war wunderbar, sie breitete ihre Zweige mit den tiefgrünen Blättern über die Schule, als wollte sie sie beschützen.

Nur eine Mango, das wusste Don, reicht mit ihren Wurzeln so weit, dass sie auch jetzt noch Wasser fand.

Und an einem dicken Ast daneben hing also Tianay, kopfüber, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen geschlossen.

»Avy ny orana«, murmelte er. »Der Regen kommt.«

Dann machte er plötzlich die Augen auf und sah Don an. Er hatte komische Augen, braun mit kleinen goldenen Tupfen. Hübsch. Er war überhaupt ein hübscher junger Mann, wie auf einem gemalten Bild. Aber alle im Dorf sagten, dass die Geister in seinem Kopf wohnten.

Die anderen Kinder standen mit etwas Abstand da, ängstlich, und starrten ihn an.

Maitresse Tui jedoch zog ihre hellblauen Plastikslipper aus, stieg auf den Sattel des roten Fahrades, streckte sich und zog sich auf den untersten Ast der Mango. Dann hängte sie sich neben Tianay.

Kopfüber. Genau wie er.

Und verschränkte ebenfalls die Arme.

Der Rock des weißen Kleides hätte nach unten hängen müssen, sodass man ihre Unterwäsche sah, doch er tat es nicht. Vielleicht hatte Maitresse Tui mit der Erdanziehungskraft eine Abmachung. Don traute ihr alles zu.

Und da dachte er: Ich kann das auch. Natürlich kann ich das.

Die anderen sagten, er sei ein Feigling, weil er sich nicht gern mit irgendwem prügelte. Er saß lieber im Schatten und spielte auf der Flöte, die er selbst geschnitzt hatte. Dies war eine Gelegenheit, ihnen zu beweisen, dass er kein bisschen feige war. Er kletterte auf den Fahrradsattel, krallte sich mit bloßen Händen und Füßen im rauen Stamm der Mango fest und … war oben.

»Don ist neuerdings auch seltsam!«, rief jemand von unten.

»Ich hätte nicht gedacht, dass er sich das traut!«, sagte ein anderer.

Don hing jetzt. Kopfüber.

»Hallo, Don«, sagte Maitresse Tui. »Hörst du den Regen?«

Don lauschte. Er hörte sein Herz pochen. Er hörte seinen Magen knurren.

»Nein«, sagte er.

»Ich auch nicht«, sagte Maitresse Tui. »Tianay, bist du sicher?«

»Tropfen«, sagte Tianay. »Viele Tropfen. Pling. Plong. Pling.«

In diesem Moment merkte Don, wie er zu rutschen begann. Er versuchte, mit dem Oberkörper wieder hochzukommen, sich festzuhalten … spürte, wie er fiel. Schloss die Augen. Und landete in weichen Armen. Als er die Augen aufschlug, schwebte Maitresse Tuis Gesicht über ihm. Wie war sie so schnell auf den Boden gekommen?

»Das war ein bisschen gefährlich«, sagte sie und stellte ihn auf die Beine.

»Und jetzt kommt, wir müssen Fenomeine vom Fahnenmast holen, ehe sie auch noch fällt. Heute scheinen alle Kinder reif zu sein, denn sie hängen irgendwo und müssen geerntet werden.«

Fito schob seine kleine dreckige Hand in die von Don, und sie folgten Maitresse Tui zum Fahnenmast. Zusammen mit den anderen Kindern.

»Is gut, dass du nicht gefallen bist«, sagte Fito. »Du hättest dir was durchbrechen können.«

Don drückte Fitos Hand.

Unter dem Fahnenmast blieben sie alle stehen. Der Mast war hoch, höher als das Schuldach. Fenomeines gelber Rock flatterte mit der verblichenen rot-weiß-grünen Fahne um die Wette, flatterte wie eine Sonne, die jemand zum Trocknen aufgehängt hatte.

»Fenomeine?«, rief Don. »Warum bist du da oben?«

»Wegen der Aussicht!«, schrie Fenomeine.

Ihr Haar stand wild in alle Richtungen wie Windböen. Fenomeine war ein wildes Kind. Sie waren seit Ewigkeiten Freunde, sie und Don, aber sie war immer wagemutiger gewesen.

Eigentlich hätte sie zu Hause sitzen und Kaktusfrüchte säubern sollen, das wusste Don, und das wusste auch Fenomeine. Ihre Tante mochte es gar nicht, wenn sie zur Schule ging. Und sie mochte es sicher auch nicht, wenn sie auf den Fahnenmast kletterte.

»Da kommt was!«, schrie Feno. »Von hinter dem Horizont!«

»Was denn?«, rief Maitresse Tui. »Regen?«

»Nee!«, schrie Feno. »Besuch!«

»Was für Besuch?«, rief Fito.

»Ich weiß nicht genau! Zwei Leute. Ein Erwachsener und ein Kind.«

»Hicks!«, rief die Ziege.

Alle lachten. Nur Miarisoa, die schon älter war, sagte: »Maitresse Tui, das ist doch Unsinn, ist sie jetzt auch übergeschnappt wie Tianay? Dass sie wild ist, weiß jeder, aber das?«

»Ich denke, wir sollten ihr runterhelfen und uns alle beruhigen«, sagte Maitresse Tui. »Wir haben heute eine Menge Worte, die wir lesen wollen, und Zahlen. Und Reis, der gegessen werden muss. Danach können wir darüber nachdenken, was das alles bedeutet. Feno?«, rief sie nach oben. »Komm runter!«

Feno nickte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie sagte etwas, leise, sodass niemand unten es hörte. Aber Don sah, dass der Fahnenmast im Wind schwankte. Der Wind, der jetzt morgens über die Ebene strich, war stark. Feno hatte Angst. Ein paar der älteren Jungen stießen sich an und lachten. »Ihr hättet auch Angst«, sagte Don.

»Wenn die da runterfällt, das sind tausend Meter, dann issie tot«, sagte ein kleines Mädchen.

»Nee, aber sie bricht sich ein Bein«, sagte Miarisoa. »Und niemand wird es heilen können, das ist zu teuer, und das Krankenhaus ist zu weit weg. Meine Tante hat sich ein Bein gebrochen, das ist immer noch steif.«

»Mangina!«, sagte Maitresse Tui scharf. »Ruhe.« Und dann rief sie hinauf zu Feno: »Du kommst alleine nicht runter, richtig? Dann komm mit dem Wind!«

»Mit dem Wind?«, rief Feno.

»Wir haben nicht viel, hier bei uns«, rief Maitresse Tui. »Aber wir haben Wind, und wir haben Staub, und wir haben Träume. Komm mit dem Staub. Komm mit den Träumen. Halt dich an ihnen fest.«

Sie streckte die Hände aus, und ein Staubwirbel stieg in einer Windböe auf, gerade am Fuße des Fahnenmastes; ein roter Staubwirbel, wie er auch ihr Fahrrad jeden Morgen umgab, ehe sie abstieg. Der Staubwirbel stieg höher und höher, drehte sich in sich selbst, hüllte den Mast ganz ein. Die Kinder wichen alle zurück, hielten den Atem an. Die Ziege versteckte sich hinter Fito.

Und dann hüllte der Staubwirbel auch die Fahne ein, Madagaskars stolze Farben verschwanden im Staub: Rot für die Liebe, Grün für die Hoffnung, Weiß für den Frieden. Rot für die trockene Erde, Grün für den Urwald, der längst den Sägen gewichen war, Weiß für die ausgedörrten Flussbetten.

Fenos sonnengelber Rock war fort, da war nur noch Staub: Staub, der im Kreis raste. Und dann begann der Staub, den Mast wieder herabzusinken, noch immer im Kreis wirbelnd.

 

Oben, an der Spitze des Mastes, flatterte die Fahne. Rot für die Früchte der Kakteen, die gegen den Hunger halfen, Grün für ihre Blätter, die die Ziegen fraßen, Weiß für den Saft der Famatabäume, der Wunden heilte.

Feno war fort.

Der Staubwirbel legte sich. Und da stand sie, am Fuß des Mastes. Und lächelte erleichtert.

»Besuch«, wiederholte sie. »Wir bekommen Besuch. Und ich bin nicht von den Geistern besessen, also keine dummen Sprüche! Ich habe es ganz deutlich gesehen. Alles wird sich ändern.«

Don hob den Stock auf, der am Fuß des Mastes lag, und drückte ihn Feno in die Hand.

»Ich hatte Angst um dich«, flüsterte er.

»Gehen wir lesen und rechnen«, sagte Maitresse Tui. »Und Französisch lernen.«

Die anderen hatten sich schon abgewandt und strömten in die kleine Hütte aus Ästen, die die Schule war, um sich auf den Boden zu setzen: dicht an dicht, damit alle hineinpassten.

Tianay hing nicht mehr im Mangobaum. Er war irgendwohin gegangen, um andere seltsame Dinge zu tun. Don wartete auf Feno. Sie würde etwas länger brauchen, wie immer. Fenomeine in ihrem sonnengelben Rock war ein wildes Kind, ein mutiges Kind.

Aber sie war blind.

 

Enia fand den Lemuren ganz zufällig.

Auf einem Reiseblog im Internet, in der Freiarbeitszeit in der Schule.

Er war winzig klein und hatte einen langen, geringelten Schwanz und vier Pfoten. Und die Flügel eines Schmetterlings. Fein gezeichnet, mit großen schwarzen Flecken wie Augen: Pfauenaugenflügel.

Sie zog das Bild größer auf dem iPad, aber das nützte nicht viel, weil es unscharf wurde.

Auf dem Bild saß er auf einer Blume. Entweder war die Blume riesig oder der Lemur wirklich sehr klein.

»Guck mal!«, flüsterte Enia, und Sophia sah von ihrem eigenen iPad auf.

»Was ist das? Sollten wir nicht was über die Cheops-Pyramide in Ägypten recherchieren?«

»Ja, ja«, sagte Enia. »Hab ich gemacht. Aber der hier ist einfach aufgetaucht.«

»In der Cheops-Pyramide?«

»Nein, in diesem Blog. Guck, hier: Michaels Reisen. 2023 – Madagaskars Süden. Das Land der ausgestorbenen Elefantenvögel …«

»Warum guckst du dir Reiseblogs von Erwachsenen an?«

Enia zuckte die Schultern. »Wegen meinem Vater. Er muss den Studenten heute schon wieder was über das Aussterben von Tieren erzählen, und er forscht ja auch darüber … Bei uns zu Hause geht es quasi nur ums Aussterben. Aussterben, Artensterben, Waldsterben. Würde mich gar nicht wundern, wenn er irgendwann abends statt ›Schlaf schön‹ zu mir sagen würde: ›Stirb schön aus.‹«

Sophia lachte. »Aber es ist eigentlich gar nicht lustig«, sagte Enia. »Er ist dauernd traurig. Er macht sich zu viele Sorgen. Klimawandel und all das, die Welt geht den Bach runter, sagt er. Und dann kommt er nach Hause und sitzt am Küchentisch und trinkt Tee und sorgt sich.«

»Und das Ding da? Ist das auch ausgestorben?«, fragte Sophia.

»Eben nicht!«, sagte Enia. »Hör mal: Seltsame Begegnung im Trockenwald nahe Ejeda. Als ich eine Pause im Schatten mache, besucht mich dieses kleine Tierchen. Eine winzige Fledermaus? Ein zu groß geratener Schmetterling? Nein, es scheint sich um einen Lemuren zu handeln, noch winziger als der nachtaktive Koboldmaki oder das Aye-Aye. Aber es ist ein Tierchen, das gerne verschwindet.«

»Es gibt keine Lemuren mit Flügeln«, sagte Sophia.

»Warte … blabla … wird das Tier in einem Reisebericht von 1705 erwähnt. Es war angeblich nur in Trockenwäldern anzutreffen. Die Leute hier nennen es Gidrano, Wasserlemur. Sie sagen, es ist lange ausgestorben, wie der Elefantenvogel. Es ist nie offiziell beschrieben worden und hat daher keinen lateinischen Namen.«

»Es gibt keine Lemuren mit Flügeln.«

»Angeblich kann man Wasser finden, wenn man dem winzigen Lemuren folgt.« Enia sah auf. »Was denkst du?«

»Ich denke, es gibt keine Lemuren mit Flügeln.« Sophia verschränkte die Arme. »Wie soll ein Säugetier Flügel haben?«

»Es gibt auch Schnabeltiere«, sagte Enia. »Und Axolotl. Ich meine, wir wissen doch gar nicht, was es alles gibt.«

»Aber ich weiß, dass es hier Unterricht gibt«, sagte Frau Sahnebier, die zwischen den Schülern auf und ab ging. »Enia, kümmer dich jetzt bitte um deinen Ägyptenvortrag, ich muss sonst wieder mit deinem Vater sprechen.«

»Das muss ich auch«, murmelte Enia.

 

Sie wartete, bis er sich an den Küchentisch gesetzt und einen Schluck Tee getrunken hatte.

Er sah müde aus, wie immer. Sein Haar war über die Jahre schütter geworden. Auf seinem hellen Hemd gab es am Ärmel ein paar dunkle Flecken, Kaffee oder Soße aus der Kantine, er war meistens mit den Gedanken woanders und bemerkte solche Dinge nicht.

Enia hatte Blumen gepflückt und in einem Eierbecher voll Wasser auf den Küchentisch gestellt. Februarblumen, winzig, aber voller Hoffnung: Schneeglöckchen und Märzenbecher und solche kleinen blauen Dinger, die dem Vorgarten der Nachbarin jetzt fehlten.

Die Blumen waren selber schuld, sie waren durch den Zaun nach draußen gewachsen.

Vielleicht hatten sie versucht, zu fliehen.

»Sehr hübsch«, sagte Papa. »Und du hast Tee gemacht. Wie war dein Schultag?«

»Gut«, sagte Enia vorsichtig. »Und wie geht’s den aussterbenden Studenten?«

Papa lachte. Es klang nicht so richtig fröhlich. »Die Studenten interessieren sich nur für ihre Likes auf Instagram. Na, das ist nichts Neues.«

Enia holte tief Luft.

»Papa«, sagte sie dann, »du warst doch mal in der Forschung. Bevor du nur noch den Studenten was vom Artensterben erzählt hast.«

»Ja, aber das weiterzumachen wäre nicht gegangen mit einem Kind«, sagte Papa. »Weißt du doch. Rumreisen und all das. Da war es schon gut, dass ich den Lehrauftrag bekommen habe. Besser für ein ruhiges Leben.«

»Und vor lauter Ruhe bist du ganz eingestaubt«, sagte Enia.

Und dann legte sie ihr iPad vor Papa auf den Tisch. Das Bild von dem winzigen Lemuren mit den zarten Flügeln war noch offen.

»Was ist … das?«, fragte Papa vorsichtig und beugte sich darüber.

»Ein ausgestorbenes Tier«, sagte Enia. »Nur, dass es nicht ausgestorben ist. Jemand hat es gesehen. Ein Reiseblogger. Vor zwei Wochen. Im Süden von Madagaskar.« Sie senkte ihre Stimme, beinahe zu einem Flüstern. »Und dieses Tier ist nirgends offiziell beschrieben! Es hat nicht mal einen lateinischen Namen. In einem Reisebericht von 1705 ist es erwähnt, den sollte man finden, liegt wohl in irgendeinem Archiv in Berlin. Also, sagt das Netz.«

»Und?«, fragte Papa. Er hielt noch immer die Teetasse, sah aber aus, als hätte er sie vergessen.

»Und wir müssen da hin«, sagte Enia fest. »Nach Madagaskar. Es wird Zeit, dass du mal wieder ein Tier erforschst, das nicht ausgestorben ist.«

»Enia, ich …« Er schüttelte den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Ich kriege nicht so einfach wieder einen Forschungsauftrag. Und wieso überhaupt wir?«

Papa hob hilflos die Hände, und dabei warf er die Teetasse um, die gegen den Eierbecher fiel, aus dem die Blumen rutschten.

»Mist«, murmelte Papa, zog sein Stofftaschentuch heraus, wischte damit über den Tisch und strich sich die Haare aus dem Gesicht, was irgendwie dazu führte, dass ein verirrtes Schneeglöckchen auf seiner Stirn klebte.

»Wieso wir?«, wiederholte er.

»Weil«, sagte Enia und pflückte das Schneeglöckchen von seiner Stirn, »irgendwer auf dich aufpassen muss.« Sie beugte sich vor und legte all ihre Überzeugungskraft in ihren Blick. Sie hatte dieselben blassblauen Augen wie er, aber – das wusste sie – ihr Blau konnte Funken sprühen. »Wir brauchen keinen Forschungsauftrag. Wir machen das einfach allein. Und wir werden den Wasserlemuren finden, und sie werden alle beeindruckt sein. Ich will kein Geburtstagsgeschenk und kein Weihnachtsgeschenk nächstes Jahr, nur das.«

»Wasser…lemur?«

»Die Leute sagen, er weiß, wo Wasser ist«, sagte Enia. »Ich habe dem Blogger geschrieben. Er hat leider nicht geantwortet. Egal. Wir brauchen keinen Blogger, um eine Reise zu machen.«

»Enia, das geht nicht«, sagte Papa, stand auf und trat ans Fenster. Die Wohnung lag unter dem Dach, in der kleinen Küche sah man die offenen Balken, es war eine hübsche Küche, mit einem hübschen Fensterbrett voller Kräuter. Alles war hübsch. Da draußen, dachte Enia, wartete ein Abenteuer, jenseits von hübsch.

»Wir können nicht einfach irgendwo hinfahren und hoffen, dass wir ein Tier sehen, das quasi noch keiner gesehen hat«, sagte Papa und zupfte am Oregano herum. »Und meine Studenten? Und die Schule? Und alles? Das ist nicht Italien, ein Wochenende hin und zurück. Das ist Afrika.«

»Genau genomen ist es neben Afrika«, sagte Enia. »Madagaskar hat sich von Afrika abgetrennt und ist weggeschwommen, vor ungefähr 160 Millionen Jahren, zusammen mit Indien. Vor 90 Millionen Jahren hat es sich dann von Indien getrennt. Deshalb hat es auch ganz eigene Tiere und Pflanzen. Lemuren zum Beispiel. Hab ich alles nachgeguckt. Bei so was lerne ich viel mehr als in der Schule.«

Papa lachte, drehte sich zu Enia um und fuhr sich wieder durchs Haar, wobei er irgendwie Oreganoblättchen hineinbekam. Grün gesprenkelt sah das Grau viel interessanter aus.

»Aber … wenn man forscht, Enia, wohnt man nicht in einem netten Hotel. Sondern man schläft manchmal im Schlafsack …«

»Wir können das gelbe Zelt mitnehmen. Im Urlaub an der Seenplatte ging das auch ganz gut. Du hast dich nur vier Mal in den Zeltschnüren verheddert und nur ein Mal fast zu Tode erschreckt, als der Fuchs nachts mal gucken kam.«

»Klingt, als wäre ich völlig lebensuntüchtig«, sagte Papa.

»Das bist du«, sagte sie freundlich. »Ich habe eine Liste aller Impfungen gemacht, die wir brauchen.«

Er grinste. »Die Flugtickets hast du noch nicht gebucht?«

»Nein«, sagte sie. »Aber die Verbindung hab ich rausgesucht. Und eine Sprach-App fürs Handy. Französisch und Malagasy.«

Er seufzte. »Was würde Mama dazu sagen?«

»Sie wäre stolz«, sagte Enia. »Sie war die, die forschen wollte. Ich meine, ihr habt das zusammen gemacht, damals, oder?«

Er nickte. »Bis du kamst.«

»Ja. Bis ich …« Sie schluckte. »Bis ich kam und sie ging. Ich meine, ich hab nie an herumschwebende Engel geglaubt … aber irgendwie ist sie ja da, und sie kommt mit. Sie passt auf mich auf, und ich passe auf dich auf.«

»Und ich passe auf den Schmetterlingslemuren auf«, sagte Papa.

 

Sie träumte von den Lemuren.

Er waren mehrere.

Sie saßen überall auf den dornigen Büschen, die in der Steppe wuchsen. Wie ein Schwarm Vögel. Dann flogen sie auf und stoben davon, und in ihrem Traum nahm Enia Papa an die Hand, und sie rannten, über trockenen, rissigen Boden, den Lemuren nach. Und ganz plötzlich standen sie vor einem See, einem glitzernden See. Die Lemuren bildeten mit ihren bunten Flügeln eine Wolke über dem See. Sie stiegen ein wenig auf – und tauchten alle zusammen ins Wasser.

Enia sprang ebenfalls ins Wasser, es war klar und kühl, und sie schwamm unter Wasser weiter, aber sie fand die bunten Flügel nicht mehr. Sie waren verschwunden.

2.Kapitel,

in welchem Buchstaben ein Eigenleben führen, jemand ein rätselhaftes Amulett erhält und es nicht regnet

Der Boden der Schule war glatt und hart, festgetreten von vielen Kinderfüßen. Don saß neben Fenomeine wie immer, er spürte den raschelnden Stoff ihres sonnengelben Rocks.

Sie saßen dicht gedrängt, damit alle Platz hatten. Und vorne stand Maitresse Tui.

Sie trug jetzt einen weißen Kittel, wie alle Lehrer, und sah offiziell aus.

»Wir wiederholen die französischen Zahlen«, sagte sie und hob ihren Stock. Und dann riefen sie im Chor, alle sechzig Kinder: »Un! Deux! Trois! Quatre!«

Maitresse Tui gab mit dem Stock den Takt an. Er machte eine kleine glitzernde Spur in der Luft, wie Sternenstaub. Wenn das nicht Einbildung war. »Cinq! Six!«

»Und jetzt die Tiere«, sagte Maitresse Tui. Die kleineren Kinder kicherten. Sie wussten, was nun kam.

Maitresse Tui hockte sich auf den Boden und grunzte, und die Kinder riefen alle: »Le cochon! Das Schwein!«

»Gut«, sagte Maitresse Tui, streckte den Hals und begann zu gackern.

»La poule! Das Huhn!«

Jetzt wisperte Maitresse Tui Unverständliches, wiegte sich hin und her und wisperte und hauchte, und keiner wusste, was das für ein Tier war. Da stand Fenomeine auf und sagte: »Le vent. Der Wind«, und Maitresse Tui nickte. Nur Fenos Ohren waren gut genug, den Wind zu hören.

Sie würde niemals lesen lernen, denn die Buchstaben, die Maitresse Tui in den Staub malte, konnte sie nicht sehen. Aber sie konnte den Wind auf Französisch rufen.

Dons beste Freunde waren die Zahlen. Er liebte es, wenn Maitresse Tui Rechnungen auf das alte schwarze Tafelbrett schrieb.

Jetzt! Jetzt holte sie ein winziges Stück Kreide aus ihrem aufgerollten Rocksaum und schrieb eine Aufgabe für die Kleinen und eine für die Großen. Die anderen stöhnten.

»Wer will schon rechnen lernen«, maulte einer der großen Jungen. Jean-Marcel. »Sechzig Teller Reis mal fünf mal zweiundfünfzig, wer soll denn so viel Reis haben?«

»Du sei froh, dass ich dich nicht die einzelnen Reiskörner multiplizieren lasse«, sagte Maitresse Tui, und alle lachten. Aber jetzt fuhr sie mit der Hand ganz leicht über das schwarze Tafelbrett, und auf einmal stiegen die Zahlen herunter und fingen an zu tanzen.

Sie tanzten vor dem schwarzen Brett, und die Kinder sahen mit offenem Mund zu. Da holte Don die kleine Flöte aus der Tasche, die er immer bei sich trug, und spielte für sie, und die Zahlen tanzten schneller, drehten sich, wirbelten herum … Und auf einmal dehnten sie sich und verknoteten sich und wurden zu anderen Zahlen. Standen schließlich still.

»Dreihundert mal zweiundfünzig«, las Jean-Marcel. »Fünfzehntausendsechshundert.«

»Richtig«, sagte Maitresse Tui und klatschte in die Hände. »Jetzt aber husch, zurück auf die Tafel mit euch! Wir wollen weiterüben, also benehmt euch!«

Da sprangen die Zahlen ein bisschen schuldbewusst auf das schwarze Brett, und Don steckte die Flöte weg.

»Seht ihr«, sagte Maitresse Tui, »so viele Teller Reis wären das, wenn wir an jedem Schultag Reis essen würden und das ganze Jahr lang zur Schule gehen dürften.«

In diesem Moment streckte jemand den Kopf zur Tür herein, die nur eine Lücke in der Wand aus Ästen war. Es war eine ältere Frau mit einem Baby auf dem Rücken, hager und gebeugt.

»Wo ist sie?«, fragte sie ärgerlich.

Maitresse Tui schenkte ihr ein Lächeln, das die Frau aber offenbar nicht haben wollte. »Wer?«

»Das wissen Sie genau. Meine Nichte. Fenomeine. Hat sie sich wieder in die Schule geschlichen? Sie soll zu Hause sein und Kaktusfrüchte schälen! Es nützt keinem was, wenn sie hier rumsitzt! Lernen ist überflüssig für Mädchen, und sie ist sowieso blind, was soll sie lernen?«

Don drehte kurz den Kopf, doch Feno saß nicht mehr neben ihm.

»Hier ist sie nicht«, sagte Maitresse Tui, ohne mit dem Lächeln aufzuhören. »Vielleicht ist sie losgegangen, um mehr Kaktusfrüchte zu ernten. Oder um bei jemandem ein Messer zum Schälen auszuleihen.«

Die hagere Frau knurrte, drehte sich aber um und ging.

Feno tauchte wieder neben Don auf. Sie hatte bis jetzt platt auf dem Boden gelegen, zwischen den Reihen der sitzenden Kinder. »Die Tante kann mich mal«, murmelte sie.

»Feno, zeige dem Alter Respekt«, sagte Maitresse Tui.

»Sie kommandiert immer meine Mutter rum, meine Mutter würde mich lernen lassen. Sie ist eine blöde … eine blöde … Tante«, sagte Feno, der kein gutes Schimpfwort einfiel. »Und ich kann Sachen lernen. Wer muss denn was sehen zum Rechnen?«

»Niemand«, sagte Maitresse Tui.

Dann rechneten sie eine ganze Stunde lang andere Dinge aus – wie viele Bretter man bräuchte, um Schulbänke zu bauen, wie viele Hühner in den Klassenraum passten und wie viel die Hühner jeden Tag lernen müssten, um schlau genug zu werden für die fünfte Klasse. Sie rechneten, bis ihre Köpfe rauchten. Danach lasen sie Worte, die Maitresse Tui überall um die Schule herum in den Staub schrieb, sie hüpften von Wort zu Wort, und die Kleinen kicherten. Fitos Ziege war immer dabei. Obwohl sie wirklich nicht gut lesen konnte.

In der Pause spielten sie Murmeln.

Man musste mit seinen Murmeln eine bestimmte Murmel treffen, es war nicht einfach. Don besaß nur zwei Murmeln, eine rote und eine durchsichtige mit gelben und roten Schlieren. An diesem Tag gewann er noch eine – eine wunderschöne große blaue Murmel mit grünen Flecken, von Jean-Marcel, der sich ärgerte. Aber alle hatten gesehen, dass Don gewonnen hatte, er musste die Murmel also rausrücken.

Und nach der Pause durften sie selber schreiben, mit der wertvollen winzigen Kreide auf die Tafel. Nicht alle natürlich.

»Ich will! Ich will!«, schrie Fito und hopste schon wieder auf und ab, aber erst, als er ganz still saß, durfte er. Als Allerletzter.

Und er ging feierlich nach vorn und schrieb: »ICHHABHUNGA.«

»Gut«, sagte Maitresse Tui. »Dann sollten wir jetzt essen. Nehmt jeder einen Teller. Ich erzähle euch eine Geschichte, während ihr esst.«

Das war der beste Teil des Tages, fand Don.

Sein Magen knurrte schon seit dem Morgen; der Topf zu Hause war leer gewesen. Nenibe, seine Großmutter, war früh aufgestanden, um Kaktusfrüchte zu sammeln, heute Abend würde es also etwas geben, aber solange der Regen nicht kam, gingen die Bohnen ein. Er nahm einen Teller vom Stapel in der Ecke, einen leuchtend orangefarbenen Plastikteller mit einem Riss, und dann saß er mit den anderen draußen unter dem Mangobaum.

»Wir haben einen riesigen Topf mit Reis gekocht«, sagte Maitresse Tui und gab ihm einen Blechlöffel. »Reis mit Ziegenfleisch.«

»Nicht Ziege!«, sagte Fito und legte den Arm um seine Ziege. »Sie ist sonst beleidigt!«

»Fisch!«, rief Feno.

»Gut, ich habe mich geirrt, einen Topf mit Reis und Fisch«, sagte Maitresse Tui. »Habt ihr alle eure Löffel? Dann seht eure Teller an. Der Reis ist weiß, ein kleiner weißer Berg auf jedem Teller. Die Fischsoße ist braun und fettig. Sie riecht nach Gewürzen aus der Ferne. Nach dem Meer, in dem auch Fische schwimmen, weit fort.«

Don schnupperte. Nie hatte er etwas Besseres gerochen.

»Jetzt schließt die Augen und esst den ersten Löffel Reis mit Fisch«, sagte Maitresse Tui. Ihre Stimme war eins mit dem Wind im Mangobaum. »Unsere Freundin, die Mango, reicht mit ihren Wurzeln tief in den Boden«, sagte Maitresse Tui. »Sie trinkt das Wasser von dort unten, und auch sie träumt vom Meer. Alles Wasser fließt irgendwann wieder ins Meer. Dort schwimmen bunte Fische, manche haben viele Arme und spucken Tinte, manche sind flach, und manche sind so groß wie die Schule und atmen wie Menschen, weil sie gar keine Fische sind. Die Wale. Kaut den Reis und den Fisch gut! Stellt euch vor, ihr vergrabt die Zehen im warmen gelben Sand, ihr seht die Kokospalmen links und rechts, und dann bückt ihr euch und hebt eine Muschel auf. Eine große Muschel. Mit glänzenden rosa Auswüchsen, in der Mitte eingekringelt. Und als ihr die Muschel ein wenig schüttelt, fällt ein kleines Tier heraus. Es läuft über den Sand, ganz schnell, es hat vier Beine und einen langen, geringelten Schwanz, wie ein Katta-Lemur aus dem Trockenwald. Aber es ist nicht größer als eine Heuschrecke. Und jetzt! Jetzt entfaltet es zwei Flügel und steigt auf in die Luft. Wie ein Schmetterling. Immer weiter steigt es auf, gelb-rot-blau gemustert sind die Flügel … Geht ihm nach! Versucht nicht, es zu fangen, denn Schmetterlingsflügel darf man nicht berühren, sonst verlieren sie ihre winzigen farbigen Schuppen. Dann stimmt das Gleichgewicht nicht mehr, und sie stürzen vom Himmel. Geht ihm also nur nach, ohne es anzufassen …«

»Meine Ziege sinkt im Sand ein«, sagte Fito. »Mit den Hufen.«

»Sag ihr, wir haben den Strand schon hinter uns gelassen«, sagte Maitresse Tui. »Wir folgen jetzt dem Schmetterlingstier auf einem Pfad durch den Urwald. Hinter dem Strand ist der Urwald dicht und grün. Er sieht anders aus als unser Trockenwald. Vor tausend Jahren war er überall in Madagaskar grün, ehe sie ihn abgeholzt haben. Wir müssen uns unter Lianen durchducken, wir kommen an Blumen vorbei, die aussehen wie Vögel auf Stielen … Auf der anderen Seite kommen wir wieder aus dem Urwald, und seht euch das an! Wir sind wieder hier. Hier in unserer Ebene. Der Wind trägt das Schmetterlingstierchen weiter … Und schließlich landet es. Genau neben einem Riss in der Erde. Ihr wisst, was für ein Tier das ist. Es ist der Wasserlemur, den so lange niemand mehr gesehen hat. Er sitzt jetzt da und putzt seine Pfoten wie eine winzig kleine Katze. Und aus dem Riss in der Erde kommt Wasser. Frisches, klares Wasser, es kommt einfach aus der Erde gesprudelt! Jetzt habt ihr die Teller leer gegessen, meine Lieben, jetzt beugt euch über die Erdspalte und trinkt.«

Das Wasser war wirklich ganz klar, es schmeckte wunderbar.

Don wischte sich den Mund ab und öffnete die Augen.

Feno, neben ihm, lächelte.

»Es gab ihn mal«, flüsterte sie. »Den Wasserlemur, oder?«

»Wenn er wieder da wäre«, wisperte Don, »würde er das Wasser rufen. Und wir könnten wieder Bohnen pflanzen.«

»Ach, das sind bloß Geschichten«, sagte Jean-Marcel. »Ein Tier, das Wasser findet? Hat es nie gegeben.« Er lachte rau und begann, die Teller einzusammeln. Er war einen ganzen Kopf größer als Maitresse Tui.

»Danke für die Teller, Jean-Marcel«, sagte sie.

»Du glaubst also nicht an den Wasserlemur, nein? Aber satt geworden bist du?«

»Ja, schon«, knurrte Jean-Marcel.

»Den Wasserlemuren hat lange keiner gesehen«, sagte Maitresse Tui. »Aber frag mal jemanden im Dorf, was er auf euren Tellern gesehen hat.«

»Was schon, Reis mit Fisch«, knurrte Jean-Luc.

Don stieß Feno an. Sie schmeckten beide noch die Fischsoße, doch sie wussten auch beide: Es war nie Reis auf den Tellern gewesen, und Fisch sowieso nicht.

»Es ist alles eine Frage dessen, was wir glauben«, sagte Maitresse Tui leise.

 

Und dann pfiff plötzlich jemand. Und alle sahen hinüber: dorthin, wo die Männer des Dorfes in einem Halbkreis saßen, einen Steinwurf von der Schule entfernt. Sie winkten.

»Ich muss zu ihnen gehen«, sagte sie. »Sie wollen mich sprechen. Ich glaube, es ist wichtig, der Rest des Unterrichts fällt heute aus.«

Sie klang mit einem Mal ernst.

»Können wir mitgehen?«, fragte Don.

»Nein«, sagte Maitresse Tui. »Eine Versammlung der Dorfchefs ist nichts für Kinder.«

Und dann ging sie davon, ging in ihrem hübschen weißen Rüschenkleid durch den roten Staub, sehr aufrecht und stolz.

»Ihre Hände haben gezittert«, flüsterte Don.

»Komm, wir hören im Geheimen zu«, sagte Feno.

»Aber sie werden uns sehen! Hier kann man sich nirgends verstecken.«

Die Versammlung der Männer saß im Schatten von ein paar Famatabäumen, aber zwischen der Schule und den Bäumen gab es nichts als rissige Erde, verziert mit wenigen toten Grasbüscheln. Und ein paar Ziegen.

»Klar!«, sagte Fito. »Klar kann man sich verstecken! Hinter den Ziegen.«

»Du spinnst«, sagte Don.

Fito verschränkte die Arme und funkelte ihn an. »Ich kenn mich aus mit Ziegen, Blödmann.«

Und dann gab er seiner Ziege einen kleinen Schubs, und sie lief zu den anderen Ziegen und meckerte. Die anderen Ziegen meckerten auch, und sie liefen zusammen weiter, wie ein paar Murmeln, die von einer anderen Murmel angeschubst worden waren. Sie liefen in Richtung der Männerversammlung.

Fito lief ihnen nach. Auf allen vieren.

»Er läuft auf allen vieren«, sagte Don.

»Ich weiß«, sagte Feno.

»Woher? Du siehst es doch nicht?«

»Na ja, aber es ist logisch, wenn er sich hinter einer Ziege verstecken will«, sagte Feno und ging auch auf alle viere. »Wo lang?«

»Wir … was werden die Dorfchefs sagen, wenn sie uns doch bemerken?«

»Angsthase«, sagte Feno, steckte ihren Rock hoch und krabbelte los, auf das Meckern der Ziegen zu. Sie sah mit den Ohren, wie immer.

Don seufzte. Ja, er hatte Angst. Wenn die Männer die Kinder erwischten, würden sie sie vielleicht verhauen. Aber Maitresse Tui war dort. Und ihre Hände hatten gezittert.

Er ging auf die Knie und krabbelte den beiden nach.

Dann war er bei den Ziegen, dann war er Teil der Herde. Er zog Feno ein Stück zur Seite.

»So bist du genau hinter einer Ziege« flüsterte er und legte ihre Hände auf das weiche braune Fell. »Hinter dieser. Die hat irgendwie längeres Fell als die anderen. Bleib bei ihr, sonst sieht man den Rock. Er leuchtet so.«

Er selbst duckte sich hinter eine weiße Ziege und schob sie in Richtung der Männer. Fito schob seine Ziege ebenfalls, sie wollte jetzt nämlich nicht weiter, sondern lieber einen toten Busch fressen, der nicht aussah, als würde er schmecken. Manchmal war sie genauso störrisch wie Fito.

Schließlich rupfte sie den Busch aus und nahm ihn mit.

Die Ziegenherde war jetzt ganz nah an der Versammlung.

Die Männer saßen noch immer in einem weiten Halbkreis auf dem Boden, nur der Dorfchef stand. Er strahlte so viel Würde aus wie die Sonne. Der lange Speer, den er in der Hand hielt, gab ihm ein majestätisches Aussehen. Er trug ein Hemd und darüber ein Tuch, lose über die Schulter geworfen, traditionell. Er tat immer sehr streng, aber er musste eine weiche Seite haben: Das Tuch, das er trug, war mit großen rosa Blumen bedruckt.

Die jungen Männer des Dorfes saßen nicht in der Runde, nur die, die Familie hatten und etwas galten. Sie alle sahen Maitresse Tui an, die sich etwas abseits auf den Boden gesetzt hatte, strahlend in ihrem weißen Kleid – auch wenn die Rüsche abging.

»In zwei Wochen wird sie vorüber sein«, sagte der Dorfchef. »Sie sind aus der Stadt, Maitresse. Sie kennen sich nicht so gut aus mit der Regenzeit hier, aber wir wissen, wann sie zu Ende ist.«

»Die Stadt ist nur eine Stunde weit weg, mit dem Rad«, sagte Maitresse Tui. »Wir haben dieselben Regenzeiten. Und natürlich haben Sie recht. Sie ist eigentlich vorüber. Aber …«

»Drei Jahre!«, donnerte der Dorfchef. »Drei Jahre lang haben wir gewartet! Nicht ein Tropfen Regen! Der Linta ist versiegt. Unser Fluss. Wir wandern drei Stunden dorthin, aber wozu wandern wir? Um den letzten Rest des Wassers auszugraben, und es ist schmutziges Wasser.«

»Und jeder weiß, dass die Dahalos am Fluss lauern. Die Räuber«, sagte jemand.

»Wir haben zu lange gewartet. Die Hilfslieferungen kommen nicht bis hierher. Wir können nichts mehr anbauen. Die Bohnen sind vertrocknet, der Rest des Saatguts ist nicht mal aufgegangen. Der Entschluss steht fest. Wenn es in zwei Wochen nicht regnet, unterzeichnen wir den Vertrag mit der kanadischen Firma. Dann werden sie hier den Glimmerstein abbauen, der im Boden schläft. Und es wird uns besser gehen. Wie dem Dorf drüben. Das Dorf drüben hat von der Firma Geld bekommen. Um mehr Maniok in der Stadt zu kaufen.«

Wieder murmelten alle zustimmend.

»Aber sie werden den Boden durchlöchern und alles zerstören«, sagte Maitresse Tui. Sie sagte es ganz leise, bescheiden, nicht so, als würde sie eigentlich wiedersprechen. Doch sie widersprach.

»Nein«, sagte der Dorfchef. »Wir werden den Boden aufgraben. Sie zahlen gut, sie geben uns Arbeit. Für jedes Gramm Glimmer, das wir finden. Und möglicherweise gibt es sogar Saphire.«

Und alle raunten: »Saphire!«

»Wir werden die Schule abreißen müssen«, sagte der Dorfchef. »Aber es war ohnehin kein richtiges Gebäude. Da, wo sie steht, ist wahrscheinlich am meisten Glimmer, wir haben eine Untersuchung durchgeführt, gestern Nacht, als der Mond günstig war. Wir haben die Ahnen befragt, und sie haben gesprochen. Wir haben mit einem Blatt gesucht, wie man sonst Wasser sucht. Wenn das Blatt zittert, gibt es Wasser. Das Blatt hat nicht gezittert. Dort, wo die Schule steht, ist es zu Boden gesegelt. Das ist ein Zeichen. Es bedeutet, dass dort Glimmer zu finden ist. Oder sogar Saphire.«

»Saphire!«, murmelten wieder alle.

Es war ein schönes Wort, dachte Don, klangvoll und geheimnisvoll.

»Wenn es so kommt, werden Sie sich Arbeit anderswo suchen müssen«, sagte der Dorfchef. »Ohnehin können wir Sie nicht bezahlen, Sie wissen das. Eine Handvoll Mais hier, oder Maniok. Ein paar Kaktusfrüchte dort, ein Stück Ziegenfleisch … Wir haben gegeben, was wir konnten.«

»Wer wird die Kinder unterrichten?«, fragte Maitresse Tui. »Wer wird ihnen die Welt erklären? Wer wird mit ihnen neue Spiele spielen?«

»Sie werden nicht unterrichtet«, sagte der Dorfchef. »Sie werden nicht spielen. Wenn es auch dieses Jahr nicht regnet, müssen sie helfen. Sie werden mit uns den Glimmerschiefer aus der Erde holen. Wir sind eine Gemeinschaft. Wir werden zusammenarbeiten. Damit wir wieder essen können.«

Maitresse Tui nickte. »Aber niemand darf die Mango fällen«, sagte sie leise. »Wenn aller Glimmer aus dem Boden geholt ist, können wir die Schule neu aufbauen. In ein paar Jahren.«

»Die Mango«, sagte der Dorfchef, »wächst dort, wo das Blatt gefallen ist. Genau dort. Wo die Saphire sind. Wenn es nicht regnet, wird die Mango fallen.«