Scheißglitzertage - Antonia Michaelis - E-Book
SONDERANGEBOT

Scheißglitzertage E-Book

Antonia Michaelis

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Sommer, nach dem alles anders war. Wenn man jung ist, fühlt sich das Leben an wie eine Achterbahnfahrt der Gefühle: Dein Herz klopft so heftig, dass es einfach Liebe sein muss – oder doch Angst? Wer weiß das schon? Es ist heiß auf Usedom in jenem Sommer 2022, der Ostseestrand ist warm unter den Zehen und Finnley Kovalsky, 17, Förderschüler im letzten Schuljahr, will raus: aus der Platte, aus dem Grau, rein ins Abenteuer. Wie sein Freund Neil und der gutmütige Leif. Und plötzlich ist da auch das ukrainische Mädchen Ulja. Doch wohin verschwindet sie ständig? Und was hat es mit dem mysteriösen Oberst und immer mehr Militär auf der Insel auf sich? Mit den Gerüchten über einen bevorstehenden russischen Angriff? Während einer der Freunde die Insel militärisch verteidigen will, zweifelt der andere an den Behauptungen aus dem Netz. Und über all dem flirrt die Liebe zwischen Ulja und den Jungs in der Sommerluft – bis Finnley sich entscheiden muss, ob er bereit ist, für seine Überzeugungen alles aufs Spiel zu setzen. Was, wenn deine erste Liebe deine letzte ist? - Ein mitreißender Coming-of-Age-Roman über Fremdenfeindlichkeit, Freundschaft und Freiheit. - Finnley, Neil und Leif haben reale Vorbilder. - Voll authentisch: ein hochaktuelles Jugendbuch ab 14 Jahren. - Kennst du "Tschick" oder "Die Welle"? Dann wirst du diese Sommergeschichte lieben. - So hart wie bittersüß: Wer manipuliert, wer informiert, wer überlebt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Es ist Sommer auf der Insel Usedom, und Finnley will endlich raus. Raus aus der Platte, raus in die Welt. Leben. Doch in den sozialen Netzwerken häufen sich Gerüchte über einen russischen Angriff, und an den Stränden stehen plötzlich Panzer und Soldaten.

 

Vor Finnleys Eiswagen steht Ulja. Sie kommt aus der Ukraine, trägt die Sonne ins Gesicht gesprenkelt und ein Geheimnis in den Augen. Gemeinsam mit Finnleys besten Freunden durchleben sie einen Sommer, der ungeahnte Wahrheiten bereithält: Einige sind furchtbar. Und andere furchtbar schön.

Liebe*r Leser*in, wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de.

Schau gerne in der Triggerwarnung, dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)

 

 

Für

den Bestatter,

den Katzenträger

und einen Prophessor mit ph.

 

1

Es war der Sommer, in dem Neil seinen Hut beerdigte.

Neil: korrekt wie immer, wenn er auf dem Friedhof arbeitete, mit den schwarzen Lackschuhen und dem langen Mantel, der ihn so erwachsen aussehen lässt, viel älter als siebzehn.

Es war der Sommer, in dem ich einen Regenbogen auf einen Pick-up der Bundeswehr malte, obwohl ich Regenbögen früher nie mochte. Der Sommer, in dem Ulja auftauchte und auf mysteriöse Weise wieder verschwand.

Der Sommer, in dem der russische Kämpfer uns in die Arme fiel und die Welt unterging, der Sommer, in dem der Sturm kam und die Fische sprangen.

Der Sommer, in dem wir lernten, wie man eine Jolle bei Gewitter segelt. Was Liebe bedeutet.

Und wie man geht und trotzdem bleibt.

Aber all das greift zu weit vor. Beginnen wir dort, wo es begann.

 

An einem Samstagnachmittag Ende Juli.

Sommerhitze auf der Insel, Stau an der Brücke, Touristen. Sonne auf dem Asphalt.

Und ich hinter dem Eiswagen: dieser Wagen, auf altmodisch gemacht, mit seinen großen Rädern, mit denen er nie irgendwohin fuhr. Er stand nur an der Seebrücke, mit mir dahinter: alberne weiße Schürze, weiße Mütze, weiße Handschuhe – und immer lächeln, du darfst das Lächeln nicht vergessen.

Irgendwann tut dir das Gesicht davon weh.

Irgendwann verschwimmen die bunten Farben, auf die du ständig starrst, erdbeervanillechocolatecookieblauerschlumpf.

Wenn ich konnte, sah ich aufs Meer hinaus, zum Horizont weit, weit hinten: eine blaue Glitzerlinie, hinter der die Welt begann. Ich träumte mich dahinaus, in die Ferne, wo es keine Touristen gab und kein Chocolate-Cookie-Eis und auch keine kleine Wohnung, in die du jeden Abend zurückmusst. Eine Ferne ohne den Geruch von Küchenabwasch und Enge und Zigaretten und trocknender Wäsche. Da draußen, hinter der Glitzerlinie, war alles anders.

Über allem lag ein Gefühl des Aufbruchs.

Eigentlich lag da auch noch ein Jahr Schule vor mir herum, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das machen würde. Klar, ohne richtigen Abschluss ist Mist, sagt Mama. Sie hat auch keinen.

Aber Mama verstand das Aufbruchsgefühl nicht.

Dieses Gefühl, dass das große Leben vor dir liegt, du hast einen Job, du verdienst was, eigentlich bist du unabhängig. Alt genug, im Edeka das Bier selbst zu kaufen.

Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass etwas passieren würde, ich wartete darauf, dass es passierte, jeden Tag. Aber als es passierte, hatte ich nicht damit gerechnet. Ich hatte mich weggeträumt wie immer, zum Horizont.

»Erdbeer-Cookie. Einmal, bitte.«

Ich zuckte zusammen und blinzelte, und da stand sie vor dem Eiswagen, den Kopf schief gelegt, und sah konzentriert die Eiswannen an, mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne. Ihre Augen waren braun mit hellen Sprengseln und befanden sich hinter einer kleinen runden Brille, durch die sie sehr groß wirkten, groß und irgendwie permanent erstaunt. Als wäre die Welt um sie herum ein einziges großes, verwunderliches Wunder. Ihre Wangen waren voller Sommersprossen, dicht aneinander wie Sandkörner vom Strand.

»Erdbeer-Cookie«, wiederholte ich, und es klang ziemlich bescheuert.

»Ja«, sagte sie.

Ihre Haare waren wellig und hatten die Farbe von Schokoladeneis, eine Sekunde, bevor es schmilzt.

»Warte«, sagte ich. »Erdbeer-Cookie gibt es nicht. Es gibt Chocolate-Cookie oder Erdbeer.«

»Erdbeer-Cookie«, wiederholte sie, sehr bestimmt.

Sie hatte einen Akzent, sie war keine Deutsche.

Zwischen ihren Sommersprossen waren Flecken, die anders aussahen. Röter. Dunkelrot.

Wie winzige Blutspritzer.

Quatsch, sagte ich mir, natürlich war das kein Blut. Farbe vielleicht, Spritzer von Sprayfarbe. Ich kannte die Sprayer in der Gegend, aber natürlich nicht alle, und sie war von woanders, Polen oder so. Konnte doch sein, sie war für einen Tag hier, um irgendwo Tags zu verteilen.

Obwohl sie danach gar nicht aussah.

»Erdbeer-Cookie. Ich kann’s versuchen«, sagte ich und tauchte den Eislöffel erst in das Chocolate-Cookie- und dann in das Erdbeereis, was eine seltsame Mischung aus rosa und braunem Matsch zur Folge hatte.

Sie nickte ernst und nahm die Waffel entgegen.

Dann legte sie sorgfältig einen kleinen Turm von Zehncentstücken auf die Theke des Eiswagens, obendrauf zwei Fünfcentstücke. Ganz genau abgezählt. Und dann trat sie zurück und musterte mich einen Moment. Nur so einen Moment. Nachdenklich.

Es ist ein Bild, das in meinem Gedächtnis eingebrannt ist: wie sie da steht und irgendwie vorsichtig an dem Eis leckt. Und mich ansieht. Und tausend Dinge denkt, die man aber nicht sehen kann.

Die Schlange schob sich weiter, ich musste Leute bedienen. Vanille, Mango, Karamell.

Als ich wieder hinsah, war sie verschwunden.

Verschwunden im Gewühl der Leute auf der Promenade, an einem Samstagnachmittag im Juli, zwischen Kindern mit Sandeimern und Paaren mit Selfieblick, unter einem schlumpfeisblauen Himmel. Und in der Ferne glitzerte immer noch der Horizont.

 

An diesem Tag flogen die Hubschrauber wieder. Ich hasste es, wenn die Hubschrauber flogen. Sie dröhnten den ganzen Himmel kaputt, das Blau zerfetzt in kleine Stückchen, und die Leute standen am Strand und guckten, manche mit Ferngläsern. Und du konntest die Nervosität spüren, die durch die Menge lief. Draußen holten sie irgendjemanden von einem Schiff, Evakuierung von Kämpfern. Es war eine Übung, klar, es war immer nur eine Übung. Sagten sie.

Ich schabte Kugeln aus dem Madeira-Eis. Komisch, meine Hände zitterten.

Nur eine Übung.

Ich streute bunte Zuckerstreusel über sattes Gelb und kassierte Scheine und tippte mir an die Mütze, höflich, und wusste, dass Mama zu Hause am Fenster stand, bei uns oben im Fünften, und die Hubschrauber ansah. Und gleichzeitig auf Facebook Gerüchte las. Und sich Sorgen machte.

Die Russen kommen.

Und du konntest die Uhr danach stellen, eine halbe Stunde nach Beginn der Hubschrauberübung kam die SMS von Mama: Jetzt kommen sie wirklich.

Nein, tippte ich, ist ’ne übung.

Glaubst du doch selbst nicht, schrieb Mama.

Ich machte das Handy aus.

Ich hatte keine Zeit zum Schreiben, die Eisschlange war länger denn je, die Leute beobachteten die Hubschrauber und aßen Eis, es war eine komische Stimmung.

Als ob sie alle noch schnell möglichst viele Zuckerstreusel und Rumrosinen und Chocolate-Cookie-Stückchen in sich hineinschaufeln müssten, ehe die Welt unterging, ehe dies alles vorbei war, ehe niemand mehr auf dieser Insel Urlaub machen würde, ehe die Promenade nur noch von marschierenden Soldaten benutzt würde.

Ein Stück weiter war sie bereits abgeriegelt, da durfte keiner mehr hin, da gab es nur noch Camouflagegrün. Und ich sah durch die Menge die Panzer hinter der Absperrung, wahrscheinlich waren sie wieder auf dem ganzen Strand hinter Zinnowitz bis Koserow.

Ein kleines Mädchen mit einem riesigen regenbogenfarbenen Lolli saß auf den Schultern seines Vaters und winkte den Hubschraubern, als seien es Vögel.

Und dann hat man so komische Gedanken wie: Wenn du mal groß bist, sieht hier vielleicht alles ganz anders aus, und die Eisschilder sind auf Russisch.

Die Hubschrauber flogen bis sechs. Danach lösten sie die Sperrung langsam auf, und ich entkrampfte meine Hände. Der Abend kam, und die Touristen sickerten weg. Gingen in ihre Hotels, wo sie auf gepolsterten Stühlen vor kunstvoll gefalteten Stoffservietten sitzen und aus dem Fenster aufs Meer sehen würden.

Zum Horizont, den das Abendlicht fraß.

Sieben Uhr: Feierabend, Schichtende.

Ich deckte die Eiswannen ab und schob den Wagen rein: die einzigen zehn Meter, die diese Räder je zurücklegten. Die Wannen mussten im Hotel unten in den Gefrierschrank, elende Schlepperei. Endlich keine Schürze mehr, keine Handschuhe, frei. Ich hängte das Eisverkäuferlächeln an einen Haken. Mein Basecap wartete auf mich, ich zog den Schirm tief ins Gesicht, Schutz vor der Welt. Hände in die Taschen, niemand muss nach Feierabend noch gerade und aufrecht stehen, ich hatte alles Recht der Welt, in mich zusammenzusacken, zu entspannen: Kapuze auf gegen den Abendwind, es wurde frisch jetzt.

Der Wind ärgerte mich und ließ mich die Zigarette erst beim dritten Versuch anzünden.

Am Bahnhof warteten die Züge: Zeit, nach Hause zu fahren. Aber meine Füße trugen mich noch einmal hinaus zur Seebrücke. Das Sieben-Uhr-fünfzehn-Licht lag rosa auf dem Meer wie Himbeersahne.

Und da stand sie. Am Geländer der Brücke, angelehnt, und guckte zum Horizont, zu meinem Horizont. Ich stellte mich neben sie und guckte auch.

»Hey«, sagte ich.

Sie drehte sich um, aber nicht erstaunt. So, als hätte sie gewusst, dass ich kommen würde.

»Hey.«

»Machst du Urlaub hier?«, fragte ich.

Sie lachte einmal kurz und hell auf, dann schüttelte sie den Kopf. Dann nickte sie. Und dann sagte sie, mit ihrem irgendwie singenden Akzent: »Ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht, ob du Urlaub machst?«

Sie stieß sich vom Geländer ab und begann, die Seebrücke entlangzugehen, hinaus aufs Meer, und ich ging neben ihr her. »Leben kann Urlaub sein, vielleicht«, sagte sie. »Macht man immer Urlaub, also.«

»Woher kommst du denn?«, fragte ich, und wir gingen weiter, einfach immer weiter, über die Holzplanken, zwischen den Geländern voller Möwenschiss.

Sie zeigte in Richtung Grenze. »Von da.«

»Polen?«

Ein Kopfschütteln. »Ukraine. Kommen alle jetzt von da, nein?«

»Ach so«, sagte ich. Klar, Ukrainer waren überall. Aber ich hatte noch nie wirklich mit einem ukrainischen Mädchen geredet. Komisch, eigentlich. Ich war auf der Suche nach einem Mädchen. Dauerzustand. Ich meine, wer ist nicht auf der Suche, mit siebzehn? Neil und Leif ging es genauso. Abends quatschten wir über die Mädels, die infrage kamen, und manchmal war einer von uns eine Weile mit irgendeiner aus dem Viertel zusammen, Händchen halten und alles, aber es hielt nie lange. Hinter dem Horizont, dachte ich, wenn wir genug Geld zusammenhatten für die Weltreise, die wir planten, würde alles anders werden.

»Bist du mit deinen Eltern hier?«

Sie zögerte. Nickte dann. »Ja.«

»Wo sind sie?«

»Wie? Jetzt?« Sie lachte. »Sie sind in die Unterkunft. Wohnung, für viele Leute. Sie haben Platz für alle. Es ist gut.«

»Und du rennst hier ganz alleine auf der Insel rum? Hast du keine Angst?«

Sie blieb stehen und sah mich an, durch ihre Brille, und ich fand die roten Spritzer wieder zwischen den Sommersprossen.

»Angst? Nein«, sagte sie und schüttelte entschlossen den Kopf. »Von was?«

»Ich weiß nicht. Alleine zu sein. In einem fremden Land. Na ja … du kannst Deutsch …«

»Bisschen«, sagte sie und lachte. »Wir haben gelernt, in Schule.« Und dann sagte sie, plötzlich ernst: »Angst ist fur Anfanger.«

»Fänger«, sagte ich.

»Fänger«, sagte sie.

Und dann gingen wir weiter, die Seebrücke entlang, und ich sah sie heimlich von der Seite an.

Sie war anders als ukrainische Mädchen, die ich so vom Sehen kannte. Die waren sonst immer echt schnieke, lange glatte Haare, perfekt geschminkt, so in der Art. Und sie war anders als die Mädchen aus dem Block, die Mädchen in der Schule, anders als die Mädchen, die wir auf Social Media oder im Fernsehen gut fanden. Neil sagte immer, Oberbau ist das Wichtigste, und Leif sagte, Quatsch, Hintern. Sie konnten darüber in Streit geraten, und ich lachte sie meistens aus und sagte, Hauptsache, viel von allem. Aber dieses Mädchen hatte eigentlich überhaupt keinen Busen und auch keinen wirklichen Hintern, und sie trug kein enges Sommeroberteil wie die Mädchen im Viertel, sondern ein weites Männerhemd und Jeans. Sie passte überhaupt nicht in unser Beuteschema.

Sie war keine Beute. Sie war eine Person ohne Angst, eine Jägerin.

Es würde zu nichts führen, hier neben ihr auf der Seebrücke entlangzugehen. Pack ein, sagte ich mir, pack ein, Finnley, und geh nach Hause. Nicht deine Liga. Sie wird Abi machen, auch auf Deutsch, sicherlich, sie kann es ja jetzt schon. Das ist so eine, die Bücher liest, du wirst sehen. Wenn du der sagst, dass du auf die Förderschule gehst, ist die weg.

Aber ich ging nicht.

Sie war wieder stehen geblieben, und ich streckte die Hand aus und berührte ihre Wange.

»Was sind das für Spritzer? Rot?«

Sie zuckte zurück. »Spritzer?«

»Flecken. Farbe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«

Und als sie sich ins Gesicht griff, um zu tasten, rutschte das weite Männerhemd über ihre Schulter. Es war eine sehr hübsche nackte Schulter mit einem BH-Träger, aber unter dem BH-Träger war ein riesiger Bluterguss, und mitten darin zog sich eine dicke Schramme über ihre Schulter, die ziemlich frisch aussah. Ich zog die Luft scharf durch die Zähne ein. »Was hast du gemacht?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie und schob das Hemd zurecht.

Und ich dachte: In der Ukraine ist Krieg, aber einem fällt doch kein Stück Haut aus der Schulter. Und nach allem, was man so sieht im Netz, Facebook und so, reisen die doch alle ganz ordentlich und gesittet mit ihren Rollköfferchen aus, samt Pelzmantel und Hund.

Sie holte zwei Kaugummis aus der Tasche, steckte einen in den Mund, kaute sorgfältig und machte eine große Blase, die auf ihrer Nase zerplatzte. Rosa wie das Abendlicht. Sie lachte und gab mir den anderen Kaugummi.

»Jetzt du.«

Und da machte ich auch eine Blase, obwohl ich nicht gut darin bin, und am Horizont wurde das Licht orange, und der Wind war wärmer als sonst. Ich hatte das Gefühl, dass das an ihr lag, dass sie den Wind warm machte. Und irgendwie kribbelte alles in mir, wie ein Glitzern, nur von innen. Ich fragte mich, ob Neil oder Leif dieses Gefühl kannten, es war neu und seltsam.

Nicht so, wie wenn du sonst ein Mädchen angräbst und die Hormone dich fluten. Anders.

Ich dachte, ich muss irgendwas machen, irgendwas Bescheuertes, etwas, damit sie sieht, dass ich auch keine Angst habe, vor dem Leben oder irgendwas. Damit sie sich später an mich erinnert.

Vor uns auf dem breiten Geländer der Seebrücke ging eine Möwe spazieren. Da kletterte ich ebenfalls aufs Geländer. Meine Beine zitterten, ich bin nicht gut mit solchen Sachen wie Gleichgewicht, aber ich zwang mich, die Arme auszustrecken und langsam geradeaus zu gehen, das Geländer entlang, weiter auf die Ostsee hinaus.

»Du bist verruckt«, sagte sie, aber es klang gut. »Du. Wie heißt du?«

Sie ging neben mir auf der Seebrücke entlang, und ich wollte antworten, aber Sprechen und Atmen und Balancieren war schwierig. Das Wasser war sehr weit unten, und das Unten zog an mir.

Es muss leicht aussehen, was du machst, sagte ich mir, leicht, als würdest du das jeden Tag machen.

»Fi… Fi… Finnley«, keuchte ich. Und ich dachte, verdammt, ich stottere doch schon lange nicht mehr, das war, als ich sechs war, damals, erste, zweite Klasse. Ich konnte mich gut dran erinnern, so was vergisst du nicht, wie sie dich alle anstarren und du das, was du sagen willst, einfach nicht rausbekommst.

Und dann lachen alle.

Sie lachte nicht. Sie nickte nur und lächelte. »Ulja«, sagte sie. »Ich heiß Ulja.«

Und dann kletterte sie hinter mir auf das Geländer, ich sah es aus dem Augenwinkel.

Wir balancierten beide durch den Wind, beide mit ausgebreiteten Armen, Möwen im Abendlicht vor der Insel. Und weit draußen lag noch immer das Militärschiff, still jetzt, hockte dunkel und groß auf den Wellen und verbreitete eine ungewisse Nervosität.

Aber mein Mund schmeckte nach Kaugummi, und hinter mir balancierte ein wunderschönes Mädchen. Das Leben war federleicht.

Und dann war da plötzlich eine Stimme, unnatürlich laut: Megafon.

»Wir bitten den jungen Herrn und seine Begleitung, umgehend das Geländer der Seebrücke zu verlassen.«

Der Sarkasmus war beißend. »Andernfalls hat es unangenehme Folgen.«

Scheiße. Die Wasserwacht. Das gab Ärger.

Ich drehte den Kopf, und einen Moment lang sah ich Ulja an.

In ihrem Gesicht stand eine Frage: Würde ich runterspringen? Klein beigeben?

»Die können mich mal«, sagte ich, aber es war ein Fehler gewesen, sich umzudrehen. Das Gleichgewicht war durcheinander, die Schwerkraft zerrte an mir. Ich schaffte noch genau drei trotzige und ziemlich hektische Schritte.

Dann kippte ich zur Seite weg.

Und dann fiel ich. Nicht zur Seite mit der Seebrücke. Natürlich nicht, Butterbrote fallen auch immer auf die Butterseite. Was das Glückhaben betrifft, bin ich ein Butterbrot.

Ich landete zehn Meter weiter unten in der Ostsee, und sie war erstaunlich kalt. Gemein kalt für Juli. Alles an mir zog sich zusammen, wollte sich klein machen und sinken wie ein Stein, aber ich wusste, ich musste schwimmen. Ich musste an die Oberfläche. Ich bin kein guter Schwimmer, ich kann eigentlich nur drei Dinge wirklich gut: Eis verkaufen, mich wegträumen und in Schwierigkeiten geraten.

Ich schlug hektisch mit Armen und Beinen, irgendwie kam ich hoch, schnappte nach Luft und spürte, wie ich wieder unterging. Irgendwo über mir lehnte am Geländer vermutlich das Mädchen, das Ulja hieß, das Mädchen mit den Sommersprossen, das keine Angst vor gar nichts hatte.

Ich zwang mich, ruhig zu schwimmen, ganz ruhig. Die Hose und die Turnschuhe zogen mich hinunter, ich hätte die Turnschuhe gerne abgestreift, aber es waren meine einzigen.

Der Wasserwachttyp brüllte irgendwas in sein Megafon: darüber, dass das Springen von der Seebrücke untersagt war und ob ich sie noch alle hätte.

Ich paddelte unter die Brücke, wo sie mich nicht mehr sehen konnten, ich, im Wasser, mit der Eleganz eines Straßenhundes. Kurz darauf fiel etwas ins Wasser, und ich sah unter der Oberfläche einen Schatten auf mich zuschwimmen. Dann kam der Schatten neben mir hoch.

Ulja.

Sie schüttelte sich, wischte das lange Haar aus ihrem Gesicht und lachte. »Kalt. Aber schön.«

Sie glitt in eine perfekte Rückwärtsrolle und tauchte wieder auf. Das Abendlicht, das unter die Seebrücke griff, ließ ihr Gesicht leuchten und ihre Augen strahlen. Sie hielt die Brille in der Hand. »Warum sie sind böse? Die Leute mit laute Stimme?«

»Wa… Wasserwacht«, keuchte ich. »Gibt Ärger.«

»Sie mögen nicht, man schwimmt in Meer?«, fragte Ulja. »Warum? Meer ist frei für alle.«

»Ja«, sagte ich. »Auch wieder wahr.«

Es war komisch, so neben ihr Wasser zu treten, auf der Stelle. Eigentlich ging es ganz gut. Ich habe echt Respekt vor tiefem Wasser, aber mit Ulja zusammen schien es lächerlich, vor etwas wie Wasser Angst zu haben.

»Wenn sie nicht finden, gibt kein Ärger«, sagte sie. »Komm.«

Und sie schwamm voraus, unter der Seebrücke entlang, weiter hinaus, vom Ufer weg. Niemand sah uns, aber es gab auch nirgends eine Möglichkeit, wieder rauszukommen.

Als wir ganz vorne waren, da, wo die Schiffe nach Polen anlegen, war ich völlig außer Atem. Scheißraucherlunge, manchmal fühlst du dich damit wie ein alter Mann.

Ulja war kein bisschen außer Atem, sie lachte und zeigte auf eine Plattform, die tiefer lag als der Rest der Seebrücke, irgendwas wegen der Schiffe, und sie zog sich mühelos auf einen Balken direkt darunter und setzte sich dorthin.

Ich streckte die Arme aus, bekam den Balken zu fassen, scheiterte an dem Klimmzug, den man machen musste, und kam mir selten blöd vor. Ulja lachte, aber es klang nicht böse, nicht nach Auslachen. Sie streckte einen Arm aus und zog mich zu sich auf den Balken.

Dann begann sie, sich aus ihren Sachen zu schälen.

»Du auch«, sagte sie. »Zu nass. Du bist krank, nachher.«

»Ach, geht schon«, murmelte ich, aber sie hatte recht, es war eiskalt. Und schließlich streifte ich die Schuhe ab und kippte das Wasser daraus zurück in die Ostsee. Wir lachten zusammen darüber. Dann wurde ich das nasse T-Shirt los.

Ulja wrang ihr Männerhemd aus. Sie saß in Unterwäsche da: schwarzer Slip und schwarzer Sport-BH, unter dem man keinen Busen sah, weil sie so gut wie keinen hatte. Aber ihre Unterwäsche war fast wie ein Bikini. Als hätte sie geplant, damit schwimmen zu gehen.

Ich hätte die klitschnasse Jeans gerne ausgezogen, aber ich ließ es lieber, die alten Shorts darunter waren ausgewaschen-neongelb mit komischen Mustern, die Naht an der Seite löste sich auf, und oben waren sie zu weit, akute Verliergefahr. Ich fragte mich, was man da alles durchgesehen hätte. Obwohl es eigentlich zu kalt war, sämtliche Körperteile weggeschrumpft vor Schreck.

Dann vergaß ich die Shorts, weil ich wieder Uljas Bluterguss an der linken Schulter ansah. An derselben Seite hatte sie an der Hüfte und am Oberschenkel ebenfalls mehrere Blutergüsse.

»Was hast du gemacht?«, fragte ich.

»Du musst auswassern deine Hose«, sagte sie, nahm die Hose und wrang sie aus. »So. Wir kann hier bisschen bleiben, bis Leute mit Megafon uns vergessen.« Dann griff sie in die Tasche der Hose und zog meine Kippen heraus. Nass, unbrauchbar.

»Tot«, stellte sie fest, fast zufrieden, und legte die Packung neben uns auf den Balken.

»Neil könnte sie begraben«, sagte ich.

»Neil?«

»Kumpel von mir. Er jobbt bei ’nem Beerdigungsinstitut. Bisschen komischer Kauz.«

»Kauz«, wiederholte sie, nachdenklich.

»Na ja, komischer Typ eben. Verdient nicht schlecht. Keiner will das machen, da aushelfen, also zahlen sie gut.«

Ich sah ihn vor mir: Neil, groß und schlank, in dem langen schwarzen Mantel, den er von seinem Onkel geerbt hatte, und den Lackschuhen. Du darfst die Hände nie in die Taschen stecken auf Begräbnissen, sagt er immer, sonst kriegst du sofort Ärger mit dem Chef, und du musst ernst bleiben, keinen Unsinn anstellen. Wär nix für dich, der Job. Aber Leif vielleicht, der könnt hier anfangen, sie brauchen starke Leute, Särge können schwer sein, und wenn du Dienst hast und die Körper abholst aus der Pathologie, denn auch.

Aber Leif hatte den Kopf geschüttelt mit seinen vielen kleinen blonden Locken und bloß gegrinst. »Nee, du, lass ma stecken«, hatte er gesagt. »Ich trag lieber Stämme im Wald. Mach ich weiter, ist ja auch Geld. Förster is okay und so. Ich geh nich aufn Friedhof.«

»Haste Schiss vor den Toten?«, hatte ich gefragt, aber Leif hatte nur weitergegrinst und wieder den Kopf geschüttelt. »Nee, ich mag nur die Buchstaben nich«, hatte er gesagt. »Die ganzen Buchstaben auf den Grabsteinen drauf, und die Zahlen, wirste ja blöd im Kopf.«

Leif stand auf Kriegsfuß mit Buchstaben und Zahlen. Er konnte AUTO und LOVE lesen und das Datum schreiben und seinen Namen, aber damit hörte es auf. Wir hatten ihn mal auf unserer Schule, aber das ging nicht, die konnten ihm da nichts mehr beibringen, haben sie gesagt. Und jetzt geht er auf der Insel in so eine andere Schule. In der sie ihm auch nichts beibringen, glaube ich. Im Handy hat er so eine Einstellung, die ihm die Texte vorliest. Er schickt nur Sprachnachrichten. Und er ist nicht blöd, ich meine, er kann wahnsinnig gut mit Pferden reden. Sein Onkel hat solche Riesenviecher auf dem Hof. Tiere verstehen Leif, und kleine Kinder auch. Er ist ein Bär, ein gutmütiger, starker Bär. Nicht besonders groß, aber besonders breit, und unglaublich stark. Und irgendwie weich.

»Beerdigungsinstitut«, wiederholte Ulja und riss mich aus meinen Gedanken.

»Ja«, sagte ich. »Er jobbt da und ich beim Eiswagen, und unser Kumpel beim Förster, und wenn wir genug Knete zusammenhaben, sind wir weg.«

»Knete«, sagte Ulja verständnislos.

»Na, Geld«, sagte ich. »Dann sind wir raus hier. Vielleicht machen wir ’ne Weltreise. Irgend so was. Hierbleiben ist kein Deal. Da wirste blöd, auf Dauer. Da draußen …« Ich wollte zum Horizont sehen, aber den Horizont sah man nicht so richtig von unserem seltsamen Versteck aus. »Da draußen wartet irgendwas. Na ja, ist nur ein Gefühl. Da wartet was darauf, dass es endlich anfangen kann. Keine Ahnung … Hört sich blöd an, was?«

»Nein«, sagte Ulja ernst. »Nicht blöd. Ich versteh. Ich denk das auch. Ich will auch raus. Berlin. Große Städte. Ich will singen.«

»Singen?«

»Ja«, sagte sie. »Singerin sein. Richtige. Auf der Buhne, buntes Licht, und alles laut. Nur einer muss mir entdecken. Wenn ich Chance habe, ich sing für alle.«

»Du siehst mehr aus wie jemand, der Bücher liest«, sagte ich.

Sie hielt ihre Brille hoch und lachte. »Wegen das hier? Na ja. Abitur, noch zwei Jahre, ich hatte … hätte … gemacht. Aber jetzt … fur Abitur, in Deutschland, ich musste wiederholen zu viele Jahr. Wegen Sprache. Ich mach das nicht, vielleicht. Ich will nur singen.«

Und ich wollte sagen, sing was, irgendwas, doch in diesem Moment meldete sich das Handy in meiner Hosentasche. Es war ein Wunder, dass es nicht auch abgesoffen war.

Neil.

»Hey«, sagte er, mit dieser tiefen Stimme, die so viel älter klingt als siebzehn. »Finnley? Hier stimmt etwas nicht. Es ist ausgesprochen seltsam. Bei der Beerdigungsgeschichte, du weißt, was ich meine. Kannst du reden?«

»Später«, sagte ich.

Aber Neil redete einfach weiter, in seinen etwas gestelzten Sätzen – wie ein großer schwarzer Vogel, der um die Worte herumbalanciert.

»Es stimmt etwas absolut nicht. Tabletten. Sie sagen, er hätte einen Herzinfarkt erlitten. Sie haben mich zu ihm geschickt, zu ihm nach Hause, um die Klamotten abzuholen. Und da liegen diese Tabletten im Schlafzimmer, und ich denke, gut, der Typ war krank, das sind seine Herztabletten. Aber die ganzen Tablettendinger in dem Streifen sind aufgedrückt. Und die Tabletten? Weg? Nee, negativ. Die sind trotzdem drin. Jemand hat die rausgedrückt und danach wieder reingetan. Nur warum sollte einer das tun?«

»Weil er … andere Tabletten in den Streifen reingetan hat?«, fragte ich, nur halb bei der Sache.

Ulja hatte sich gegen ein Stück der Seebrücke gelehnt und machte wieder Kaugummiblasen, große rosa Blasen, vielleicht gelangweilt, weil ich am Telefon hing. Die Sonne war fast untergegangen.

»Positiv«, sagte Neil. »Ja. Andere Tabletten. Und der Typ ist von uns gegangen. Ich hab dem Chef von den Tabletten berichtet, aber der hat gesagt, ich soll den Mund halten und den Leuten nicht nachschnüffeln, wir sind nur dafür da, sie unter die Erde zu bringen.« Er holte tief Luft. »Bloß, ich glaub, dieser Typ sollte gar nicht unter der Erde sein. Und jetzt macht der Chef Stress und sagt, wenn ich weiter rumschnüffel, bin ich den Job los … Finnley? Wo bist du?«

»Unter der Seebrücke in Zinnowitz«, sagte ich.

»Unter der …«

»Wir reden später«, sagte ich, noch einmal. »Balkon? Kommst du rüber?«

»Von mir aus«, sagte Neil. »Ich bring Bier mit. Aber wenn sie mich rauswerfen, kann ich bald kein Bier mehr ausgeben, befürchte ich, und …«

»Ich kann jetzt wirklich nicht«, sagte ich.

Ulja hatte begonnen, in ihrer Unterwäsche durch die Verstrebungen der Seebrücke nach oben zu klettern, die Kleider um den Hals gehängt.

»Warte!«, rief ich, doch sie wartete nicht. Sie winkte nur noch einmal kurz, zum Abschied, dann war sie oben. Ich fluchte lautlos. Mein Plan war gewesen, sie zu fragen, ob sie an diesem Abend oder am nächsten Tag schon was vorhatte. Doch nachdem ich es geschafft hatte, mit Handy und Schuhen und T-Shirt in der Hand auch nach oben zu klettern, war sie weg. Ich sah nur ihre ferne Gestalt auf der Seebrücke kleiner werden. Und da stand ich und rannte nicht, weil die verdammten nassen Jeans zu sehr an mir klebten.

In diesem Moment meldete sich das Handy wieder. Mama.

»Das Mehl im Edeka ist aus«, sagte sie. »Keine einzige Tüte mehr. Nicht mal der Biokram. Aldi hat auch nichts. Hab’s bei der Tanke versucht, Fehlanzeige. Also nichts mit Pfannkuchen heute Abend. Aber kannst du mir ’ne Schachtel blaue Marlboro mitbringen? Hab ich vergessen, vor lauter Stress, kriegste wieder.«

»Klar. Nicht schlimm mit dem Mehl«, sagte ich. »Ich brauch nichts. Kein Hunger.« Essen und ich sind keine Freunde, längere Geschichte. Ohne wirkt auch der Alkohol schneller, dann brauchst du nicht so viel, ist billiger.

»Und Raymon und Kira sind mit Wurststulle auch glücklich«, sagte ich. »Also, alles gut.«

»Alles gut? Die Regale sind leer, Finnley! Leer! Das kann nur eins heißen. Die Russen kommen. Wo steckst du überhaupt?«

»Noch auf der Insel«, sagte ich. »Aber ich …«

»Noch auf der Insel? Komm bloß nach Hause. Da marschieren sie doch schon wieder.«

»Nicht mehr«, sagte ich.

»Wenn’s dunkel ist, will ich euch alle hier drinhaben, und Tür zu und Ende. Was machst du da noch um die Zeit?«

»Ich … ich hatte noch was zu tun mit dem Eis«, sagte ich. »Es gab ein Problem mit … Erdbeer-Cookie.«

»Es gibt gar kein Eis, das so heißt.«

»Doch, klar, frag Kira«, sagte ich. Kira war fünf, und sie hätte alles für mich gesagt.

Ich konnte ja schlecht sagen: Ich habe das perfekte Mädchen getroffen, und ich saß mit ihr unter der Seebrücke und habe meine Chance verpasst, sie zu einem Date zu überreden, weil Neil seltsame Dinge von Leichen und Tabletten faselt.

Als ich die Promenade erreichte, war Ulja weg. Absolut, spurlos, telefonnummernlos weg.

2

Und denn also der Balkon.

Oder, wie Mama sagt: die Balkonei.

Als wäre es ein Land irgendwo im Osten.

»Ihr trefft euch also wieder in der Balkonei«, sagt sie. Und dann lacht sie und steckt sich eine Kippe an und lehnt an der Betonumrandung, die untenrum schon wegbröckelt, und lässt ihre Finger durch die kränklichen Geranien streifen, die sie mit so viel Hingabe pflegt.

Wenn sie das macht, habe ich immer ein schlechtes Gewissen, dass wir unsere Kippen manchmal zwischen den Geranien ausdrücken, aber eigentlich glaube ich, den Geranien ist es egal.

An diesem Tag stand Mama nicht in der Balkonei herum, sie klapperte drinnen in der Küche mit Töpfen und fluchte und ließ ihre Sorgen um das Mehl und den Krieg an wehrlosem Geschirr aus.

Ich hätte ihr gerne geholfen. Manchmal koche ich für sie und die anderen, aber wenn nichts da ist, kann ich auch nichts kochen. Ich hätte mit ihr reden sollen, dachte ich, nur was hätte ich sagen sollen? Der Krieg kommt nicht zu uns? Das Mehl ist morgen wieder da? Ich hatte doch selber keine Ahnung.

Und überhaupt, ich wollte nichts von diesem Krieg wissen. Ich hatte ein Leben zu leben, ich hatte ein Mädchen im Kopf.

Ich fand Neil auf der alten Gartenliege draußen, wo er hockte. Er hatte seine lange Gestalt in sich zusammengefaltet und sah in die Ferne. Ich ließ mich neben ihn fallen.

Die Sonne hatte sich hinter die Felder verkrochen, ganz hinten glühte sie noch, hinter der Schweinemastanlage, bei der Umgehungsstraße, wo die Windräder schliefen. Man hatte einen guten Blick aus der Balkonei, nur leider in die falsche Richtung. Es wäre schön gewesen, das Meer zu sehen, die Insel, die ganze Weite dahinter.

Neil hatte den schwarzen Beerdigungsmantel ordentlich neben sich auf der Klappliege gefaltet und die Lackschuhe abgestreift, sodass man die Löcher in seinen Socken sah. Er schob seine Brille hoch, strich das glatte dunkle Haar zur Seite und sah zu mir rüber.

»Finnley.«

Ich nickte. »Sieht so aus, als wär ich hier.«

Muddy kam angetappt, mit klickenden Krallen auf dem Betonboden von Balkonien, und drückte sich gegen mein Knie, und ich vergrub meine Finger in seinem langen Fell, das mal wieder Shampoo und Wasser hätte brauchen können. Muddy ist eine Mischung aus australischem Schäfer, Pitbull und Putzlappen. Jedenfalls sieht er so aus, irgendwie gefleckt und wuschelig und nicht mehr der Jüngste.

Neil streckte wortlos eine Flasche in meine Richtung, und ich nahm sie und öffnete sie mit dem Feuerzeug. Und eine Minute lang tranken wir einfach nur und sahen dem Licht hinter den Feldern beim Verschwinden zu.

»Also«, sagte ich schließlich.

»Also, Probleme«, sagte Neil. »Dieser Typ. Die haben den um die Ecke gebracht. Tausend Prozent.«

»Mathe schreit gerade«, sagte ich. »Du hast es getreten.«

»Ich hoffe, es ist tot«, sagte er. »Von mir aus bestatte ich es.«

Ich trank noch einen Schluck Bier. »Erzähl. Was war das mit dem Typen und den Tabletten?«

»Jemand hat dem irgendwas angedreht. Drogen oder etwas Ähnliches. Die richtigen Tabletten waren alle rausgedrückt, da waren die falschen drin, oder warum ist ein Blisterstreifen hinten offen? Und er hat das nicht gecheckt, denk ich, weil er schlecht gesehen hat. Er hatte eine wirklich starke Brille. Ich hab durchgeguckt, ohne Brille hat der nix gesehen. Mit vielleicht auch nicht, solche Leute lassen doch nie ihre Brillen updaten.« Er schob seine eigene Brille ein wenig hoch. Diese schwarz berandete Brille, die ihn ein bisschen aussehen lässt wie einen Gymnasiasten, der den ganzen Tag zwischen Bücherregalen rumsitzt. Dabei ist er bloß in meiner Parallelklasse in der Förderschule.

Es ist komisch mit Neil, meistens ist er ein stiller Typ. Zwei Meter Schweigen und Nachdenken.

Und er macht echt komplizierte Sätze. Und dann bekommt er einen Knoten ins Hirn von den Zahlen und wird plötzlich wütend, und das ist nicht gut für die Dinge in seiner Umgebung.

Bei mir ist es anders, ich krieg Schule irgendwie hin, sodass es immer gerade reicht. Ich könnte es auch richtig gut hinkriegen, glaube ich, ich war mal auf der Normalschule, aber nach einer Weile ist bei mir immer die Konzentration weg, und überhaupt gibt es Wichtigeres im Leben. Bier zum Beispiel. Oder Musik. Oder Mädchen.

»Ich hab eine kennengelernt«, sagte ich, stellte die Bierflasche neben die kaputte Gartenliege und fischte eine Zigarette aus meiner Packung. »Aber sie ist wieder abgehauen. Ukraine. Hübsch. Und irgendwie komisch.«

»Hm«, sagte Neil. Er war in Gedanken bei dem Typen, den er unter die Erde gebracht hatte, schon klar.

»Dem können wir sowieso nicht mehr helfen, dem mit dem Herzinfarkt«, sagte ich. »Er ist tot und begraben, richtig?«

»Positiv«, sagte Neil und nickte. »Gelbe Rosen. Seine Frau hat gelbe Rosen aufs Grab gelegt. Wie lauter kleine Sonnen.« Er zuckte die Schultern. »Die waren im Aldi im Angebot, hab ich gesehen. Die Beerdigung war ganz schön, nur irgendwie komisch. Sonst sind die Angehörigen manchmal traurig und ernst und irgendwie … ruhig. Die Frau war nervös. So eine Rotgefärbte Ende vierzig. Hat sich ständig umgeguckt, als könnte da jemand sein, der ihr auflauert. War aber keiner da, und irgendwann ist sie nach Hause gegangen. Und der Chef ist sauer geworden, als ich ihm das mit den Tabletten gesagt habe. Ich hab ihm gesagt, klar, ich schnüffel nicht mehr rum, aber ganz ehrlich, ich würde schon ganz gerne wissen, was ich für Leute unter die Erde bringe. Man hat ja seine Berufsehre.«

»Willst du das echt machen? Später?«

Er nickte. »Auf jeden Fall. Irgendwer muss sie doch alle in Würde verabschieden.« Es stimmte, und er sah würdevoll aus, mit seiner Brille und dem Bier in der Hand und dem weißen Hemd mit gebügeltem Kragen, das er unter dem Anzug tragen musste, wenn er Leute beerdigen half. »Ich meine, man ist viel länger tot, als man lebt«, sagte er ernst. »Daran sollte man öfter mal denken. Leben tust du sechzig, siebzig, vielleicht achtzig Jahre. Tot bist du noch fünfhundert Jahre später. Da lohnt es sich doch, auf die richtige Art begraben zu werden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich finde das raus. Ich finde raus, ob der wirklich umgebracht wurde. Hans-Peter Kaminsky. Der Grabstein ist natürlich noch nicht da, ist ja nie so am Anfang. Hans-Peter Kaminsky, in Gold, soll dadrauf, hat die Frau gesagt, mit einer Blume … Er mochte Blumen …«

»Ach, der alte Kaminsky«, sagte Leif und stand plötzlich auch da, in der Balkonei, ein Bär zwischen der kaputten Gartenliege und dem wackligen Plastetisch. »Der ist tot?«

»Positiv«, sagte Neil.

»Das war der Mann von der Stieftochter von meiner Oma … oder so«, sagte Leif. »Hat ’ne Weile da draußen im gleichen Dorf gewohnt wie die Alte. Hat auf der Insel gearbeitet, in ’nem Hotel, wie hieß das, irgendwas mit Wasser, Meeres… keine Ahnung. War da in der Kneipe. Hast du eine für mich?«

Ich streckte ihm die Zigarettenpackung hin, und er ließ sich auch noch auf die kaputte Liege fallen, was der Liege nicht guttat. Eines ihrer angeknacksten Beine knickte ganz ein. Leif ist nicht ganz leicht. Wir mussten alle lachen, aber wir blieben einfach sitzen, so viel Unterschied machte das eingeknickte Bein nicht.

»Wie ich ihn zuletzt gesehn hab, hat er erzählt, dass da jetzt immer die Militärs rumhängen«, sagte er. »Tags rumballern, abends saufen, tolles Leben, Mann. Militär wär schon geil.«

»War der neidisch?«, fragte ich. »Auf die Typen, die hier am Strand ihre Panzer kraulen? Dein Stiefcousinonkel?«

Leif war verwandt mit so ziemlich jedem auf der Insel und in Wolgast. Man konnte eigentlich treffen, wen man wollte, und er sagte: Das ist mein Cousin. Ob das stimmte, wusste kein Mensch.

»Herzinfarkt, jedenfalls«, sagte Neil. »Aber da hat einer nachgeholfen. Wetten.«

»Wie, nachgeholfen?«, fragte Leif, eher konzentriert aufs Rauchen: Die Qualmkringel im letzten Licht drifteten davon wie Seifenblasen, hinein ins Nichts der lauen goldenen Abendluft.

»Neil meint, er hat die falschen Tabletten gekriegt«, sagte ich.

»Echt? Scheiße, warum?«, sagte Leif. »Der hat doch keinem was getan. Manchmal hatte er Ärger mit ’n paar Kumpels, vor’n paar Wochen ’n blaues Auge, aber umlegen …?«

»Das waren keine Kumpels von deinem Kneipenonkel«, sagte ich. »Die Sorte Kumpels legt doch keinen um und tut so, als wär’s ein Herzinfarkt. Die hauen einfach drauf. Das war jemand mit Grips.«

Und ich spürte, wie mich Adrenalin flutete, für ein paar Sekunden. Ich meine, man muss sich das mal vorstellen: Du lebst vor dich hin, machst deinen Job, wäschst Gläser ab … Und dann, bääm, fällst du in der Spülküche um, weil einer dir irgendein Mistzeug angedreht hat, und du hast das geschluckt. Und checkst es vielleicht nicht, bis zum Schluss – checkst nicht, dass du von selber nie gestorben wärst.

Schon gruselig.

»Wir finden das heraus«, sagte Neil.

»Aber du wirst deinen Job los, wenn du rumschnüffelst«, sagte ich.

»Was man tun muss, muss man tun«, sagte Neil.

»Okay.« Ich nickte. Und fast war mir da ein bisschen feierlich zumute. »Wir sind dabei. Oder? Leif?«

»Dabei«, sagte Leif und schnippte Asche von seiner Zigarette, aber er sah nicht aus, als hätte er verstanden, wobei er dabei sein sollte.

»Und du?«, fragte Neil plötzlich und sah mich von der Seite an. »Du hast ’n neues Mädchen?«

»›Haben‹ wär zu viel gesagt.« Ich seufzte. »Sie ist seltsam. Sie war einfach da. Vom Himmel gefallen. Und dann war sie wieder weg.«

Ich merkte, dass ich grinste. Die Dämmerung war irgendwas zwischen blau und lila geworden, und im Geranienbeet starben die Reste der Kippen vor sich hin, und das Land, das unter uns lag, war so weich mit seinen Hügelfeldern und den Windrädern, die darin standen wie Kinderspielzeuge. Und mein Herz war seltsam schwer und leicht zur gleichen Zeit.

»Sie hatte Spritzer im Gesicht«, sagte ich leise. »Ganz kleine, dunkle. Wie Blut. Zwischen den Sommersprossen. Das ist komisch, oder?«

»Hat sie gesagt, wieso?«

»Nee«, sagte ich. »Ich hab sie nicht so direkt gefragt.«

Eine Weile war es still in der Balkonei, wir dachten alle an den Typen, der jetzt unter der Erde lag, und an die falschen Tabletten und die Blutspritzer, und wahrscheinlich fragten wir uns alle, ob es einen Zusammenhang gab. Aber dann schüttelte ich den Kopf. »Ach was. Die hatte nur Nasenbluten oder so. Wetten. Sie … sie hat mich angelächelt. Und sie kann balancieren wie der Teufel. Und schwimmen. Die hat keine Angst vor nichts.«

»Niemand hat keine Angst vor nichts«, sagte Neil.

»Welche Schule geht sie?«, fragte Leif.

»Gar keine. Sie kommt aus der Ukraine. Sie hat was von Abi gesagt. Was sie gemacht hätte, zu Hause. Also Gymmie.«

»Gymmie?« Leif schüttelte den Kopf, ungläubig. »Nee, lass die sausen. Die redet dann nur über Bücher.«

»Und hat wahrscheinlich Eltern mit Geld.« Neil schnaubte. »Nicht unsre Liga.«

»Sie singt«, sagte ich. »Sie will Sängerin werden.«

»Und? Ist sie gut?«

»Keine Ahnung, Mann, für mich hat sie ja nicht gesungen.« Ich zuckte die Schultern. »Nach Geld hat sie nicht ausgesehen. Mehr so, als hätte sie in ihren Klamotten geschlafen. Und dann war sie wieder weg. Verschwunden.«

»Hast du sie auf WhatsApp? Insta?«

»Nee«, sagte ich.

Und ich sah über das Land und sagte nicht, dass ich so ein Gefühl hatte. Dass sie wieder auftauchen würde. Und dass alles irgendwie zusammenhing. Die komische Militärübung und die Russen und Ulja und vielleicht sogar der Typ, den Neil unter die Erde gebracht hatte.

Und dann kam Kira in die Balkonei gehüpft und warf sich in meine Arme, fünf Jahre und rosa Zopfgummis, den Mund verklebt mit Resten von Schokocreme. »Mama fragt, ob einer von euch auch was essen will«, sagte sie. »Raymon und ich haben schon, wir dürfen jetzt noch was gucken. Kommt irgendwas mit Tieren.«

»Nee, alles gut, ich hab ihr doch schon gesagt, ich hab keinen Hunger«, sagte ich. Ich wusste, dass das Toastbrot in der Küche morgens knapp werden würde. Und es war alles so verdammt teuer geworden, und Mama brauchte sich nicht noch mehr Sorgen zu machen. »Flüssigabendbrot«, sagte ich und tippte an die Bierflasche, und Kira lachte, sodass man ihre beiden Zahnlücken vorne sah.

Und ich dachte einen komischen Gedanken.

Ich dachte: Wenn hier einer rumrennt, der Leute ermordet, und die Verrückten am Strand patrouillieren und vielleicht die Russen kommen, dann muss doch irgendwer auf Kira aufpassen. Und auf Raymon. Darauf, dass ihnen nichts passiert. Aber die Ukrainer haben auch auf ihre Kinder aufgepasst, und dann haben die Russen ihre Häuser in Schutt und Asche gelegt, und es war nichts mehr zum Aufpassen da. Ich zog Kira für einen Moment in meine Arme, und sie war klein und lebendig und warm. Und jetzt protestierte sie und riss sich los.

»Ey, Finnley, soll’n das? Du spinnst ja«, sagte sie.

Ich wuschelte ihr durchs Haar, was sie nicht mochte. »Kann schon sein«, murmelte ich. »Aber ich hab dich lieb.«

3

Und dann passierte am nächsten Tag ALLES. Irgendwie.

Ich hatte zu lange geschlafen und wild geträumt: von Neils Tablettentyp, von Sommersprossen und Blutspritzern in einem Mädchengesicht. Ich fühlte mich zerschlagen, als ich hinter dem Eiswagen stand, manchmal ist es anstrengend, und ich hasste die weiße Mütze und die Schürze und das ganze Gelächle. Ich hätte vielleicht noch mehr schwarzen Kaffee trinken sollen, morgens.

Mama findet, man sollte etwas essen dazu, aber egal.

Neil hatte gesagt, er würde mich abholen, vielleicht mit Leif.

Er hatte noch ein Billigticket für den Zug.

Ich versuchte, den Panzer zu ignorieren, der an der Promenade herumstand. Und die Soldaten, die dort lehnten und sich toll vorkamen mit ihren Gewehren.

Dann war es kurz vor sechs, und ich deckte die Eiswannen ab, und die Sonne wurde golden, Spätgold, und dann stand sie da. Ganz plötzlich. Vom Himmel gefallen, wie beim ersten Mal.

»Bananominz«, sagte sie.

Ich sah sie an, wie sie da in dem Goldlicht stand, und die Sommersprossen blühten wie Blumen. Es gab keine Blutspritzer mehr dazwischen. Vielleicht hatte ich mir die nur eingebildet? Aber in ihrem Haar waren kleine Äste. Als wäre sie durch den Wald gerannt.

»Bananominz gibt es nicht«, sagte ich langsam. »Und ich hab Feierabend.«

»Vielleicht, Bananominz gibt nicht vor Feierabend«, sagte sie, zog die Nase ein wenig kraus und legte den Kopf schief. »Aber hinter Feierabend, es gibt.«

»Nach Feierabend«, sagte ich. Es ist komisch, sonst sind es immer die Lehrer, die uns verbessern, wenn wir falsch reden. Komisch, mal etwas zu wissen, was jemand anderes nicht weiß.

»Nach Feierabend auch«, sagte sie unbeeindruckt. Und lehnte sich an den Eiswagen und sah hinein, wie durch ein Aquarium zu Fischen. Als würde das Eis plötzlich anfangen, sich zu bewegen.

»Na gut«, sagte ich und seufzte. »Bananominz.« Und ich mischte mit dem Eislöffel etwas, das aussah wie grüngelber Matsch mit kleinen grünen Stückchen, und reichte ihr die Waffel.

Sie legte wieder einen kleinen Turm Zehncentstücke auf den Wagen. »Lass stecken«, sagte ich. »Eh egal. Feierabend und so.«

Und ich lehnte mich auf den Eiswagen und sah sie einfach eine Weile an, und das war schön. Es hätte so bleiben können. Für immer. Keine Sorgen, keine Gedanken an patrouillierendes Militär, keine Gedanken an Mehl im Supermarkt oder an Tabletten und Beerdigungen. Nur goldene Spätsonne und ein Eis essendes Mädchen. Eigentlich, dachte ich, brauchte ich gar nicht mehr.

»Und? Was machst du so?«

»Ich?« Sie zuckte die Schultern. »Leben.«

»Du hast … Sachen im Haar. Hast du auf einem Baum übernachtet?«

Es war ein blöder Witz, ich fand ihn selbst blöd, aber sie sah mich seltsam an. Ernst. Dann sagte sie: »Nein. Natürlich nicht. In Unterkunft. Sehr voll. Viele Leute. Mit meinen Eltern.« Sie aß das Eis sehr sorgfältig auf, dann griff sie nach unten, wo sie etwas abgestellt hatte, und hob es auf: eine Gitarrentasche. Sie befreite die Gitarre daraus und hielt sie mir hin. Jemand hatte ihr den Hals gebrochen, der nur noch an den Saiten hing. Es war ein grausamer Anblick.

»Wo man kann finden … hier … ein Mensch, der kann reparieren?«, fragte Ulja.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Musikgeschäft? Ich weiß nicht, ob es hier so was gibt. Oder Wolgast. Vielleicht. Wer hat das getan?«

»Ich muss reparier die Gitarre«, sagte Ulja. »Dann ich gehe Berlin. Ich singe, und einer entdeckt mich. Es ist ein Traum, schon immer. Kennst du Berlin?«

»Nur ausm Fernsehen«, sagte ich. Und ich wollte sagen: »Da gibt es jede Menge Leute auf der Straße, die singen oder Musik machen oder sonst was und die ’ne Mütze mit Münzen vor sich liegen haben. Die haben nicht ausgerechnet auf dich gewartet!« Ich sagte es nicht. Wie sie so dastand, so voller Hoffnung, die verletzte Gitarre im Arm, in ihrem Lächeln Hunderte von Sommersprossen, da konnte ich es nicht sagen. Und ich dachte, verdammt, vielleicht hat sie recht. Man muss die Dinge einfach tun.

»Ich frag rum, wegen der Gitarre«, sagte ich, und in diesem Moment hielt ein schwarzer Kastenwagen direkt vor uns. In der Straße zur Promenade, wo nur noch der Lieferverkehr fürs Hotel hindarf. Ein Kastenwagen mit schwarzen Vorhängen vor den hinteren Fenstern. Alt, klapperig, zerbeult. Der Auspuff sah aus, als fiele er jeden Moment ab. Die Fahrertür flog auf, und zwei sehr lange Beine streckten sich heraus. Dann entfaltete sich der Fahrer des Kastenwagens. Es war, um ganz genau zu sein, ein Leichenwagen, Typ: seit zwanzig Jahren nicht mehr modern.

Neil streckte sich, rückte seine Brille zurecht und tippte an den schwarzen Hut, den er trug, so ein Ding mit einer breiten Krempe, Filz oder wie das heißt. »Finnley.«

Ich nickte. »Neuer Hut?«

»Positiv«, sagte Neil.

»Und altes Auto«, sagte Leif und stieg auf der Beifahrerseite aus. »Mann, Mann, dachte schon, das Ding fällt aufm Weg auseinander!«

»Nichts gegen mein Auto«, sagte Neil. »Oder du läufst nächstes Mal. Das ist das alte vom Chef. Steht seit Wochen im Hinterhof bei ihm, nutzt kein Mensch.«

»Und er weiß, dass du das hast?«, fragte ich.

Neil zuckte die Schultern. »Ich glaub nicht, dass das den interessiert. ’n Leichenwagen hält keiner an. Isso. Damit kommste nicht in ’ne Kontrolle.«

»Gewagt«, sagte ich. Und merkte auf einmal, wie ich grinste. »Kann ich fahren?«

Neil nickte. »Und das ist also die Dame?«, fragte er, sah zu Ulja hin, nahm den Hut ab und sank in eine geübte und ultratiefe Verbeugung.

Sie lachte. »Ich bin die Dame«, sagte sie und streckte die Hand aus. Und da nahm Neil sie tatsächlich und hauchte einen Handkuss darauf.

Leif sah mich an und verdrehte die Augen.

Dann hob er den Hut auf, den Neil bei der Verbeugung verloren hatte, und setzte ihn auf. Neil knurrte und schnappte ihn sich zurück. Und Leif sagte, er sei Leif, und Ulja sah von einem zum anderen und lachte noch immer. »Was is nu?«, fragte Leif. »Fahrn wir irgendwohin? Feierabendbierchen?«

»Wir müssen den Eiswagen reinbringen«, sagte ich, und Leif sagte, klar, und hob den Stein hoch, der an einem Ende als Bremsklotz davorlag, ein Stein, den ich jeden Tag mit dem Fuß da hinschob, so ein Riesending, fast ein Fels, aber Leif trug ihn wie eine Handtasche. »Wo soll der hin?«

»Der … bleibt eigentlich hier«, sagte ich.

»Bring ich gleich zurück«, sagte Leif, behielt ihn in der Hand und schob mit der anderen den Wagen. Ich dirigierte, Neil hielt die Tür auf, und irgendwie bekamen wir ihn in den Hoteleingang, dorthin, wo er hingehörte. Drinnen im Hotelrestaurant schwebte leise Klaviermusik, Kerzenlicht flackerte auf den Tischen, und einen Moment standen wir im Flur, auf dem hübsch gemusterten Kachelboden, und atmeten den Duft von Fleisch, Wein und Knoblauch. Ulja war hinter uns getreten, und ihr Blick war träumerisch. Das Restaurant ist schon schick, du kannst da am Fenster sitzen und aufs Meer gucken und um dich rum tausend Silberbestecke. Wenn man mal reich wäre, wär das was. Der Ober, der in seinem makellosen Anzug aus der Küche kam, ein Tablett mit Gläsern in den Händen, bedachte uns mit einem abfälligen Blick.

Besonders misstrauisch sah er den Stein an, den Leif noch immer in der Hand hatte. Als wäre der Stein eine Bombe, die Leif vielleicht werfen wollte.

»Jungs? Seht zu, dass ihr Land gewinnt. Mit Eisverkauf draußen ist Ende, und Party für Freunde ist das hier auch nicht. Erinnere mich nicht, dass in Ihrem Vertrag was von Rumlungern nach Feierabend steht, Herr … Kovanski.«

»Kovalski, Finnley Kovalski«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an wie Neil eben, nur etwas dezenter. »Stets zu Diensten.«

Ich hörte ihn schnauben, als wir den Flur verließen. Mir egal, sollten die sich alle ihre Kerzentische und ihre Silberbestecke sonst wohin stecken. Draußen atmete ich die Luft vom Meer tief ein. Ich sah Ulja von der Seite an. »Was machst du jetzt?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. Sie hielt immer noch die zerstörte Gitarre fest. Und ich dachte: Du musst irgendwas sagen, damit sie nicht einfach wieder verschwindet. Klar, ist Abend, sie muss nach Hause, in die Unterkunft, zu ihren Eltern, aber noch ist es zwei Stunden lang hell. Sag irgendwas, damit sie bleibt.

»Wir könnten irgendwohin fahren, wo es tausend Mal schöner ist als hier«, sagte ich. »Keine Touris, keine Ober, die große Stille und der beste Sonnenuntergang der Insel.« Ich ging zu Neils Leichenwagen und hielt die Tür auf.

»Bier ist an Bord«, sagte Leif und grinste. Dann erinnerte er sich an den Bremsstein, den er immer noch festhielt, und legte ihn ganz behutsam zurück auf den Boden, ein bisschen traurig, dass er ihn nicht behalten durfte.

»Ich … ich bin nicht sicher …«, sagte Ulja.

»Nur für einen Spaziergang«, sagte ich. »Unberührte Natur und so. Na ja, wenn du nicht willst, fahren wir alleine.«

Sie steckte die tote Gitarre in die Gitarrentasche und zog den Reißverschluss zu. Sah von mir zu Leif zu Neil. Neil rückte wieder seine Brille zurecht. Seine ernsten, dunklen Augen unter der Hutkrempe wanderten durch das Labyrinth ihrer Sommersprossen.

Die steigt doch niemals zu drei solchen Chaoten wie uns in ein Auto, bei dem selbst ihr klar ist, dass es uns nicht gehört, dachte ich. Niemals, wir könnten Verbrecher sein, sie entführen, vergewaltigen, sonst was.

»Okay«, sagte sie und lächelte plötzlich. Und dann stieg sie ein.

 

Es gibt nichts Schöneres, als in einem lang gezogenen Julisonnenuntergang die Straßen der Insel entlangzufahren, wenn das Licht so goldplüschig auf den Feldern liegt und das Korn so weich aussieht, dass du ein Riese sein und es mit einer Hand streicheln möchtest wie einen Teppich. Wenn der Asphalt auf der Straße aus Samt ist. Wenn du zum Achterwasser abbiegst, wo es weniger Häuser und Menschen und Schilder gibt, und der Wald mit seinen hohen alten Eichen und Buchen in den Himmel greift wie in einen Cocktail aus Licht, Orange und Violett, aus dem die Äste trinken.

Wenn du ans Meer kommst bei Lütow und es dir entgegenglänzt. Eine weiße Fläche, vorne schon dunkelblau und voller kleiner Windwellen und hinten wie Schnee.

Glitzertage.

Mittendrin hing ein Boot, klein und schwerelos.

Fischer müsste man sein. Den ganzen Tag da draußen rumsitzen und die Sonne das Gesicht verbrennen lassen und dann abends die Netze einholen.

Aber so was gibt’s ja gar nicht mehr heute, ist ja alles Großproduktion und Maschine und so.

Wir ließen den Wagen stehen und wanderten zu Fuß los, Neil mit seinem Hut, der einen merkwürdigen Schatten warf.

»Woher hast du das Ding denn nun?«, fragte ich.

»Aus der Wohnung von dem Tablettentypen«, sagte er.

Ich schluckte. »Was?«

»Ich war noch mal da. Hab mich ein bisschen umgesehen. Hat keiner mitgekriegt. Die haben vergessen, dass ich den Schlüssel noch habe. Einer wie ich, na ja, achtet doch keiner drauf, was der macht. Förderschüler eben. Der Chef hat gesagt, ich soll nicht rumschnüffeln, nur eigentlich glaubt der, ich bin sowieso zu blöd.«

Ulja und Leif gingen ein Stück vor uns, ein ungleiches Paar auf dem Pfad durch die weiß blühenden Büsche: sie schlank und einen Kopf größer als er, er breit und gedrungen, sein wiegender Gang wie der eines sympathischen Mammuts. Er bückte sich und hob einen großen entrindeten Ast auf. Er trägt ständig Äste mit sich herum, Äste faszinieren ihn.

Sie hatte den Kopf ein wenig geneigt, um ihm zuzuhören, er sagte irgendwas.

Ich spürte einen kleinen Stich und ignorierte ihn.

»Du hast den Schlüssel immer noch?«

Neil nickte, griff in die Tasche und hielt ihn hoch. »Jep.«

»Und haste was gefunden?«

Neil zog sein Handy heraus und hielt es mir hin: ein Foto von einem Foto.

Ich sah genauer hin. Das Foto hing an der Wand in einem kitschigen Goldrahmen, und drauf waren zwei kleine Jungs, im Gras, zwischen Blumen und Gemüsebeeten, ziemlich dreckig. Der eine grinste in die Kamera, so einer mit einem runden Gesicht. Der andere war schmaler und ernster und ein bisschen größer. »Häh?«, sagte ich.

Neil wischte weiter, das nächste Foto war auch von einem Foto, auch mit Goldrahmen, an derselben Wand vermutlich, und darauf waren zwei Männer. Einer von ihnen trug eine Uniform, schick, mit Schulterklappen. Der andere trug eine Schürze mit der Aufschrift von einem Restaurant und war bierbäuchiger und ein Stück kleiner, und er lächelte in die Kamera, selig: Selfie mit Militär. »Das sind dieselben, ja? Wie die kleinen Jungs?«, fragte ich.

Neil nickte. »Positiv. Schau dir die Gesichter an. Und das«, er zeigte auf den Militär, »ist der Oberst unserer Einsatztruppe hier auf der Insel.«

»Okay«, sagte ich. »Er kannte den Typen, und der ist inzwischen was geworden und rennt hier rum und scheucht Soldaten über den Strand. Und der andere hat immer noch in ’ner Kneipe gejobbt. Warum hat ihn dann jemand umgebracht?«

»Keine Ahnung«, sagte Neil. »Das Komische war, dass das Bild da gar nicht hing. Es lag im Mülleimer. Ich hab’s wieder hingehängt, weil da ein Nagel war und so ein viereckiger Fleck auf der Tapete, es hat genau gepasst.«

»Okay«, sagte ich. »Der Typ schmeißt ein Bild weg, von sich und einem Freund, mit dem er sich vielleicht zerkracht hat, und denn stirbt er. An ’nem Herzinfarkt. Und … Leif?«

Leif war nach links ins Schilf getaucht, und Ulja stand auf dem Pfad vor uns und sah irgendwie verloren aus. Dann waren wir bei ihr und sahen Leif zu, der tiefer ins Schilf watete.

»Was machst du da?«

»Da ist was!«, rief Leif, schilfgedämpft. »Was Buntes. Komisches. Hier, mittendrin … Ich muss dahin, nachgucken …« Den Rest verstand man nicht. Ich hatte eigentlich nicht so viel Lust, mit den Turnschuhen ins Wasser und ins Schilf zu gehen. Es war das einzige Paar Turnschuhe, das ich hatte, ziemlich mitgenommen, und das Schilf würde ihnen den Rest geben. Aber dann ging Neil los, Neil in seinen schwarzen Beerdigungsschuhen, und ich dachte: Okay, wenn er das macht. Und vielleicht hatte es ja was Romantisches, in der Dämmerung durchs Schilf zu wandern. Es sangen eine Menge kleiner Vögel da, die ihre Nester an die Halme geklebt hatten.

»Komm!«, flüsterte ich. »Quer durch! Alles Natur bei uns.«

Ulja zögerte, dann gab sie sich einen Ruck und nickte. »Klar. Schön.«

Und so tauchten wir ins Schilf.

Vor uns ging Neils Hut, wippte knapp über dem Schilf. Leif war irgendwo noch weiter vorne, unsichtbar, ich hörte ihn durch die Halme brechen, wie die Wildschweine es tun. Leif hat es nicht so mit Leisesein. Vermutlich hatte er immer noch den riesigen Ast in der Hand, mit dem er sich einen Weg bahnte, Leif, der Bär.

Eine schillernd blaue Libelle flog vorbei, setzte sich auf einen Schilfhalm, und Ulja blieb stehen und sah sie an. »Ein Herz«, sagte sie.

Sie hatte recht, die Libelle bildete ein Herz mit ihrem schlanken blauen Körper. Nein, es waren zwei Libellen. Und wir beobachteten sie gerade bei der Paarung. Ich schluckte.

Ulja drehte sich zu mir um und lächelte, schön wie immer, aber seltsam melancholisch.

»Sie lieben«, sagte sie. Ich nickte.

Einen Moment lang sahen wir uns nur an, sie und ich, da im Schilf, mein Kopf wurde ganz leicht, und ich schwebte, so ungefähr einen Zentimeter über dem Boden. Direkt über der Oberlippe hatte sie drei Sommersprossen in einer Reihe. Nimm ihre Hand, oder beide Hände, sag was, mach was, irgendwas, das Richtige! Sie machte einen halben Schritt auf mich zu, sah mich noch immer an, ganz ernst, und ich sagte: »Ich …«

Aber da legte sie den Finger auf meine Lippen. »Psst«, flüsterte sie. Und dann: »Besser, wir zuruckgehen.«

Ich wollte nicken, und wir wären durchs Schilf zurückgewatet. Und vielleicht wäre alles ganz anders geworden, als es dann wurde, und vielleicht wäre nichts von den ganzen verrückten und schlimmen Sachen passiert. Auch nichts von den verrückten und guten.

Doch in diesem Moment rief Leif.

»Hey! Scheiße, kommt mal! Hier is was! Hier is wirklich was!«

Neils Hut verschwand durchs Schilf, und ich ging ihm nach, und Ulja folgte mir.

Und dann standen wir neben Leif, tief, tief im Reet, bis zu den Knien im Wasser, meine Turnschuhe hatten sich längst vollgesogen. Ein kleiner Vogel, so ein Nest-an-Halme-Kleber-Vogel, flatterte auf und floh vor uns. Wir störten seine Welt. Aber sie war vorher schon gestört worden, vielleicht ein oder zwei Tage vorher.

»Das …«, begann Neil und verstummte.

Vor uns ragte etwas aus dem Schlamm. Ein Flügel. Tarnanstrich, eckiges Metall.