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Können wir Glück recyceln? Ebenso poetisch wie eindringlich erzählt Antonia Michaelisʼ Gesellschaftsroman von vier Menschen, deren Lebenswege sich auf Madagaskar immer wieder kreuzen, und die einander den Mut geben, Grenzen zu überschreiten und ihre Fesseln abzustreifen. Kleider, Flaschen, Schuhe – alles kann man recyceln. Warum nicht auch das Glück? Einst war Madagaskar ein Paradies, heute ist die Insel vor der Küste Afrikas fast komplett abgeholzt und bettelarm – und lebt vom Recycling. Vielleicht webt das Schicksal deshalb genau hier vier Lebenswege ineinander, um am Ende ihre Ketten zu sprengen? Da ist der Straßenjunge Biscuit, der sich einfach weigert, seine Träume aufzugeben. Da ist die junge Maribelle, die nie gelernt hat, Träume zu haben – bis sie die Kraft ihres Willens entdeckt. Und da sind Terje und seine Tochter Nora aus Deutschland, die gleich zwei Mal alles in Bewegung setzen werden. Antonia Michaelis hat selbst einige Zeit auf Madagaskar gelebt. Mit »Die Wiederentdeckung des Glücks« hat die preisgekrönte Autorin einen lebensklugen, tief bewegenden Gesellschaftsroman über Empowerment geschrieben, der noch lange im Gedächtnis bleibt.
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Seitenzahl: 444
Antonia Michaelis
Die Wiederentdeckung des Glücks
Roman
Knaur e-books
Kleider, Flaschen, Schuhe – alles kann man recyceln. Warum nicht auch das Glück? Einst war Madagaskar ein Paradies, heute ist die Insel fast komplett abgeholzt und bettelarm – und lebt vom Recycling. Vielleicht webt das Schicksal deshalb genau hier vier Lebenswege ineinander, um am Ende ihre Ketten zu sprengen? Da ist der Straßenjunge Biscuit, der sich einfach weigert, seine Träume aufzugeben. Da ist die junge Maribelle, die nie gelernt hat, Träume zu haben – bis sie die Kraft ihres Willens entdeckt. Und da sind Terje und seine Tochter Nora, die gleich zwei Mal alles in Bewegung setzen werden.
Für Madagaskar, mein
Recycling Land
auf diesem Globus
… am meisten
für unsere wunderbaren Freunde
Holy, Hoby, Martine, Papí, Kiki, Njaka, Eva, Josie, Willy, Nomena, Avana, Ilonala, Nathalie, Toky, alle Lehrer und Helfer der Schule und des Kinderhauses
Alle Pousse- und Cyclo-Pousse-Fahrer von Antsirabé
und all die anderen unglaublichen Menschen dort
und
ho an’ny ankizy rehetra:
für die Kinder von Talata und Antsirabé, meine Freunde, deren Namen und Träume
ein ganzes Buch füllen würden–
vielleicht besonders für Rotsy und Kamory, deren Vater Radrennfahrer ist und nur einmal im Jahr beim Großen Rennen richtiges Geld verdient
Nichts, was geschaffen wird, hat Bestand.
Alles, was keinen Bestand hat, zerfällt.
Alles, was zerfällt, wird Gift. Wird Fesselstrick. Wird scheinbare Nahrung, tötet von innen:
Plastikflaschen. Fahrradschläuche. Platinen. Gefühle. Seelen.
Nichts, was geschaffen wird, hat Bestand.
Alles, was keinen Bestand hat, zerfällt.
Alles, was zerfällt, wird Neues. Wird Hoffnung. Wird Beginn, schenkt wieder Leben:
Plastikflaschen. Fahrradschläuche. Platinen. Gefühle. Seelen.
Auch die Schöpfung recycelt ihre Atome.
Man kann nach Madagaskar kommen und es vergöttern – seine bewaldete Küste, in denen die Lemuren morgens singen wie Wale, seine Lehmhäuser, die sich aus den Hügeln erheben wie Puppenhäuschen, seine duftende Vanille, seine merkwürdigen Fadys, die Gebote und Verbote der Ahnen. Seine fetthöckerigen, gutmütigen Zeburinder.
Man kann nach Madagaskar kommen und es hassen – seine Waldbrände, die gelegt werden, um auch die letzten Wälder zu Reisfeldern zu machen. Seine Städte mit den verstopften Straßen, über denen Abgase wabern wie Wolken von Tintenfischtinte. Seine offenen Müllhalden, in denen Menschen und Hunde nach Essbarem suchen.
Terje Sandholz kam dreimal in Madagaskar an, und was er für das Land empfand, war Liebe, was beides, das Vergöttern und den Hass, mit einschließt: ein kompliziertes Gefühl, schön und schmerzhaft zugleich.
Er kam dreimal in Madagaskar an, und dreimal war es wie das erste Mal.
Dreimal betrat er den Platz vor dem alten französischen Bahnhof in der Stadt Antsirabé, wo die Männer mit ihren Rikschas und Pferden auf Kunden warten und die Kinder auf ein paar Münzen.
Beim ersten Mal stieg er von einem grünen Fahrrad mit roter Klingel und blauer Werkzeugtasche.
Beim zweiten Mal stieg er aus einem Zug und trug nur noch die kleine blaue Tasche bei sich, ein Erinnerungsstück.
Beim dritten Mal stieg er aus einem Auto, und seine Hände waren leer.
Aber er glaubte, von ferne den Ton der alten roten Klingel zu hören, leise, zaghaft, dann lauter. Und er hob den Kopf –
Jean-Maurice Rakotomalalabalita, genannt Biscuit, begegnete der Freundschaft dreimal.
Beim ersten Mal, als er fünf Jahre alt war, schmutzig und hungrig, und ein Fremder ihn auf sein grünes Fahrrad hob und er die Welt zum ersten Mal von dort oben betrachtete.
Beim zweiten Mal, als er fünfzehn Sommer und Winter zählte, fünfzehn angestrengt überlebte Sommer und Winter, und er eine Laufrikscha auf den Platz zog und auf den Stufen des Bahnhofs einen Reisenden mit einer kleinen blauen Werkzeugtasche stehen sah.
Beim dritten Mal mit fast fünfzig Jahren, als er seine Fahrradrikscha in einem eleganten Schlenker auf den Bahnhofsplatz einbiegen ließ, wo schon lange keine Züge mehr fuhren; seine Rikscha, die berühmteste der Stadt. Und als er dort, in der Mitte des Platzes, ein wenig verloren, einen alten Mann mit leeren Händen fand.
Maribelle Rafamataransoa verlor ihr Herz dreimal.
Beim ersten Mal als sie, kurz vor ihrer Geburt, im warmen, dunklen Ozean in ihrer Mutter schwebend durch die Bauchdecke einen wunderbaren Ton hörte, den sie später als den einer roten Fahrradklingel identifizieren würde: einen Ton, der Freude und Leben und Liebe und Schmerz zugleich verhieß.
Beim zweiten Mal, als sie mit neunzehn Jahren aus der Großstadt zurückkehrte und ins Fahrzeug eines alten Bekannten stieg, der ihr seltsam fremd vorkam, und unter den Sternen die Hand eines Fremden hielt, der ihr seltsam bekannt erschien.
Beim dritten Mal, als sie, viele Jahrzehnte später, glaubte, ihr Herz wäre zu alt, zu fest umschlossen von Narbengewebe, um noch verloren zu werden.
An jenem Herbsttag, an dem sie ihr Herz zum dritten Mal und endgültig verlor, saß sie auf einer Bank im goldenen Nachmittagslicht unter den Platanen. Auf derselben Bank, auf der ihre Mutter einst gesessen hatte. Und sie sah eine Fahrradrikscha mit roter Klingel vorbeifahren – mit zwei Freunden darin.
So schließen sich Kreise.
Aber um eine Geschichte zu erzählen, müssen wir den Kreis öffnen.
Es ist ganz gleich, wo, denn Kreise sind unendlich.
Öffnen wir ihn also an einem Tag Anfang März.
Einem Tag, an dem ein älterer Mann einen kalten Strand entlangjoggt auf der kleinen deutschen Insel Hiddensee. In der Tasche des Mannes befindet sich ein Schlüssel mit einem winzigen Fahrrad daran, gefertigt aus aufgebogenen Heftklammern. Grün. Der Mann hat seine allmorgendliche Runde fast beendet. Und dann stockt er und bleibt stehen.
Denn im Sand vor ihm sitzt eine blasse, zerbrechlich wirkende junge Frau und sieht unter ihrer Pudelmütze hervor zu ihm auf. Schön, ernst, schmallippig. Sie hat den Becher einer Thermoskanne in der Hand.
»Terje«, sagt sie. »Guten Morgen.« Und dann ein Wort, mit dem er nicht gerechnet hat, nicht aus ihrem Mund. Sie sagt: »Madagaskar.«
Und er lässt sich neben sie in den Sand fallen, noch immer keuchend. »Ja?«
Madagaskar? Wie kommst du plötzlich auf Madagaskar? Und was tust du hier?«
Sie zuckte die Schultern und sah auf das graue Meer hinaus. »Ich dachte, wenn ich hier warte, kommst du irgendwann vorbei. Du läufst seit zehn Jahren die gleiche Runde.«
Sie hielt ihm den Becher entgegen. »Kaffee?«
»Nein danke«, sagte er reflexartig, und dann: »Ja, bitte.«
Der Kaffee war bitter und wunderbar. Wie das Land, dessen Namen sie gesagt hatte. Er hatte versucht, es zu vergessen. Lange Zeit.
»Also?« Er sah sie an. »Du bist nicht mit dem ersten Schiff nach Hiddensee gekommen, um mir einen Kaffee zu bringen.«
Sie lachte. »Ich bin gestern mit dem letzten Schiff gekommen, ich habe im Hotel geschlafen. Ich war bei dir und habe durchs Fenster gesehen. Du hast am Kamin gesessen mit einem Buch, du sahst so versunken aus, dass ich dich nicht stören wollte. Was hast du gelesen? Etwas über damals? Über die Zeit, bevor ich geboren wurde?«
»Nein. Damals ist damals. Vergangen. Vorbei.«
Er streckte die Hand aus und strich sacht über ihr Haar, wie er es getan hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war: feines, milchkaffeefarbenes Haar, Feenhaar, der Ostseewind zerwühlte es und machte sie noch schöner. Sie sah ihrer Mutter ähnlich.
Sie war seine Tochter, aber er kannte sie kaum.
Und sie drehte den Kopf weg; sie hasste es, wenn er ihr übers Haar strich. Er beobachtete, wie sie schnupperte. Sie roch immer mehr als andere Leute.
»Suchst du im Wind nach einem neuen Parfum?«, fragte Terje.
Sie verbesserte ihn sofort, wie sie es immer tat. »Einen Duft. Parfum klingt so billig. Aber eigentlich wollte ich etwas ganz anderes. Ich wollte fragen, was du für deinen siebzigsten Geburtstag planst.«
»Meinen … Geburtstag?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie gefeiert.«
»Ich dachte, vielleicht willst du es diesmal tun. Dort. In Madagaskar. Noch einmal hinfahren, ehe …«
»Ehe ich ins Gras beiße?« Er lachte.
»Das habe ich nicht gesagt.« Sie verschränkte die Arme, feindselig. »Immer verstehst du alles absichtlich falsch! Ich wollte nur nett sein.«
Eine Weile sahen sie beide aufs Meer hinaus, das kalte deutsche Meer mit dem kalten deutschen Horizont.
»Na gut«, sagte sie schließlich und seufzte. »Ich bin auf der Suche nach einem neuen Duft.« Sie ließ etwas Sand durch ihre Finger rieseln. »Summer hat beschlossen, einen neuen Duft zu machen. Für das kommende Jahr. Den Duft. Und ich muss ihn finden.«
»Warum du?«
Sie zuckte die Achseln. »Weil ich immer das finde, was sie suchen?«
Er nickte. Sie war so jung und so schön, so selbstsicher, so erfolgreich. Ganz anders als er.
Sie war erst fünfundzwanzig. Seit zwei Jahren arbeitete sie für Summer, eine winzige exklusive Parfumfirma in Berlin. Parfum in schräg angeschnittenen kleinen Glasflaschen. Wenn er die Augen schloss, sah er Regale voll zierlicher, dezent bunter Fläschchen vor sich, Noras Erfolgsgeschichte: Summer – Moments, Summer – Dreams, Summer – Memory, und, der Hit zum letzten Weihnachtsfest: Summer – Winter.
All das war Noras Werk gewesen.
Oder das Werk ihres Chefs. Sie hatte ausgeführt, was er ihr aufgetragen hatte, stets zur Zufriedenheit aller. Sie hatte immer getan, was andere ihr sagten, perfekt jede Aufgabe erfüllt, schon in der Schule. Er nie.
Sie hatte ihr ganzes Leben bei ihrer Mutter verbracht, und wenn er sie besucht hatte, war sie immer weit von ihm entfernt gewesen, obwohl sie neben ihm saß. Er lebte in einer Welt aus Träumen, sie in einer Welt aus guten Noten und Erfolgen, Terminen, Kursen, Uhrzeiten. Irgendwann hatte sie angefangen, Ausreden zu erfinden, um zu den Besuchszeiten nicht da sein zu müssen. Und er hatte es aufgegeben, sie zu besuchen.
»Das Thema für den neuen Duft ist weit weg«, sagte sie. »Es soll etwas Exotisches sein, aber nicht auf die billige Art. Andere exotische Parfums riechen immer nach Bordell.«
Ihr Blick wanderte über das graue deutsche Meer mit seinen kalten Märzwellen.
»Die Menschen wünschen sich einen Duft, der diese Kälte vertreibt«, sagte sie. »Der Bilder in ihre Köpfe zaubert von goldenen Stränden und glühender Sonne. Von einer Welt, weit fort von ihren Alltagssorgen, Klimasorgen, Zukunftsängsten. Sie wünschen sich den Duft von Blüten im Sonnenuntergang. Grünen Schatten voller Versprechen. Sie brauchen eine Auszeit, all die Menschen hier, die zu viel arbeiten.« Sie seufzte. »Afrika.«
»Afrika«, wiederholte Terje.
War Afrika weit fort von Klimaproblemen und Zukunftsängsten? Von welchem Afrika sprach sie?
»Madagaskar ist nicht Afrika«, sagte er, etwas schroff.
»Natürlich ist es das.« Sie klang nachsichtig, wie eine Lehrerin, die mit einem sehr dummen Schüler sprach. »Ich dachte, wir könnten hinfahren. Du und ich. Nach Madagaskar. Du kennst dich dort aus, du kannst mir Dinge zeigen. Jan geht davon aus, dass ich seinen Duft finde. Ich will ihn nicht enttäuschen.«
»Jan«, wiederholte er, einen Moment verwirrt. »Jan Sommer? Dein Chef? Du nennst ihn Jan?«
Ein Schulterzucken, ein halbes Lächeln. »Wir waren zusammen essen. Ich habe erwähnt, dass du in Madagaskar gelebt hast.«
»Wir haben nie über Madagaskar gesprochen.«
»Nein. Mama hat mal gesagt, du willst es vergessen. Aber meinst du nicht, es ist genug Zeit vergangen? Jan hat gesagt, Madagaskar ist vielleicht genau das, was wir brauchen. Ein afrikanisches Land, das kaum jemand kennt. Ein Land voller Geheimnisse. Urwaldblüten, Affen, Strand. Er war absolut begeistert von der Idee. Er sagte, er würde mitfahren, wenn er könnte.«
»Aber er kann nicht.«
»Er ist der Kopf der Firma, er hat zu viel zu tun. Ich glaube, eigentlich ist er es, der eine Auszeit von seinem Alltag braucht.« Sie lachte leise. »Der Arme. Er schläft kaum, die Firma ist alles. Er hat sie gegründet, er hat sie bekannt gemacht. Wenn dieser Duft eine wirklich große Sache wird, hat er gesagt, nimmt er sich frei und wir fahren noch einmal hin. Zu zweit.«
Terje schluckte. Urwaldblüten, Affen, Strand.
»Nora, ich … Dein Jan weiß manche Dinge nicht. Du magst ihn sehr, oder?«
Sie nickte, wurde ein wenig rot, legte ihre schlanken, blassen Hände auf seine alten, rauen.
»Fährst du mit, Papa? Bitte?«
Wann hatte sie ihn zuletzt so genannt? Mein Gott, sie war zwei gewesen, als er ausgezogen war.
Er schluckte.
Sag es ihr.
Sag ihr: Man kann in Madagaskar keinen Duft finden.
Sag ihr: Es ist kein Land voller Urwaldblüten.
Sag ihr: Du wirst weinen. Wenn du ankommst. Und wenn du gehst. Alles wird anders sein danach.
Warne sie.
Er warnte sie nicht. Er wusste selbst nicht, warum er es nicht schaffte.
Es war wahr, er hatte es vergessen wollen, Madagaskar. Aber letztlich kam alles zurück. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es Zeit, sich zu erinnern. Er war einmal glücklich gewesen dort.
»Wann fliegen wir?«, fragte er mit einem Seufzen.
Ihr Gesicht zerbrach zu einem Strahlen. Sie witterte Erfolg, und Erfolg machte sie froh. »Ich hab es durchgerechnet«, sagte sie eifrig, »wenn wir übermorgen fliegen und zwei Wochen da sind, fällt dein Geburtstag genau in die Zeit. Der siebzigste, auf Madagaskar. Das ist doch was.«
Er kniff die Augen zusammen. »Du hast die Flugtickets schon, richtig?«
»Möglich«, sagte sie. »Sie sind für … übermorgen.«
Und dann fielen sie also von der Kälte des Meeres, der großen Freiheit des Horizonts, mitten hinein in die Wärme, das Chaos in einem staubigen Flughafen: Antananarivo, die Stadt der Tausend.
Die Stadt der tausend Menschen, so hatten sie sie einst genannt.
»Die Stadt der tausend Silben«, sagte Nora, ein wenig erschöpft, als sie in der unendlichen Schlange vor der Passkontrolle standen.
»Die Stadt der tausend Stempel«, sagte Terje und nickte zu den Beamten hin. »Die Stadt der tausend Ämter und tausend Schlangen.«
»Sie werden uns doch aber reinlassen?«, sagte Nora. Sie sah so hübsch aus, in ihrem kurzen sonnengelben Kleid, hübsch und ein wenig zerknittert nach dem langen Flug, ein wenig übernächtigt. Es nahm ihr etwas von ihrer gewöhnlichen Perfektion. Ihrer Unnahbarkeit.
»Wir haben ein Visum«, sagte sie, fast trotzig.
»Ja. Wenn sie nichts daran auszusetzen finden, lassen sie uns rein«, sagte Terje und fuhr mit dem kleinen Schlüsselanhänger-Fahrrad über seinen Ärmel. »Wenn sie etwas daran auszusetzen haben, kostet es. Oder sagen wir: Wenn einer von ihnen gerade Geld braucht, wird er etwas an den Visa auszusetzen finden.«
»Das können sie nicht machen!« Nora strich das Kleid glatt. »Das wäre Bestechung! Es wäre Unrecht!«
»Weißt du«, sagte Terje sanft, »irgendwo auf dem Flug, irgendwo da oben überschreitet man eine Grenze zwischen zwei Welten. Hier funktionieren die Dinge anders. Die Zeit zum Beispiel. Sie vergeht langsamer. Manchmal auch sprunghaft. Und Dinge wie Recht, Gerechtigkeit. All das gehorcht nicht denselben Regeln wie in unserer Welt.«
Nora sah ihn an, als wäre er möglicherweise auf dem langen Flug verrückt geworden.
Terje schob mit dem Fuß einen der niedrigen Betonpfosten beiseite, zwischen denen ein Absperrseil gespannt war, das die Menschenschlange leitete. Der Betonpfosten war eine Wasserflasche, in die jemand Zement gegossen hatte. »Es gibt hier sogar ein physikalisches Gesetz mehr als bei uns«, sagte Terje und sah die Wasserflasche an, fast zärtlich. »Alles kann recycelt werden.«
»Das ist kein physikalisches Gesetz, Terje.« Sie schob ihren eleganten, weißen Hartschalenkoffer in der Schlange vorwärts.
»Es ist die Grundlage aller Physik auf diesem Kontinent«, sagte er ernst. »Alles kann recycelt werden. Merk dir das. Masse, Zeit, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Sogar Relativität.«
»Liebe?«, flüsterte sie, ganz leise. »Kann Liebe recycelt werden?«
»Wenn Liebe eine physikalische Größe ist, dann auf jeden Fall«, sagte er.
Und endlich hatten ihre Pässe den letzten Stempel, endlich war ihr Gepäck durchsucht worden, endlich hatten sich die Beamten genug über Noras Sammlung winziger Glasfläschchen gewundert, aber auch nach vier Telefonaten keinen Grund finden können, sie zu beschlagnahmen, sodass sie nach der Entrichtung eines rasch erfunden Glasflascheneinfuhrzolls von zweihundert Euro in die Freiheit entlassen wurden.
Die Freiheit bestand aus einer Horde Gepäckträgern, die alle ihren Trolley zum Taxi schieben wollten. Und einer Horde Taxifahrern, die sie alle zu einem Hotel fahren wollten, und da man sich nicht einigen konnte, wer schob und wer zog und welches Taxi genommen wurde, gab es eine lautstarke Diskussion voller Gesten und Rufe.
Terje brauchte keine Träger, er trug sein Gepäck auf dem Rücken: einen uralten olivgrünen Segeltuchrucksack. Die drei Rollkoffer, weiß, gelb, cremefarben, gehörten Nora, die die Gepäckdiskussion kopfschüttelnd verfolgte. »Lass ihnen den Spaß«, sagte Terje. »Für fünf Minuten.«
Und dann schloss er die Augen und atmete die Luft ein, die er so gut kannte: eine Mischung aus Abgasen, Ruß, Kohlefeuern, Müll, sonnenwarmem Asphalt, Staub.
In seiner Hand drehte er den Schlüsselanhänger: das winzige Fahrrad.
Und eine Kaskade an Erinnerungen brach über ihn herein.
Als er zum ersten Mal in der Stadt der tausend Silben angekommen war, hatte er ein echtes Fahrrad bei sich gehabt. In Einzelteilen. Er hatte es vom afrikanischen Festland mitgebracht, er, ein Weltreisender.
Und dann hatte er in der Empfangshalle zwischen Füßen und Koffern gekniet, Schrauben im Mund, Werkzeug in der Hand. Wie sie getuschelt hatten, ihn angesehen hatten. Und all die Hilfsangebote, die ausgestreckten Arme, die kaffeefarbenen Finger, die Dinge für ihn festhielten, die wohlgemeinten Ratschläge, die er nicht verstand …
Und schließlich der Triumph: Mit einem funktionsfähigen Fahrrad in der letzten Schlange vor dem Ausgang zu stehen, was für ein Gefühl! Er spürte noch den alten, stabilen Lenker unter seinen Händen, sah noch das Metall, von dem die grüne Farbe abblätterte, dieses alte, treue Fahrrad, das mit ihm um die halbe Welt gereist war.
Der Kofferdurchsuchungsbeamte, damals noch ohne Röntgengerät, betrachtete das Rad mit fachmännisch gerunzelter Stirn.
»Auseinanderbauen!«, bellte er dann. »In den Einzelteilen könnten Drogen versteckt sein!«
Und wieder hörte Terje das Murren, das sich in der gesamten Halle erhob, das Stöhnen all der Menschen, die Teil des mühsamen Radzusammenbaus gewesen waren.
Bis der Beamte seufzend aufgab. »Gehen Sie schon durch. Gute Reise.«
So stand er auf dem Platz vor dem Flughafen, umsäumt von frisch gepflanzten Palmen, bevölkert von wartenden Pferdekutschen und bunt gestrichenen Holzrikschas, einigen wenigen Autos, Obstverkäufern mit Körben auf dem Kopf, fliegenden Händlern, die Schnürsenkel und Streichhölzer verkauften, Gepäckträgern in schicker Livree …
Terje öffnete die Augen, fiel zurück in die Gegenwart.
Heute verkauften die fliegenden Händler Handyhüllen und USB-Kabel. Der Platz war asphaltiert, und die Gepäckträger waren Männer mit abgerissenen Kleidern und gebrauchten Warnwesten, die Autos nicht neuer als damals, vielleicht waren es dieselben Modelle, nur kaputter. Und mehr. Viel mehr. Es war von allem mehr.
Mehr Abgase. Mehr Sonne. Mehr Dreck.
»Vanille«, sagte Nora und schnupperte.
Terje zahlte einen astronomischen Preis an all jene, die glaubten, beim Hinaustragen geholfen zu haben, und unterbrach mit erhobener Hand das vielstimmige Konzert von »Monsieur! Madame! Taxi!«.
»Azafady, Verzeihung«, sagte er. »Efa misy tobil. Unser Wagen wartet dahinten.«
Denn dort hielt jemand ein Schild hoch, auf dem in abenteuerlicher Orthografie ihre Namen standen:
Mlle est M. Terje Sandhlz.
Er hatte den Wagen von zu Hause aus gebucht, heutzutage ging das. Der Fahrer schüttelte ihnen die Hand und hievte Noras pastellfarbene Koffer ins Auto, er sprach perfektes Französisch, er würde sie hinausbringen aus der Stadt.
Vier Stunden südlich wartete eine andere Stadt, der Terje im Stillen noch immer den Titel »Zuhause« verlieh. Vielleicht hatte sie ihn vergessen. Vielleicht war sie weitergewachsen und weiterverfallen, ohne einen Gedanken an ihn zu verschwenden.
Breitete sie ihre violett blühenden, duftenden Jacarandabaumzweige noch über den alten Müllplatz, auf dem die Kinder spielten? Trug das Wasser ihres Sees noch das Spiegelbild seiner Erinnerung?
»Terje«, sagte Nora und legte eine Hand auf sein Knie, riss ihn aus seinen Gedanken.
Sie hatten die breite Zubringerstraße zum Flughafen verlassen, der Wagen reihte sich ein in eine endlose Kolonne aus Blech und Dämpfen. »Warum stehen wir? Hat es einen Unfall gegeben?«
Er lächelte. »Ja. Vor einigen Tausend Jahren. Einen Planungsunfall. Als sie diese Stadt zu eng gebaut haben für die Automassen des einundzwanzigsten Jahrhunderts.«
Sie hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Das bedeutet?«
»Wir werden uns die nächsten zwei oder drei Stunden durch die Stadt stehen. Ab und zu kommen Straßen mit Aussicht, immerhin ist es eine Stadt auf zwölf Hügeln. Nachher kannst du hinuntersehen zum See. Oder hinauf zum Palast. Sieh es einfach als Sightseeingtour.«
Sie seufzte und nickte dann. Tough, entschlossen, sich nicht unterzukriegen lassen von diesem neuen Land. »Und was wollen die Kinder?«
Hinter Noras Gesicht klebten andere Gesichter an der Scheibe, dreck- und rußverschmiert, pressten sich Handflächen gegen das Sicherheitsglas: Kinder in Kleidern, die nur noch der Schmutz zusammenhielt. Eines trug ein Baby auf dem Rücken.
»Geld«, sagte Terje. »Sie wollen Geld. Aber wenn du ihnen welches gibst, werden mehr kommen, und unser Fahrer wird schimpfen.« Er streckte die Hand in seinen Rucksack. Fand drei winzige Pakete Flugzeugkekse, einen eingeschweißten Muffin, einen Apfel, ein Päckchen Kaugummi.
»Gib ihnen das.«
Sie schüttelte den Kopf, versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen, und war nicht gut darin. »Gibt du es ihnen.«
Er lächelte und fuhr das Fenster hinunter, und die schmutzigen Finger rissen ihm die Kekspäckchen in Sekunden aus den Händen, aber da waren mehr; mehr leere Hände, Rufe, Bitten.
»Wir haben nicht mehr«, sagte Nora. Und, fast verzweifelt: »Geht weg!«
Es war der Fahrer, der die Scheibe hochfuhr.
»Es ist Vormittag«, sagte Nora. »Gehen sie nicht zur Schule? Haben sie keine Eltern?«
»Nein«, sagte Terje. »Doch. Aber wenn sie Eltern haben, betteln die auch. Schule, weißt du, kostet Geld. Ich hatte gehofft, sie hätten das geändert.« Und leiser: »Es sind noch mehr geworden. Noch mehr als damals.«
Nora atmete tief durch, er hörte ihre Anstrengung, ruhig zu bleiben.
»Es ist …«, sagte sie, »ganz anders hier, als ich dachte.«
Sie sagte das noch ein paar Mal.
Sie sagte es auf der Straße, nachdem sie endlich den Stau verlassen hatten und auch die Stadt.
»Wo ist der Urwald?«, fragte sie, und Terje grinste und sagte: »Seit tausend Jahren nicht mehr da«, und sie sagte: »Es ist ganz anders, als ich dachte.«
Und als der Wagen sich um die Kurven im bergigen Land schlängelte und tief unten ein Fluss auftauchte zwischen rund gewaschenen Felsen, fragte sie: »Wo sind die Krokodile? Die Affen? All das?« Und Terje sagte: »Dort, wo sie noch Urwald übrig gelassen haben. Weiter in Richtung Küste. Und im Zoo.«
Und sie sagte: »Es ist ganz anders, als ich dachte.«
Und als sie aus dem Fenster über die Reisterrassen sah, fragte sie: »Wo sind die bunten Menschen, die man von Fotos kennt? Die auf den Feldern arbeiten?«
»Sie sind da«, sagte Terje. »Sie sind nur nicht bunt. Es gibt eine Menge Staub und Ruß in der Luft hier, Kohlefeuer und all das. Wenn du lange hier lebst, siehst du auch so aus.« Er sah ihr entsetztes Gesicht und lachte. »Nein, keine Sorge. Im Hotel gibt es einen Wäscheservice.«
»Es ist ganz anders«, flüsterte Nora, zum dritten Mal, »als ich dachte.«
»Ja«, sagte Terje. »Es ist immer anders, als man denkt.«
Sie nickte. Lehnte sich zurück in den staubfreien, sauberen Sitz. Holte aus ihrer Handtasche die weißen Kabel der Handykopfhörer und versank für den Rest der Fahrt in ihrer eigenen Welt. Vielleicht lief sie in dieser Welt mit ihrem Jan über einen roten Teppich in einem Berliner Hotel, um ihr neues Parfum vorzustellen, strahlend und schön an seinem Arm.
Und Terje ließ sich ebenfalls zurücksinken, in die Erinnerung, auf den Sattel eines alten Fahrrades. Er war wieder fünfundzwanzig, so alt wie Nora jetzt; jung, stark, voller Träume.
Er war den ganzen Weg von Antananarivo her über die kurvige Bergstraße gefahren, am wundervollen, schäumenden Fluss entlang, durch grün leuchtende Reisterrassen, an blühenden Bäumen vorüber. Es war das Ende der Regenzeit, und hinter ihm lag der halbe Globus, er war ein Reisender auf der Suche nach Bildern, Eindrücken, Wahrheiten.
Ein wenig vielleicht auf der Suche nach seinem eigenen Platz in der Welt.
In seiner Tasche hatte er das Dritte Staatsexamen der Medizin. Oder nicht in der Tasche, natürlich, sondern in einer Schreibtischschublade, weit weg, in Deutschland. In der Tasche steckte nur, immer griffbereit, sein Pass mit dem Visum, das unverhältnismäßig teuer gewesen war. Madagaskar, nach der Unabhängigkeit aus Trotz gegen die Franzosen sozialistisch geworden, war kein Freund westdeutscher Pässe.
Es war das Jahr 1979, und jetzt, eben jetzt, fuhr Terje den letzten Hügel hinunter und hinein nach Antsirabé, in die Stadt des Wassers und des Handwerks.
Hinein zunächst zwischen Vorortverkaufsständen und Vororthütten, in ein Durcheinander aus Lastkarren: Karren hinter nackenhöckrigen, schwungbehörnten Zeburindern, Karren hinter menschlichen Zugtieren, Karren voller roter Ziegel und frisch geschlagenem Kiefernholz, voller Heu, Kohlesäcke, Gemüse.
Hier sah er die Rikschas zum ersten Mal: Die Pousse-Pousses, gezogen von je einem Mann, und die Cyclo-Pousses, rollende bunte Tupfen im Verkehr in allen Zirkusfarben, vorn ein Fahrrad, hinten eine überdachte Bank für zwei Personen. Auf die allerdings auch vier oder fünf passten.
Er fuhr langsamer, fuhr Seite an Seite mit den Cyclo-Pousse-Fahrern, sah sie gegen das Gewicht ankämpfen, dass sie bewegen mussten, sah den Schweiß ihre braunen Hälse herabrinnen, sah, wie sich ihre hervortretenden Wadenmuskeln anspannten, sah sie auf den Pedalen aufstehen, das Letzte geben. Die jüngeren lieferten sich Rennen. Die alten kamen kaum voran, barfuß und mit letzter Kraft traten sie halb zerfallene Pedale.
Und die Bilder darauf!
Er fuhr eine Weile direkt hinter einer Flusslandschaft voller springender Riesenfische, ein kleines naives Kunstwerk. Dann hinter einem madagassischen Bibelspruch, unter dem Mickymaus klebte, ausgeschnitten aus einem Heft. Recycelt.
Sie waren wie Boote, bunt gestrichene Fischerboote, der ganze Stolz ihrer Besitzer. Erst später sollte er lernen, dass die Fahrer sie gar nicht besaßen.
An jenem ersten Tag fuhr er in ihrer Mitte wie in einer Flotte in die Stadt hinein. Und es war, als sagten all diese Fahrradschiffe ihm mit ihren Hupen und Klingeln: Wir haben auf dich gewartet! Auf dich, den Weltreiseradfahrer, den Abenteurer, den Suchenden!
Tonga soa. Willkommen.
Er hatte ein Wörterbuch, und er würde beginnen zu lernen, allein schon, um den Bibelspruch zu verstehen, den die recycelte Mickymaus lehrte.
Und dann hielt er, zum ersten Mal, auf dem Bahnhofsvorplatz und stieg vom Rad.
Von seinem grünen Fahrrad mit der roten Klingel und der kleinen blauen Werkzeugtasche.
Und auf dem Platz warteten die Kinder. Sie umringten Terje, als er vom Rad stieg, riefen, zeigten, wollten alle etwas für ihn tun: sein Rad putzen. Seine Schuhe putzen. Ihn zum besten Pferd am Platz lotsen, einem der mageren Gäule, auf denen man sich um die Blumenrabatten führen lassen konnte. Ihn in ihren selbst gebauten Seifenkisten um den Platz kutschieren.
Aber als er »Buh!«, machte, zerstreuten sie sich kreischend und kichernd in alle Himmelsrichtungen. Die Männer, die die Pferde vermieteten, lachten.
Und Terje machte wie ein braver Tourist ein Foto vom alten Bahnhof. Danach drehte er sich um und machte ein Foto der alten Prachtstraße, die vom Bahnhof wegführte, auf einen grünen, bewaldeten Hügel in der Ferne zu. Sie bestand aus drei parallelen Straßen, dazwischen wuchsen lange Beete voll sorgfältig angepflanzter Blumenrabatten mit großen roten und gelben Blüten. Ein Relikt der französischen Herrschaft. Über den Straßen breiteten alte Platanen ihre gelbgrünen Blätter aus, und ganz vorn stand auf einem Sockel ein Denkmal aus Beton: der Umriss von Madagaskar.
Aber auf Madagaskar saßen jetzt die dreckigen Kinder und winkten.
Terje ging zurück zu seinem Fahrrad, doch das Rad war nicht mehr allein.
Davor kniete ein kleiner Junge, vielleicht fünf Jahre alt, und war in die Betrachtung des Dynamos und des Vorderreifens versunken. Ein kleiner Junge, magerer noch als die anderen, abgerissener. Er war nicht Teil der lauten, fröhlichen Gruppe gewesen.
Terje ging langsam näher, doch der Kleine bemerkte ihn nicht, bemerkte nichts um sich herum. Er war verliebt. Verliebt in das grüne Fahrrad.
Terje blieb neben ihm stehen.
Die Kinder sprangen vom Denkmal und bildeten einen Kreis um sie. Der Junge streichelte mit dem Zeigefinger behutsam das abgefahrene Gummi des Vorderreifens, dann das grün angemalte Schutzblech, den kleinen schwarzen Körper des Dynamos. Dann stand er auf und befühlte die leuchtend große runde rote Klingel, strich über den Ledersattel, über die kleine blaue Werkzeugtasche … Und schließlich legte er den Kopf auf den Sattel und schloss die Augen. Er war eins mit dem Fahrrad.
Es war ein Moment, den Terje nie mehr vergessen würde.
Dann brachen die anderen Kinder in Gelächter aus, und der Moment zerplatzte.
»Salama«, sagte Terje zu dem kleinen Jungen. Eines der wenigen Worte auf Madagassisch, die er konnte. »Hallo.«
Der Junge fuhr herum. Er hatte angefangen zu zittern, ließ jedoch das Fahrrad nicht los. »Salama«, flüsterte er. Und noch etwas, das Terje nicht verstand.
»Bisikileta!«, riefen die anderen Kinder und tippten sich an die Stirn. »Bisikileta adaladala!«
»Magst du das Fahrrad?«, fragte Terje.
Der Junge starrte nur. Er verstand kein Französisch.
Jemand hinter der Gruppe klatschte in die Hände und schrie ebenfalls »Bisikileta!«
Doch jetzt war es ein Befehl. Und der Kleine ließ das Rad los, schlüpfte durch den Kinderkreis und war fort. Terje sah sich um. Der, der geklatscht hatte, war ein etwas älterer Junge; er stand breitbeinig und stämmig neben der Reihe aus bunten Seifenkisten, die Hände in die Seiten gestützt. Ein Besitzer. Jetzt zeigte er auf ein kleines weißes Holzauto mit aufgemalten Scheinwerfern. Daneben stand eine junge, adrette Familie mit einem rosa Bonbonschleifenmädchen von vielleicht drei Jahren.
Der Vater setzte das Kind in die Seifenkiste, und Bisikileta packte das Auto von hinten.
Er war der Motor. Er schob und machte gleichzeitig Autogeräusche, hupte, tickte wie ein Blinker, und los ging es, die Prachtstraße entlang, an den Blumenrabatten vorbei; das rosa Mädchen quietschte vor Vergnügen. Die Mutter lief ein Stück nebenher und machte Fotos.
Der Vater gab dem stämmigen Jungen einen Geldschein.
Terje ließ seinen Blick wieder die Straße entlanggleiten, und da entdeckte er mehr Seifenkisten mit menschlichen Motoren, ein ganzes Heer. Doch keiner schob so schnell und hupte so echt wie der Kleine, der das Fahrrad gestreichelt hatte.
»Du fahren? Auto?«, fragte der stämmige Junge in gebrochenem Französisch.
»Ich bin zu schwer«, sagte Terje.
»Meine Autos gut«, sagte der Junge. »Stark. Zweitausend Ariary.« Er klopfte auf drei kleine Autos. Er war abgerissen und dreckig wie die anderen, aber er strahlte die Selbstsicherheit eines bierbäuchigen Autohausbesitzers aus.
»Ich rufe Bisikileta. Nächste Runde. Du fährst.«
»Heißt er wirklich Bi-si-kletta?«, sagte Terje. »Wie bicyclette?«
Der Autohausbesitzer nickte. »Wir nennen so. Richtig Name ich weiß nicht. Er immer sitzt bei Fahrraddoktors rum, da drüben.« Er zeigte zum Straßenrand, wo ein Mann seine Werkzeuge ausgebreitet hatte und dabei war, ein Rad zu zerlegen. »Bisikileta ist verrückt. Adala. Aber ich bin gute Mensch. Lasse ihm arbeiten für mich.«
Er pfiff auf zwei Fingern und schrie etwas, und der Kleine zuckte zusammen und bemühte sich, die Seifenkiste noch schneller zu schieben.
»Sooo schnell du kannst fahren«, sagte der Autohausbesitzer stolz. »Guter Motor, sehr gut. Extraschnell kostet dreitausend.«
Terje schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Und er nahm sein Rad und schob es hinüber zu den Betonbänken an der Straße, unter den Platanen.
Er brauchte eine Pause nach all den Hügeln und Kurven. Und so setzte er sich auf eine Bank und holte seine Wasserflasche heraus.
Das weiße Auto war angekommen, sein Besitzer vermietete jetzt einen kleinen gelben Lastwagen. Der stämmige Junge kassierte, Bisikileta schob. Terje fragte sich, was er pro Runde bekam.
»Nichts«, sagte jemand, er hatte offenbar laut gedacht, und noch dazu auf Französisch – er war schon zu lange in Afrika unterwegs.
»Nichts?« Er sah zur Seite. Eine junge Frau ließ sich mit einem Aufseufzen neben ihn auf die Bank sinken. Sie war so schwanger, dass sie kaum atmen konnte. Sie war etwa so alt wie er. Mitte zwanzig.
Jetzt saß sie, drückte eine Hand in ihr Kreuz und lächelte, die Schweißtropfen auf ihrem Gesicht glänzten in der Sonne wie goldenes Make-up. Sie war wunderschön, ihre Haut von einem leisen dunklen Karamellton, Karamell mit Kaffee, ihr Haar erstaunlich kurz geschnitten, was ihr ebenmäßiges Gesicht noch mehr betonte, die klaren Linien ihres Kiefers und ihres Kinns, fast ein wenig streng. Doch ihre großen Augen waren sanft. Sie war so zerbrechlich, dass ihr Bauch grotesk wirkte, aber sie sah ihn an wie etwas, das sie mitgebracht hatte, um es allen zu zeigen.
Das Kleid, das sie trug, zartgrün mit bunten Blumen, war ein französisches Kleid, teuer, wie die filigranen Riemchensandalen: Hier saß Geld.
Terje kam sich plötzlich vor wie ein Landstreicher, mit seinen an den Knien abgeschnittenen Jeans und dem verschwitzten Flanellhemd mit den hochgerollten Ärmeln. Er fuhr sich durchs helle Haar, das seit Langem vergeblich auf einen Haarschnitt wartete.
»Nichts«, wiederholte die junge Frau, und für den Moment hatte er vergessen, worüber sie sprach.
Ein Duft von frischen Vanilleschoten und sich gerade öffnenden Blüten hüllte ihn ein: ihr Parfum. Terje fühlte sich betrunken.
»Salama«, sagte er, verspätet.
Sie schenkte ihm ein Lächeln. Vorn fehlte ihr ein Schneidezahn, und das ließ ihn fast auflachen. Sie war nicht perfekt. Zum Glück.
»Ich dachte, du wolltest das wissen. Der kleine Junge da. Was er kriegt«, sagte sie. »Du warst nett zu ihm. Sonst ist niemand nett zu ihm.«
»Bisikileta«, sagte Terje.
Sie nickte. »Der Große, der gibt ihm manchmal was von seinem Essen ab«, sagte sie. »Das ist seine Bezahlung. Immerhin.«
»Kennst du sie alle?«, fragte Terje. »Die Jungs? Kommst du oft her?«
Sie nickte. »Ich und Maribelle. Sie mag die Autos.« Sie streichelte über die Wölbung unter dem geblümten Stoff. »Es dauert jetzt nicht mehr lange. Wenn sie geboren ist, kann sie endlich fahren. Und auf einem Pferd sitzen. Wir werden zusammen hier unter den Platanen spazieren gehen und bei einem Eiswagen Eis kaufen, und sie wird einen kleinen Sonnenschirm haben, mit weißen Troddeln.« Sie lachte. »Seit neun Monaten komme ich mit ihr hierher, ist das nicht komisch?«
Er betrachtete ihren Bauch, fasziniert. Sah, wie von innen ein kleiner Fuß dagegenboxte.
»Bisikileta wird sie herumfahren«, sagte die junge Frau. »Und ich werde ihm ein Trinkgeld geben. Maribelle wird ihn anlächeln. Sie wird sehr schön sein. Das schönste Mädchen der Welt.«
»Bestimmt«, sagte Terje. Und fast hätte er gesagt: Sie wird ja auch die schönste Mutter der Welt haben, doch er sagte es nicht, da es zu sehr nach Flirten klang. Und diese junge Frau war bald Mutter, sie hatte einen Mann.
Falls er sich gerade verliebte, führte das nirgendwohin.
»Maribelle«, sagte er. »Ein hübscher Name. Und Sie wissen, dass es ein Mädchen wird?«
Sie lächelte. »Natürlich. Das wusste ich schon am Tag ihrer Konzeption.«
»Am Tage ihrer …?« Er brach ab, spürte, wie er rot wurde.
»Konzeption. Es war am Unabhängigkeitstag. Sie schießen Raketen ab, hier auf dem Bahnhofsplatz, tausend Sterne am Himmel. Und alle Menschen in der Stadt sehen zum Himmel hinauf und denken daran, dass dieses Land ihnen gehört. Uns. Nicht mehr, Verzeihung, den Franzosen.«
Er grinste. »Oh, ich bin kein Franzose.«
»Ach so«, sagte sie. »Also, ein Balkon. Es war eine grüne Rakete, grün und weiß. Aber ich habe es schon vorher gespürt, verstehen Sie? Ich ging hier spazieren, ziemlich genau hier, und ich sah, wie sie alles vorbereiteten für das Feuerwerk, die Buden waren schon aufgestellt, überall brannten Feuer, garte Fleisch auf Spießen, da hinten standen die Riesenräder, die Karussells … Und da habe ich Maribelle gespürt. Ich habe gespürt, wie diese Eizelle sich auf den Weg gemacht hat. Sie sehnte sich so sehr danach, etwas zu werden. Ein Kind auf einem Riesenrad oder in einem Seifenkistenauto. Es war, als würde sie mich von innen verbrennen mit ihrem Sehnen nach dem Leben. Und nach der Liebe. Sie würde, das war gleich klar, ein Kind der Liebe sein, sie würde ein Leben leben, in dem die Liebe im Mittelpunkt steht. Da wusste ich, dass diese eine, störrische Eizelle befruchtet werden musste. Ihr Sehnen war so stark, ich musste ihr helfen. Und in der Nacht, auf dem Balkon unseres Hauses, als die Rakete mit den grünen und weißen Sternen am Himmel zerplatzte, da wurde Maribelle eine winzige Person aus zwei Zellen. Und sie nistete sich ein und machte es sich bequem, tief in mir, um zu wachsen. Und träumt seither jeden Tag von den Seifenkisten und Riesenrädern. Deshalb komme ich noch immer her, jeden Tag. Mein Mann hält mich für seltsam, weil ich ständig spazieren gehe. Aber er denkt sowieso, ich wäre verrückt.«
Terje fragte sich, ob sie verrückt war. Sie erzählte einem völlig Fremden Details, die man nicht einmal einem Freund erzählen würde. Doch jetzt schwieg sie und sah den Seifenkisten zu, und als er sie von der Seite betrachtete, wirkte sie ganz ruhig und in sich gekehrt, eine Hand auf ihrem Bauch.
Er stellte sich vor, wie es wäre, sie an dieser Hand zu nehmen und mit ihr diese Straße entlangzugehen, auf den grünen Berg zu. Wie es wäre, sie im hellgrünen Blätterschatten einer Platane zu küssen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie plötzlich und schüttelte den Kopf. »Falls ich Sie belästigt habe.« Sie erhob sich mühevoll von der Bank, er sprang zu spät auf, um ihr zu helfen. »Haben Sie eine schöne Reise durch dieses Land. Es ist ein wundervolles Land. Auch wenn es seine Schönheit manchmal hinter der Armut versteckt. Wir sind ja seit einer Weile sozialistisch, wissen Sie, es heißt, wenn der Sozialismus lange genug andauert, dann wird alles besser.«
»Warten Sie«, sagte Terje. »Darf ich Ihnen schreiben? Wenn das Baby geboren wird … ich könnte eine Karte schicken. Zur Geburt.«
Er fand einen alten Zettel und einen Stift und reichte ihr beides. Sie schrieb, in winzigen verschnörkelten Buchstaben, nach Art der Franzosen, etwas darauf. Lächelte wieder.
»Maribelle wird sich freuen über Post aus dem Ausland.«
Und damit ging sie davon, langsam, vor sich das Gewicht eines ungeborenen Lebens mit einem so starken Willen, dass sie schon jetzt wusste, es wollte Seifenkiste fahren. Ein Mensch, in dessen Leben die Liebe im Mittelpunkt steht.
Sie wurde kleiner und kleiner in der Ferne, und er wollte ihr nachlaufen, neben ihr hergehen, sie kennenlernen, doch sie gehörte einem anderen.
So ging er schließlich hinüber zu der Reihe der Seifenkisten, wo der kleine Bisikileta dabei war, mit einem alten schwarzen Lappen die Autos zu putzen. Er kniete auf der Straße und arbeitete konzentriert, ohne Pause. Die anderen Lumpenkinder jagten zwischen den Blumenrabatten einem aus Tüten und Schnur gewickelten Fußball nach.
Der stolze Seifenkistenbesitzer rauchte auf den Stufen des Denkmals den Stummel einer gefundenen Zigarette.
»Jetzt Sie möchten fahren?«, rief er zu Terje hinüber.
Terje stellte sein Rad ab und schüttelte den Kopf. Dann ging er zu dem Kleinen und tippte ihm auf die Schulter, und der Junge fuhr hoch.
»Komm«, sagte Terje sanft. »Du hast genug geputzt. Ich weiß, du verstehst mich nicht, aber das macht nichts.« Er zeigte auf sein Fahrrad. »Willst du fahren?«
Ein Stirnrunzeln. Der Junge hob den Putzlappen. In seinen dunklen Augen stand eine Frage.
»Er nicht Französisch!«, rief der Ältere. »Zu dumm. Wenn Sie wollen putzen, er macht, ist tausend Ariary. Geld Sie geben mir. Er gehört mir.«
»Nein«, sagte Terje. »Er gehört sich selber.«
Und damit hob er den verblüfften Jungen hoch, der beinahe nichts wog, und setzte ihn auf den Sattel des grünen Rades. Der Junge gab einen Laut des Erschreckens von sich und streckte instinktiv die Arme aus. Er reichte mit den Händen gerade bis an die Lenkstange.
Aber als er die Griffe des Rades umfasste, wich der Schrecken in seinem Gesicht einem vorsichtigen Grinsen.
Terje nickte. »Das machst du gut.«
Und dann schob er das große grüne Fahrrad mit dem schwerelosen Kind darauf die Straße entlang, an den Blumenrabatten vorbei, an dem Autohausbesitzer vorbei, an den Fußballspielern. Und sie hielten inne und sahen zu dem Kleinen auf seinem Schlachtross auf. Vermutlich war es das erste Mal, dass jemand zu ihm aufsah.
Und das vorsichtige Grinsen auf dem Gesicht des kleinen Jungen wurde zu einem Strahlen, so groß und allumfassend wie das Licht der Sonne über dem Bahnhofsplatz. Es strahlte bis in Terjes Innerstes, er merkte, wie auch er strahlte, von innen.
Die Macht, einen anderen Menschen absolut glücklich zu machen, war wie ein Rauschmittel.
Als sie die ganze Prachtstraße einmal hinuntergefahren waren und dann wieder hinauf, als der Seifenkistenbesitzer und die anderen ihnen entgegensahen, sah Terje, wie der Kleine sich an den Griffen des Lenkers festkrallte. Er wollte nicht loslassen. Nie wieder.
»Keine Angst«, sagte Terje.
Er pflückte das Kind vom Sattel, und es ließ jetzt doch los, resigniert.
Aber er setzte es nicht auf die Erde. Er setzte es auf den Gepäckträger. »Halt dich fest.«
Und dann schwang er sich selbst auf den Sattel und fuhr los.
Die anderen Kinder rannten ihnen ein Stück nach.
Der Chef schrie etwas, ärgerlich.
Und der kleine Bisikileta hinter Terje lachte, hell wie der hohe Himmel.
Als er sich umsah, hatte Bisikileta die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet. Er flog. Er war der König der Straße, der König der Radfahrer, der König von Antsirabé.
Sie fuhren vorbei an den Schienen, an Bretterbuden und unfertigen Häusern, überall wurde gebaut, ohne Maschinen, von Hand, überall waren rote Ziegel, überall war Hoffnung. Die Franzosen waren lang genug fort, jetzt wartete man auf die Früchte des Sozialismus.
Sie fuhren an Gärten vorbei, Gärten hinter Zäunen und Mauern, Villen, blühenden Bäumen, hier lebten die Reichen, weiter und weiter, und schließlich hielt Bisikileta sich doch noch an Terjes Rücken fest. Er spürte die zögernden Kinderhände, und dann den ganzen kleinen, mageren Körper, der sich gegen ihn lehnte.
Als er abbog, um durch kleinere Straßen zurückzufahren, fand er sich im Mittelalter wieder, fuhr unbefestigte Straßen entlang voller schiefer Hütten aus Holzabfällen und Pappe, vorüber an Bergen von schwelendem Unrat, an tausend kleinen Kohleöfen, über denen gekocht wurde. Überall waren Hunde, Kleinkinder, magere Hühner, lagen Gemüse und Kohle auf wackeligen Tischchen zum Verkauf aus.
Und dann waren sie auf einmal im Zentrum der Stadt, fuhren vorüber an der großen Kathedrale und ihren hohen, blühenden Bäumen. Hier war die Straße verstopft von hundert bunten Rikschas, gezogen von barfüßigen alten Männern, auf den Polstersitzen schwere, wohlfrisierte Damen mit Einkäufen vom Markt.
Dies war, dachte Terje, noch immer eine Gesellschaft aus Herren und Sklaven. Im Grunde hatte sich seit der Zeit der Könige nichts geändert.
Er sah ein paar Leute auf ihn zeigen und lachen. Er hatte das Prinzip an jenem Tag umgekehrt: Er, der Weiße, fuhr einen kleinen dreckigen Jungen spazieren, ein Kind, das weniger war als nichts, das selbst den anderen Bettelkindern noch als Sklave diente.
Er konnte dieses Kind nicht mitnehmen. Er war auf Reisen, er war fünfundzwanzig Jahre alt, er war nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Er würde nach Hause zurückkehren und sein Leben selbst erst beginnen.
Er hielt vor einer Bäckerei, die von fleißigen Pakistanis geführt wurde, kaufte für sich und Bisikileta belegte Baguettes, und sie standen zusammen vor dem Laden und aßen, Bisikileta an das Fahrrad gelehnt, eine Hand auf dem Hinterreifen.
Er war hungrig, aber das Fahrrad war wichtiger.
Terje zeigte auf sich und sagte: »Terje.« Und er zeigte auf das Fahrrad und sagte: »Fahrrad.«
»Fahrrad«, sagte Bisikileta und nickte. Er sprach es fehlerfrei aus.
»Wenn du groß bist, wirst du auch so ein Fahrrad haben«, sagte Terje. »Dann wirst du durch die Stadt fahren und für niemanden mehr Autos putzen.«
Der Kleine sah ihn fragend an. »Vergiss es«, sagte Terje. »Ich träume nur laut.«
Er setzte Bisikileta wieder dort ab, wo er ihn aufgesammelt hatte, holte einen kleinen Schraubenzieher aus der blauen Werkzeugtasche am Sattel und schraubte die große rote Klingel von der Lenkstange. Er gab sie ihm, und der Kleine sah zu ihm auf und sagte leise: »Merci.« Das konnte er auf Französisch. Dann breitete er die Arme aus und schlang sie um Terjes Beine, und dann umarmte er das Fahrrad.
Die anderen Kinder lachten.
Doch Bisikileta ließ sich nicht stören, in einer Hand hielt er die leuchtend rote Klingel, mit der anderen fuhr er über das grün gestrichene Metall, den braunen Ledersattel, die kleine blaue Werkzeugtasche. Beugte sich vor und flüsterte Worte, die nur er und das Rad verstanden.
»Ich muss jetzt los«, sagte Terje. »Mir ein Zimmer suchen für die Nacht.«
Wo würde Bisikileta schlafen? Auf der Straße? Terje nahm das Rad und drückte dem Jungen einen Geldschein in die Hand, in der Hoffnung, dass die anderen es nicht sahen. Dann stieg er auf und fuhr los.
Als er sich umdrehte, stand Bisikileta mitten auf der Straße, unter den hohen grünen Platanen, und sah ihm nach. Er hielt die rote Klingel vor sich wie ein Licht in der Nacht, ein Licht, das in die Zukunft leuchtete.
Und als Terje das Fahrrad in dieser Nacht vor einem billigen Hotel anschloss, dachte er: Warum eigentlich nicht? Warum soll dieser kleine Junge nicht irgendwann ein Fahrrad besitzen? Warum nicht dieses Fahrrad?
Die beiden waren füreinander bestimmt.
Und er fasste einen Beschluss.
Wenn seine Reise durch Madagaskar vorüber wäre, würde er das Fahrrad nicht wieder auseinanderbauen und in einem Flugzeug verstauen, um durch ein neues Land zu fahren. Es war ohnehin Zeit, mit dem Reisen aufzuhören und mit dem Leben anzufangen.
Fünf Wochen später gab Terje Sandholz, gerade sechsundzwanzig Jahre alt geworden, in Antananarivo ein Fahrrad bei der Post auf. Der Postbeamte schrieb die Adresse sorgfältig von dem Zettel ab, den Terje ihm überreichte. Es war eine Adresse im Villenviertel von Antsirabé.
Der Postbeamte dachte sich einen Fantasiepreis aus, da er erstens keine Bestimmungen zum Verschicken eines Fahrrades finden konnte und zweitens das Beschneidungsfest seines Sohnes anstand, bei dem er eine Menge Verwandte drei Tage lang durchfüttern musste.
An den Lenker des Fahrrads war ein Brief geklebt.
Liebe Maribelle, stand in dem Brief, auf Französisch.
Ich hoffe, Du bist gut auf dieser Welt angekommen. Es ist eine schöne Welt. Sobald du sitzen kannst, wirst du jeden Tag vor dem Bahnhof in einem kleinen Auto herumfahren. Aber Du wirst merken, dass die Welt für manche Menschen nicht so schön ist. Deshalb schicke ich diesen Brief an Deine Mutter, die schönste Frau der Welt, deren Namen ich nicht kenne. Bitte sie, dafür zu sorgen, dass dieses Fahrrad zu dem kleinen Jungen kommt, der die Seifenkisten am schnellsten schiebt und den sie Bisikileta nennen. Er soll es bekommen, sobald er alt genug ist, allein darauf zu fahren.
Vielleicht werden wir uns eines Tages begegnen, und ich werde Deine erstaunliche Mutter wiedersehen. Bis dahin,
Dein Freund Terje Sandholz
Als das grüne Fahrrad nach einer zweijährigen Liegezeit in der Hauptstadt, wo es vergessen wurde, nach langwierigem Transport und weiterer Lagerzeit in Antsirabé von einem Bediensteten abgeholt und in den Garten einer Villa geschoben wurde, waren Dinge passiert, von denen Terje, weit weg in Deutschland, nichts ahnte.
Menschen waren geboren worden und andere gestorben. Schicksale hatten sich geändert.
Zöpfe waren geflochten und gelöst worden, ein einsamer Mann hatte tausend Bilder von einem Mädchen in einer Seifenkiste gemacht. Ein kleiner Junge hatte sich verliebt, diesmal in ein menschliches Wesen, und war zweimal knapp dem Tod entronnen.
Und das Fahrrad schlief in einer abgelegenen Ecke des Gartens, bestreut von den roten Blütenblättern eines Christusdorns, beregnet, sonnenbeschienen, von Raupen mit Fäden umsponnen, von Vögeln benistet, da es niemanden mehr gab, der den Brief an seinem Lenker lesen wollte.
Es schlief und wartete.
Wie Terjes Herz.
Das ist sie«, sagte Terje und legte sachte eine Hand auf Noras Schulter. »Antsirabé. Die Stadt des Wassers. Des Biers. Der Pferde.«
Sie blinzelte. Sie war eingeschlafen. Jetzt sah sie aus dem Fenster, wo es weder Wasser noch Bier noch Pferde gab, sondern nur hohe Alleebäume und darunter Holzstände mit Mangos in Rot, Gelb und Grün, Pyramiden von dunkelgrünen Avocados, goldenen Bananen, leuchtend roten Tomaten. Schlafende Hundewelpen in einem winzigen ummauerten Blumenbeet zwischen zarten, roséfarbenen Blüten. Terje fragte sich, ob Nora das alles wahrnahm: die Schönheit zwischen dem Schmutz.
Vielleicht sah sie nur den Müll in den Straßen, den Dreck, die zeitzerfressenen Ruinen der Bürgersteige, denn auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck zwischen Ekel und Furcht.
Er wollte so sehr, dass sie dieses Land mochte.
»Unser Chauffeur wird dich direkt zum Hotel bringen«, sagte er. »Du brauchst nur an der Rezeption deinen Namen zu sagen. Ich habe gemailt, und angeblich sprechen sie Englisch. Du kannst in Ruhe duschen und dich in den Garten setzen, es gab Bilder davon im Netz – sehr schön. Voller Blumen. Trink einen Kaffee.«
Sie runzelte Stirn, misstrauisch. »Und du?«
»Wenn du damit leben kannst, würde ich gerne so ankommen wie damals«, sagte er. »Auf dem Bahnhofsplatz. Kann ich dich eine halbe Stunde im Hotel allein lassen?«
»Natürlich«, sagte sie, schnippisch. »Ich bin erwachsen. Ich war für Summer alleine in London, in New York und in Sydney. Wenn du mir hilfst, dieses Land zu entdecken, bin ich dankbar. Aber ansonsten kann ich auf mich selbst aufpassen.«
Er hatte keine Zeit, auf ihren beleidigten Tonfall zu reagieren.
Sie fuhren jetzt die Straße an den alten, längst nicht mehr benutzten Geleisen entlang, auf denen noch immer die alten Güterwaggons standen wie Dinosaurier. Terjes Herz schlug schneller. Da, da war der Bahnhof! Die Uhr war lange stehen geblieben, die Türen des Gebäudes verriegelt. Welke Blätter und Plastikfetzen hatten sich in den Ecken gesammelt. Doch die Platanen warfen die gleichen grünen Schatten wie damals, und die Pferde warteten noch immer auf Reiter, die Kinder mit den Seifenkisten noch immer auf zahlende Passagiere. Die selbst gebauten Seifenkisten waren zum Großteil ersetzt durch moderne Plastikautos. Doch es waren Autos mit kaputter Elektronik. Schieben taten die Kinder nach wie vor selbst.
Und da! Da saß der Fahrraddoktor auf dem Grasstreifen, aber natürlich war es inzwischen ein anderer. Er hatte seine Ketten, Pedale und Schrauben in die niedrigen Äste einer Platane gehängt.
Der Wagen hielt. Terje nickte dem Fahrer zu. Drückte ihm ein Bündel Scheine in die Hand, bedankte sich. Und öffnete mit zitternden Fingern die Autotür.
»Wir sehen uns«, sagte Nora kühl.
Terje hörte es kaum. Denn in diesem Moment berührten seine Füße den staubigen Asphalt. Und während der Wagen mit Nora wendete, sah er sich um.
Als er das letzte Mal hier gestanden hatte, hatte er die kleine blaue Werkzeugtasche in der Hand gehalten, ein Andenken und ein Erkennungszeichen. Doch irgendwann, später, war die Tasche verloren gegangen. Nun waren seine Hände leer.
Er hob sie und sah sie an, seine fast siebzigjährigen Hände, die sehnigen Handrücken bedeckt von Sommersprossen, winzigen rotblonden Härchen, Altersflecken: Landkartenhände, die nichts mehr festhielten.
Hinter ihm ragte der Bahnhof auf, vor ihm erstreckte sich die einstmalige Prachtstraße, und es gab noch immer Blumenrabatten, gab gelbe, rote, flammend orangefarbene Blüten. Aber die Betonbank, auf der er damals mit der schwangeren Frau gesessen hatte, war verfallen, belagert von Bettlern, die Karten spielten um Geld. Es waren mehr, und sie waren noch schmutziger als die Bettler von damals. Auf dem Berg in der Ferne stand jetzt ein Sendemast, und das Grün der Bäume war dünn geworden wie Terjes Haar, zu viele waren gefällt worden.
Alles war gleich, und alles war anders.
Auch die Kinder neben den Plastikautos hatten sich vermehrt, wie die Autos auf den Straßen. Es gab jetzt sogar Miniatur-Radrikschas, Cyclo-Pousses, in denen arme Kinder reiche Kinder spazieren fahren konnten. Keine Schule für die Kinder, die fuhren. Kein Lesenlernen, Schreibenlernen, keine Chance, je eine andere Arbeit zu bekommen als die eines Sklaven.
Die Kinder kamen nicht näher, wie sie es damals getan hatten.
Sie zeigten nur und riefen: »Vazaha!« Weißer!
Er war ein Fremder. Und auf einmal kam er sich vollkommen verloren vor, dort auf dem Platz. Vielleicht war es falsch gewesen, zu kommen, die Vergangenheit lässt sich nicht zurückholen.
Doch auf einmal war da in der Ferne ein Ton, der ihm bekannt vorkam. Erst leise, dann lauter. Es war der Ton einer Fahrradklingel. Einer roten Fahrradklingel an einer grünen Lenkstange. Er spürte, wie ein zaghaftes Lächeln sich auf sein Gesicht stahl, zwischen die Alters- und Sorgenfalten.
Und dann bog ein Cyclo-Pousse auf den Platz ein, das anders war als die anderen in der Stadt. In einem eleganten Schlenker fuhr es über den Asphalt, legte sich in die Kurve wie ein schnittiger Schlittschuhläufer, so schnell, dass man kaum mehr von ihm sah als einen grünen Windstoß in der Luft, schneller, als ein Cyclo-Pousse eigentlich sein kann oder darf. Terje sah, wie die anderen Pousse-Fahrer sich die Hälse verrenkten, um ihm zu folgen, wie die schmutzigen Kinder von ihren Autos aufsahen, wie die Männer und die Pferde die Köpfe wandten. Sie alle sahen das Pousse an.
Und dann hielt es. Direkt vor Terje.
Der Fahrer sprang von seinem Sattel, deutete eine Verbeugung an. Er trug ein blütenweißes Hemd mit winzigen hellblauen Stickereien am Kragen, eine enge europäische Jeans und rote, beinahe makellos saubere Turnschuhe. Er war nicht mehr jung, doch das Alter hatte sein Gesicht schön gemacht, die Nase markanter, die Wangenknochen betonter. Sein Haar war sportlich kurz geschoren, sodass man die Narbe sah, die quer über seinen Schädel lief, und Terje zuckte kurz zusammen.
»Was zum …?«, murmelte er und verstummte.
Denn jetzt streckte der andere die Hand aus und kam einen Schritt auf ihn zu, und da ging auch Terje einen Schritt vorwärts. Nahm die Hand.
Und einen Augenblick lang sahen sie sich einfach an. Terje fragte sich, ob sein Gegenüber es guthieß, dass er hier war. Oder ob er nur so tat. Höflich war.
»Biscuit«, sagte er schließlich, und mit einem Lächeln erinnerte er sich daran, wie sich der Spitzname des kleinen Jungen damals gewandelt hatte. »Darf man das noch sagen?«
Der andere nickte. »Ein nom de guerre«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Terje. Ich hatte es im Gefühl, dass du kommen würdest.« Er klang nicht, als sagte er es aus Höflichkeit. Er klang glücklich. Wie ein Kind. Wie das Kind von damals.
»Du hattest im Gefühl, dass ich …? Unmöglich.« Terje lächelte.
»Nichts ist unmöglich in Madagaskar«, sagte Biscuit. »Steig ein.«