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Beim Versuch, das Königreich von Ebron zu retten, wecken Merrick und Lorraine eine uralte Macht, die droht, ganz Æbrova zu vernichten. Für alle Fans von heroischen Fantasyromanen à la George R.R. Martin und David Eddings
Das Königreich Ebron wird von Unruhen erschüttert. Sowohl die Adelshäuser als auch die einflussreichen Arkanen Gilden drohen, dem König ihre Unterstützung zu entziehen und ein Krieg mit dem mächtigen Kaiserreich von Celeste scheint unvermeidbar. Als letzten Versuch, ihn abzuwenden, reisen Merrick und Lorraine, nach Girhal, in der vagen Hoffnung, aus dieser Ruine der Alten eine mächtige magische Ressource zu bergen. Dabei erwecken sie eine uralte Macht, die schon bald droht, ganz Æbrova in den Abgrund zu reißen ...
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Cover & Impressum
Karte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Epilog
Danksagung
Stammbaum
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Kaiserreich Celeste, Chimere, Sommer 3709
Eugène hörte, wie sich die Tür zum Labor öffnete, und legte seufzend sein Werkzeug zur Seite. Es gab nur einen Menschen, der unaufgefordert diesen Raum betrat.
»Was kann ich für dich tun, Mutter?«
»Ich bin hier, um dich an deine Pflichten zu erinnern«, antwortete sie. »Wie so oft.«
»Ah, natürlich. Welche habe ich diesmal vernachlässigt?«
Sie lächelte milde. »Du bist der oberste Heerführer. Dementsprechend wirst du im kommenden Krieg das Oberkommando führen, da kann ein wenig Vorbereitung nicht schaden.«
Er starrte seine Mutter an, öffnete den Mund, schloss ihn und atmete tief durch. Doch er vermochte nicht, das Gefühl der Unwirklichkeit zu vertreiben, welches ihm die Luft abzuschnüren drohte. »Heerführer? Krieg?«, krächzte er. »Wieso das denn?«
»Weil ich es so beschlossen habe.« Die Kaiserin lächelte nach wie vor. »Botschafter de Chappuis wird bald nach Ebron reisen und unsere Kriegserklärung übermitteln.«
Ein leichtes Schwindelgefühl zeigte, dass er die Luft angehalten hatte, und Eugène stieß sie hörbar aus. Dabei schloss er die Augen und sammelte sich. »Warum genau erklären wir Ebron den Krieg?«
»Also wirklich, Eugène.« Seine Mutter hob tadelnd einen Finger. »Du weißt genau, dass wir die rechtmäßigen Erben von Ebron sind. Unsere Vorfahren wurden um den Titel betrogen, daran ist nicht zu rütteln.«
»Das war vor über zweihundert Jahren.«
»Und wenn schon.« Kaiserin Leopoldine zuckte mit den Schultern. »Das ändert nichts an den Tatsachen. Ebron sollte seit Jahrhunderten in der Herrlichkeit Celestes aufgegangen sein. Dafür kämpften unsere Vorfahren, und dafür kämpfen wir. Für sie war das höhere Ziel das Wohlergehen und die Sicherheit unserer Heimat. Seit Generationen wird der ebronische Thron von irgendwelchen dahergelaufenen Herzögen usurpiert.«
»Das Haus Craft regiert seit über dreihundert Jahren in Ebron«, wagte Eugène zu bemerken.
»Wie dem auch sei.« Die Kaiserin wischte seinen Einwand mit einer nachlässigen Handbewegung beiseite. »Die Gelegenheit, endlich das zu bekommen, was uns rechtmäßig zusteht, war noch nie günstiger. König Vigor hat seine Konkubine zur Thronfolgerin ernannt. Eine Fahrende, schlimmer noch, eine Sucherin von zweifelhaftem Ruf, die noch dazu in Verdacht steht, illegal Magie zu praktizieren. Das ist ein Angriff auf unsere Lebensweise, unsere Sicherheit.«
»Übertreibst du nicht ein wenig? Soweit ich gehört habe, ist sie seine Tochter und nicht seine Konkubine.«
»Ja, das will man uns glauben lassen.« Erneut hob sie tadelnd den Finger. »Ich habe bereits vor Wochen von dieser Frau gehört. Sie soll dem König und auch seinem Neffen, dem Kronprinzen, völlig den Kopf verdreht haben. Angeblich haben sich die beiden wegen ihr heftig gestritten, und direkt danach verschwindet der Prinz spurlos. Und sobald dessen Vater beginnt, Nachforschungen über den Verbleib seines Sohnes anzustellen, wird er aus heiterem Himmel des Verrats angeklagt und hingerichtet.« Sie sah ihn an, die Lippen nur noch ein dünner Strich, die Wangen gerötet und die Hände inzwischen zu Fäusten geballt. »Das zeigt doch, wie es um Ebron bestellt ist. Das war ja zu erwarten, König Vigor kann das Blut seiner Bastardmutter eben nicht verleugnen. Erst verscherzt er es sich mit dem Adelsstand, indem er einen einflussreichen Herzog hinrichten lässt, dann mit dem Volk, indem er eine dahergelaufene Fahrendenhure zur Thronfolgerin ernennt, und schließlich mit den Gilden, indem er auf Bitten seines Liebchens einen Haufen fahrender Magier begnadigt, obwohl sie gegen göttliches Recht verstoßen haben.« Seine Mutter lachte verächtlich. »Das wird ein Kinderspiel. Ebron wird uns mit offenen Armen empfangen, wenn wir einmarschieren. Jetzt müssen wir nur noch dem Rest von Æbrova begreiflich machen, dass unsere Kriegserklärung kein Akt der Aggression ist, sondern eine Maßnahme zur Friedenswahrung. Wenn alle glauben, dass Ebron kurz vor einem Bürgerkrieg steht, den wir durch unseren Einmarsch verhindern, wird niemand zu Vigors Unterstützung eilen. Der Sieg gehört uns.«
Eugène legte seine Arbeitsbrille beiseite. Mit ihren vielen übereinanderliegenden Linsen erlaubte sie ihm, auch das kleinste Zahnrad in der Uhr zu erkennen, an der er gerade arbeitete. Animationsmagie war seine Leidenschaft, daran hatte auch die Missbilligung seiner Mutter nie etwas ändern können. Er hatte seinen Meistertitel erhalten und nutzte jede freie Minute in seinem Labor.
»Glaubst du, es wird so leicht? Ebron hat ein Verteidigungsbündnis mit Gesua. Willst du wirklich einen Zweifrontenkrieg führen?«
Die Kaiserin schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich habe es dir doch eben erklärt. Wir werden dafür sorgen, dass in Ebron genug Aufruhr herrscht, um den Einmarsch zu rechtfertigen. Niemand wird uns angreifen, wenn wir Ruhe und Frieden bringen. Als Herrscher musst du lernen, eine Chance zu ergreifen, wenn sie sich bietet, mein Junge.«
Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. Er hatte das dreißigste Lebensjahr überschritten und war weit davon entfernt, ihr Junge zu sein. Allerdings hatte er sich nie offen gegen sie aufgelehnt. Sein Ansatz war ein anderer. Vordergründig beugte er sich ihrer Dominanz, doch insgeheim suchte er Gleichgesinnte und schmiedete Bündnisse, welche ihm zum richtigen Zeitpunkt hilfreich sein würden, ganz nach celestischer Tradition. Ob sie damit rechnete? Er wusste es nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Wichtig war, geduldig zu bleiben und auf den richtigen Zeitpunkt zu warten.
Seine Mutter strich ihm sanft über die Wange. »Keine Sorge, mein Junge, ich habe Kontakte zu diversen ebronischen Herzogshäusern geknüpft, um die Unzufriedenheit zu schüren. Außerdem sind bereits Barden angeheuert, die Schmählieder auf den König in Ebron verbreiten. Und vom ebronischen Erzbischof der Gilden liegt mir ein Hilfegesuch vor, in dem er uns anfleht, unseren Einfluss geltend zu machen, die göttliche Ordnung in Ebron wiederherzustellen. Du kannst dich also auf deine Aufgabe als Oberkommandant des Heeres konzentrieren.«
Eugène ergab sich vorerst in sein Schicksal und seufzte. »Wie Ihr wünscht, meine Kaiserin. Ich nehme an, meine ersten Aufgaben warten bereits auf mich?«
»Du wirst bei Sonnenaufgang auf dem Exerzierplatz erwartet. Alle Offiziere und die komplette Garde werden antreten, damit du die Generalmobilmachung verkünden kannst. Du weißt schon: Rettung von Unschuldigen vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Ebron, Beseitigung des skrupellosen Willkürregimes, für Ruhm und Ehre des Vaterlands und so weiter und so fort. Ich freue mich auf deine inspirierende Ansprache.« Ohne auf eine Antwort zu warten, rauschte sie davon.
Eugène verharrte mehrere Minuten bewegungslos. Sein Blick glitt sehnsüchtig über die auseinandergebaute Uhr auf dem Tisch. Es war nicht zu ändern. Er erhob sich und verließ zielstrebig sein Labor. Mit schnellen Schritten eilte er in den Gästeflügel und klopfte an Estephania Mugridges Tür.
»Wer ist da?«, ertönte die Stimme der Gräfin.
»Eugène«, antwortete dieser knapp. Bei dem leisen Keuchen hinter der Tür zuckten Eugènes Mundwinkel belustigt. Keine fünf Sekunden später öffnete Estephania und lächelte ihn herausfordernd an.
»Was verschafft mir die Ehre, Eure Majestät?«
»Lass die Förmlichkeiten.« Ihm war bewusst, wie überraschend der Besuch auf seine Cousine wirken musste. »Dafür haben wir keine Zeit. Kehrst du bald nach Ebron zurück?«
»Ja«, sagte sie vorsichtig.
»Sehr gut. Darf ich reinkommen?«
»Selbstverständlich.« Estephania trat stirnrunzelnd zur Seite, und Eugène ging an ihr vorbei ins Innere. Dort sah er sich flüchtig um. »Man erkennt kaum mehr, dass dies vor Kurzem noch ein normales Gästequartier war. Du schaffst es immer, den Dingen deinen persönlichen Stempel aufzudrücken«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Ich habe es mir lediglich ein wenig bequem gemacht, Eure Majestät.«
»Ich habe gesagt, dass du die Förmlichkeiten lassen sollst. Ich hasse es, wenn du mich so nennst.«
»Anordnung der Kaiserin … Majestät.« Estephanias provozierender Tonfall ließ Eugène kurz die Augen schließen.
»Meine Mutter kann vieles, aber sie hat nicht darüber zu entscheiden, wie du mich ansprichst.« Er schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen Sessel fallen. »Deswegen bin ich nicht hier. Was weißt du über die Kriegserklärung an Ebron?«
Estephania musterte ihn einige Zeit und sagte schließlich gedehnt: »Wir tun also einfach so, als hättest du mich nicht die letzten zehn Jahre ignoriert, und sind plötzlich wieder Freunde?«
»Wir waren immer Freunde.«
»Ah. Dann habe ich die Sache mit der Freundschaft falsch verstanden. Ich dachte, Freunde reden miteinander und …«
»Steph«, unterbrach Eugène sie und sah mit Befriedigung, wie ihre Wangen sich angesichts des Kosenamens leicht röteten, »meine Mutter war der Meinung, dass unsere Freundschaft falsch aufgefasst werden könnte, und hat mir den Kontakt zu dir untersagt. Ich hatte keine Wahl, das habe ich dir damals erklärt. Können wir jetzt bitte über den bevorstehenden Krieg sprechen?«
»Von Krieg weiß ich nichts, ich habe deine Mutter lediglich über die momentane Lage in Ebron unterrichtet. Aber wenn die Kaiserin Krieg will, bekommt sie Krieg, so einfach ist das.« Estephania verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Eugène aus zusammengekniffenen Augen an.
»Meine Mutter hat den Verstand verloren. Niemals werden unsere Nachbarn zusehen, wie wir uns Ebron einverleiben. Wir sind ihnen jetzt schon zu groß und zu mächtig, das ist dir genauso klar wie mir. Es muss einen Weg geben, Krieg zu verhindern. Zu allererst sollten wir Kontakt zu König Vigor herstellen. Du hast einen guten Draht zum direkten Umfeld des Königs. Das sollten wir uns zunutze machen.«
»Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Ach nein? Dann sind dir deine intimen nächtlichen Treffen mit Buford Aynsworth entfallen?«
Bei der Erwähnung dieses Namens ließ Estephania die Arme sinken und starrte ihren Jugendfreund mit offenem Mund an. »Du weißt davon?«
»Ich weiß so einiges. Meine Agenten gehören zu den besten. Keine Sorge, ihre Berichte sind nur für meine Augen bestimmt.«
»Du hast Agenten in Ebron?«
»Ich habe Agenten überall in Æbrova.« Wie es aussah, unterschätzte ihn nicht nur seine Mutter. »Ich brauche Informationen aus erster Hand. Schließlich kann ich mich ja schlecht auf die Spione meiner Mutter verlassen. Sie ist in ihren Ansichten oft ein wenig exzentrisch, und das spiegelt sich in den Berichten wider. Die Leute wollen es ihr recht machen.«
»Exzentrisch?« Ein Lächeln schlich sich auf Estephanias Gesicht. »Das klingt fast aufrührerisch. Heißt das, du wirst dich endlich erheben und in guter alter Tradition frühzeitig den Kaiserthron an dich reißen?«
Eugène neigte den Kopf zur Seite und hob die Schultern. »Wenn es der einzige Weg ist, diesen Wahnsinn zu stoppen, vielleicht. Eigentlich bin ich noch nicht so weit, hier geht es allerdings nicht mehr nur um mich – es stehen Menschenleben auf dem Spiel.«
»Auch bei unserer Freundschaft ging es nicht nur um dich.« Estephania blickte ihn ein weiteres Mal herausfordernd an.
»Im Großen und Ganzen doch.« Tief seufzend sah Eugène ihr in die Augen. »Ich hätte dir ohnehin nie geben können, was du von mir wolltest. Du warst meine beste Freundin, nie mehr. Zugegeben: Es war feige, mich auf diese Art und Weise aus der Verantwortung zu stehlen. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber ich war jung, und es war leichter, meiner Mutter die Schuld zuzuschieben.« Er lächelte verlegen. »Kannst du mir vergeben und mit mir zusammen diesen Krieg verhindern?«
Estephania schürzte die Lippen und musterte ihn lange. Letztendlich atmete sie tief aus und lächelte ebenfalls. »Lass es uns versuchen.«
Lieber Buford,
in wenigen Tagen werde ich zurück in Ostil sein.
Leider wird mein Besuch durch Ereignisse getrübt, die ihre dunklen Schatten vorauswerfen. Aus diesem Grund bitte ich um ein baldiges Treffen, wenn auch nur, um die Überbringerin schlechter Nachrichten zu sein.
In der Hoffnung, dass du mir Gehör schenken wirst,
Estephania
Königreich Ebron, Burg Nakal, Sommer 3709
»Geschafft.« Lorraine ließ sich in die weichen Sitze des Wagens fallen, der mit ihrem Gepäck beladen war, und Merrick konnte es ihr nicht verübeln. Die letzten Monate waren hart gewesen. Der Unterricht hatte sie an ihre Grenzen gebracht. Vieles war ihnen sinnlos oder überzogen vorgekommen, und doch hatte er mit jeder Stunde besser verstanden, warum es wichtig war, diese Dinge zu lernen.
Im Grunde hatte dabei immer die eigene Wirkung auf andere im Mittelpunkt gestanden. Wie nahm man den Rest der Welt für sich ein? Das Volk und den Adel. Als Mitglied des Herrscherhauses ging es vorrangig darum, alle auf seine Seite zu bringen und die eigene Persönlichkeit in den Hintergrund zu stellen, ohne sich dabei zu verleugnen.
Er war nicht sicher, ob Lorraine diese Lektion gelernt hatte. Es lag nicht in ihrer Natur, ihr wahres Ich zu verleugnen.
»Nicht sehr königlich, Eure Majestät«, sagte er lächelnd. »Hast du gar nichts gelernt?«
»Doch, einiges. Aber ich bin, wer ich bin.«
Genau, wie er gedacht hatte. »Die Tochter des Königs?«, fragte er trotzdem.
»Eine Fahrende. Ich gebe allerdings zu, dass gewisse Aspekte dieser Ausbildung nützlich sein könnten. Der Teil über höfisches Taktieren war inspirierend.«
»Du bist unverbesserlich.« Wehmut packte Merrick, weil ihre Abreise auch bedeutete, dass ihre gemeinsame Zeit zu Ende ging. »Überlegst du immer noch, auf die Thronfolge verzichten?«
»Ja. Ich bin nicht sicher, ob das etwas für mich ist. Du hingegen bist der geborene König.«
Diese Worte hatte sie in den letzten Monaten so oft wiederholt, dass er sich nicht mehr dagegen wehrte, auch wenn er seine Zweifel hatte. »Warten wir erst mal ab. Vigor ist zweiundfünfzig und erfreut sich bester Gesundheit. Es dauert noch eine Weile, bis ein neuer König gebraucht wird.«
»Zum Glück. Es wird für mich so schon schwer genug.«
»Wie meinst du das?«
»Ich muss mir ein neues Leben aufbauen. Allein auf die Suche zu gehen, wäre keine gute Idee.«
Auch darüber hatte er nachgedacht und traute sich endlich, das Thema anzusprechen. »Du könntest dich einer anderen Gruppe anschließen. Außerdem hast du noch deinen Freund. Du siehst nicht aus, als wolltest du ihn oder die Sache aufgeben.« Er brachte es nicht über sich, von den Illegalen und ihrem Bestreben, das Gildenmonopol zu brechen, zu sprechen. Eine der Lektionen, die er in den vergangenen sechs Monaten gelernt hatte: Mach dich nicht angreifbar, indem du in der Öffentlichkeit über Dinge redest, die gegen dich verwendet werden können. Zwar waren sie in diesem Wagen allein, aber er wusste nicht, wie gut man sie draußen hören konnte.
»Will ich auch nicht. Nur haben wir seit sechs Monaten keinen Kontakt mehr. Ich habe es versucht, allerdings kann man aus dieser Festung nicht einmal eine Brotkrume rein- oder rausschmuggeln.«
»Onkel Vigor wollte sichergehen, dass unser geheimer Aufenthaltsort – nun ja – geheim bleibt.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie du so ruhig sein kannst. Du hast doch auch seit Monaten keinen Kontakt mehr zu Euphemia. Wie kannst du wissen, ob sie dich noch will?«
»Wir lieben uns.« Wärme breitete sich in seinem Körper aus, denn es war die Wahrheit. »Ein paar Monate haben da keine Bedeutung.«
»Schön, dass wenigstens du eine Ahnung hast, wie es weitergeht.« Ihr beißender Unterton schmerzte Merrick, doch er ließ es dabei bewenden. Es war für sie beide schwer, mit der Situation umzugehen. Für sie vielleicht mehr als für ihn. Da war ein bisschen Verbitterung das Mindeste, was er ihr zugestehen konnte. Er sollte das Thema wechseln.
»Was meinst du, wie die Lage in der Hauptstadt ist?«
»Unverändert, denke ich. Was soll groß anders sein?«
»Wollen wir es hoffen«, murmelte Merrick. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sich etwas zusammenbraute, wogegen sie machtlos waren.
***
Schloss Norris, Königreich Ebron, zur gleichen Zeit
Vollkommen auf seine Arbeit fokussiert webte Jared den letzten Zauber, um den Geist in diesem Golemschädel zu erwecken. Ihm war das Risiko durchaus bewusst. Es gab Geschichten über fehlgeschlagene Evokationen und Geister, die wahnsinnig geworden waren und ihre Beschwörer angegriffen oder gar getötet hatten.
Einmal, während seiner Ausbildung, hatte er es selbst gesehen. Damals war allerdings ein weit weniger talentierter Magier am Werk gewesen. Andererseits hatten sieben Evokatoren bereitgestanden, um den wahnsinnig gewordenen Geist zu bändigen.
Sei’s drum. Du bist gut und hast größte Sorgfalt walten lassen. Was soll bei einem einzelnen Kopf passieren?
»Mylord?«
Ein lautes Klopfen an die massive Tür, die sein unterirdisches Labor vom Rest des Schlosses abschirmte, unterbrach seine Konzentration.
»Mylord?«, erklang noch einmal die Stimme, und er entschied, sie zu ignorieren, wie meistens, wenn ihn ein Servitor bei der Arbeit störte. Sie wollten ihn immer nur zum Essen holen oder zu irgendeinem anderen banalen Anlass. Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe arbeiten lassen?
»Mylord, Eure Schwester schickt mich mit der dringenden Bitte, Ihr möget sie so bald wie möglich aufsuchen. Solltet Ihr dieser Aufforderung nicht umgehend nachkommen, lässt sie ausrichten, dass sie sich genötigt sehen wird, sich höchstselbst nach hier unten zu begeben, um Euch die Dringlichkeit dieser speziellen Angelegenheit persönlich darzulegen.« Das Schweigen danach sprach Bände.
Jared liebte seine Schwester, doch sie schaffte es, auf eine geradezu unheimlich freundliche Art penetrant zu sein und erst dann Ruhe zu geben, wenn man ihren Standpunkt nicht nur verinnerlicht hatte, sondern ihr aus vollem Herzen zustimmte. Widerstand war in der Regel zwecklos. Am besten, er folgte ihrer Aufforderung und sah, was sie auf dem Herzen hatte.
»Einen Augenblick«, rief er so laut, dass der Servitor ihn hören sollte. Vorsichtig öffnete er eine Klappe am Hinterkopf des Golems, entnahm den nur daumennagelgroßen, schwarz schimmernden Seelenkern und legte ihn vorsichtig in eine gepolsterte Schachtel. So ging keine Gefahr mehr davon aus.
Seufzend wandte er sich der Tür zu. Drei Stunden Vorbereitung umsonst, nur weil seine Schwester ihn unbedingt sprechen wollte. Das war nicht ihre Art, weshalb er annahm, dass es etwas Ernstes zu besprechen gab. Also ging er zur Tür, löste die magische Verriegelung und sah sich Hopkins gegenüber, einem alten Servitor, den er seit seiner Kindheit kannte und der zurzeit die Aufgabe seines Kammerdieners übernahm.
»Mylord sollten in Erwägung ziehen, sich vor dem Besuch bei Mylady ein wenig frisch zu machen.« Sein Blick glitt zu Jareds Gesicht, was diesen dazu veranlasste, sich übers Kinn zu streichen. Wo kamen die Bartstoppeln her? Er hätte schwören können, dass er sich erst heute Morgen rasiert hatte.
»Wie lange war ich im Labor?«
»Vier Tage, Mylord«, sagte der Mann und deutete die Treppe nach oben, um anzuzeigen, dass sie sich in Bewegung setzen sollten.
»Vier Tage? Nicht zu fassen. Wenn ich arbeite, vergeht die Zeit wie im Flug.« Das war keine Entschuldigung. Es bedeutete nur, dass er endlich das tat, was ihn mit Leidenschaft erfüllte.
»Das ist allen bewusst, Mylord. Ich habe veranlasst, dass ein Bad für Euch bereitsteht. Lady Euphemia erwartet Euch in dreißig Minuten in vorzeigbarer Verfassung.« Der Blick des Servitors zeigte deutlich, dass Jareds momentaner Zustand den Wünschen seiner Schwester nicht gerecht wurde.
»Besten Dank, Hopkins. Wäre es möglich, etwas zu essen …«
»Ist bereits veranlasst, Mylord.«
Jared nickte dankbar und folgte dem Mann in sein Zimmer, in dem eine dampfende Wanne, Rasierzeug und ein Tablett mit Essen bereitstanden.
»Meine Schwester erwartet mich im kleinen Salon, nehme ich an?« Achtlos warf er sein Hemd auf den Boden, entledigte sich seiner restlichen Kleidung und ließ sich wohlig seufzend in die Wanne gleiten. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr seine Muskeln vom tagelangen Stehen im Labor und von kurzen Nickerchen auf einer schmalen Pritsche schmerzten.
Ein Räuspern von Hopkins erinnerte ihn daran, sich nicht zu lange zu entspannen. Er griff nach dem Rasierschaum, stellte den Spiegel richtig ein und entfernte den Bart.
Zwanzig Minuten später betrat er halbwegs erfrischt den Salon. Seine Schwester musterte ihn kritisch und zeigte dann ein freundliches Lächeln.
»Wie schön, dass du es einrichten konntest.« Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf ihn zu und zog ihn kurz an sich. Er ließ es geschehen, setzte sich und wartete, was sie zu sagen hatte.
Sie nahm neben ihm Platz, ordnete ihr Kleid und sah mit bekümmerter Miene zu ihm. »Ich störe dich nur ungern bei deiner Arbeit, das weißt du, aber Onkel Vigor schickt nach dir. Wie es aussieht, ist es dringend.«
»Was? Warum?« Eine Einladung in die Hauptstadt kam unerwartet.
»Das weiß ich nicht. In der Nachricht stand nur, dass deine Anwesenheit bei Hof wegen dringender Staatsangelegenheiten vonnöten ist, weswegen du dich unverzüglich nach Ostil begeben sollst.« Sie zog einen Umschlag mit königlichem Siegel aus ihrer Rocktasche und reichte ihn Jared. »Sieh selbst.«
Jared nahm den Brief und überflog ihn. »Kryptisch wie immer, unser lieber Onkel.« Er gab Euphemia das Blatt zurück. »Dann sollten wir packen.«
»Ich denke nicht, dass ich auch eingeladen bin.«
»Spielt keine Rolle. Als Herzog kann ich in meinem Gefolge mitbringen, wen ich will.«
»Trotzdem wirst du dieses Mal auf meine Gesellschaft verzichten müssen, lieber Bruder. Ich werde hier gebraucht.«
Er runzelte die Stirn. »Wofür?«
»Was glaubst du, wer sich darum kümmert, dass alles seinen Gang geht?« Sie schüttelte tadelnd den Kopf.
»Wir haben doch eine Hausdame und andere Bedienstete, die …«
»Jared«, unterbrach sie ihn in vorwurfsvollem Ton. »Ich rede nicht von der Haushaltsführung. Die erledigt Miss Pennyfeather wie gewohnt zu meiner vollen Zufriedenheit.«
»Dann verstehe ich nicht, wovon du …«
»Ich rede von deinen Pflichten. Den Pflichten eines Herzogs.« Sie sah ihn an, als wäre er schwer von Begriff, und er kam sich auch genau so vor. Gleichzeitig ergriff ihn eine Kälte, die auf schlechtes Gewissen hindeutete. Hatte er seine Pflichten vernachlässigt?
»Ich wusste nicht, dass …«
»Woher auch? Du hast kein Interesse am Herzogtum und seiner Verwaltung. Aber irgendjemand muss Verantwortung übernehmen, jetzt, da Vater …« Sie stockte kurz und schloss für eine Sekunde die Augen. »Sei unbesorgt, ich habe mich um alles gekümmert.«
Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus. »Das wäre meine Aufgabe gewesen. Warum ist niemand zu mir gekommen?«
»Du hast dich unten eingeschlossen und Besucher ignoriert. Also wandten sich die Menschen an mich.«
Hatten die vielen Unterbrechungen durch Servitoren, die gegen seine Tür geklopft hatten, doch andere Gründe gehabt? Dunkel erinnerte er sich, dass kurz nach seiner Ankunft einige Anfragen an ihn herangetragen worden waren. Er hatte gesagt, dass sich seine Schwester um den Haushalt kümmere und er nicht gestört werden wolle. Allerdings war er davon ausgegangen, dass es sich um kleine Dinge des Alltags handelte. Er schluckte die Übelkeit und das schlechte Gewissen hinunter und nahm die Hand seiner Schwester.
»Beim Großen Lord, Phemi. Ich wollte meine Pflichten nicht auf deine Schultern abladen. Du hättest etwas sagen müssen.«
»Wann denn? Du bist doch immer so beschäftigt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Glücklicherweise habe ich als kleines Mädchen oft in Vaters Arbeitszimmer gespielt, wenn er seinen Verwalter oder andere wichtige Männer traf. Ich habe einiges aufgeschnappt. Gestern erst hat unser Advokat angemerkt, dass ich ein Händchen für die Verwaltung habe.«
»Wer hätte das gedacht?«, murmelte Jared.
»Ja, nicht wahr?«, erwiderte Phemi. »Deshalb kann ich dich nicht begleiten. Es gibt viel zu tun. Vieles ist renovierungsbedürftig, mehrere wichtige Positionen müssen neu besetzt werden, und die Verwalter unserer Güter haben ihren Besuch zum Jahresbericht angekündigt. Dazu kommt ein halbes Dutzend offener Grenzstreitigkeiten, die es zu schlichten gilt.«
»Dir macht das wirklich Spaß, oder?« Der Knoten in seinem Magen löste sich ein wenig.
Phemi nickte enthusiastisch und tätschelte seinen Arm. »Aber ja, du kannst beruhigt in die Hauptstadt fahren und dich danach deinen Forschungen widmen. Ich kümmere mich derweil um das Herzogtum.«
Jared seufzte und zog Phemi in eine Umarmung. Sie war ein echtes Geschenk, vor allem weil er offenbar nicht dazu geeignet war, über irgendetwas zu herrschen. Und seien es nur die Ländereien seiner Familie. Bis vor wenigen Minuten war er sich noch nicht einmal bewusst gewesen, dass er seine herzoglichen Pflichten vernachlässigte.
»Phemi, ich wollte nie …«
»Aber das weiß ich doch«, sagte sie herzlich. »Deine magischen Experimente nehmen dich sehr in Anspruch. Zum Glück hast du ja mich.« Sie lächelte ihn noch einmal an und wandte sich zur Tür. »Ich werde veranlassen, dass dein Gepäck und deine Kutsche in zwei Stunden bereitstehen.«
Hallo V.,
ich frage mich, warum ich diese Berichte eigentlich noch wöchentlich schreibe. Hier hat sich – mal wieder – nichts geändert. Nach wie vor sucht halb Ebron nach dir, die Investigatoren, die Gilden … und wir sind zur Untätigkeit verdammt.
Kurz: Die Organisation ist tot.
Beim Großen Lord Dearus, klinge ich frustriert. Aber keiner traut sich mehr, etwas zu tun. Sogar die regelmäßigen Treffen in unserem Versteck haben wir eingestellt. Es ist eben nicht dasselbe ohne dich.
Wenn du mir erklärt hättest, warum du gehst …
Jetzt mache ich dir doch Vorwürfe, dabei hatte ich mir geschworen, das nicht zu tun.
Anderes Thema: Hat sich unsere frischgebackene Prinzessin bei dir gemeldet?
Ich konnte ihren Aufenthaltsort bisher nicht ermitteln. Allerdings wundert es mich, dass sie sich nicht bei mir gemeldet hat. Das ist gar nicht Lorraines Art, königliches Blut hin oder her.
Ich hoffe, dass du bald zurückkommst. Wir dürfen nicht aufgeben.
In Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen
Z.
Königreich Ebron, Herzogtum Norris, zwei Tage später
Missmutig sah Lorraine in Richtung des Schlosses, das in der Ferne erschien. »Dafür schuldest du mir was.«
»Meine ewige Dankbarkeit ist dir gewiss.« Merrick schickte ihr eine Kusshand, woraufhin sie ihre Schmollhaltung aufgab. Ihrem Bruder lag wirklich viel daran, hierherzukommen. Dafür war sie sogar bereit, eine Weile die Gegenwart von Jared Norris zu ertragen.
»Soweit ich weiß«, sagte Merrick mit einem Schmunzeln, »hat Jared ein großes Magielabor im Schloss. Wenn du nett zu ihm bist, lässt er dich bestimmt damit spielen.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie schnaubte und schaute weiter aus dem Fenster. »Ich kann mir gut vorstellen, was Prinz Gildenmagier unter nett versteht. Bestenfalls will er Bewunderung, schlimmstenfalls mehr, und alles nur für einen kurzen Blick, weil ich ja nicht zur Gilde gehöre.« Sie ignorierte die leise Stimme in ihrem Inneren, die sie daran erinnerte, wie ihr letztes Treffen mit dem ehemaligen Kronprinzen verlaufen war. Er hatte sie bedrängt und unbedingt mit ihr reden wollen. In sechs Monaten war es ihr nicht gelungen, die Frage, was er von ihr gewollt hatte, abzuschütteln. Ein winziger Teil von ihr freute sich sogar auf das Wiedersehen, um endlich eine Antwort zu bekommen.
»Ich verstehe dich nicht. Jared hat dir nichts getan. Was hast du für ein Problem mit ihm?«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Nein. Erklär es mir.«
»Es ist sein Lebensstil, sein Ruf, wie er mich bei unserer ersten Begegnung behandelt hat, dass er ein Gildenmagier ist … Such dir was aus.«
»Du solltest dir wirklich die Zeit nehmen, ihn besser kennenzulernen. Du könntest ihn mögen.«
»Wenn du das sagst.« Vielleicht sollte sie ihm eine Chance geben. Aber nur, weil sie nach sechs Monaten ohne Magie alles tun würde, um Zugang zu einem Labor zu bekommen.
»Sei einfach höflich und stoß ihn nicht vor den Kopf.«
»Ich gebe mein Bestes.«
Merrick seufzte resigniert. »Du klangst auch schon mal überzeugender.«
Der Wagen hielt, und der Kutscher kündigte ihren Besuch am Schlosstor an, das sich mit lautem Rumpeln öffnete. Nun doch von einer gewissen Neugier gepackt, sah Lorraine aus dem Fenster. Der Sitz der Herzöge von Norris entsprach ihrem Empfinden nach mehr einer Trutzburg. Kompakt gebaut, mit einem Bergfried, der sicherlich jeglichem Ansturm standhielt. Auch wenn sie sich fragte, wer hier im Norden von Ebron einen solchen ausführen sollte. Allerdings schien das Gebäude ziemlich alt zu sein, es stammte wahrscheinlich aus unsichereren Zeiten.
Sie fuhren durch eine Parkanlage, die mehr wie ein Nutzgarten aussah. Obstbäume wechselten sich mit Kräutern und Heilpflanzen ab, soweit Lorraine das beurteilen konnte.
Ihr Gefährt näherte sich dem Gebäude, aus dem in diesem Moment eine strahlende Euphemia trat. Sie hatte sich kaum verändert. Hierherzukommen, war die richtige Entscheidung gewesen, denn auf Merricks Gesicht breitete sich ein so glückliches Lächeln aus, dass Lorraine warm ums Herz wurde.
Merrick öffnete die Tür, sprang aus der noch fahrenden Kutsche, schnappte Euphemia und wirbelte sie durch die Luft. Sie breitete die Arme aus und lachte wie ein kleines Kind, während er sie im Kreis drehte. Sobald er sie zurück auf den Boden gestellt hatte, umarmte sie ihn liebevoll und legte den Kopf an seine Brust.
Der Wagen hatte inzwischen angehalten, und auch Lorraine stieg aus. Euphemias Blick richtete sich auf sie. »Schön, dass du hier bist. Ich freue mich so sehr, euch beide zu sehen.« Sie klang so aufrichtig begeistert, dass Lorraine schmunzeln musste.
»Wir sind auch froh, hier zu sein. Ehrlich gesagt wäre es schwer gewesen, meinen Bruder von diesem Besuch abzuhalten. Nicht dass ich es versucht hätte.« Sie zwinkerte Merrick zu, der nach wie vor einen Arm um Euphemia gelegt hatte.
»Ihr habt Jared leider knapp verpasst«, sagte sie. »Er ist vor Kurzem nach Ostil aufgebrochen. Onkel Vigor hat nach ihm geschickt.« Sie sah zu Merrick. »Deine Nachricht kam wenige Stunden nach seiner Abreise. Wenn er gewusst hätte, dass ihr kommt, hätte er sicherlich noch gewartet.«
»Er wurde an den Hof gerufen?« Merrick klang ebenso überrascht, wie Lorraine sich fühlte. »Warum?«
»Ich weiß es nicht. Seine Majestät, der König, hat in seinem Brief keinerlei Andeutung diesbezüglich gemacht. Aber er wird gewiss seine Gründe haben.«
Merrick nickte nachdenklich. »Uns hat er auch an den Hof gerufen, wir werden also nicht allzu lange bleiben können.«
»Dann sollten wir lieber zusehen, dass eure Kutsche und Gefolgschaft gut versorgt werden.« Euphemia löste sich aus Merricks Umarmung und gab einer hochgewachsenen, grauhaarigen Servitorin, die stumm im Hintergrund gewartet hatte, einen Wink. »Miss Pennyfeather?«
Die ältere Dame trat vor und wandte sich an den Kutscher und die beiden Wachen, die Merrick und Lorraine begleitet hatten. »Wenn die Herren mir bitte folgen wollen?«
Merrick und Lorraine gingen indes mit Euphemia ins Haupthaus des Familiensitzes. Im Inneren bot sich ein völlig anderes Bild, welches nicht zum trutzigen Eindruck passen wollte. Die Zimmer waren luftig und modern eingerichtet. Der Eindruck verstärkte sich durch geschickt verteilte Leuchtsteine, die aktiv wurden, noch bevor man einen Raum oder Gang betrat. So entstand überall der Eindruck von Tageslicht, obwohl es kaum Fenster gab. Wenn dies Jareds Werk war, musste er ein äußerst begabter Illuminator sein, das war nicht zu leugnen. Lorraine hätte die magische Beleuchtung gern genauer studiert, im Idealfall zusammen mit Vincent.
Die ganze Zeit in ihrem selbstauferlegten Gefängnis – oder ihrer Ausbildungsstätte, je nachdem, wie man es sah – hatte es ihr große Mühe bereitet, sich zu konzentrieren, weil ihre Gedanken sich ständig um diesen Mann drehten. Würde er ihr verzeihen, dass sie, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, für ein halbes Jahr spurlos verschwunden war? Würde er sich wieder mit ihr treffen wollen? Mit ihr arbeiten? Ihre Beziehung vertiefen? Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
Sie hatte so lange nichts mehr von ihm gehört. Wenn sie doch nur eine Möglichkeit gehabt hätte, direkt mit ihm in Kontakt zu treten. Den Blick auf das einander anschmachtende Paar gerichtet, kam ihr eine Idee.
»Phemi?« Sie musste es zweimal wiederholen, ehe die beiden sie bemerkten.
»Ja?«, hauchte Euphemia, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen.
»Ich würde gerne einen Brief schreiben. Könntest du dafür sorgen, dass er zugestellt wird?« Und viel leiser fügte sie hinzu: »Ohne dass unsere Wachhunde das mitbekommen?«
»Wachhunde?«, antwortete Euphemia und starrte sie aus großen Augen an. »Was haben Hunde mit Briefen zu tun?«
Sie sah so verblüfft aus, dass Lorraine unwillkürlich kichern musste. »Keine echten Hunde, ich meine unsere Wachen. Die haben im Auftrag meines Vaters die letzten sechs Monate dafür gesorgt, dass wir keinen Kontakt zur Außenwelt hatten.«
»Ah.« Euphemia nickte verständnisvoll. »Das ergibt mehr Sinn.« Sie runzelte die Stirn und zog die Nase kraus. »Aber hältst du es für klug, gegen den erklärten Willen des Königs zu handeln? Das will wohlüberlegt sein.«
»Gewähre ihr die Bitte.« Merrick sah von Lorraine wieder zu Phemi. »Sie musste jemanden in der Hauptstadt zurücklassen, der ihr wirklich am Herzen liegt. Er soll nur erfahren, dass es ihr gut geht und dass sie ihn nicht vergessen hat. Was kann das schaden?« Solche Momente waren es, die es Lorraine erschwerten, lange sauer auf Merrick zu sein. Auch wenn sich ihre Wege bald trennen würden, waren sie einander eng verbunden.
»Nun … also …« Phemi schenkte ihr ein verschwörerisches Lächeln. »Wenn das so ist, bin ich gern bereit, zu helfen. Ich zeige dir dein Zimmer. Dort findest du, was du brauchst. Gib mir dann den Brief, und ich kümmere mich um alles Weitere. Merrick kann solange hier warten.« Sie forderte Lorraine mit einer Handbewegung auf, ihr zu folgen. Die wiederum warf Merrick einen warmen Blick zu und formte ein wortloses »Danke« mit den Lippen. Er lächelte und nickte ihr zu. Seufzend drehte sie sich weg von ihm und folgte Euphemia durch die Burg.
Woher nahm Jared den Äther, den die allgegenwärtige Illumination zwangsläufig verschlingen musste? Gerade setzte sie an, Euphemia danach zu fragen, als diese stoppte, eine Tür öffnete und sagte: »Ich hoffe, dieses Zimmer ist ausreichend. Wir waren nicht auf euren Besuch vorbereitet, und dies ist der Raum, den wir für Gäste bereithalten. Er entspricht nicht dem, was ich der Thronfolgerin normalerweise anbieten würde, doch wenn man die Tatsache bedenkt, dass ich …«
»Er ist wunderbar«, unterbrach Lorraine die jüngere Frau, die daraufhin lächelte und sich verabschiedete. Lorraine ließ sich am Sekretär nieder und begann, zu schreiben.
***
Unruhig wanderte Merrick im Salon auf und ab. Phemis Anblick hatte ihm eine Sache deutlich vor Augen geführt: Er liebte sie von ganzem Herzen und wollte keinen Tag mehr ohne sie verbringen.
Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass er ihr hier und heute einen Heiratsantrag machen musste. Er hatte das nicht geplant und war überrascht von der freudigen Gewissheit, die ihn bei dem Gedanken durchströmte. Es war die richtige Entscheidung.
Dennoch blieb ein letzter Rest Unsicherheit. Würde sie seinen Antrag annehmen? Oder jede Menge Phemi-Gründe anführen, die dagegensprachen? Wenn man von ihrer Reaktion bei seiner Ankunft ausging, war sie ihm zweifelsohne zugetan. Sie hatte vor den Servitoren offen gezeigt, wie sehr sie sich über seinen Besuch freute. Das bedeutete doch etwas.
»Lorraine ist versorgt«, unterbrach ihn Phemis Stimme. »Ich habe leider nur einen kleinen Raum für sie, wir waren ja nicht auf Besuch vorbereitet. Was mich zu der Frage bringt, wo du schläfst. Es darf kein Zimmer sein, das prunkvoller ist als ihres, andererseits sollte es …«
»Phemi?« Sie zu unterbrechen, war der beste Weg, sie aus ihren Gedanken zu reißen.
»Ja?« Sie blinzelte irritiert, als registrierte sie erst in diesem Moment wirklich, dass er anwesend war, und eine leichte Röte überzog ihr Antlitz.
Sanft nahm er ihre Hände in seine und holte tief Luft. »Das letzte halbe Jahr war für mich ein ständiges Auf und Ab. Ich habe viel gelernt und verstehe mittlerweile, warum ich es lernen musste.«
Sie quittierte seine Worte mit einem Nicken.
»Gleichzeitig fühlte ich, dass diese Ausbildung nicht ausreichend war. Etwas Entscheidendes und unschätzbar Wertvolles fehlt mir für mein zukünftiges Leben.« Er suchte ihren Blick. »Und zwar du. Ich liebe dich und brauche dich an meiner Seite. Nur mit dir bin ich wirklich komplett. Zusammen können wir alles schaffen, das weiß ich.«
Warm drückte ihre Hand die seine ein wenig fester.
»Meine Gedanken an dich waren es, die mir Kraft gaben, wenn mir eine Lektion unsinnig erschien. Dann habe ich mir vorgestellt, wie du mir erklärst, warum sie wichtig ist, und schon hatte ich den unbedingten Willen, weiterzumachen. Für dich. Und aus diesem Grund …«
Er ging auf ein Knie und suchte ihren Blick. Ihr Gesicht leuchtete förmlich, und er meinte, ein kleines, aufmunterndes Nicken ihrerseits zu erkennen. »Liebste Euphemia, ich stelle dir die eine Frage, die tief aus meinem Herzen kommt: Willst du meine Frau werden?« Seine Stimme zitterte leicht, doch ihr Strahlen entlohnte ihn für das Gefühlschaos, dem er sich ausgesetzt hatte.
»Ja«, hauchte sie, legte ihre Hände sanft auf seine Wangen und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Ein Orkan aus Triumph und Glückseligkeit tobte durch seinen Körper. Mit beiden Armen umschlang er sie, während er wieder aufstand, und hob sie hoch, ohne den Kuss dabei zu unterbrechen. Er schien ewig zu dauern und war doch viel zu kurz. Merrick unterbrach ihn schließlich, um sie anzusehen.
»Wann?« Die Frage mochte nicht unbedingt angebracht sein, doch wenn es nach ihm ginge, würden sie jetzt sofort den Bund der Ehe eingehen. »Ich möchte keinen Tag länger warten.«
»Ich werde mit der hiesigen Bischöfin sprechen«, sagte sie entschlossen. »Sie ist eine alte Freundin der Familie. Wenn ich sie freundlich darum bitte, wird sie uns gewiss helfen. Ich kann es gar nicht erwarten, dass die Sanfte Lady unsere Verbindung segnet.«
Liebe durchströmte Merrick, und auch ein wenig Mitleid mit der armen Bischöfin. Phemi eine Bitte abzuschlagen, war so gut wie unmöglich. Wenn die Frau klug war, beugte sie sich gleich ihrem Willen. Denn das hatte Merrick längst gelernt: Wenn Euphemia Norris sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, bekam sie es auch. Und er konnte sich glücklich schätzen, dass er zu den Dingen gehörte, die sie unbedingt wollte.
Liebster Vincent,
verzeih mein plötzliches Verschwinden und mein langes Schweigen. Es gab keine Möglichkeit, dich früher zu kontaktieren.
Ich vermisse dich. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wir beide würden zusammen arbeiten oder … Doch das sind Tagträume.
Bald werde ich zurück in Ostil sein und hoffe, dich dort anzutreffen. Ich habe so viel zu erzählen, auch wenn du einiges davon mit Sicherheit schon gehört hast. Sei versichert, dass dies nichts an mir, meiner Hingabe für die gemeinsame Sache oder an meinen Gefühlen für dich geändert hat.
Bis hoffentlich bald, in Liebe
Lorraine
Königreich Ebron, Ostil, vier Tage später
Müde ließ sich Vigor in seinen Stuhl fallen. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Ohne sie zu öffnen, fragte er: »Wie schlimm ist es?«
»Kritisch«, antwortete Buford Aynsworth, seine rechte Hand. »Vier der acht Herzogshäuser haben signalisiert, dass sie den Thronanspruch deiner Tochter nicht anerkennen und im Zweifelsfall Celeste unterstützen werden.«
»Das stand zu befürchten. War’s das?«
»Herzog Norris ist soeben eingetroffen und wird sich in Kürze zu uns gesellen.«
»Immerhin etwas. Ich hatte Bedenken, er würde nicht kommen, angesichts des Anlasses.«
Vigors Leibdiener und Freund räusperte sich verlegen. »Ähem, ja, was das betrifft, hatte ich die gleiche Befürchtung. Es könnte daher sein, dass ich vergaß, den konkreten Anlass in der Einladung zu erwähnen.«
»Buford! Warst du schon immer so …«
»Umsichtig?«, beeilte sich dieser, den Satz zu beenden.
Vigor konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und setzte zu einer Erwiderung an, doch ein Klopfen hielt ihn davon ab.
Die Tür öffnete sich, und Jared, Herzog Norris, trat ein. Er sah erholt aus, soweit Vigor das beurteilen konnte. Das Landleben schien ihm gut zu bekommen.
»Da bist du ja«, begrüßte er den Neuankömmling. »Gut. Du fragst dich sicher, warum ich nach dir schicken ließ?«
»Äh, ja«, kam die zögernde Antwort. »Hallo Onkel.« Er nickte dem anderen Mann zu. »Aynsworth.«
Der König räusperte sich vernehmlich. »Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Was würdest du davon halten, meine Tochter zu heiraten?«
»Wie bitte?« Jared blinzelte und ließ sich sichtlich verblüfft auf den nächsten Stuhl fallen.
»Ob du dir vorstellen könntest, meine Tochter zu heiraten?«
»Du meinst Lorraine?«
»Das ist ihr Name, ja.«
»Ich … also … Was geht hier vor sich?«
Seufzend verschränkte Vigor die Hände. »Die Lage ist kompliziert. Einfach gesagt sind viele Adlige nicht glücklich darüber, dass zwei Fahrende in der Thronfolge ganz oben stehen, seit ich Lorraine und Merrick anerkannt habe. Uns droht ein Bürgerkrieg. Zusätzlich liegen uns Informationen aus vertrauenswürdiger Quelle vor, dass Celeste vorhat, diese Situation auszunutzen und uns den Krieg zu erklären.«
»Oh.« Jared kratzte sich am Kopf. »Das ist schlecht.«
»Ich sehe nur eine Möglichkeit, die Katastrophe abzuwenden: Wir müssen Ebron so schnell wie möglich einen. Das geht, indem Lorraine einen ebronischen Herzog heiratet. Zurzeit gibt es drei ledige Kandidaten, dich eingeschlossen.«
Jared kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wie sicher sind wir, dass die Adligen ihre Meinung ändern, wenn Lorraine einen Herzog heiratet?«
»Ziemlich sicher. Nur muss es möglichst bald geschehen.«
»Das wird ihr nicht gefallen. Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit?«
Vigor rieb sich die Stirn und forderte Aynsworth mit einem kurzen Nicken auf, die Frage zu beantworten.
»Keine gute. Seine Majestät kann die Anerkennung seiner Tochter und seines Neffen nicht rückgängig machen, ohne Schwäche zu zeigen und den Thronanspruch von Celeste dabei zu stärken. Bliebe die Möglichkeit, dass die beiden kurzfristig eines überraschenden Todes sterben …«
Jared schnaubte ungehalten und sah Aynsworth irritiert an.
Der zuckte ungerührt mit den Schultern. »Ich sagte doch, dass es keine guten Optionen gibt. Dazu kommt, dass wir uns im Kriegsfall nicht auf die Unterstützung der Arkanen Gilden verlassen können. Erzbischof Nottle ist nach wie vor äußerst erzürnt über die Begnadigung der fahrenden Magier.« Aynsworths Wangenmuskel zuckte. »Wir wussten, dass es ein gewagter Schritt sein würde.«
»Aber ein nötiger«, warf Vigor ein. »Aynsworth war dagegen, aber ich konnte nicht länger wegsehen. Dieses angestrebte Tribunal war eine Farce, und ich musste ein Zeichen setzen. War es ein Fehler? Politisch vielleicht. Für mein Gewissen war es der einzige richtige Schritt. Allerdings spielen die Konsequenzen Celeste in die Hände. Selbst mithilfe ausländischer Verbündeter wäre ein Krieg gegen halb Ebron und ganz Celeste kaum zu gewinnen.«
Jared war blass geworden und schluckte. »Ich verstehe. Wer kommt infrage?«
Vigor beugte sich nach vorn. »Außer dir noch die Herzöge Southbow und Hawkwin.«
»Die beiden werden voraussichtlich morgen hier eintreffen«, fügte Aynsworth hinzu.
»Southbow ist ein Widerling und hinter jedem Rock her. Außerdem hat er die sechzig schon lange hinter sich«, sagte Jared vorsichtig, und Vigor nickte. »Und Hawkwin«, fuhr er fort, »ist zwar erst knapp über dreißig, aber erstens eiskalt und zweitens augenscheinlich ein Snob. Niemals wird der sich bereit erklären, eine Fahrende zu heiraten. Ich vermute mal, dass er einer der Ersten war, die sich geweigert haben, Lorraines Anspruch anzuerkennen, richtig?«
Aynsworth nickte zustimmend.
Jared lehnte sich zurück. »Also bleibe nur ich.«
»Mit allen Konsequenzen.« Seufzend atmete Vigor aus. »Du würdest erneut zum Thronerben werden.«
»Zum Prinzgemahl, das ist nicht dasselbe.«
»Letzten Endes macht es keinen großen Unterschied, Lorraine wäre bei jeder Entscheidung auf dich und deine Unterstützung angewiesen. Du müsstest dich voll auf deine Rolle als Herzog und Prinzgemahl konzentrieren, das ist dir doch klar.«
Schweigend kaute Jared auf seiner Unterlippe.
Vigor, darum bemüht, sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen, legte die Fingerspitzen zusammen und musterte seinen Neffen zweiten Grades. Er war unbestreitbar die beste Wahl. Lorraine war so oder so mit keinem der drei Kandidaten einverstanden, dessen war er sich bewusst. Sie war ein Sturkopf, genau wie ihre Großmutter.
»Ich werde Lorraine heiraten«, sagte Jared mit einer Zuversicht in der Stimme, von der Vigor wünschte, er könne sie teilen.
»Woher der Sinneswandel? Soweit ich mich erinnere, hast du alles darangesetzt, nicht mehr Thronfolger zu sein.«
»Sagen wir es so: Die Voraussetzungen haben sich geändert. Außerdem kann ich Lorraine keinem der anderen beiden überlassen. Das würde ich mir nie verzeihen.«
Vigor ahnte, dass mehr hinter der Sache steckte, doch er beschloss, nicht weiter nachzufragen. Manchmal musste man einfach annehmen, was einem in den Schoß fiel.
»Jetzt müssen wir nur noch die Prinzessin überzeugen.« Aynsworth sprach damit das Offensichtliche aus und wiegte den Kopf hin und her. »Sie hält nicht viel von Herzog Norris, fürchte ich.«
»Das wird sich ändern«, sagte Jared im Brustton der Überzeugung. »Es könnte allerdings eine Weile dauern, sie zu überzeugen. Wie lange habe ich Zeit?«
Vigor schüttelte ablehnend den Kopf. »Keine Zeit. Wir brauchen die Unterstützung der Herzöge so schnell wie möglich, um Celeste gegenüber Einigkeit zu demonstrieren. Die Hochzeit findet übermorgen statt, die Vorbereitungen laufen schon. Lorraine ist auf dem Weg hierher und sollte bald eintreffen.«
Aynsworth räusperte sich. »Was das angeht, Majestät, muss ich leider mitteilen, dass Eure Tochter offenbar eigenmächtig beschlossen hat, ihre Rückkehr zu verschieben. Man hat mich darüber informiert, dass sie zusammen mit Eurem Neffen einen Abstecher ins Herzogtum Norris unternommen hat und offenbar gedenkt, dort eine Woche zu verweilen, bevor sie nach Ostil zurückkehrt.«
Vigor unterdrückte einen Fluch und holte tief Luft. »Das kann doch nicht wahr sein. Ich hatte ihr ausdrücklich befohlen, unverzüglich ins Schloss zu kommen. Aber was ich will, interessiert sie offenbar nicht. Sie ist wirklich die Tochter ihrer Mutter.« Resigniert schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. »Was nun?«
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Eure Majestät?« Aynsworth senkte den Kopf, doch Vigor sah ihm an, dass dies der Formalität halber geschah, nicht weil er ernsthaft damit rechnete, Gegenwind zu bekommen. Also nickte er kurz, und sein Freund fuhr fort: »Wir sollten die Möglichkeit einer Eheschließung in Abwesenheit in Betracht ziehen. Früher war es in Kriegszeiten üblich, Ehen auf diese Art zu schließen, um die Braut abzusichern.«
»Das ist seit einer Ewigkeit nicht mehr üblich. Außerdem waren meines Wissens die Betroffenen in solchen Fällen beide informiert und mit der Ehe einverstanden.«
Aynsworth hob einen Zeigefinger. »Nicht immer. Manchmal fand die Trauung auch auf dem Schlachtfeld in Abwesenheit der Frau statt. Typischerweise bei tödlich Verletzten. Diese Ehen sind später alle von den relevanten klerikalen Gremien für gültig erklärt worden.« Er runzelte die Stirn. »Es war allerdings nur ein Mittel für absolute Notlagen.«
Das erste Lächeln seit Tagen schlich sich auf Vigors Lippen. »Wenn das hier keine Notlage ist, dann weiß ich auch nicht. Es geht um das Leben Tausender.« Er rieb sich die Hände. Streng genommen sollte er ein schlechtes Gewissen haben, seine Tochter in Abwesenheit und ohne ihr Wissen zu verheiraten, aber er spürte nur eine unendliche Erleichterung. »Meine Herren, wir haben eine Hochzeit zu planen.«
Liebste L.,
ich fiebere der Stunde entgegen, in der wir uns wiedersehen.
Gleichzeitig bitte ich dich um einen Gefallen, der dir schwerfallen wird.
Diesen Brief übergibt dir jemand, der nicht der ist, für den du ihn hältst. Das mag kryptisch klingen, aber du wirst es verstehen. Bitte hör ihm gut zu, dann sehen wir uns bald wieder. Versprochen. Und vergiss nicht, dass ich dich liebe.
V.
Königreich Ebron, Ostil, eine Woche später
Lorraine traf am frühen Abend im Schloss ein. Sie war nicht wie verlangt schnellstmöglich zum Schloss zurückgekehrt, sondern hatte der Hochzeit von Merrick und Euphemia beigewohnt.
Wie erwartet hatte die ortsansässige Bischöfin keine Einwände erhoben, und so waren die beiden vor zwei Tagen in einer kleinen Zeremonie getraut worden. Als Gäste waren lediglich Lorraine und die Dienerschaft anwesend gewesen, was niemanden gestört hatte. Merrick und Euphemia schwebten eindeutig in den Wolken und hatten nur Augen füreinander. Sie waren wenige Stunden nach der Trauung zu einer kurzen Hochzeitsreise durch den Norden aufgebrochen, und Lorraine hatte sich nach Ostil begeben.
Dort angekommen, rechnete sie damit, direkt zu ihrem Vater geführt zu werden. Verwundert stellte sie allerdings fest, dass man sie in einen Raum brachte, den sie nicht kannte. Offensichtlich war er bewohnt, denn es lagen Kleidung und Gebrauchsgegenstände herum. Die eines Mannes. Wem dieses in Gelb- und Grüntönen gehaltene Zimmer wohl gehörte?
»Du bist da«, erklang hinter ihr eine vertraute Stimme. Aber das konnte nicht sein. Langsam drehte sie sich um.
»Vince…« Sie erstarrte. Das war nicht Vincent. »Jared?«, fragte sie verwirrt.
Er lächelte verlegen und trat ein wenig näher zu ihr. »Hattest du jemand anderen erwartet?«
»Ja«, antwortete sie zu schnell. »Das heißt, eigentlich hatte ich gar niemanden erwartet. Warum seid Ihr hier?«
»Das ist mein Zimmer.«
»Aber … warum bin ich dann hier?« Das ergab keinen Sinn. Es musste sich um ein Missverständnis handeln.
»Weil ich darum gebeten habe.«
»Warum?« Sie war zu perplex, um wütend zu sein. Und, zugegeben, auch ein wenig neugierig.
»Zuerst habe ich etwas für dich. Lies und entscheide.« Er drückte ihr ein Blatt in die Hand.
Lorraine erkannte die Handschrift sofort. »Der ist von Vincent.« Sie überflog die Zeilen und sah mit gerunzelter Stirn zu Jared. »Ihr kennt euch?« Genauer darüber nachgedacht erschien diese Enthüllung gar nicht so abwegig. Merrick hatte erwähnt, dass Jared selten gut auf die Gilden zu sprechen war, auch wenn Lorraine das großzügig ignoriert hatte. »Er sagt, dass ich Euch zuhören soll.« Langsam ließ sie das Blatt sinken. »Also gut. Ich gebe Euch fünf Minuten.«
Er nickte, bat sie, sich zu setzen, und nahm ihr gegenüber Platz. Doch anstatt zu sprechen, verschränkte er die Arme und blickte sie unverwandt an. Bereits nach wenigen Sekunden fühlte sich Lorraine unbehaglich und wäre am liebsten aufgestanden. Stattdessen schnaubte sie: »Redet, wenn es so wichtig ist.«
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte leise: »Das ist gar nicht so leicht. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wie wäre es, wenn Ihr mir erklärt, warum Ihr einen Brief von Vincent habt. Und warum er es für wichtig hält, dass ich Euch zuhöre.«
Jared atmete tief ein. »Alles aus demselben Grund.« Erneut fuhr er sich über die Stirn. »Du ahnst es nicht einmal, oder?«
»Was ahne ich nicht?«
»Warum hast du mich eben Vincent genannt? Als ich hereinkam und deinen Namen gesagt habe.«
Was war das für eine Frage? »Ihr habt im ersten Moment wie er geklungen. So was kann passieren.«
Nickend erhob er sich. »Und als du ihn zum ersten Mal getroffen hast? Im Keller der Großen Schmiede, über den Äthergenerator gebeugt. Für wen hast du ihn da gehalten?«
Kälte durchfuhr Lorraine, und mit einem Mal pumpte das Blut so laut durch ihren Körper, dass sie jeden einzelnen Herzschlag überall zu fühlen glaubte. »Woher …« Ihr versagte die Stimme, und sie räusperte sich. »Ihr scheint eng mit Vincent befreundet zu sein. Das hat er mir gegenüber nie erwähnt.« Es fühlte sich ein bisschen wie Verrat an. Andererseits hatten sie und Vincent nicht viel Zeit miteinander gehabt. »War es das, was er mir unbedingt sagen wollte?«, überlegte sie laut. »Ihr müsstet ungefähr im gleichen Alter sein, und auch wenn er bei den Evokatoren war und Ihr bei den Illuminatoren, wäre es doch möglich, dass …«
»Lorraine«, unterbrach Jared sie flehend. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Für wen hast du ihn gehalten?«
Sie runzelte die Stirn. »Für Euch. Aber das war …«
»Der richtige Instinkt«, fiel er ihr ins Wort und blieb vor ihr stehen. »Erkennst du es nicht? Ich bin Vincent.« Vorsichtig hob er eine Hand und streichelte ihre Wange.
Sofort zuckte sie zurück. »Was redet Ihr da?« Verärgert schob sie seine Hand zur Seite. Seine Behauptung war lächerlich. »Vielleicht habe ich ein- oder zweimal gedacht …« Sie hielt inne und sagte dann triumphierend: »Wenn das stimmt, wie erklärt Ihr sein Aussehen? Vincent sieht Euch nicht im Geringsten ähnlich, und es kann auch keine Maskerade sein.« Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Hände beim Sex in Vincents Haar gekrallt hatte. Das war keine Perücke gewesen.
Jared seufzte. »Das ist Sinn und Zweck der Verkleidung. Vincent darf nicht mit mir in Verbindung gebracht werden.« Er griff in seine Jackentasche und zog eine Augenklappe heraus. »Erkennst du sie?«
»Die gehört Vincent. Aber er hat mit Sicherheit nicht nur diese eine und …«
»Doch, nur diese eine. Hast du je gesehen, wie er sie abgesetzt hat?«
»Nein, aber …«
»Der Grund dafür ist nicht Eitelkeit oder Scham. Der Grund ist, dass diese Augenklappe Magie der Alten beherbergt. Ihr wohnt ein Geist inne, der es erlaubt, die Gestalt zu wechseln.«
Die Magie der Alten war mächtig, und sie hatten keinen Bruchteil davon erforscht, das wusste Lorraine. Doch das, was Jared da behauptete, war lächerlich. Sie hatte noch nie von Magie gehört, die so mächtig war, einem Menschen eine andere Gestalt zu geben.
»Es ist wie eine zweite Haut, die sich über dich legt. Völlig echt und …«
»Zeigt es mir.« Das war die Lösung. Es würde nicht gelingen, und er war entlarvt.
Jared blickte von der Augenklappe zu ihr und wieder zurück.
»Wenn es stimmt, was Ihr sagt, werdet Ihr zu Vincent, wenn Ihr die anzieht, das habe ich doch richtig verstanden?« Sie deutete mit einer kurzen Kopfbewegung auf die Augenklappe. »Also tut es.«
Wortlos zog er die Klappe über – und verwandelte sich vor ihren Augen. Um Jared herum flimmerte es kurz, und dann stand dort Vincent – in Jareds Kleidung, die über seinem Brustkorb spannte, aber mit langen Haaren, Bart und Narbe.
Das Blut rauschte in ihren Ohren, und in ihr verknotete sich alles. Konnte es sein? Vorsichtig stand sie auf und berührte seine Wange. Strich über seinen Hals und ließ die Hände kurz auf seinen Armen ruhen. Dann trat sie einige Schritte zurück.
»Zieh sie aus.«
Er folgte ihrem Befehl, und ein weiteres Mal flimmerte es kurz. Jetzt stand wieder Jared vor ihr.
»Warum?«, fragte sie tonlos. Das Gefühl, betrogen worden zu sein, überdeckte jedes andere. Sie wollte schreien, auf etwas einschlagen, ihrer Frustration und Enttäuschung Luft verschaffen, doch sie schwieg nur und sah ihn an.
»Ich wollte mich frei bewegen können«, sagte er leise und suchte ihren Blick, den sie nicht zu erwidern vermochte. »Und ich wollte nach der Ausbildung bei den Illuminatoren unbedingt zu den Evokatoren und …«
»Das meine ich nicht.« Zittrig atmete sie ein. »Warum hast du mich belogen?«
»Ich habe dich nie belogen.«
»Ach nein?« Ihre Stimme überschlug sich. »Du hast es mir nicht gesagt. Du hast mich in dem Glauben gelassen, dass du ein anderer bist. Ein Rebell, der gegen die Gilden arbeitet.«
»Das bin ich, Lorraine.« Er schlug sich mit der Hand auf die Stelle, an der sein Herz lag. »Und ich liebe dich. Ich wollte es dir sagen, aber …«
»Du hast mich hinters Licht geführt. Von Anfang an.«
»Das ist nicht wahr. Ich wusste nicht, dass du und der Erschaffer des Vogels ein und dieselbe Person seid. Woher auch? Erst an dem Tag in der Schmiede habe ich die Stücke zusammengesetzt. Auf einmal ergab alles Sinn. Seit unserem ersten Kennenlernen im Schloss damals fühlte ich mich zu dir hingezogen, obwohl wir uns kaum kannten. Eventuell hat es mein Unterbewusstsein geahnt, weil du die Briefe mit L. unterschrieben hast. Aber ich habe es nicht gewusst, das musst du mir glauben.«
»Du hättest an dem Abend unter der Schmiede mit mir reden können.«
Traurig schüttelte Jared den Kopf. »Ich hatte mich in dich verliebt und Angst, dass du mir – dass du Jared – keine Chance gibst. Du schienst mich nicht zu mögen.«
»Daran hat sich auch nichts geändert.« Das sollte er besser schnell verstehen.
»Da ist noch etwas, was ich dir sagen muss.« Er stieß so schwer die Luft aus, dass es Lorraine eiskalt den Rücken herunterlief. »Und ich fürchte, es wird dir noch viel weniger gefallen.«
Was konnte noch schlimmer sein? »Das wage ich zu bezweifeln.« Mit in die Hüften gestemmten Händen baute sie sich vor ihm auf. »Los, raus damit.«
»Wir sind verheiratet.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, trat er auch einige Schritte zurück und zog den Kopf ein.
Es war einer der seltenen Momente in ihrem Leben, in denen sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Also lachte sie. »Okay, dein Ziel war, mich zum Lachen zu bringen, das ist dir gelungen.«
»Ich verstehe, warum du glaubst, es sei ein Scherz – ist es aber nicht. Pater Angelius hat uns vor einer Woche in deiner Abwesenheit getraut. Wenn du mir nicht glaubst, frag deinen Vater. Er erwartet dich in seinen Privaträumen.«
Lorraines Lachen gefror. Das würde der alte Mann nie wagen! Ohne Jared eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmte sie aus dem Zimmer – getrieben von dem Gedanken, dass Jared sich einen schlechten Scherz mit ihr erlaubte. Wie konnte sie verheiratet sein, ohne auch nur von einer Hochzeit zu wissen? Das war lächerlich, und ihr Vater würde ihr das bestätigen.
Ende der Leseprobe